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Literatur schafft eine neue Wirklichkeit

  • 13.07.2012, 18:18

Andreas Gelz, Professor für Romanische Literaturwissenschaft an der Universität Freiburg, und Heinz Ickstadt, Professor emeritus für Amerikanische Literatur an der Freien Universität Berlin, sprechen darüber, wie literarischer Realismus den Alltag verändern kann.

PROGRESS: Sie beschäftigen sich mit Realismus in der Erzählliteratur. Wie viel Kraft hat der Realismus über die Literatur hinaus?

Gelz: Dass realistische Literatur eine solche Kraft besitzt, kann man an den zum Teil heftigen Reaktionen in der Gesellschaft erkennen, die realistische Texte immer wieder hervorgerufen haben. Gegen zahlreiche Autoren hat man im 19. Jahrhundert Prozesse wegen Untergrabung der moralischen Grundlagen der Gesellschaft angestrengt. Das zeigt, dass Texte auch eine politische Wirkung haben.
Ickstadt: Natürlich sind nicht alle realistischen Texte skandalös, aber der Realismus kann radikal werden, wenn er eine bestehende gesellschaftliche Konvention hinterfragt oder durchbricht.
Gelz: Wenn ein bestimmtes Wirklichkeitsbild zur Ideologie geworden ist, dann kann es der Realismus entweder bestätigen oder hinterfragen. Wirklichkeitsbilder sind immer Konstruktionen, die andere Realitäten ausblenden.
Ickstadt: Der Realismus hat einen emanzipatorischen Anspruch, wenn er eine Wahrheit für sich reklamiert, die in der Gesellschaft geleugnet wird.

Würden Sie von einem politisch rechten Realismus sprechen, der Bestehendes bestätigt, und von einem linken, der neue Wahrheiten sucht?

Gelz: Diese Sichtweise würde unterstellen, dass ein Autor beim Verfassen eines Werkes eine bestimmte Intention hat. So einfach ist es aber nicht. Nehmen wir das Beispiel Honoré de Balzac. Er bezeichnete sich immer wieder als Monarchisten und konservativen Katholiken. Seine Texte werden aber als Streitschrift für eine bürgerliche Gesellschaft gelesen.

Was, würden Sie sagen, macht den Kern des Realismus aus?

Ickstadt: Realismus hat fast immer mit dem Alltag zu tun. Das hängt damit zusammen, dass wir die Wirklichkeit über den Alltag erfahren. Etwa in der Familie oder im Beruf. Abgesehen davon ist aber das Interessante am Realismus, dass seine Spannweite so groß ist. Wenn ich Realist bin, versuche ich einerseits, die Wirklichkeit nicht zu idealisieren. Andererseits gibt es den Realismus als Form einer politisch gewollten Idealisierung. Die bedient sich bis zu einem gewissen Grad der realistischen Darstellungsweise, die die Form des Realen schon längst verlassen hat. Ich denke da zum Beispiel an den sozialistischen Realismus, der das Leben im Realsozialismus verherrlicht hat.

Der Begriff der Wirklichkeit wurde im Zuge der Postmoderne als ideologische Konstruktion dargestellt. Wie geht der Realismus damit um?

Gelz: Gerade das macht doch die Virulenz des Realismus aus, dass sie als mediale oder virtuelle Wirklichkeit paradoxerweise aus dem Blick gerät. Umso wichtiger ist es, sich auf die Suche nach ihr zu machen. Erinnern Sie sich an den Golfkrieg von 1990? Damals hatte man den Eindruck, der Krieg sei ein reines Computerspiel, bis Monate später Bilder der ausgebombten Straßen zirkulierten und Berichte Überlebender auftauchten.

Der französische Philosoph Roland Barthes bezeichnete den Neorealismus als „moralischen Begriff“, der „genau das als Wirklichkeit darstellt, was die bürgerliche Gesellschaft sich bemüht zu verbergen“. Wie würden Sie das verstehen?

Gelz: Die bürgerliche Gesellschaft versucht, ihre Konstruktion von Wirklichkeit als einen naturhaft gegebenen Zustand darzustellen, nicht mehr als Geschichte. Der Neorealismus will diese „Naturalisierung“ durchbrechen und darauf hinweisen, dass die Dominanz der bürgerlichen Gesellschaft mit bestimmten Konstellationen von Macht zu tun hat.

Würden Sie sagen, dass der Realismus eine bestimmte Aufgabe hat?


Ickstadt: Wenn man von so etwas wie einer Aufgabe sprechen kann, dann ist es die, Widersprüche und neue Möglichkeiten aufzudecken, die uns nicht bewusst sind. In fast allen Formen der realistischen Darstellung kommt etwas zutage, das geleugnet wird, das hässlich ist, das unterdrückt wird, und so weiter. Die Aufgabe des Realismus ist es, das zu thematisieren.
Gelz: Ich wäre vorsichtig mit dem Wort „Aufgabe“. Was die realistischen Künstler antreibt, ist eine Unzufriedenheit mit der Wirklichkeit, die dazu führt, neue Wirklichkeiten zu erfinden. Das kann dann eine gewisse Dynamik erzeugen, die auf eine Veränderung der bestehenden Wirklichkeit hinausläuft.

Warum stellt sich der Realismus so oft auf die Seite der sozial Schwachen?

Ickstadt: Das macht er ja nur zum Teil. Aber Sie haben schon recht, ursprünglich ist der Realismus eine Allianz mit denen eingegangen, die bis dahin nicht gesellschaftsfähig oder literarisch darstellbar waren.
Gelz: Ich glaube, das hängt mehr mit ästhetischen als mit politischen Vorstellungen zusammen. Wenn es darum geht, eine neue Wirklichkeit zu entwerfen, dann kommt man schnell – und vielleicht zwangsläufig – auf die Bilder, die aus der dominanten Konstruktion von Wirklichkeit ausgeblendet sind.
Ickstadt: Der Schriftsteller Henry James sprach in diesem Zusammenhang von der Freiheit der Künstler. Damit meinte er, der Künstler müsse der Tabuisierung das Tabuisierte entreißen, um in seinem Werk eine neue Wirklichkeit zu erschaffen. Literatur kann das, sie verändert das Denken der Menschen. Die Grenze zwischen dem, was wir gelesen haben, und dem, was wir erlebt haben, die verschwimmt in unserer Erinnerung. So entsteht ein Rückkoppelungsprozess von der Wirklichkeit des Künstlers zur Wirklichkeit des Lesers.
Gelz:

Die Imagination ist ja das Mittel schlechthin, mit dem die Wirklichkeit verändert oder reformiert werden kann. Das beste Beispiel dafür ist die Liebe. Unser Verständnis von Liebe wird bis heute von literarischen Bildern der Romantik geprägt.

Welche Grenzen sind dem Realismus gesetzt?

Ickstadt: Der Realismus trägt immer Welthaltigkeit in sich, das begrenzt ihn im Vergleich zur Lyrik. Realisten können nicht so stark experimentieren.
Gelz:

Aber weil sich unsere Gesellschaft – im Großen betrachtet – immer verändert, wird der Realismus auch immer wieder eine Renaissance erleben.


Das Gespräch führte Wolfgang Zwander.

Mehr Narren auf die Bühne

  • 13.07.2012, 18:18

Es ist alles so normal geworden.

Kommentar

Es ist alles so normal geworden. Man nimmt es für normal, dass die Freiheitlichen die Rassengesetze früherer Terrorzeiten fortschreiben wollen. Es ist normal geworden, dass man eine hermetische sozialdemokratische Stadtverwaltung für nahezu perfekt ausgibt, die den Integrationsgedanken heute erst als Neuigkeit entdeckt. Es wundert niemanden, dass Christsoziale die Schwächsten der Gesellschaft, die ohnehin am Boden liegen, noch mit Zwangsarbeit traktieren wollen. Es ist normal geworden, dass Grüne, die exzentrische und originelle Alternativen entwickeln sollten, vor lauter Begierde platzen, endlich im  Mainstream mitregieren zu dürfen.
Wer annähme, die Friktionen in den Basisstrukturen der Grünen Alternative in Wiens unkonventionelleren Bezirken sei so etwas wie konstruktive Narretei, der irrt: Sie sind nach Art der Altparteien vom Apparat manipuliert; und hier manifestiert sich die verhängnisvolle Normalisierung auch dieser Partei, in der Rankünen machtpolitisch-personeller Art Inhalte zu ersetzen beginnen. Wo sind die Zeiten, dass wahrhaftige Querköpfe als Chaoten, als Kommunisten, als Schädlinge beschimpft wurden – ja, als Schädlinge für die betuliche Bürgerruhe eines ungemein reichen Gemeinwesens, das mit  seinen Ressourcen gesellschaftlich, ökonomisch und umwelttechnisch wuchern könnte.
Könnte. Es zu tun sich aber weigert; radikale Ansätze als Gefährdung fürchtet; Originale zu Spinnern macht und die Narretei lähmender Besitzstandswahrung zur wünschenswerten Normalität erklärt, statt die wahren Exzentriker, die Kreativen, die dynamischen Narren und deren Phantasie und Visionen zum Leitmotiv zu machen. Eine der schönen und lebenslustigen Städte Europas führt einen hässlichen und lustfeindlichen Kampf mit sich selbst. Die reichste Millionenstadt des Kontinents findet nicht zu genug Witz, ihre ethnisch-sprachliche Vielfalt zu einem kulturellen Feuerwerk zu bündeln: Wo ist der Stolz auf die geniale Mixtur des Wiener Blutes? Die sollte die Krieger um das Stadtschicksal inspirieren, statt der Angstkomplex um seine Reinheit: Die „Reinrassigen“, ob ethnisch oder ideologisch und welcher Spezies auch immer, waren noch immer die Tumben, Faden, Uninteressanten. Mehr intelligente Bastarde, mehr Narren auf die Bühne!

