Immigration und Globalisierung

  • 13.07.2012, 18:18

Wer Flüchtlingslager mit Ausschwitz gleichsetzt, der stärkt die radikale Rechte. Ein Kommentar von Sergio Benvenuto

Wer Flüchtlingslager mit Ausschwitz gleichsetzt, der stärkt die radikale Rechte. Ein Kommentar von Sergio Benvenuto

Vor einigen Jahren geriet ich in Rom zufällig in eine von einer kommunistischen Partei zum Thema Einwanderung veranstaltete politische Diskussion. Dabei zeigte sich, welche Vorstellungen die „Genossen“ über die unter den italienischen Massen gedeihende Fremdenfeindlichkeit und ihren Rassismus hatten: Der Zustrom der Einwanderer sei an sich absolut positiv, und wenn die einfachen Leute sich darüber beklagten, dann nur aufgrund kultureller Vorurteile, einer irrationalen, krankhaften Angst vor dem „Anderen“, dem Anders-Sein usw. Kurzum, für jene Kommunisten ist Fremdenfeindlichkeit eine Art von kollektiver Psychopathologie, zu kurieren allenfalls durch eine Psychoanalyse der Massen.

Sinkende Löhne. Ich konnte mich nicht zurückhalten und griff in die Debatte ein: „Vorausschicken möchte ich, dass ich kein Marxist bin – wobei, nebenbei, auch Marx darauf hielt, kein Marxist zu sein. Wenn er euch hören könnte, würde er sich im Grab umdrehen. Marx kannte sich ja in politischer Ökonomie aus, ergo wusste er, dass bei Vollbeschäftigung die Löhne steigen und die Verhandlungsposition der Lohnempfänger stark ist; dass die Löhne aber sinken und die Verhandlungsposition der Lohnempfänger schwächer wird, wenn das System sich öffnet, das heißt die Reservearmee an Arbeitskräften sich vergrößert. Die Einwanderer begnügen sich heute mit Löhnen, die unter denen der Italiener liegen, folglich schwächen sie die Verhandlungsposition der Lohnempfänger. Außerdem bilden die Einwanderer – in dem Maße, in dem sie im Krisenfall als erste die Arbeit verlieren, und in dem Maße, in dem sie ins Land strömen – eine Reservearmee, deren systemischer Effekt es ist, die Löhne der Arbeitnehmer zu drücken. Tatsächlich sinken die Löhne in Italien seit zwanzig Jahren, während Profite in den Himmel wachsen. Wenn also ein italienischer Arbeiter fremdenfeindlich wird und Lega Nord wählt, dann deshalb, weil er besser als jeder Intellektuelle weiß, wie die Dinge stehen; die Einwanderung untergräbt seine soziale und wirtschaftliche Position. Falls aber die Einwanderung gestoppt würde, würden die italienischen Unternehmer die Produktion verstärkt in Länder mit billigeren Arbeitskräften auslagern. Für unsere Arbeitnehmer liefe das aufs gleiche hinaus, genauer, es wäre noch schlimmer. Nicht zufällig befürworten die Unternehmer die unregulierte Einwanderung, aber die Lohnempfänger meistens nicht. Deren Fremdenfeindlichkeit halte ich für eine Spielart des Luddismus, der Maschinenstürmerei der englischen Weber zu Beginn des 19. Jahrhunderts. Die Weber glaubten, die Einführung neuer Maschinen nehme ihnen die Arbeit weg, und deshalb zerstörten sie die Maschinen. Doch damals wie heute kann das Rad der Geschichte nicht zurückgedreht werden. Fremdenfeindlichkeit hat ihre strukturellen ökonomischen Ursachen und ist nicht auf die psychologische Reaktion von Leuten zu reduzieren, die misstrauisch gegen Fremde sind. Und das sage ich euch als praktizierender Psychoanalytiker.“ Man blieb von meiner kleinen Rede nicht unbeeindruckt, weshalb sich der kommunistische Animateur zu sagen beeilte, Marx sei veraltet ... Leider sind die Gesetzmäßigkeiten der Ökonomie ganz und gar nicht veraltet. Viele „marxistische“ Intellektuelle aber schon. Linkssein ist gewiss nicht das mathematisch berechenbare Resultat exakter Interferenzen; es ist eine Ausrichtung des Herzens, die ethischleidenschaftliche Entscheidung, „stets auf seiten der Schwächeren zu sein“. Das Ärgerliche dabei ist, dass in einem Konflikt oft schwer zu sagen ist, wer nun wirklich „der Schwächste“ ist. Gemeinhin heißt es, Linkssein sei gleichbedeutend mit dem Streben nach mehr Gleichheit. Aber Gleichheit ist ein quasi mathematisches Konzept, eine formale Schlußfolgerung: Man predigt mehr Gleichheit, weil man für die Schwächsten Partei ergreift. „Mehr Gleichheit“ ist eine Rationalisierung der Parteinahme für die Schwächsten. Aber wer heute bei der radikalen Linken ist, dessen Herz schlägt nicht mehr wie einst für die Industriearbeiter, armen Bauern und hungernden Massen der Dritten Welt, sondern für die Einwanderer. Denn die sind, selbst wenn sie nicht gänzlich arm sind, doch die Schicht in unserer Gesellschaft, die am schwächsten ist: ohne bürgerliche Rechte, ohne Wahlrecht, stets in Gefahr, verjagt zu werden. In vielen Ausstellungen, avantgardistischen Stücken, alternativen Filmen und erbaulichen Zusammenkünften ist der Einwanderer die coole Figur; ihr gilt die Gunst der „schönen Seelen“. Und die Lager, in denen die Fremden eine zeitlang in Haft sitzen, vergleicht man mit den Lagern der Nazis... .

