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Der Tod ist ein Klagenfurter

  • 13.07.2012, 18:18

Wien ist eine Weltstadt. Oder zumindest so ähnlich.

Wien ist eine Weltstadt. Oder zumindest so ähnlich. Immerhin: In Wien leben mehr Junge, mehr Fremde, mehr Aufrüher und Exoten als sonst wo in unserem kleinen Land. In Wien trifft sich alles, fließen Bosporus und Balkan zusammen. Auch ein Herr Strache kann nicht behaupten, Wien sei ein ödes Kuhdorf, eine reine Verwaltungshauptstadt, ein BeamtInnenest.
Ironischerweise war genau das die Befürchtung unserer Landsleute in den 1960er Jahren. In den Gründungsjahren der Zweiten Republik waren jene am Ruder, die noch das alte Österreich kannten, die Habsburger-Monarchie. Damals hatte Wien zwei Millionen EinwohnerInnen, und war die Hauptstadt für über 50 Millionen Menschen. Nach dem Krieg entleerte sich die Stadt, viele flohen aus der nunmehrigen sowjetischen Besatzungszone. Wien drohte zu überaltern, es war nicht mehr attraktiv für ZuwandererInnen.
Diese Malaise beklagte der konservative Publizist Alexander Vodopivec im Jahr 1966 in einem Buch, das lustigerweise den Titel Die Balkanisierung Österreichs trägt. Für Vodopivec war „Balkan“ ein Synonym für Korruption und Misswirtschaft. Verantwortlich dafür machte er die große Koalition, die er – Überraschung! – für ein Grundübel Österreichs hielt. Die BalkanesInnen und SlawInnen, die BosnierInnen und BöhmInnen, die beklagte er nur in ihrer Abwesenheit. Denn eine Stadt sei kaputt und nekrotisch, wenn keiner dort leben wolle, wenn alles wegwandere und wegsterbe, schrieb Vodopivec.

Das schlaue Argument von damals offenbart eine Wahrheit über das Heute. Wien ist eine Stadt der Fremden, ja wurde gar von Fremden gegründet – den Römern. Die Stadt lebte darauf vom Handel, später von der Industrie, immer brauchte sie ZuwandererInnen als Arbeitskräfte. Sie verliehen der Stadt ihren Charakter. Schon allein die Speisen, für die sich Wien feiern lässt, sind ausgeliehen: Das Wienerschnitzel aus dem Italienischen, das Gulasch von den UngarInnen, das meiste andere von den BöhmInnen.
Was also wollen die rechten Hetzer, wenn sie gegen Zuwanderung anschreien? Sie wollen den nekrophilen Mief vergangener Tage schnuppern. Wer zurückgeht hinter die Geschichte, wünscht sich keine wirkliche Weltstadt Wien. Der wünscht sich eine fade Provinzmetropole ohne urbanen Charakter, wo DorfgesellInnen und Döblinger SpießbürgerInnen das große Wort führen. Mit einem Wort: Die HetzerInnen wünschen sich, dass aus Wien Klagenfurt werde. Nur zu, liebe HetzerInnen!, geht doch einfach nach Kärnten, dort droht ohnehin EinwohnerInnenschwund.

Die Jungen wählen links

  • 13.07.2012, 18:18

Wer österreichische Medien konsumiert, muss den Eindruck gewinnen, dass die Jugend mehrheitlich rechts wählt.

Kommentar

Wer österreichische Medien konsumiert, muss den Eindruck gewinnen, dass die Jugend mehrheitlich rechts wählt. „Jugend am rechten Rand“ schrieb das Profil, im Club 2 wurde die Frage gestellt: „Wandert Österreichs Jugend immer mehr nach rechts?“. Diese Schlagzeilen entwickelten bald ein Eigenleben und wurden in der Öffentlichkeit zusehends zu einer „gefühlten Tatsache“ – ohne Fragezeichen. Alle starrten vor den Wahlen – wie das Kaninchen vor der Schlange – auf die Raps, Comics und angeblichen „Discotouren“ von Heinz-Christian Strache. Die FPÖ, als ewiggestrige Partei, will sich seit Jahren ein jugendliches Image aufbauen. Um die Bilder zu produzieren, die diesen Schein erzeugen sollen, karrt sie für Wahlkampfauftakte schon mal aus ganz Österreich junge FPÖ-AktivistInnen mit Bussen an. Und fast alle Medien fallen auf dieses Spiel rein.
Nichtsdestotrotz haben bei der Wien-Wahl laut dem SORA-Institut 46 Prozent der 16- bis 20-Jährigen die SPÖ gewählt und 21 Prozent die Grünen. Die FPÖ kömmt nur auf 20 Prozent. Das Institut für Jugendkulturforschung sieht die Grünen bei 23 Prozent und die FPÖ nur bei 19 Prozent. Junge Frauen (SPÖ: 46 Prozent, Grüne: 30 Prozent) haben übrigens so mehrheitlich die beiden linken Parteien gewählt, dass FPÖ und ÖVP zusammen nur auf eine verschwindende Minderheit kommen.
Natürlich sind auch 19 Prozent junge FPÖ-WählerInnen noch zu viel, aber verglichen mit dem Gesamtergebnis der FPÖ von 25,8 Prozent ist das ziemlich schwach. Es gilt: Je älter, desto eher wird die FPÖ gewählt – je jünger, desto eher die Linke.
Während die SPÖ in allen sozialen Schichten recht ähnlich abschnitt, wurden die Grünen besonders stark von SchülerInnen und StudentInnen gewählt. Die FPÖ schnitt einzig bei Lehrlingen überdurchschnittlich ab.
Das gute Abschneiden der linken Parteien bei der Jugend hat auch damit zu tun, dass, während Strache seine PR-Luftblasen produziert hat, SPÖ und Grüne groß angelegte Jugendwahlkämpfe organisiert haben. Während die SPÖ mit der „Käfig-Fußball-WM“, Konzerten und dem Rapper Nazar die WählerInnen mobilisierte, haben die Grünen alles getan, um unter SchülerInnen für sich zu werben und haben außerdem monatelang jeden Abend Lokale in ganz Wien besucht, um ihre Botschaft unter die Menschen zu bringen.
Mit einem weiteren Vorurteil hat die Wiener Wahl ebenfalls aufgeräumt: Die Wahlbeteiligung war unter Jungen mit 80 Prozent (allgemein: 67,6 Prozent) überdurchschnittlich hoch. Für die interessierte Öffentlichkeit wäre es also wichtig, „liebgewordene“ Urteile über Bord zu werfen und Dinge beim Namen zu nennen: Die Jungen wählen mehrheitlich links.