Der Autor ist Österreich-Korrespondent der Süddeutschen Zeitung.

Made in China

  • 13.07.2012, 18:18

Während sowohl chinesische KapitaleignerInnen als auch ausländische InvestorInnen und KonsumentInnen weiter von den niedrigen Lohnkosten in China profitieren, regt sich der Widerstand bei den unterbezahlten und unzulänglich vertretenen ArbeiterInnen. Deren Erwartungen steigen nach 30-jährigem Wirtschaftswachstum auf Kosten ihrer Rechte.

Während sowohl chinesische KapitaleignerInnen als auch ausländische InvestorInnen und KonsumentInnen weiter von den niedrigen Lohnkosten in China profitieren, regt sich der Widerstand bei den unterbezahlten und unzulänglich vertretenen ArbeiterInnen. Deren Erwartungen steigen nach 30-jährigem Wirtschaftswachstum auf Kosten ihrer Rechte.

Die All-China Federation of Trade Unions ist mit über 130 Millionen Mitgliedern die größte Gewerkschaft der Welt. Doch wer sich davon eine starke Vertretung der chinesischen ArbeitnehmerInnen erwartet, irrt. Die von Peking kontrollierte Einheitsgewerkschaft spielt bei Lohnverhandlungen praktisch keine Rolle, sondern tritt eher durch die Organisation von Sportveranstaltungen in Erscheinung. Ihre Funktionäre kooperieren häufig mit dem Management und genießen wenig Vertrauen in der Belegschaft. Zwar wurde durch die 1994 eingeführten Dienstverträge eine Basis für Kollektivverträge geschaffen, auf eine spätestens dadurch notwendige, demokratischrepräsentative Struktur wurde allerdings verzichtet.

13 Selbstmordversuche. So ist es kaum verwunderlich, dass der Lohn vieler ArbeiterInnen trotz Arbeitszeiten von bis zu 70 Wochenstunden nicht einmal ansatzweise den Erwerb der in ihrer Fabrik hergestellten Produkte ermöglicht. Obwohl die Löhne seit einigen Jahren trotz der hohen Inflation zumindest offiziell real ansteigen, machen die hohen Wohnkosten, die substantielle Einkommensungleichheit und die damit verbundene Perspektivenlosigkeit zu schaffen. Der Fall von 13 Selbstmordversuchen innerhalb von fünf Monaten bei Foxconn in Shenzhen, das unter anderem für Apple und HP produziert, hat auf tragische Weise dazu beigetragen, Medien in und außerhalb Chinas auf die schwere Situation der chinesischen ArbeiterInnen aufmerksam zu machen. Doch weil die harten Arbeitsbedingungen bei Foxconn vergleichsweise moderat sind, wird kritisiert, dass noch fundamentalere Probleme des chinesischen Arbeitsmarktes weiter im Dunklen bleiben.

Am Rand der Gesellschaft. Seit der Liberalisierung des chinesischen Arbeitsmarktes Anfang der 80er Jahre ziehen WanderarbeiterInnen vom Land in die Städte, wo das Lohnniveau etwa 3,3 Mal so hoch ist wie in der Peripherie. Derzeit werden etwa 150 Millionen Arbeitskräfte mit Migrationshintergrund geschätzt – die gesamte Erwerbsbevölkerung Chinas machte 2009 zum Vergleich 813 Millionen Menschen aus. Viele Eltern erhofften sich, ihre Familie durch das höhere Einkommen finanziell unterstützen zu können, was unter anderem etwa 20 Millionen in den Provinzen zurückgelassene Kinder zufolge hatte. Die Rechte der WanderarbeiterInnen sind zudem durch die Wohnsitzregistrierung, die Ende der 50er Jahre zur Kontrolle der internen Migration eingeführt wurde, minimal. Wer den eigenen hokou, also den Wohnsitz, am Land hat, hat zwar ein Recht auf Versorgung durch die Kommune – dieses ist jedoch örtlich gebunden. Somit haben MigrantInnen meist keinen Zugang zur öffentlichen Gesundheitsversorgung, Sozialwohnungen und Bildung, sofern sie finanziell nicht dafür aufkommen können. Als wäre das noch nicht genug, stehen sie durch ihre AußenseiterInnenrolle und aufgrund ihres niedrigen Bildungsniveaus am Rand der Gesellschaft und haben fast nur in arbeitsintensiven Sparten Berufsaussichten, etwa am Bau oder in Kohlebergwerken, während sie überproportional von Arbeitslosigkeit bedroht sind.
Während die erste Generation der WanderarbeiterInnen diese Lasten selbstlos auf sich nahm, wachsen die Ansprüche in der zweiten Generation der migrantischen Arbeitskräfte, die nicht mehr der willkürliche Bauteil einer Profitmaschine sein wollen. Unter anderem die Tatsache, dass sie sich nicht mehr mit ihrem Schicksal zufrieden geben wollen, heizt die Stimmung gegen die schlechte ArbeitnehmerInnenvertretung und die katastrophalen Arbeitsbedingungen bei niedrigsten Löhnen an. Die Arbeitsniederlegung der Belegschaft einer Honda-Fabrik in Guangdong, wo ein Großteil der ArbeiterInnen aus den zentralen Provinzen zugewandert ist, und die Forderungen nach bis zu 50 Prozent höheren Löhnen setzten die japanische Firma im Mai 2010 unter großen Druck. In privaten Unternehmen sind nicht nur Löhne und ArbeitnehmerInnenvergünstigungen geringer als in Staatsbetrieben, auch die Lohnspanne von eins zu 50 zwischen japanischen und chinesischen ArbeiterInnen gab den Ausschlag zu den Unruhen. Schlussendlich gab Honda angesichts der dadurch zu entstehen drohenden finanziellen Schadens nach und kündigte anschließend die Streikführer.

Kein Steikrecht. Obwohl Streiks in China nicht explizit verboten sind, wurde das Streikrecht 1982 abgeschafft, weil die Regierung die Probleme zwischen KapitaleignerInnen und Proletariat offiziell als beseitigt ansah – ein zynisches Urteil. Dennoch begegnet die KP Arbeitsunruhen wie denen in Guangdong bisher mit Geduld und spricht von privaten Problemen zwischen ArbeiterInnen und dem Management.
Von diesen unabhängig, von den Gewerkschaften organisierten und in erster Linie auf eine Verbesserung der eigenen Arbeitsbedingungen ausgerichteten Forderungen wird in westlichen Medien in letzter Zeit vermehrt berichtet. Leider täuscht der Eindruck, dass es sich dabei um einen radikalen Umschwung handelt, denn Streiks wie in Guangdong fanden auch in der Vergangenheit regelmäßig statt, ohne dabei auf großes Interesse bei den staatlich kontrollierten Medien zu stoßen. Von einer neuen ArbeiterInnenbewegung kann insofern keine Rede sein, denn solange es keine unabhängige Vertretung mit Kündigungsschutz gibt, sind seriöse Verhandlungen mit dem Management nicht möglich, wie der Streik in Guangdong zeigt.
Diverse NGOs, etwa China Labour Bulletin (clb.org.hk), haben es sich deshalb zum Ziel gemacht, die restliche Welt auf die fundamentalen Missstände und die chinesischen ArbeiterInnen auf ihre Rechte aufmerksam zu machen. Auch das 2008 eingeführte neue Arbeitsrecht und durch das Internet leichter zugängliche Informationen über die Arbeitsbedingungen in anderen Provinzen haben das Bewusstsein der Arbeitskräfte hinsichtlich der Mindeststandards geschärft. Berichte darüber, dass die Einheitsgewerkschaft ab nächstem Jahr vermehrt lokalen, basisdemokratisch gewählten und vom Management unabhängigen GewerkschafterInnen das Parkett überlassen will, bringen ebenfalls Grund zur Hoffnung.