 

Schwarzweißmalerei. Jahrelang wurde in ganz Europa Giorgio Agamben zitiert, der an den Homo sacer erinnert, jene Figur aus römischer Zeit, den geheiligten oder auch zu verdammenden Menschen, ein Individuum, vogelfrei, ohne jeglichen rechtlichen Schutz, das jeder straffrei hätte töten können. Die „geheiligten Menschen“ von heute sind all jene, die gesellschaftlich nicht einbezogen sind. Menschen, die keine Bürger, sondern auf ihr „nacktes Leben“ reduzierte menschliche Wesen, nichts als lebende, rechtlose Körper sind. Eine bestimmte postmarxistische Linke ist von der Figur des Einwanderers fasziniert, in dem Maße, in dem dieser den neben uns lebenden neuen Homo sacer verkörpert. Ihn umgibt im Unterschied zum traditionellen Proletariat die Gloriole eines sehr postmodernen, entwurzelten Grenzüberschreiters.
Doch diese philanthropisch-philosophische Sympathie – die ich ethisch verstehen kann – führt zu politischen Verblendungen. So habe ich kürzlich mit linksextremen intellektuellen Freunden aus Europa und den USA über Einwanderung diskutiert. Ich sage, was der gesunde Menschenverstand mir eingibt: „Es ist absurd, sich gegen die Einwanderung zu stellen, weil die Menschen aus den ärmeren Ländern stets dazu neigen werden, in die reichen Länder zu ziehen. Aber ich habe Verständnis dafür, dass fast alle westlichen Länder – auch die mit linken Regierungen – versuchen, die Einwanderung zu filtern, vor allem in Zeiten der Wirtschaftskrise.“ Empörung bei meinen Gesprächspartnern. Die Einwanderung soll reguliert werden? Niemals, denn das habe Lagerhaft zur Folge. Ich verweise darauf, dass in unseren Ländern eine explosive Situation entstünde, wenn man die unkontrollierte Einwanderung erlauben würde – massive Arbeitslosigkeit, ein schwindelerregender Anstieg von Kriminalität, Armut, Gewalt wären die Folge. Die von übermäßiger Einwanderung provozierte Unordnung würde die Massen in die Arme faschistischer und fremdenfeindlicher Parteien treiben (wie es leider bereits der Fall ist); so wie die tiefe Wirtschaftskrise die Deutschen 1933 in Hitlers Arme trieb. Worauf einer meiner Gesprächspartner eine Bemerkung macht, die Applaus erntet: „Um zu verhindern, dass faschistische Konzentrationslager errichtet werden, brauchen wir also Lager für die Einwanderer?“ Für meine Gesprächspartner existiert zwischen einem Flüchtlingslager an der Küste Siziliens, das Boat people auffängt, und Auschwitz kein Unterschied!