Kämpfen – Diskutieren – Mobilisieren

  • 13.07.2012, 18:18

Ein heißer Herbst wurde prophezeit, ein heißer Herbst ist es geworden.

Kommentar

Ein heißer Herbst wurde prophezeit, ein heißer Herbst ist es geworden. Doch niemand ahnte, wie drastisch die Auswirkungen des Sparbudgets tatsächlich sein würden, bis in Loipersdorf die Kürzung der Familienbeihilfe bekannt gegeben wurde. Seither heißt es kämpfen, diskutieren, mobilisieren – eben alle Mittel ausschöpfen, die wir haben.
Was die Regierung vorhat, wird sich zeigen. Bei den Gesprächen am so genannten Hochschulgipfel mit Bundeskanzler und Finanzminister wurde uns aber mehr als verdeutlicht, dass die derzeitige Regierung keine Ahnung von den Auswirkungen ihres eigenen Budgets hat. Sie haben es nicht mal der Mühe wert befunden sich über die Situation der Studierenden in Österreich zu informieren. Um genau diese Situation zu verdeutlichen haben wir 27.000 Handabdrücke auf 500 Metern Stoff ums Parlament gewickelt, genau so viele Studierende wären sofort von der Kürzung mit 2.700 Euro jährlich betroffen!
Die ÖH wird momentan überrannt, von Studierenden, die aus lauter Verzweiflung nicht mehr wissen, wie es weiter gehen soll. Doch es geht weiter, nach der großen Demonstration der Plattform Zukunftsbudget, an der sich über 100 Organisationen beteiligen, folgen jetzt Mahnwachen. Ab sofort werden wir die Regierung jeden Dienstag bis zu den Winterferien zwischen 16 und 19 Uhr daran erinnern, dass ihre Sparmaßnahmen nicht nur sozial ungerecht sind, sondern auch Menschen einen fixen Bestandteil ihrer Lebensgrundlage rauben.
Gemeinsam können wir etwas bewegen. In diesem Sinne: Frohe Proteste.

Gutes Leben statt Wachstumswahn

  • 13.07.2012, 18:18

Von der Wachstumskritik zur solidarischen postwachstumsökonomie. Ein Kommentar von Matthias Schmelzer und Alexis J. Passadakis.

Von der Wachstumskritik zur solidarischen postwachstumsökonomie. Ein Kommentar von Matthias Schmelzer und Alexis J. Passadakis.

Die Weltwirtschaftskrise verläuft wie ein Schwelbrand, flackert erst hier und dann dort auf. Ein Ende ist nicht in Sicht. Das ist kein Wunder, denn Krisen gehören zur Normalität der kapitalistischen Ökonomie, wie ein Blick in die Geschichtsbücher schnell verrät. Und bis sich eine Krise vom Kaliber der Großen Depression der 1930er Jahre voll entfaltet hat, dauert es seine Zeit. Schließlich liegt der Kollaps der Lehmann Bank erst zwei Jahre zurück. Gleichzeitig wirft die Doppelkrise des fossilistischen Weltenergiesystems ihre verheerenden Schatten voraus. Die Fluten im Sommer dieses Jahres in Pakistan demonstrierten dramatisch die Folgen der Klimaerwärmung. Und Ressourcenkriege wie im Irak oder die Straßenproteste in Mosambique gegen hohe Lebensmittel- und Energiepreise Anfang September deuten an, wie sich Energie- und Rohstoffverknappung und das baldige Erreichen des Fördermaximums von Öl (Peak Oil) auswirken könnten.

Angesichts der Desaster, die das derzeitige Akkumulationsmodell (accumulare, lat.: anhäufen) des finanzmarktgetriebenen Kapitalismus mit sich bringt, hat gegenwärtig eine Renaissance des Nachdenkens über andere ökonomische Systeme, über Leben und Wirtschaften ohne Wachstum, begonnen. Trotz der multiplen Krise sitzen allerdings die neoliberalen PropagandistInnen von „rationalen“ und „effizienten“ (Finanz-) Märkten weiterhin fest im Sattel. Lernkurve = sehr flach. Dementsprechend ist „mehr Wachstum“ die Parole aller Regierungen, um aus der Krise herauszukommen und insbesondere die Banken zu retten. Und welche Relevanz eine tatsächliche Bearbeitung der Klimakrise für die meisten Regierungen hat, ist an dem Kollaps der Klimaverhandlungen im vergangenen Dezember in Kopenhagen abzulesen: Keine Große. Dass ein auf Wachstum basiertes Wirtschaftssystem an ökologische Grenzen stoßen wird, ist allerdings spätestens seit Anfang der 1970er Jahre ein Allgemeinplatz. „Jeder, der glaubt, dass exponentielles Wachstum auf eine begrenzten Planeten unendlich weitergehen kann, ist entweder ein Verrückter oder ein Ökonom“, sagte in diesem Kontext Kenneth Boulding (1910–1993), selbst Mitglied der Ökonomenzunft und ehemals Präsident der einflussreichen American Economic Association.
Trotzdem greifen viele als Alternativmodell zum Casino-Kapitalismus auf die bis Ende der 1970er Jahre vorherrschenden so genannten keynesianischen Politikrezepte zurück. Der britische Ökonom John M. Keynes hatte in den 1930er Jahren eine ökonomische Entwicklungsweise skizziert, die auf hohen Löhnen, stabilen sozialen Sicherungsystemen und massiven öffentlichen Investitionen beruhte, um so die Basis für eine breite Massennachfrage zu schaffen. Ganz im Gegensatz also zum neoliberalen Modell, welches Niedrigstlöhne, Prekarisierung und mit Hilfe von Steuersenkungen für die Reichen nur ausgetrocknete öffentliche Haushalte im Angebot hat. Unbestritten boten keynesianische Strategien für viele Bevölkerungsgruppen einen Ausweg aus der Armut und einen angenehmen Lebensstandard – zumindest wenn man im Norden des Globus lebte und nicht im Süden, der schlicht billige Rohstoffe zu liefern hatte. Der Journalist Gerald Fricke fragt noch einen Schritt weiter: „War eigentlich früher, als der goldene Keynesianismus noch funktionierte, alles besser? Als man noch für sein Auto arbeitete, mit dem man dann zur Arbeit fuhr, um für sein Auto zu arbeiten, mit dem man dann wieder zur Arbeit fuhr, auf Straßen, die Papa Staat fleißig baute und Scheiß auf die Umwelt? Natürlich nicht, aber manchmal glaubt man‘s irgendwie fast.“