Das Menschengeschlecht

  • 13.07.2012, 18:18

Über die Ergüsse des Thilo Sarrazin wurde in den vergangenen Wochen mehr als genug diskutiert. Mal plumper, mal gehobener, mal appetitlicher, mal unappetitlicher. Wer die Diskussion verfolgte, konnte relativ schnell feststellen: Das Interessante daran war in Wirklichkeit nicht der Inhalt von Sarrazins abgeschmackten Menschenzüchter-Thesen, sondern wie darüber diskutiert wurde, oder besser gesagt: Was die Diskussion bei wem zum Vorschein brachte.

Über die Ergüsse des Thilo Sarrazin wurde in den vergangenen Wochen mehr als genug diskutiert. Mal plumper, mal gehobener, mal appetitlicher, mal unappetitlicher. Wer die Diskussion verfolgte, konnte relativ schnell feststellen: Das Interessante daran war in Wirklichkeit nicht der Inhalt von Sarrazins abgeschmackten Menschenzüchter-Thesen, sondern wie darüber diskutiert wurde, oder besser gesagt: Was die Diskussion bei wem zum Vorschein brachte. Halten wir fest: Die Bild-Zeitung nutzte den Hype der Political Incorrectness sofort aus, um festzustellen, was man alles „wohl noch sagen dürfen“ werde. Dass dabei gefordert wird, „wer arbeitet, darf nicht der Dumme sein“, nehmen die LeserInnen des Blattes hoffentlich nicht zu wörtlich.
Die FPÖ geilte sich – wie nicht anders zu erwarten – an Sarrazins Thesen auf: Laut Hazeh Strache muss „man sich schon fast überlegen, diesem verdienstvollen Mann bei uns Asyl anzubieten“. Hierzu wäre interessant, welche neue Thesen über vererbbare Dummheit Sarrazin einfielen, wenn er mal den Hazeh-Mob am Viktor-Adler-Markt sehen würde. Sei´s drum.
Wirklich Anlass zum Aufhorchen sollte ohnehin etwas anderes geben: Wie stark Sarrazins „ethnische Thesen“ von Teilen des so genannten bürgerlichen Lagers rezipiert werden. Sarrazin schaffte es immerhin bis auf das Cover vom Spiegel. Die Ressentiments, die er schürt, finden ganz offenbar auch in Kreisen Widerhall, die Qualitätsmedien konsumieren. Und schneller als uns allen lieb sein kann, müssen wir uns nun wieder mit Fragen herumschlagen wie dieser: Ob eine junge „deutsche Akademikerin“ a priori wertvoller sein könnte als eine „ostanatolische Gebärmaschine“? Die Zeiten aber, in denen solche Fragen auch nur implizit gestellt wurden, sollten wir als Menschengeschlecht wirklich hinter uns gelassen haben.

Auf einen heißen Sommer folgt ein heißer Herbst

  • 13.07.2012, 18:18

Die österreichischen Hochschulen stehen kurz vor dem Kollaps, die Situation hat sich in den letzten Monaten noch einmal verschärft. Wissenschaftsministerin Karl zeigt keine Motivation gegen Parteifreund und Finanzminister Pröll antreten zu wollen und mehr Mittel aus dem Bundesbudget zu erstreiten. Im Gegenteil.

Die österreichischen Hochschulen stehen kurz vor dem Kollaps, die Situation hat sich in den letzten Monaten noch einmal verschärft. Wissenschaftsministerin Karl zeigt keine Motivation gegen Parteifreund und Finanzminister Pröll antreten zu wollen und mehr Mittel aus dem Bundesbudget zu erstreiten. Im Gegenteil: Karl richtet ihre Energie gegen uns Studierende mit der erneuten Forderung nach Studiengebühren und droht den Universitäten mit Schließungen und Personalabbau. Wenn Karl nicht bald beginnt ihr Amt auszufüllen und sich in den Budgetverhandlungen durchsetzt, ist das Schlimmste zu erwarten. Seit dem letzten Jahr hat sich also nichts zum Besseren gewendet. In einer ersten Aktion im September, hat die ÖH-Bundesvertretung gemeinsam mit der unibrennt-Bewegung im Rahmen der Kundgebung machen-wir-uns-stark ein erstes Zeichen gesetzt – schon vor dem Semesterbeginn gingen Studierende auf die Straße und forderten lautstark einen radikalen Kurswechsel in der Bildungspolitik. Die Bundesregierung kann sich auf einen heißen Herbst einstellen. Im Rahmen der geplanten Budgetkürzungen drohen auch Einsparungen im Sozialbereich. Gerade im Bezug auf die mangelnde soziale Absicherung von Studierenden, wie auch die Ergebnisse der aktuellen Studierendensozialerhebung aufs Neue zeigen, wären Kürzungen fatal. Von ÖH-Seite versuchen wir Dich so gut wie möglich zu unterstützen, hier gibt es zwei Neuigkeiten: Sehr viele Studis sind von Studienzeitverzögerungen betroffen, weil die Unis es nicht schaffen ausreichend Lehrveranstaltungen anzubieten. Falls das auch Dich betrifft, findest du genauere Infos zur Klagemöglichkeit auf Seite 11. Ein weiterer Service-Ausbau betrifft Deine Versicherung: Als ÖH-Mitglied bist Du im Rahmen Deines Studiums automatisch haftplicht- und unfallversichert. Wir haben einen neuen Vertrag mit der Allianz abgeschlossen und die bisherigen Leistungen noch weiter ausgebaut. Mehr dazu auf www.oeh.ac.at/versicherung. Ob Ministerin Karl und ihr Kollege Pröll endlich zur Vernunft kommen, wird sich zeigen, wir Studierende werden uns auf alle Fälle keine weiteren Verschlechterungen gefallen lassen. Wir wünschen Dir trotz dieser zugegebenermaßen etwas düsteren Aussichten einen guten Start ins neue Semester.

Der Gegenstand Lernen

  • 13.07.2012, 18:18

Ohne weiteres kann ich eine Reihe von klugen und einverständigen Bemerkungen zum Lernen machen.

Ein Gastkommentar.

Ohne weiteres kann ich eine Reihe von klugen und einverständigen Bemerkungen zum Lernen machen. Dass es nützlich ist und notwendig, dass es Spaß machen kann und Mühe bereiten, dass es lebenslänglich geschieht, dass es allgemein menschlich ist, dass aber auch Tiere selbstverständlich in der Lage sind zu lernen… Solche Sätze stehen um mich wie ein gepflegter Garten, in dem ich auf eigens dafür angelegten Wegen gehe, ohne dass ich etwas zertrete, mich etwas mit Dornen ergreift und verletzt. Ich bin unangefochten.
Dabei löst das Wort Lernen, wenn ich es nur nah genug an mich heranlasse, ein tiefes Unbehagen aus. Es heftet sich an Erinnerungen von Befehl und versuchtem Gehorsam, von Versagen und Unlust, von Schuld. Im Schacht meines Gedächtnisses sind unter dem Namen Lernen vornehmlich Erlebnisse abgelegt, in denen es mir gerade nicht gelang zu lernen, was ich sollte oder wollte. Erinnerung an Unvermögen, Verweigerung, Blockade.