„Coole Partisanenethik“. Bestimmte Linksintellektuelle interessieren sich heutzutage in keiner Weise für die Stimmungen, Gedanken und Ängste ihrer Mitbürger: Sie leben in einer Welt der hehren Prinzipien einer Partisanenethik, in der politische Besonnenheit keinen Platz hat. Man stellt sich auf die Seite derjenigen Schwachen, die fashionable sind, Schluss, aus! Die Probleme, die die Einwanderung für die schwächsten Schichten unserer Gesellschaft mit sich bringt, haben keine Bedeutung: alles nur Vorurteile, die in den Bereich psychiatrischer Pädagogik fallen. Mit dem Resultat, dass ihre Mitbürger es mehr und mehr vorziehen, von Politikern der Rechten regiert zu werden. Gleichwohl müßte es diesen leftists auffallen, dass die Einwanderung von den wohlhabenderen Klassen sehr wohl akzeptiert wird. Dank der Einwanderer stehen denjenigen, die die Mittel dazu haben, Hausmädchen, Arbeiter, Pflegekräfte, Krankenschwestern, Tagelöhner, Prostituierte, Priester usw. zur Verfügung, die sonst gar nicht oder viel teurer zu haben wären. Ergo können viele Europäer, die gleichfalls als Hausmädchen, Arbeiter, Krankenschwestern arbeiten könnten, dies nicht tun und fordern deshalb einen Einwanderungsstopp. Ein Teil unserer Intelligenzija ist für „die Schwächsten“, ignoriert aber die anderen Schwachen und überlässt sie den Sirenen des Rassismus und des Populismus als Beute. Manche linksradikale Analysen sind, selbst wenn sie von berühmten Philosophen stammen, lediglich Schwarzweißmalerei: auf der einen Seite die Guten („die Schwächsten“), auf der anderen die Bösen („Empire“). Die Politik reduziert sich damit auf eine Art von Fußballfangeschrei. In vielen Konflikten wird die einzige ethisch ausgewogene Position die „Äquidistanz“ sein. Aber die verbreitete politische Hybris gestattet keine Äquidistanz – nicht einmal bei den Einwanderern auf der einen und den sozial schwachen Alteingesessenen auf der anderen Seite. Die Einwanderung ist nur ein Teil des ungeheuren Dramas eines Europas innerhalb der globalisierten Welt: Aus systemischen Gründen haben die europäischen Löhne seit geraumer Zeit die Tendenz, immer weiter zu sinken, in Richtung der viel niedrigeren chinesischen und indischen Löhne. Gewiss, die chinesischen und indischen Löhne steigen, zum Glück für Inder, Chinesen und für uns. Aber die europäischen Löhne sinken. Ein Teil des Reichtums, dessen Europa sich erfreute, wird auf das Niveau der BRIC-Staaten (Brasilien, Rußland, Indien, China) und anderer bis vor kurzem noch armer Länder abrutschen. Niemand wird diese Verschiebung verhindern können. Und wer möchte schon vielen hundert Millionen Menschen die Möglichkeit verwehren, ebenfalls von jenem Wohlstand zu profitieren, den der Westen so lange Zeit genossen hat? Es werden die schwächsten Klassen sein, die den härtesten Preis für die globale Schwächung Europas bezahlen. Was hat die Linke diesen europäischen Massen, die sozial und wirtschaftlich Schläge einstecken müssen, an Originellem und Überzeugendem zu sagen? Das ist das eigentliche Problem unseres Jahrhunderts. Ich bezweifle, dass ein Teil der Linken sich dessen bewusst ist.

Aus dem Italienischen von Michaela Wunderle.

Dieser Kommentar ist ursprünglich in der Kulturzeitung Lettre International Nummer 92 erschienen (www.lettre.de).

AutorInnen: Sergio Benvenuto