Einen ansatzweise kohärenten Versuch einer korrigierenden Weiterentwicklung bemühen sich (öko-) keynesianische Ansätze zu skizzieren – mit Hilfe von Regulierungskonzepten und Investitionen in zum Beispiel erneuerbare Energien und Bildung. Angesichts der Dimension der Verwerfungen der Weltwirtschaft und der Zerstörungen der Biosphäre greifen sie jedoch zu kurz. Ein Abschied vom Wachstumswahn wird nicht gewagt. Im Gegenteil: es geht gerade um die Dynamik eines neuen, „grünen“ oder „nachhaltigen“ Wachstumszyklus. Eine solidarische Gesellschaft, die ohne die Nutzung eines imperialen UmweltraumS (Öl aus Kuwait, Kohle aus Kolumbien, Soja aus Brasilien etc.) auskommt und darauf zielt, Bedingungen zu schaffen, die allen weltweit die Verwirklichung sozialer Rechte ermöglicht, wird es allerdings ohne den Schritt in eine Postwachstumsökonomie kaum geben können. Denn die imperiale Lebensweise, das fossilistische Produktionsund Konsummodell, das sich in den entwickelten Ökonomien des globalen Nordens durchgesetzt hat, ist  nicht verallgemeinerbar, auch nicht durch technischen Fortschritt. Zum Beispiel lassen sich die im Norden notwendigen CO2-Reduktionen um 95 Prozent bis 2050 nicht bei gleichzeitigem Wirtschaftswachstum erreichen. Die technischen (Effizienz-) Innovationen, die den notwendigen Grad von absoluter Entkopplung von BIP-Steigerung bei gleichzeitigem massivem Sinken des Naturverbrauchs ermöglichen, sind nicht möglich. Der Ausweg: Eine zunächst deutlich schrumpfende und sich dann auf einem ökologisch tragfähigen Niveau stabilisierende Ökonomie.

Inzwischen gibt es eine Reihe wissenschaftlicher Tagungen, es werden laufend neue Artikel und Bücher veröffentlicht und die Diskussion wird von aktivistischen Klima- Aktionscamps bis in Parteien geführt. Dabei besteht zum einen die Gefahr, dass zwar die richtigen Fragen gestellt, die daraus folgenden weit reichenden Antworten aber gescheut werden. Schließlich würde der ernsthafte Versuch eine Postwachstumsökonomie zu denken und durchzusetzen, grundsätzliche Prinzipien von Wirtschaft und Gesellschaft umstoßen, insbesondere das Profitprinzip. Zum anderen besteht die Gefahr falscher, unsolidarischer Antworten: Einige Neoliberale – in Deutschland zum Beispiel Meinhard Miegel – sind inzwischen zu Wachstumskritikern geworden. Ihre Formel ist simpel: Wegen ökologischer Grenzen muss die Ökonomie schrumpfen, und auf diesem Wege kann man praktischerweise den Sozialstaat auch schrumpfen und das Rentenalter erhöhen. So kann Wachstumskritik zur Legitimaton von Armut benutzt werden, statt Umverteilung und soziale Gleichheit als Bedingung für eine schwierige Transformation zu fordern.

Besonders in Südeuropa gibt es seit einigen Jahren eine sehr lebendige Diskussion, die sowohl lokal in Netzwerken solidarischer Ökonomie verankert ist, als auch transnational vernetzt über die internationalen Degrowth Konferenzen (Paris 2008, Barcelona 2010) stattfindet. In Frankreich gibt sich diese Bewegung das Label décroissance – frei übersetzt „Ent-Wachstum“ (engl. degrowth), als der aktive Prozess der Rücknahme von Wachstum und Schrumpfung hin zu einer solidarischen Postwachstumsökonomie. Nur in einer solchen ist die Zukunft, die Verwirklichung sozialer Rechte und ein gutes Leben weltweit für alle möglich. Es geht daher darum, grundlegende Alternativen zu denken und diese in konkreten Kämpfen zuzuspitzen.

Blog: www.postwachstum.net

Russland ist eine sanfte Diktatur

  • 13.07.2012, 18:18

Sergej Mitrochin, Vorsitzender der liberalen russischen Oppositionspartei „Yabloko“, spricht über organisierte Korruption in Russland, wie der Westen mit Putin und Medwedew umgehen soll und warum er bereit ist, ins Gefängnis zu gehen.