Lernen als Tätigkeit. Ist Lernen also etwas, das nur sprechbar und erkennbar wird im Moment, in dem ein geplantes Ziel nicht erreicht wird, in dem eigene Strategien und Mühe entfaltet werden müssen, und das daher benennbar und erinnerbar ist zunächst als Negativerlebnis, als misslingendes Lernen.
Ich kann das nicht glauben. Ich weiß von Neugier und Lernlust. Also muss es doch in der Erinnerung, wie verschüttet auch immer, gelingende, positive Lernerlebnisse geben. Aber warum solche Vergrabung? Warum diese Unlustbesetzung des Wortes Lernen in eigener Erinnerung bei gleichzeitigem Wissen, dass Lernen gesellschaftlich zu den positiven, anerkannten, guten Tätigkeiten gehört?
Vielleicht ist es sinnvoll, von Lernen nur in Zusammenhängen zu sprechen, in denen für die Bewältigung bestimmter Praxen eigene Schritte gegangen werden müssen, Strategien ergriffen, Fähigkeiten bewusst erlangt werden– und die Hoffnung, es gäbe so etwas wie lustvolles glückliches Lernen dem Reich der Wunschphantasien zuzuschreiben? Lernen wäre demnach an Training gebunden und es gälte, erfolgreiche Programme zu entwerfen und existierende ständig zu verbessern, um den größtmöglichen Lernerfolg zu erzielen? Fähigkeiten müssen durch harte Übung erlangt werden, der Weg ist steinig, das Gehen nur durch äußeren oder/und inneren Zwang möglich. Es ist günstig, in sehr jungem Alter damit anzufangen, wenn die Menschen noch biegsam sind. »Früh krümmt sich, was ein Häkchen werden will.« Alles, was man durch freudiges Tun gleichsam im Fluge erlernt, wäre dann für eine Theorie des Lernens und entsprechende Pädagogik ebenso wenig von Interesse wie die schleichende Ein- und Unterordnung, die das Leben in herrschender Gesellschaft erbringt?
Ich bin nicht überzeugt. Aber es irritiert mich, dass mir immer weiter negative Lernerlebnisse einfallen, bis zu einem gewissen Grade zumindest, und dann der eigentliche Lernschub wie ausgelöscht ist, sodass ich aus ihm wiederum nichts lernen kann.
Ich nehme ein Beispiel aus höherem Alter, sodass kindliche Unlust und womöglicher Unwille, die Fähigkeit hier und jetzt sich anzueignen, keine Rolle spielen können, sondern ich davon ausgehen kann, dass ich als rationales Subjekt lernen wollte.

Die Frage. Die Erinnerung ist wie ein Alptraum. Ich sitze in einem Seminar. Wie selbstverständlich ist meine Hauptkraft darauf gerichtet, nicht aufzufallen und doch aufzufallen. Es darf niemand merken, dass ich rein gar nichts weiß, kaum etwas verstehe, schon gar nicht, wozu ich es verstehen sollte, dass ich die Texte nicht durchdringend gelesen habe, nicht lesen konnte, weil sie mir nichts sagten und anderes mir mehr. Auch sitze ich hier in einem Hauptseminar, obwohl dies erst mein drittes Semester ist, weil es mir gelungen war, den Eindruck zu vermitteln, sehr klug zu sein und strebsam. Das scheint mir mit einem Mal kein so großer Erfolg mehr zu sein, sondern eine selbst gestellte Falle. Ich schreibe in jedem Semester wenigstens vier Referate und bin also fleißig, habe aber mehr und mehr den Eindruck, hauptsächlich eine Inszenierung zu betreiben, nichts wirklich zu sein und also vergeblich den Versuch zu machen, Lernbissen zu ergattern. Fieberhaft überlege ich, was ich fragen könnte. Dies scheint die hauptsächliche Erwartung zu sein, dass die Studenten Fragen stellen und so Verständnis, Wissensdurst, Interesse zeigen. Es muss mir einfach eine Frage einfallen, bevor ich plötzlich an die Reihe komme, in den Mittelpunkt rücke und jedermann sieht, dass ich nichts zu fragen weiß. Um mich herum sitzen die Studenten, es sind fast alles Männer, und daher wundere ich mich nicht, dass sie eifrig und fähig aussehen. Sie sitzen also gespannt wie Bögen und stellen Frage auf Frage: Schon gibt es eine lange Liste der Fragenwollenden, und wenn ich mich nicht jetzt melde, komme ich in dieser Sitzung überhaupt nicht mehr dran. Jede Studentenfrage ist eingebettet in einen Urstrom an Wissen. Querverweise, Namen, Bezüge – wenn mir doch auch bloß eine so intelligente Frage einfallen würde. Mein Gesicht fühlt sich von innen an, als sei es außen rot vor Anstrengung, meine Hände sind schweißnass– der Rest meines Körpers ist verschwunden, da keimt in mir eine Fragemöglichkeit.
Es ist nicht meine Frage – um zu fragen, verstehe ich zu wenig –, es ist eine mögliche Frage in diesem hochintelligenten Raum. Ich melde mich, bin die Achte auf der Liste und begebe mich in die schreckliche Zeit des gespannten Wartens, der Hoffnung, ich möge gar nicht mehr drankommen, der Gewissheit, dass es jetzt unvermeidlich ist. Ich forme elegante und gelehrte Sätze in meinem Kopf, fange immer wieder von vorn an, bis die Frage– sie ist beileibe nicht lang– jene unverwechselbare Gestalt erhält, unerhört wichtig zu klingen, klug und gelehrt, und doch sich nicht als eine zu verraten, die von mir gar nicht ausgeht, nicht auf Antwort drängt, sondern die nichts vorhat, als im Raume zu stehen und auf mich als ihre Urheberin zu verweisen und solcherart ein glänzendes Licht auf mich zu werfen, allgemeine Anerkennung, einverständiges Nicken: bedeutend. Der Punkt, an dem ich einsetzen muss, rückt näher. Immerhin ist es eine Diskussion und ich habe schon geraume Zeit überhaupt nicht mehr zugehört, worum es geht. So weiß ich, als ich endlich aufgerufen werde, nicht, ob die Frage überhaupt noch sinnvoll in den Raum passt, und ausgerechnet jetzt muss ich daran denken, damit überhaupt an Sinn und Bedeutung der Frage, und beginne zu stottern. Die auswendig gelernten wohlgeformten Sätze haben meinen Kopf verlassen. In die Leere und allgemeine Stille hinein sage ich irgendetwas und lehne mich wieder zurück, jetzt erst bemerkend, dass ich mich angespannt ganz nach vorne gebeugt hatte, und bin verzweifelt enttäuscht, dass meine Frage, die ich nicht mehr weiß, von niemandem aufgenommen und beantwortet wird. Die ganze Anstrengung war umsonst.

Privilegierte Möglichkeit. Wieder eine Lernsituation aus einem institutionellen Raum, wieder eine Erinnerung an Unsicherheit, Vergeblichkeit, jetzt Täuschung, an den Versuch, sich in die Welt zu begeben, wie es erwartet wird, aber kaum eine Erinnerung an Neugier, an die Lust des Lernens, gar an das Studium als eine privilegierte Möglichkeit, Welt zu erkunden. Vor allem heftet sich Erinnerung wieder an Leid, an Unvermögen, an Misslingen. Wie von ungefähr mischen sich in die Erinnerung Kritik an der Lernsituation, Spott über womöglich leere Worte, Bedeutung produzierende Anordnung, die anderen Studenten– jedoch bleiben dies bloße Gesten, da in der Erinnerung kein eigenes Wollen, keine tatsächliche Frage, kein Wissenszuwachs verzeichnet ist. Lernen scheint eingeklemmt zwischen individuellem Wollen, das sich aber noch nicht kennt, und gesellschaftlicher Institution, deren objektiver Sinn verschlossen bleibt, ein Ausflug in eine unerkennbare Fremde.

Auszug aus meinem Buch Lernverhältnisse. Selbstbewegungen und Selbstblockierungen, Hamburg 2003, 2.A 2007

Frigga Haug, Dr. phil. Habil. Ist Vorsitzende des Berliner Instituts für kritische Theorie.

Gutes Tun und drüber reden

  • 13.07.2012, 18:18

Mikrokredite boomen nicht nur in Entwicklungsländern, sondern auch in Österreich und Europa. Doch was ist der Inhalt dieses Konzepts und warum ist es so erfolgreich?

Mikrokredite boomen nicht nur in Entwicklungsländern, sondern auch in Österreich und Europa. Doch was ist der Inhalt dieses Konzepts und warum ist es so erfolgreich?

Klein- und Kleinstkredite für Menschen, die bei jeder anderen Bank als kreditunwürdig gelten würden. Das ist das Erfolgsrezept von Muhammad Yunus. Der Wirtschaftsprofessor aus Bangladesch gründete 1983 die sozial orientierte Grameen Bank und ermöglichte so vielen armen Menschen, sich eine wirtschaftliche Existenz aufbauen zu können. Dafür wurde er 2006 mit dem Friedensnobelpreis ausgezeichnet.
Inzwischen gibt es viele Organisationen, die Yunus‘ Idee aufgreifen. Auch hier in Österreich: Mit 1. Mai 2010 startete das Sozialministerium das Pilot-Programm „Der Mikrokredit“ für Arbeitslose und wirtschaftlich selbstständige Klein-Unternehmen in Österreich. Für alle, die ein Unternehmen gründen, fortführen, ausdehnen oder übernehmen wollen, steht das nötige Startkapital oder Vermögen für die laufende Finanzierung zur Verfügung. Das Programm soll helfen, tragfähige Geschäftsideen in die Tat umzusetzen, und finanziert Einzelpersonen mit bis zu 12.500 Euro, Personengesellschaften mit bis zu 25.000 Euro. Zielgruppe sind vor allem Arbeitslose, am Arbeitsmarkt Benachteiligte oder Menschen mit erschwertem Zugang zum klassischen Kreditmarkt. Zurzeit läuft das Programm allerdings nur in der Steiermark und in Wien.