Sergej Mitrochin, Vorsitzender der liberalen russischen Oppositionspartei „Yabloko“, spricht über organisierte Korruption in Russland, wie der Westen mit Putin und Medwedew umgehen soll und warum er bereit ist, ins Gefängnis zu gehen.

PROGRESS: Wir haben Ihren Namen gegoogelt und fanden fast ausschließlich Fotos, auf denen Sie gerade verhaftet werden. Wie schwer ist das Leben eines russischen Oppositionellen?

Mitrochin: (lacht) Es ist hart, weil es so viele Einschränkungen gibt. Es ist fast unmöglich, etwa mit einer Demonstration nicht gegen ein Gesetz zu verstoßen, weil den Behörden jede öffentliche Versammlung verdächtig erscheint. Die Polizei reagiert häufig mit Gewalt, viele Aktivisten werden für einige Tage weggesperrt. Wir leben in einem autoritären Staat, das wissen wir. Deshalb müssen wir für Demokratie kämpfen.

Würden Sie Russland als Diktatur bezeichnen?

Russland ist im Moment eine sanfte Diktatur. Es ist nicht vergleichbar mit dem Stalin-Regime, aber es ist eine Diktatur, die vorgibt, eine Demokratie zu sein, um vom Westen akzeptiert zu werden.

Wird die Opposition von russischen Medien überhaupt wahrgenommen?

Putin und Medwedew kontrollieren und zensurieren die Medien. Für Putin ist es eines der wichtigsten Instrumente, um an der Macht zu bleiben. Das macht die Oppositionsarbeit noch viel schwieriger.

Wie sieht es mit dem Internet aus?

Wir haben uns über die Zensur der russischen Fernsehstationen beschwert. Medwedew teilte uns daraufhin mit, wir sollen doch einfach ins Internet gehen. Aber man kann die Effektivität der beiden Medien nicht vergleichen.

In Westeuropa heißt es: Unter Jelzin gab es Chaos, Putin hat Ordnung nach Russland gebracht. Deshalb vertrauen ihm die Leute.

Das ist ein Mythos. Putin machte dort weiter, wo Jelzin aufgehört hatte. Unter Jelzin war alles und jeder korrupt, aber das ganze geschah ungeordnet. Unter Putin ist die Korruption nicht weniger, sie ist nur besser organisiert.

Hat die russische Bevölkerung Vertrauen in ihre Regierung?

Sie vertrauen Putin und vielleicht noch Medwedew, weil sie die beiden ständig im Fernsehen sehen. Sie sind Symbole für Hoffnung. Aber sie vertrauen weder der Regierung, noch den Gouverneuren, der Polizei oder sonst einer staatlichen Institution.

Wie soll der Westen mit Putin und Medwedew umgehen?

Er sollte Russland in seine Politik und gemeinsame Projekte einbinden. Die Menschenrechte müssen angesprochen werden, aber es wäre dumm, wäre dies das einzige Thema, das der Westen anspricht.

Könnte eine verstärkte Integration Russlands früher oder später zu einem EU-Beitritt führen?

Das halte ich für wenig realistisch. Es gibt andere Möglichkeiten, Russland einzubinden. Der Beitritt zur EU kann höchstens ein weit entferntes Ziel sein.

Wie wichtig ist diese Anbindung an Europa für einen politischen Wandel in Russland?

Es ist ein wichtiger Faktor von vielen, wie etwa die Einhaltung der Menschenrechte, der Aufbau einer Zivilgesellschaft oder eine wirkliche Gewaltenteilung. Es ist die Aufgabe der russischen Bürger und Bürgerinnen, für diese Sachen zu kämpfen. Aber es wäre einfacher, hätte die EU ein Konzept, um Russland einzubinden.

Arbeitet Ihre Partei mit anderen Oppositionskräften zusammen?

In einzelnen Fällen, ja. Aber oft ist es aus historischen Gründen unmöglich: Wir können uns ganz einfach nicht mit Extremisten wie etwa den Nationalbolschewisten zusammenschließen.

Hat sich Russlands Politik unter Medwedew verändert?

Medwedew hat so getan, als würde er etwas ändern. Aber er hat nicht gehalten, was er versprochen hat. Es ist vollkommen klar, dass er nichts gemacht hat und er wird auch im letzten Jahr seiner Präsidentschaft nichts mehr machen.

Gibt es einen Machtkampf zwischen Putin und Medwedew?

Medwedew hat nicht die Unterstützung der russischen Eliten und der Regierung. Putin kontrolliert alles – inklusive Medwedew, der einfach eine Erfindung Putins ist.

Glauben Sie, dass Medwedew seinem Erfinder bei der nächsten Wahl wieder Platz machen wird?

Das ist möglich, aber ich schließe auch nicht aus, dass Putin einfach einen weiteren Präsidenten erfindet.  

Kann Putin die Macht in Russland überhaupt noch verlieren?

Derzeit nicht. Das wäre nur bei einer zweiten Wirtschaftskrise möglich, aber Russland ist aufgrund der Gewinne im Öl- und Gassektor weit von einer ernsten Krise entfernt. Ich glaube nicht, dass Putin die Kontrolle in den nächsten Jahren verlieren könnte.

Im Sommer kam es zu Demonstrationen gegen den Bau eines Highways durch den Chimki-Wald. Schließlich gab Medwedew nach und ließ den Bau stoppen. Hört Medwedew doch mehr auf das Volk, als ihm zugetraut wird?

Nein, zum Baustopp kam es erst, nachdem das Thema auch international für Schlagzeilen sorgte. Putin und Medwedew mussten reagieren und sich vor der Weltöffentlichkeit rechtfertigen.

Es kam auch zu gewalttätigen Übergriffen durch maskierte Männer. Waren Sie davon auch betroffen?

So geht man mit Demonstrationen in Russland immer um, es ist das übliche Prozedere. Man versucht, die Teilnehmer einzuschüchtern.

Wer steckt hinter diesen maskierten Schlägern?

Jene Unternehmen, die ein Interesse am Bau dieses Projektes haben.

Immer wieder hört man von AktivistInnen, die wegen Widerstands gegen die Staatsgewalt eingesperrt werden. Wie unabhängig sind Russlands RichterInnen?

Es gibt kein einziges unabhängiges Gericht in Russland. Besonders nicht, wenn es sich um einen politischen Prozess handelt.

Wie oft waren Sie schon im Gefängnis?

(lacht) Unzählige Male. Aber nie für lange.

Haben Sie manchmal Angst?

Ich fürchte mich davor, dass meinen Kollegen etwas passiert. Es ist gefährlich, in Russland politisch aktiv zu sein.

Aber Sie selbst haben keine Angst?

Im Gefängnis zu sein, ist… unangenehm. Aber als russischer Oppositionspolitiker muss man bereit sein, eingesperrt zu werden.

Warum wir Medien brauchen

  • 13.07.2012, 18:18

Gerade erleben wir in Deutschland, was das heißt, wenn viele Menschen einen Sachverhalt, der sie alle betrifft, anders wahrnehmen und verstehen als die Fachleute und repräsentativen Entscheidungsgremien.

Ein Auszug der Rede Uwe Kammanns beim Dialogforum „Orientierung“ im ORF-RadioKulturhaus.

Gerade erleben wir in Deutschland, was das heißt, wenn viele Menschen einen Sachverhalt, der sie alle betrifft, anders wahrnehmen und verstehen als die Fachleute und repräsentativen Entscheidungsgremien. Ich spreche vom Widerstand und vom Protest gegen Stuttgart 21, ein Umgestaltungsprojekt der Bahn, das sieben, vielleicht zehn Milliarden Euro kosten soll und sicher für zehn Jahre die Stuttgarter Innenstadt in eine lästige Baustelle verwandelt.
Schon hier, bei einem doch regional begrenzten Projekt mit einer vergleichsweise klassischen Technik und einem überschaubarem Instrumentarium, wird deutlich: Direkt kommunizieren lassen sich Für und Wider nur schwer, viele Sektoren des heftigen Austausches berühren Bauchgefühle, stehen für Annahmen, mutieren zu Glaubensfragen. Solche Vorbehalte, was Verstehen betrifft, gelten natürlich erst recht für andere Groß-Fragen: Von der Atomkraft über den Klimawandel und die Gen- Technologie bis hin zur Konflikt-Aufrüstung der Welt, zu Kriegsschauplätzen und Terrorismus.
Doch gleichwohl, wie komplex die Sachstände auch sein mögen, wie fremd uns Entwicklungen sind, wie weit entfernt sie zu sein scheinen von unserer Lebenspraxis und unseren Handlungsoptionen: Ohne mediale Vermittlung wären wir noch viel stärker nichts als potentielle passive Zuschauer, erduldende Objekte, bloße Zufallsgeneratoren. Das hat sich eindrucksvoll bestätigt während der Finanzkrise, einer Krise, die sicher auch deshalb so über alle Maßen dimensioniert war, weil zuvor die kritische Wachsamkeit und die finanzwirtschaftliche Vorstellungskraft der Medien nicht einmal im Ansatz taugte, um zumindest als Frühwarnsystem zu wirken. Wir sahen: Komplizenschaft statt nüchterne Analyse, opportune Bewunderung von scheinbar erfolgreichen Akteuren statt kritischer Distanz, eingebundene Nähe statt kühler Einordnung und unerschrockener Kommentierung.
Doch gibt es natürlich auch eine andere Seite der Münze. Und auch das gehört zu den Grundmustern der Moderne, ist eingefangen beispielsweise im berühmten Schlussvers eines Gedichtes von Charles Baudelaire. Der Dichter, Zauberer des Medialen, spricht dort mit dem Leser. Und was ist danach ihr gemeinsamer Spiegel, in brüderlicher Erkenntnis?
Nichts Schrecklicheres als der ennui – Langeweile, Überdruss!
Was nichts anderes heißt, als dass der Kern des ewigen Spiels ausgehöhlt wird. Auf einmal schauen immer mehr Menschen nur noch angewidert dem Treiben und den Erscheinungen zu, ekeln sich vor dem inszenatorischen Charakter, auf welcher Ebene auch immer – vom Schaugeschäft bis zur Politik – und wollen die politische wie die mediale Bühne am liebsten abschaffen.

Was sie dabei übersehen: Natürlich gibt es Unterschiede in den medialen Leistungen, sehr große sogar.
Da gibt es die großen Presse-Publikationen, überregional, die investieren in redaktionelle Ressourcen, in Recherche, in Dokumentationsgenauigkeit und in Darstellungsvielfalt. Da gibt es die Fachpresse, da gibt es Bücher, Foren, Symposien. Und da gibt es auch Fernseh- und Radiosendungen, in gar nicht geringer Zahl, welche genaue und weiterführende Anschauung bieten, welche audiovisuelle Bereicherung bieten, ihre Möglichkeiten ausreizend.
Und natürlich ist eine ganz neue Informationswelt entstanden. Das Netz ist in seinem Grundcharakter anarchisch, chaotisch, unübersichtlich. Was auch heißt: Die Genauigkeit und die Seriosität der Informationen (um es neutral zu sagen) ist erst einmal nichts als eine Wunschvorstellung der Nutzer.
Und doch: In diesem Netzprinzip steckt auch eine ungeheure Stärke: Nämlich ohne innere Restriktionen, ohne falsche Rücksichtnahmen, ohne institutionelle Einengungen publizieren zu können. Wer hatte früher Zugang zu Bibliotheken, zu Filmen, zu Akten, zu Verwaltungsdokumenten?
Hier, wie an vielen anderen Punkten tut sich mit dem Netz tatsächlich eine Welt des Info-Mehrwerts auf, auch der Demokratisierung von Wissen, der Förderung des politischen, des wirtschaftlichen Handelns und der eigenen Kultivierung.
Aber zugleich wird etwas anderes produziert und transportiert: Nämlich die rasante Entgrenzung. Denn mit jedem Klick tun sich potentiell Milliarden von Infowelten auf – was dann wieder die Unübersichtlichkeit steigert.
In der Inflationierung verliert die vielfach gerühmte Schwarmintelligenz ganz schnell jegliche Richtung und jeglichen Bezugspunkt: Mit der logischen Folge für die Akteure auf allen Ebenen, ohne Orientierung zu sein, hilflos zu wirken.
Aber einsichtig ist auch: Ein anderes, ein verordnetes Grundmuster kann es nicht geben – denn die sinngebenden Großordnungen sind nicht mehr zu haben. Deshalb müssen wir uns im System einrichten, müssen es herrichten als Erkenntnisinstrument. Genau hierin liegt eine große Chance: Es braucht offen sichtbare Umschlagpunkte, es braucht noch nicht festgelegte Baustellen von neuen Plattformen, um sich neu zu vergewissern, was die Ziele des eigenen medialen Handelns – im Herstellen, im Verbreiten, im Wahrnehmen – ausmacht und bestimmt.