Hebelwirkung. Aber nicht nur der Staat, sondern auch private Unternehmen und NGOs mischen bei den Mikrokrediten in Europa mit. Eines davon istdie EntwicklungsgenossInnenschaft Oikocredit. Die Kredite variieren zwischen 50 und 1500 Dollar und werden in Asien, Afrika und immer öfter auch in Osteuropa vergeben. Finanziert wird die Non-Profit-Organisation von 36.000 AnlegerInnen, davon mehr als 2000 in Österreich. Ab 200 Euro kann man GenossInnenschaftsanteile erwerben. Die Rendite von zwei Prozent ist zwar gering, die Hebelwirkung des angelegten Geldes aber enorm.
Eine andere Möglichkeit der Mikrofinanzierung ist der Dual Return Fund. Der Fonds, der in Österreich von VermögensberaterInnen vertrieben wird, bietet AnlegerInnen die Möglichkeit, ihr Geld in Mikrokredite zu veranlagen und eine „doppelte Rendite“ – als Dividende und als gute Tat – zu lukrieren. Er verwaltet rund 100 Millionen Euro und gibt Gelder an Mikrokreditinstitute in armen Ländern weiter, die diese in lokale Kleinprojekte investieren.
Ein Problem dabei ist, dass Armut nicht in jedem Land gleich definiert ist. Um die Höhe der Kredite in verschiedenen Ländern besser bestimmen zu können, entwickelte Oikocredit gemeinsam mit der Grameen Bank den Progress out of Poverty Index (PPI). Zehn aussagekräftige Länderindikatoren wurden entwickelt, um ein Armutsprofil zu erstellen. Dabei werden beispielweise die klimatischen Begebenheiten, aber auch die Grundsituation der KreditnehmerInnen berücksichtigt. Der PPI dokumentiert zudem auch die sozial nachhaltige Entwicklung durch den Mikrokredit über einen längeren Zeitraum hinweg.
Auch österreichische Banken spielen ihre Rolle bei der Mikrokreditfinanzierung. Die Erste Bank versucht mit ihrem Projekt Die Zweite Sparkasse Menschen dabei zu helfen, aus den Schulden zu kommen und sich ein neues Leben aufzubauen. 400 ehrenamtliche MitarbeiterInnen arbeiten eng mit der Caritas und der Schuldnerberatung zusammen, um die KundInnen umfassend beraten zu können. Mit der Social Business Tour 2010 zieht die Erste durch osteuropäische Hauptstädte, um das Konzept zu propagieren. Da stellt sich natürlich die Frage, ob die Marke Social Business für Marketing-Zwecke missbraucht wird.
Erste Bank-Chef Andreas Treichl sagte dazu nur, selbst wenn das Engagement der Banken auch mit Marketing zu tun haben sollte, profitieren Menschen, die sonst nie an einen Kredit kämen. Und: „Wenn ein Kleinstunternehmer mit einem Mikrokredit den Aufstieg zum wirklich Kreditwürdigen schaffte, werde ihm die Erste Bank nicht böse sein, wenn sie in guter Erinnerung geblieben ist.“
Auch die Volksbanken-Gruppe steht vor dem Einstieg in die Mikrokredtivergabe in Osteuropa, wobei sie sich mit vor Ort tätigen MikrofinanzpartnerInnen zusammenschließen. Die Kreditsummen richten sich nach der Nation: In Bosnien rechnet die VBI mit bis zu 1000 Euro, in Rumänien von 2000 bis 9000 Euro.

Auch Risiken. Mikrokredite sind keine eierlegende Wollmilchsau, sie bergen auch Risiken: Es gibt erste Anzeichen einer Mikrokreditblase. Kommerzielle Unternehmen versprechen ihren AnlegerInnen hohe Renditen und KundInnen zahlen alte Kredite mit neuen zurück. Ein Ausweg wäre ein UN-Gütesiegel, wie es Oikocredit-Chef Peter Püspök fordert.
Das Risiko hält aber die Europäische Union nicht ab, mit von der Partie bei den Mikrokrediten zu sein: Insgesamt vergibt sie 45.000 davon. Der EU-Kommissar für Soziales, Laszlo Andor, will mit Klein- und Kleinstkrediten im Umfang von insgesamt 500 Millionen Euro den UnternehmerInnengeist fördern. Nach Erkenntnissen der EU-Kommission wird schon jetzt jedes dritte Unternehmen in Europa von einem oder einer Arbeitslosen gegründet.

Kein Land für Frauen

  • 13.07.2012, 18:18

Ein Vergewaltigungsfall zeigt, das postrevolutionäre Ägypten ist ein Land, das bei Null beginnen muss und dessen erfolgreicher Aufstand sich aufzufressen droht. Eine Reportage.

Auf dem Weg von Kairo zu den Gaza-Protesten am ägyptischen Grenzort Rafah wird Lisa an einem Militärcheckpoint gestoppt. „Aussteigen, Gepäck ausladen, Pass herzeigen“, sagt der Soldat. Als einzige Ausländerin muss sie das Sammeltaxi verlassen. Ihre ägyptischen MitfahrerInnen werden weitergeschickt, verschwinden in der Dunkelheit. Die Fahrt endet für Lisa hier, an einem der unzähligen Checkpoints der Sinaihalbinsel nahe der Stadt Al-Arish. Sie endet mit einer Vergewaltigung durch einen ägyptischen Soldaten. Dann beginnt eine Odyssee durch die ägyptischen Institutionen.
30 Soldaten am Checkpoint wollen Lisas Schreie nicht gehört haben. Auch sie sind nur Produkte einer Männergesellschaft, die ausländische Frauen auf den Straßen gerne als billiges Fleisch, als Dollarscheine und Visas auf zwei Beinen wahrnimmt.
Vergewaltigung ist kein singuläres Ereignis in Ägypten. Die Tat und die Art ihrer Aufarbeitung durch die Behörden zeigt das Unvermögen mit Vergewaltigungsfällen umzugehen offen auf. Und es
hinterlässt einen schalen Beigeschmack. Wäre Lisa nicht die Tochter eines sehr einflussreichen britischen Ex-Diplomaten mit Naheverhältnis zu El- Baradei gewesen – wer weiß, ob die britische Botschaft dann reagiert hätte, ob sich die ägyptischen Behörden überhaupt dem Fall gewidmet hätten.
„Sie haben gerochen, welchen potentiellen Skandal diese Geschichte in sich birgt. Deswegen haben sie gehandelt. Aber eben so wie sie es gewohnt sind: Untransparent und für andere nicht nachvollziehbar,“ ist sich Heba von Human Rights Watch, Expertin für Militärfolter in Ägypten sicher.

Sexuelle Belästigung. Einer Studie des ägyptischen Zentrums für Frauenrechte zufolge geben 98 Prozent der Ausländerinnen in Ägypten und 83 Prozent der Ägypterinnen an, regelmäßig sexuell belästigt zu werden. Und Vergewaltigung? „Nein, darüber reden wir nicht“, versichern die meisten Ägypterinnen. Um sozialer Ächtung zu entgehen, wird meist geschwiegen. Natürlich standen Vergewaltigungen bei den Beamten der ägyptischen Staatssicherheit genauso wie andere Foltermethoden an der Tagesordnung. Aber geredet haben die wenigsten Opfer und offizielle Vergewaltigungsstatistiken gibt es keine.
Über 90 Prozent der ägyptischen Mädchen werden laut Amnesty International beschnitten. Religion spielt dabei keine Rolle. Christinnen und Musliminnen sind gleichermaßen betroffen.
Das Thema bleibt tabu, offiziell ist der Eingriff verboten. Es geht darum, die sexuelle Lust der Frauen zu zügeln. Gerechtfertigt wird diese Praxis von manchen auch als Schönheitsoperation. Nein, Ägypten ist kein Land für Frauen.
Wehmütig denkt Amani al Tunsi, die junge Radiomacherin und Buchautorin an jene Ausnahmetage am Tahrir Platz – zu deutsch Freiheitsplatz – zurück. „Das war das Ägypten, das ich mir immer gewünscht habe. Da gab es keine Männer und Frauen, keine Christen und keine Muslime. Es gab nur ÄgypterInnen.“ Damals gab es Hoffnung, doch die ist längst verflogen. „Es ist so als würden wir wieder von Null anfangen“, gibt sich Amani enttäuscht.