Ohne ein weitergehendes Bild von sich und der Welt (und allen vielfältigen Beziehungen dazwischen) würde unsere eigene menschliche und mitmenschliche Dimensionalität verflachen – zusammengeschrumpft auf den alleinigen Mechanismus von Angebot und Nachfrage, von Stärke und Schwäche. Eine dagegen sich aufbäumende Leistung ist unter Kultivierung zu verstehen, individuell und gesellschaftlich. Und hiervon dürfen die Medien – auch jene, welche sich den schlichten Verkaufsgesetzen verdanken – nicht dispensiert werden.
Dies wiederum setzt voraus, dass es noch eine Vorstellung von Allgemeinheit, von Gesellschaft, von Öffentlichkeit gibt – schlicht: Von den res publica. Und zur Vorstellung muss der politische Wille gehören, diesen öffentlichen Raum zu gestalten und auch gegen einengende und widrige Umstände zu bewahren, wenn es denn notwendig ist.
Christina Weiss, Ex-Medien- und Kulturbeauftragte des Bundes, hatte dies in ihrer schönen Schiller- Rede 2004 klar formuliert. Danach ist eben die Vorstellung der ästhetischen Erziehung keine leere Formel, sondern ein ganz und gar lebendiger Auftrag.
Schiller selbst war dabei nicht blauäugig, sondern hat den unauflöslichen, zirkelhaften Zusammenhang zwischen Idee und Praxis klar benannt, indem er die Frage stellte: „Die theoretische Kultur soll die praktische herbeiführen und die praktische doch die Bedingung der theoretischen sein?“ Und weiterfragte: „Alle Verbesserung im Politischen soll von Veredlung des Charakters ausgehen – aber wie kann sich unter den Einflüssen einer barbarischen Staatsverfassung der Charakter veredeln?“
Die Antwort war für ihn einfach: Die Kunst sollte das ausdrücken und hervorbringen, als Werkzeug mit unsterblichen Mustern, um schöne und lebbare Konventionen vorzuzeigen, welche der Willkür einen zivilisierenden Entwurf des eigenen Ich und der Gesellschaft entgegensetzen.
Wenn man Kunst unter den heutigen Möglichkeiten weiter übersetzt, dann gehören die Medien in allen ihren Ausprägungen unbedingt dazu. Und dann darf ganz einfach gefordert werden, dass die Medienmacher den Zirkel von theoretischer und praktischer Kultur nicht vergessen machen wollen, sondern dass sie auf dessen reflektiertem Vorschein bestehen – und damit auf einem Bild des reflektierenden Menschen.
Es muss gelingen, diesen Prozess dauerhaft und gesellschaftlich gut verankert zu etablieren. Denn er ist notwendige Voraussetzung einer Bürgergesellschaft, die sich nicht vom ökonomischen Egoismus, sondern von der steten Verantwortung für das Allgemeine leiten lässt. Einer Bürgergesellschaft, die auf einem selbst bestimmten und selbst bestimmenden Menschen besteht. Eines Menschen, der immer und notwendigerweise auf Medien angewiesen ist, weil eine Welt ohne Vermittlung schlichtweg nicht denkbar ist.

Uwe Kammann ist Direktor des Adolf-Grimme-Instituts.
Die ungekürzte Rede wird in der Jänner-Ausgabe der ORF-Schrift „Texte“ abgedruckt.

"I'm an F-A-G-E-T-T-E!"

  • 13.07.2012, 18:18

Hip Hop wird gerne herangezogen, um Sexismus und Männlichkeit zu thematisieren. Was dabei selten in den Blick genommen wird, sind queere Alternativen, wie sie gerade in diesem Bereich immer häufiger ausformuliert und praktiziert werden. Ein Essay mit Blick auf die spannendsten Entwicklungen.

Hip Hop wird gerne herangezogen, um Sexismus und Männlichkeit zu thematisieren. Was dabei selten in den Blick genommen wird, sind queere Alternativen, wie sie gerade in diesem Bereich immer häufiger ausformuliert und praktiziert werden. Ein Essay mit Blick auf die spannendsten Entwicklungen.