Im Verhör. Den Anforderungen des riesigen Transformationsprozesses scheint niemand gerecht zu werden. Das Militär spielt die Rolle des Schiedsrichters im Transformationsprozess. Transparenz ist für den hierarchisch in sich gekehrten Militärapparat ein Fremdwort. Und Frauen? Mit dem weiblichen Geschlecht haben sie wenig zu tun. Sogar der Tee in den Kasernen wird mit testosteronsenkenden Mitteln versetzt. Nein, das Militär kennt keine Frauen. Eine Irrfahrt durch die wirren Strukturen eines Landes, das zwischen Schock über die Ereignisse der Instantrevolution und Angst über die Zukunft des Landes in einer paranoiden Normalität erstarrt, beginnt für uns drei: Lisa, Sarah und mich.
Zurück in Kairo stehen wir mit Lisas Freund Sherif, einem Ex-Mitarbeiter des staatlichen Fernsehens, um zehn Uhr abends vor einem massiven Schreibtisch hinter den mächtigen Mauern des Polizeipalastes, dem Hauptquartier der ägyptischen Touristenpolizei, deren Mitarbeiter meist kein Englisch sprechen. Hinter dem Schreibtisch wölbt sich der Bauch des großen Tareks weit über das Stuhlende hinaus. Neben dem Schreibtisch sitzt der kleine Tarek, so wird er vom großen Tarek genannt, auf einem Hocker. Der Raum füllt sich nach und nach mit Männern, ausschließlich Männern, in einem Vergewaltigungsfall.
Da gibt es einen, der Tee kocht, einen anderen, der Süßes bringt, einen, dritten der den Boden um unsere Füße schrubbt. Der große Tarek ist ständig an mindestens einem, zuweilen zwei Telefonen. An einem Hörer die Polizeikommandos vor der israelischen Botschaft, die den Demonstranten gerade eine ordentliche Tracht Prügel verpassen. Am anderen seine Bataillone in der südlichen Stadt Qena, denen er befiehlt endlich für Ruhe zu sorgen und die Aufständischen niederzuschlagen. Dazwischen gibt er lauthals Kommandos, die immer anderen Leuten im Raum gelten, beruhigt Lisa mit bedrohlicher Stimme auf arabisch und jagt fluchend Fliegen mit einer verdreckten Klatsche.

Im Militärgericht. Die Möglichkeit, selbst einen Report zu verfassen, bekommt Lisa nicht, ständig wird sie angeherrscht, weitere intime Details vor allen Männern preiszugeben. Um Mitternacht erscheint ein Übersetzer, zumindest wird er als solcher vorgestellt, und verschwindet gleich wieder mit den Pässen. Er erscheint wieder zu einer Befragung von Lisa, Sarah und mir – den drei westlichen Frauen, die keine Ahnung haben, auf was sie sich da eingelassen haben.
Bald wird eines klar: Der Übersetzer ohne Namen ist kein Übersetzer, sondern ein Mitarbeiter des ägyptischen Sicherheitsapparats. Offiziell gibt es diesen gar nicht mehr. Vor der Revolution war es die gefürchtete Staatssicherheit, heute hat sich die Institution umgetauft. Jetzt heißt sie Nationalsicherheit. Nach der Revolution ist in Ägypten vor der Revolution. Vorher wussten die ÄgypterInnen zumindest, vor wem sie sich fürchten mussten.
Wieder öffnet sich die Tür, ein Abgesandter des Militärs erscheint. Somit ist die alte heilige Dreifaltigkeit komplett. Polizei, Ex-Staatssicherheit und Militär haben sich in einem Zimmer eingefunden, um – wie der große Tarek zusammenfasst – „eine wichtige Angelegenheit gleich mit den richtigen, wichtigen Ansprechpartnern zu klären.“
Hani – so hat sich der Militärdetektiv bei uns vorgestellt – bittet uns nach unten. Wir sollen mitkommen, nachdem der Täter ein Soldat des Militärs sei, müsse sich das Militär jetzt darum kümmern. Es ist zwei Uhr in der Früh, nach einer Fahrt quer durch die charmante Drecksstadt Kairo schließen sich die schweren Eisentore mit der Aufschrift Mahkama Al-Askaria, „Militärgericht“, hinter uns.
Mehr als 10.000 ZivilistInnen sollen in den vergangenen Monaten durch Militärgerichte angeklagt worden sein. Das schlägt selbst alle Rekorde Mubaraks. Wer das Militär kritisiert, bekommt Probleme. Unterdessen können Mubarak, seine Söhne und die Angeklagten der alten Wirtschaftsoligarchie und Politikergarde mit zivilen Verfahren rechnen und haben Anwälte, die ihnen zur Seite stehen. Einstweilen kann sich die Präsidentschaftsclique per W-Lan bequem allerlei Schlemmergerichte der ägyptischen Seite www.otlob.com hinter die Mauern des Tora-Gefängnisses im Süden Kairos ordern lassen. Für den Pöbel bleibt die Guillotine.
Zwei Stunden lang bleiben die Tore des Militärgerichts hinter uns geschlossen. Militärrichter in Pyjamas, müde Soldaten mit Kalashnikovs, Militärdetektive mit Handys bombardieren uns mit Fragen, telefonieren fieberhaft mit den unzähligen Checkpoints am Sinai und lassen uns nicht mehr gehen. Erst als der britische Vizebotschafter kurz vor dem Morgengrauen am Telefon droht und wir versprechen, wiederzukommen, öffnen sich die eisernen Tore.

Der Täter ist gefasst.

In der darauf folgenden Nacht schreibt Lisa ihren Report. Militärdetektiv Hani wacht über die Übersetzung, gibt mir genaue Anweisungen, was wie übersetzt werden muss. Was wichtig ist, was nicht. Wieder ist die Nacht lang. Doch immer mehr wird durch Hanis Anweisungen klar, dass der Report nur mehr eine Proforma- Angelegenheit ist, um die europäischen Gemüter zu besänftigen. Der Täter ist längst gefasst.
Am nächsten Morgen, knapp vor Lisas Rückflug nach London, folgt eine Vorladung beim Hauptquartier für Militärinvestigationen. Der Deal: Kleidung mit Spermaspuren gegen eine Bestätigung der Abgabe, einen vollen Namen und Kontaktdaten unseres Gegenübers. Fast scheint alles glatt zu gehen. Zum ersten Mal weiß Lisa, wem sie gegenübersitzt – dem Chef für Militärinvestigationen. Schon will sie aufstehen und in Richtung Flughafen aufbrechen. Doch wieder wird sie gegen ihren Willen, ohne Vorbereitung und Rückfrage zur Gefangenen einer Situation, aus der sie nicht fliehen kann. Was mit ihm passiert ist, weiß niemand. Seinen Namen kennen wir nicht. „Längst aufgehängt“, so der Tenor im Bekanntenkreis. Sie muss ihn identifizieren: „Bleib sitzen Lisa, dein Vergewaltiger steht vor der Tür.“


Die Autorin studiert Arabistik in Wien.

Wiener Melange oder Filterkaffee?

  • 13.07.2012, 18:18

Die Wiener-Blut-Plakate der FPÖ schlagen wieder einmal ein Stückchen weiter in die in unserem Land ohnehin schon unerträglich tiefe rassistische Kerbe. Doch wofür steht das Wiener Blut? Ein Streifzug durch die einenden und trennenden Facetten eines Begriffs.

Die Wiener-Blut-Plakate der FPÖ schlagen wieder einmal ein Stückchen weiter in die in unserem Land ohnehin schon unerträglich tiefe rassistische Kerbe. Doch wofür steht das Wiener Blut? Ein Streifzug durch die einenden und trennenden Facetten eines Begriffs.

Blut ist ein ganz besondererSaft“, doziert Mephistopheles in Goethes Faust. Blut sei „dicker als Wasser“, meint der Volksmund und die AnhängerInnen der größten und mächtigsten Religionsgemeinschaft in Österreich trinken während ihrer sonntäglichen Messen regelmäßig symbolisch das Blut ihres Gründers. Die Metaphorik des Blutes als lebengebendes und verbindendes Element ist unumstritten.
Das Wiener Blut hingegen stellt nicht nur eine gemeinsame Symbolik verschiedener Wiener Lebensarten dar, es ist mittlerweile auch ein viel strapaziertes Klischee. Nicht nur politische Parteien bedienen sich seiner, auch in die Populärkultur hat es Einzug genommen: Die Deutsch-Rock- Export-Combo Rammstein verarbeitet in ihrem Lied Wiener Blut den Fall des Josef F. aus Amstetten und Fußballikone Toni Polster singt in einem musikalischen Intermezzo mit der Kölner Kultband Fabulöse Thekenschlampen vom Wiener Blut, das in seinen „Wadln“ fließe, um nur zwei – sehr gegensätzliche Beispiele – aus diesem Bereich zu nennen.

Kein blaues Blut,... Die Operette von Johann Strauß Sohn, die den Begriff des Wiener Blutes erst prägte, singt von der Spontanität, dem Charme und auch der Schlitzohrigkeit, die für die EinwohnerInnen Wiens vermeintlich typisch sei. Jedenfalls bezog sich dieser Begriff in seiner Entstehung um die Jahrhundertwende nicht auf Menschen einer bestimmten sozialen Herkunft (ganz im Gegensatz zum „Blauen Blut“) oder eines bestimmten ethnischen Hintergrunds. Das Wien des Jahres 1899 war das Zentrum eines Vielvölkerstaates, ein Schmelztiegel in dem soziale Rangordnungen zwar durchaus manifest waren, für dessen Funktionieren aber das reibungslose Zusammenleben Menschen unterschiedlicher Herkunft zentral war.
Johann Strauß Sohns Vermächtnis geriet übrigens in der Zeit des deutschen Faschismus ins Fadenkreuz des Rassenwahns und stellte die Nazis vor größere Widersprüche. Einerseits war Strauß in der Nazi- Diktion „Achteljude“, andererseits galt seine Musik als „überaus deutsch und volksnah“. Die beiden Texter des Librettos zum „Wiener Blut“ (Victor León und Leo Stein) stammten übrigens aus Polen und Bratislava, Steins Grab befindet sich im alten israelitischen Trakt des Wiener Zentralfriedhofes.
Das Wiener Blut war also in der Realität wie in der Literatur eine Melange und kein Filterkaffee. Auch der viel beschworene „echte Wiener“ heißt und hieß, wie schon in der allseits bekannten Fernsehsendung der 70er Jahre, eben nicht nur Sackbauer, sondern auch Blahovec und Vejvoda.

... kein reines Blut, ... Aus heutiger Sicht und bei Ausblendung der damaligen sozio-kulturellen Gegebenheiten können natürlich auch Gruppen definiert werden, die vom Begriff des Wiener Blutes exkludiert waren, die mit dem „echten Wiener“ nicht mitgemeint waren. Die Multikulturalität des Wiens von 1900 war geprägt von einer christlich-jüdischmitteleuropäischen Vielfalt und einer eurozentrischen Perspektive. In Wien lebende Menschen nicht-europäischer Herkunft waren nur schwach vertreten.
Dieser Umstand wird auch heute bewusst verwendet, um Ressentiments zu schüren. Nicht zufällig versucht sich HC Strache durch das Tragen von bestimmten Symbolen bei MigrantInnen serbischer Herkunft anzubiedern, nicht zufällig wird nach dem Motto „Divide et Impera“ im FPÖ-Sprech neuerdings immer stärker zwischen den „braven, anständigen“ MigrantInnen, mit „gemeinsamer christlich-abendländischer“ Kultur und Menschen islamischen Glaubens unterschieden. Eine latente Islamophobie könnte dem Wiener Blut also durchaus unterstellt werden, wenngleich auch die, die den Begriff geschaffen und geprägt haben, nur Kinder ihrer Zeit waren.

(K)ein böses Blut? Eine totalitäre und verbrecherische Funktion spielte der Begriff des Blutes im Vokabular der Nazis. Die Reinhaltung des Blutes wurde bereits in Hitlers Mein Kampf als eine der obersten Zielsetzungen der deutschen FaschistInnen festgeschrieben, die Metapher von Schädlingen, die dem Volk das Blut aussaugen, wurde systematisch etabliert. Dies ebnete zunächst den Weg dafür, dass bestimmten Gruppen von Menschen ihre Lebensberechtigung abgesprochen werden konnte und ermöglichte in weiterer Folge die industrielle Vernichtung von Menschen.
Diese bestimmte geschichtliche Epoche der Blut-Rhetorik ist es auch, die der aktuellen Debatte ihren Zündstoff gibt. Das Wiener Blut war und ist ein eng mit der ethnischen und sozialen Vielfalt einer Stadt verbundenes sprachliches Bild. Wer es aber in einer Stadt, deren Bevölkerung den Holocaust aktiv mitgetragen hat, in einer restriktiv geführten Integrationsdebatte verwendet, ist wohl von bestimmten Faktoren getrieben. Etwa von der Absicht, Menschen gegeneinander aufzuhetzen, von bewusster und absoluter Respektlosigkeit den Opfern dieser unbegreiflichen Verbrechen gegenüber oder im besten Fall einfach nur von komplett mangelndem Fingerspitzengefühl. Ein Blick in die jüngere Geschichte der FPÖ lässt nicht auf Letzteres schließen.

Immigration und Globalisierung

  • 13.07.2012, 18:18

Wer Flüchtlingslager mit Ausschwitz gleichsetzt, der stärkt die radikale Rechte. Ein Kommentar von Sergio Benvenuto

Wer Flüchtlingslager mit Ausschwitz gleichsetzt, der stärkt die radikale Rechte. Ein Kommentar von Sergio Benvenuto

Vor einigen Jahren geriet ich in Rom zufällig in eine von einer kommunistischen Partei zum Thema Einwanderung veranstaltete politische Diskussion. Dabei zeigte sich, welche Vorstellungen die „Genossen“ über die unter den italienischen Massen gedeihende Fremdenfeindlichkeit und ihren Rassismus hatten: Der Zustrom der Einwanderer sei an sich absolut positiv, und wenn die einfachen Leute sich darüber beklagten, dann nur aufgrund kultureller Vorurteile, einer irrationalen, krankhaften Angst vor dem „Anderen“, dem Anders-Sein usw. Kurzum, für jene Kommunisten ist Fremdenfeindlichkeit eine Art von kollektiver Psychopathologie, zu kurieren allenfalls durch eine Psychoanalyse der Massen.

Sinkende Löhne. Ich konnte mich nicht zurückhalten und griff in die Debatte ein: „Vorausschicken möchte ich, dass ich kein Marxist bin – wobei, nebenbei, auch Marx darauf hielt, kein Marxist zu sein. Wenn er euch hören könnte, würde er sich im Grab umdrehen. Marx kannte sich ja in politischer Ökonomie aus, ergo wusste er, dass bei Vollbeschäftigung die Löhne steigen und die Verhandlungsposition der Lohnempfänger stark ist; dass die Löhne aber sinken und die Verhandlungsposition der Lohnempfänger schwächer wird, wenn das System sich öffnet, das heißt die Reservearmee an Arbeitskräften sich vergrößert. Die Einwanderer begnügen sich heute mit Löhnen, die unter denen der Italiener liegen, folglich schwächen sie die Verhandlungsposition der Lohnempfänger. Außerdem bilden die Einwanderer – in dem Maße, in dem sie im Krisenfall als erste die Arbeit verlieren, und in dem Maße, in dem sie ins Land strömen – eine Reservearmee, deren systemischer Effekt es ist, die Löhne der Arbeitnehmer zu drücken. Tatsächlich sinken die Löhne in Italien seit zwanzig Jahren, während Profite in den Himmel wachsen. Wenn also ein italienischer Arbeiter fremdenfeindlich wird und Lega Nord wählt, dann deshalb, weil er besser als jeder Intellektuelle weiß, wie die Dinge stehen; die Einwanderung untergräbt seine soziale und wirtschaftliche Position. Falls aber die Einwanderung gestoppt würde, würden die italienischen Unternehmer die Produktion verstärkt in Länder mit billigeren Arbeitskräften auslagern. Für unsere Arbeitnehmer liefe das aufs gleiche hinaus, genauer, es wäre noch schlimmer. Nicht zufällig befürworten die Unternehmer die unregulierte Einwanderung, aber die Lohnempfänger meistens nicht. Deren Fremdenfeindlichkeit halte ich für eine Spielart des Luddismus, der Maschinenstürmerei der englischen Weber zu Beginn des 19. Jahrhunderts. Die Weber glaubten, die Einführung neuer Maschinen nehme ihnen die Arbeit weg, und deshalb zerstörten sie die Maschinen. Doch damals wie heute kann das Rad der Geschichte nicht zurückgedreht werden. Fremdenfeindlichkeit hat ihre strukturellen ökonomischen Ursachen und ist nicht auf die psychologische Reaktion von Leuten zu reduzieren, die misstrauisch gegen Fremde sind. Und das sage ich euch als praktizierender Psychoanalytiker.“ Man blieb von meiner kleinen Rede nicht unbeeindruckt, weshalb sich der kommunistische Animateur zu sagen beeilte, Marx sei veraltet ... Leider sind die Gesetzmäßigkeiten der Ökonomie ganz und gar nicht veraltet. Viele „marxistische“ Intellektuelle aber schon. Linkssein ist gewiss nicht das mathematisch berechenbare Resultat exakter Interferenzen; es ist eine Ausrichtung des Herzens, die ethischleidenschaftliche Entscheidung, „stets auf seiten der Schwächeren zu sein“. Das Ärgerliche dabei ist, dass in einem Konflikt oft schwer zu sagen ist, wer nun wirklich „der Schwächste“ ist. Gemeinhin heißt es, Linkssein sei gleichbedeutend mit dem Streben nach mehr Gleichheit. Aber Gleichheit ist ein quasi mathematisches Konzept, eine formale Schlußfolgerung: Man predigt mehr Gleichheit, weil man für die Schwächsten Partei ergreift. „Mehr Gleichheit“ ist eine Rationalisierung der Parteinahme für die Schwächsten. Aber wer heute bei der radikalen Linken ist, dessen Herz schlägt nicht mehr wie einst für die Industriearbeiter, armen Bauern und hungernden Massen der Dritten Welt, sondern für die Einwanderer. Denn die sind, selbst wenn sie nicht gänzlich arm sind, doch die Schicht in unserer Gesellschaft, die am schwächsten ist: ohne bürgerliche Rechte, ohne Wahlrecht, stets in Gefahr, verjagt zu werden. In vielen Ausstellungen, avantgardistischen Stücken, alternativen Filmen und erbaulichen Zusammenkünften ist der Einwanderer die coole Figur; ihr gilt die Gunst der „schönen Seelen“. Und die Lager, in denen die Fremden eine zeitlang in Haft sitzen, vergleicht man mit den Lagern der Nazis... .