Als eine in den 1990ern sozialisierte Teenagerin war lange Zeit alles, was mir aus dem Hip Hop-Genre begegnet ist, geprägt von extrem übersteigerter Männlichkeit. Muskelbepackte, große, breite Körper, deren Voluminösität noch durch möglichst weite Kleidung unterstrichen wurde, wippten da in zahllosen Musikvideos unmotiviert, dafür außerordentlich raumnehmend durch die verschiedensten Partysettings. Ausgestattet mit prestigeträchtigen Statussymbolen inszenierten sich die damaligen Chartstürmer als furchtlose Oberchecker, deren gewaltbereites Gangster-Dasein vor allem auf textlicher Ebene zelebriert und zum identätsstiftenden Charakteristikum wurde. Essentieller Bestandteil dieses Konstrukts war auch die Rolle, die Frauen hier zugeschrieben wurde. Außerordentlich spärlich bekleidet tauchten sie stets als übersexualisierte, stumme, den (einen) Mann anhimmelnde Gruppe auf. Diese Auslegung idealer Männlichkeit, die heterosexuell, stark, erfolgreich, dominant und alles andere als konfliktscheu zu sein hatte, versetzte mich ob ihrer realitätsfernen, übersteigerten Inszenierung meist in gähnende Langeweile. Zeitgleich entzündete sich an den Anteilen innerhalb dieses Bildes, die ich durchaus auch aus meinem Alltag kannte, aber Wut. All das Bling Bling täuschte so nicht über das sexistische Grundsetting hinweg, das auch der in meiner Umgebung zelebrierten hegemonialen Männlichkeit bis heute zu Grunde liegt.

Abseits des Mainstreams. Diese Art Hip Hop, wie ich sie kennen gelernt habe, war die, die den Mainstream bis heute geprägt hat. Hier ist es wichtig, darauf hinzuweisen – wie bell hooks das getan hat – dass genau diese sexistischen und rassisierten Bilder bewusst eingesetzt worden sind, um die kolonial geprägten Fantasien weißer Mittelschichtskinder zu bedienen, die schließlich den größten Markt bilde(te)n.
Hip Hop ist aber wesentlich variationsreicher. Seit den Anfängen des Genres in den 1970ern wurde dieser musikalische Ansatz auf Beats zu reimen gerade von Afro-AmerikanerInnen dafür verwendet, klar Stellung zu beziehen. Oft waren Erfahrungen von Unterdrückung und die Wut über gesellschaftliche Umstände der Antrieb, um die eigene Lebensrealität in den Mittelpunkt zu stellen und durch die Benennung aktiv zu einer Veränderung beizutragen. Gerade über die Einbettung dieser Kritik im Kontext von Musik konnten Anliegen einem breiteren Publikum zugänglich gemacht werden, was auch dazu beitrug, ein positives Selbstbild der ständigen Abwertung und Diskriminerungserfahrung entgegen zu setzen.

Homo Hop. Auf diese altbewährten Möglichkeiten griff zur Jahrtausendwende auch das Deep Dickollective zurück. Die in Kalifornien ansässige Formation thematisierte in ihren Songs als eine der ersten explizit schwulen Hip Hop-Gruppen homosexuelles Begehren, und brachte so das heteronormative Grundsetting ins Wanken. Zeitgleich unterwanderten sie die von Konkurrenz und Rivalität geprägte Hip Hop-Kultur auch durch gezielte Vernetzungsarbeit unter queeren RapperInnen. Juba Kalamka, Mitbegründer des Deep Dickollective, initiierte so etwa 2001 das PeaceOUT World Homo Hop Festival, das zur Inspiration vieler weiterer queerer Hip Hop- und Spoken Word-Veranstaltungen in den USA und Großbritannien wurde. Darüber hinaus setzte er sich auch durch die Veröffentlichungen seines Labels Sugartruck Recordings für die Verbreitung queerer Inhalte im Hip Hop ein.
Die traditionellen Männlichkeitsvorstellungen im Hip Hop wurden bereits durch das vermehrte Aufkommen rappender Frauen angekratzt, das klare Artikulieren von schwuler Homosexualität setzte dieses Konstrukt aber einem ganz anderen Angriff aus. Denn hier ist es vor allem die Angst, selbst Objekt der Begierde von Männern zu werden, die zur großen Verunsicherung wird. Schwule Präsenz bringt in diesem Denken die Gefahr von Entmännlichung mit sich. „There’s this notion that if you allow a gay presence to enter a battle situation and someone who’s gay out-rhymes you, you have to deal with being de-masculinized“, so Tim’m West von Deep Dickollective.

Cuz for real-do, I got a dildo! Neben als schwul gelabelten Männlichkeiten lassen sich gerade im Hip Hop auch andere Alternativen zur Norm finden. So setzt sich etwa Katastrophe in seinen Spoken Word-Performances mit queeren Geschlechtlichkeiten abseits des Bio-Mann-Seins auseinander und thematisiert dabei besonders eloquent sein Leben als Transmann. Auch Athens Boys Choir aka Harvey Katz, der sich selbst in seinem Song Fagette als pansexuell - also eine vorgegebene Einschränkung des eigenen Begehrens in Kategorien wie Mann und Frau verweigernd - definiert, sagt in seinen Lyrics den herkömmlichen Definitionen den Kampf an. Er kombiniert Queer-Aktivismus mit Selbstreflexivität und bricht so mit viel Style aber auch Humor die alten Strukturen unhinterfragter Selbstbeweihräucherung. Amy Ray, bei deren Konzerten die Band Indigo Girls Katz als Vorgruppe auftrat, meint: „With the inclusion of class, culture, and race dynamics in transgender politics, Katz makes room for the evolution of a movement.“ Diese Bewegung will ich berühmt werden sehen!

Worte verändern

  • 13.07.2012, 18:18

Die argentinische Autorin Luisa Valenzuela schreibt bekannte Märchen um und zeigt, wie sehr Sprache unser Denken beeinflusst.

Die argentinische Autorin Luisa Valenzuela schreibt bekannte Märchen um und zeigt, wie sehr Sprache unser Denken beeinflusst.