 

Schwarzweißmalerei. Jahrelang wurde in ganz Europa Giorgio Agamben zitiert, der an den Homo sacer erinnert, jene Figur aus römischer Zeit, den geheiligten oder auch zu verdammenden Menschen, ein Individuum, vogelfrei, ohne jeglichen rechtlichen Schutz, das jeder straffrei hätte töten können. Die „geheiligten Menschen“ von heute sind all jene, die gesellschaftlich nicht einbezogen sind. Menschen, die keine Bürger, sondern auf ihr „nacktes Leben“ reduzierte menschliche Wesen, nichts als lebende, rechtlose Körper sind. Eine bestimmte postmarxistische Linke ist von der Figur des Einwanderers fasziniert, in dem Maße, in dem dieser den neben uns lebenden neuen Homo sacer verkörpert. Ihn umgibt im Unterschied zum traditionellen Proletariat die Gloriole eines sehr postmodernen, entwurzelten Grenzüberschreiters.
Doch diese philanthropisch-philosophische Sympathie – die ich ethisch verstehen kann – führt zu politischen Verblendungen. So habe ich kürzlich mit linksextremen intellektuellen Freunden aus Europa und den USA über Einwanderung diskutiert. Ich sage, was der gesunde Menschenverstand mir eingibt: „Es ist absurd, sich gegen die Einwanderung zu stellen, weil die Menschen aus den ärmeren Ländern stets dazu neigen werden, in die reichen Länder zu ziehen. Aber ich habe Verständnis dafür, dass fast alle westlichen Länder – auch die mit linken Regierungen – versuchen, die Einwanderung zu filtern, vor allem in Zeiten der Wirtschaftskrise.“ Empörung bei meinen Gesprächspartnern. Die Einwanderung soll reguliert werden? Niemals, denn das habe Lagerhaft zur Folge. Ich verweise darauf, dass in unseren Ländern eine explosive Situation entstünde, wenn man die unkontrollierte Einwanderung erlauben würde – massive Arbeitslosigkeit, ein schwindelerregender Anstieg von Kriminalität, Armut, Gewalt wären die Folge. Die von übermäßiger Einwanderung provozierte Unordnung würde die Massen in die Arme faschistischer und fremdenfeindlicher Parteien treiben (wie es leider bereits der Fall ist); so wie die tiefe Wirtschaftskrise die Deutschen 1933 in Hitlers Arme trieb. Worauf einer meiner Gesprächspartner eine Bemerkung macht, die Applaus erntet: „Um zu verhindern, dass faschistische Konzentrationslager errichtet werden, brauchen wir also Lager für die Einwanderer?“ Für meine Gesprächspartner existiert zwischen einem Flüchtlingslager an der Küste Siziliens, das Boat people auffängt, und Auschwitz kein Unterschied!

„Coole Partisanenethik“. Bestimmte Linksintellektuelle interessieren sich heutzutage in keiner Weise für die Stimmungen, Gedanken und Ängste ihrer Mitbürger: Sie leben in einer Welt der hehren Prinzipien einer Partisanenethik, in der politische Besonnenheit keinen Platz hat. Man stellt sich auf die Seite derjenigen Schwachen, die fashionable sind, Schluss, aus! Die Probleme, die die Einwanderung für die schwächsten Schichten unserer Gesellschaft mit sich bringt, haben keine Bedeutung: alles nur Vorurteile, die in den Bereich psychiatrischer Pädagogik fallen. Mit dem Resultat, dass ihre Mitbürger es mehr und mehr vorziehen, von Politikern der Rechten regiert zu werden. Gleichwohl müßte es diesen leftists auffallen, dass die Einwanderung von den wohlhabenderen Klassen sehr wohl akzeptiert wird. Dank der Einwanderer stehen denjenigen, die die Mittel dazu haben, Hausmädchen, Arbeiter, Pflegekräfte, Krankenschwestern, Tagelöhner, Prostituierte, Priester usw. zur Verfügung, die sonst gar nicht oder viel teurer zu haben wären. Ergo können viele Europäer, die gleichfalls als Hausmädchen, Arbeiter, Krankenschwestern arbeiten könnten, dies nicht tun und fordern deshalb einen Einwanderungsstopp. Ein Teil unserer Intelligenzija ist für „die Schwächsten“, ignoriert aber die anderen Schwachen und überlässt sie den Sirenen des Rassismus und des Populismus als Beute. Manche linksradikale Analysen sind, selbst wenn sie von berühmten Philosophen stammen, lediglich Schwarzweißmalerei: auf der einen Seite die Guten („die Schwächsten“), auf der anderen die Bösen („Empire“). Die Politik reduziert sich damit auf eine Art von Fußballfangeschrei. In vielen Konflikten wird die einzige ethisch ausgewogene Position die „Äquidistanz“ sein. Aber die verbreitete politische Hybris gestattet keine Äquidistanz – nicht einmal bei den Einwanderern auf der einen und den sozial schwachen Alteingesessenen auf der anderen Seite. Die Einwanderung ist nur ein Teil des ungeheuren Dramas eines Europas innerhalb der globalisierten Welt: Aus systemischen Gründen haben die europäischen Löhne seit geraumer Zeit die Tendenz, immer weiter zu sinken, in Richtung der viel niedrigeren chinesischen und indischen Löhne. Gewiss, die chinesischen und indischen Löhne steigen, zum Glück für Inder, Chinesen und für uns. Aber die europäischen Löhne sinken. Ein Teil des Reichtums, dessen Europa sich erfreute, wird auf das Niveau der BRIC-Staaten (Brasilien, Rußland, Indien, China) und anderer bis vor kurzem noch armer Länder abrutschen. Niemand wird diese Verschiebung verhindern können. Und wer möchte schon vielen hundert Millionen Menschen die Möglichkeit verwehren, ebenfalls von jenem Wohlstand zu profitieren, den der Westen so lange Zeit genossen hat? Es werden die schwächsten Klassen sein, die den härtesten Preis für die globale Schwächung Europas bezahlen. Was hat die Linke diesen europäischen Massen, die sozial und wirtschaftlich Schläge einstecken müssen, an Originellem und Überzeugendem zu sagen? Das ist das eigentliche Problem unseres Jahrhunderts. Ich bezweifle, dass ein Teil der Linken sich dessen bewusst ist.

Aus dem Italienischen von Michaela Wunderle.

Dieser Kommentar ist ursprünglich in der Kulturzeitung Lettre International Nummer 92 erschienen (www.lettre.de).

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