Ein Schiff segelt sanft auf ruhigem Meer. An Bord befinden sich achtzehn Frauen, achtzehn Schriftstellerinnen, die nach den hitzigen Diskussionen eines fünftägigen Autorinnen-Seminars ausgelassen feiern und tanzen. Plötzlich stürmen schwarz gekleidete Männer das Schiff, nehmen alle gefangen und stellen die Frauen bis auf weiteres unter Arrest. „Achtzehn argentinische Schriftstellerinnen, die mit einem Federstrich von der literarischen Landkarte gefegt werden.“
Mit dieser Szene beginnt El Mañana, der neue Roman der argentinischen Autorin Luisa Valenzuela. In ihren Werken beschäftigt sie sich vor allem mit Machtstrukturen in der Beziehung zwischen Männern und Frauen. Valenzuela, die als Tochter einer berühmten argentinischen Schriftstellerin in einer literarischen Atmosphäre aufwuchs, konzentriert sich dabei insbesondere auf das Verhältnis von Sprache und Macht, und wie Mann und Frau mit diesen beiden Komponenten umgehen.
Mit der Umarbeitung von verschiedenen Märchenstoffen, unter anderem den berühmten Märchen Rotkäppchen und Blaubart, hat Valenzuela bereits in der Vergangenheit gezeigt, wie die Sprache, die wir verwenden, unser Denken beeinflusst.

Neugier. „Ich habe der Geschichte nichts hinzugefügt, ich habe sie abgebaut und wieder aufgebaut, ausgehend von den grundlegenden Elementen.“ Valenzuelas Rotkäppchen etwa ist sich der Gefahr, die vom Wolf ausgeht, bewusst und – auch wenn es am Ende gefressen (und nicht vom Jäger gerettet) wird – trifft es seine Entscheidungen doch selbstverantwortlich und trägt die Konsequenz.  „Ich dachte mir, dass diese beispielhaften Geschichten vielleicht anfangs anders erzählt wurden“, sagt Valenzuela: „Es war Charles Perrault, der sie im Jahr 1670 als erster niederschrieb und dabei restriktive Moralvorstellungen verfasste und die Frau berichtigte. Es sollte uns nicht überraschen, dass jemand, der so sehr in den Autoritarismus verliebt war, den Mädchen empfahl, artig zu sein, so lange zu schlafen bis der Prinz kommt und nicht vom rechten Weg abzukommen.“
Das Märchen Blaubart liest sich in Valenzuelas Version ebenfalls etwas anders als das Original. Auch bei Valenzuela öffnet Blaubarts Gattin mit dem kleinen Schlüssel das verbotene Zimmer im Schloss ihres Mannes. Sie findet darin die von Blaubart ermordeten früheren Ehefrauen. Der Schlüssel fällt ihr in die Blutlache und sie versucht vergebens den Blutfleck, der sie verrät, abzuwaschen. Soweit gleichen sich die Neubearbeitung des Märchenstoffes und das Original. Valenzuela setzt mit ihrer Version jedoch Jahrhunderte nach der Befreiung von Blaubarts Gattin an. Diese hält in der Gegenwart Seminare, in denen sie den Teilnehmerinnen schildert, wie ihr ihre Neugier das Leben gerettet hat. Nach Märchenautor Charles Perrault ist die Neugier, „wenn es den Frauen auch gefällt, ein ziemlich flüchtiges Vergnügen; sobald man ihm nachgibt, schwindet es schon und immer kostet es zu viel“. Luisa Valenzuela sieht in Blaubart hingegen eine andere Moral. „Wenn die Prinzessin, die Gattin von Blaubart, weiterhin in dem Schloss bleiben würde, ohne in dieses Zimmer zu sehen, wo sich die enthaupteten Frauen befinden, und mit diesem makaberen Geheimnis zusammenleben würde, auch wenn sie es nicht als solches erkennt, wäre ihr Leben durchgehend in Gefahr. Deswegen ist es notwendig nachzusehen und das Leben für die Erkenntnis zu riskieren, für das Wissen.“

Umkehr. In Der Schlüssel, wie Valenzuelas Version von Blaubart heißt, zeigt die Autorin darüber hinaus, wie negativ belastete Wörter und Eigenschaften in positive umgewandelt werden können. Ausgangspunkt ist dabei die Wertung der weiblichen Neugier als „Fehler“. Valenzuela führt die LeserInnen durch den Abbau dieser negativen Konnotation, indem sie den Begriff „demontiert“ und ihn mit positiven Assoziationen auffüllt. Am Ende ihrer Kurzgeschichte wird die weibliche Neugier (und damit auch die weibliche Unabhängigkeit) nicht mehr als „Fehler“, sondern als „Tugend“ verstanden. Mit der Änderung dieser Wertungen ändert Valenzuela gleichzeitig auch das gesellschaftliche Bewusstsein hinsichtlich der Rolle der Frau. Ihre Bearbeitung des Märchenstoffes kann somit auch als Anleitung zum Abbau und Wiederaufbau von Konnotationen gelesen werden. Durch die Umkehr der Wertung, die dem Begriff „Neugier“ anhaftet, zeigt Valenzuela, was mit der Macht der Sprache erreicht werden kann. „Das war es, was mich dazu angeregt hat, die berühmtesten Märchen von Perrault zu erzählen, wie ich glaube: Sie sollten so erzählt werden, wie in der Zeit bevor die patriarchalische Moral sie verfälscht hat. Die Märchen aus einer weiblichen, manchmal aktuellen, ironischen, politisierten Perspektive zu erzählen, das heißt sie wiederherzustellen – in ihrer grundlegenden Bedeutung.“
Auch die Schriftstellerin Elisa stellt sich in Valenzuelas neuem Roman El Mañana die Frage nach der Macht der Sprache. Alles, was sie im Arrest schreibt, wird von den Ordnungswächtern sofort wieder gelöscht. Im Laufe des Romans versucht Elisa der Frage auf den Grund zu gehen, wodurch sich die Machthaber eigentlich bedroht fühlen: Allgemein durch die Macht der Worte oder durch eine eigene Sprache der Frauen? Luisa Valenzuela glaubt an die Existenz einer spezifischen weiblichen Schreibweise: „Die Herangehensweise an das Schreiben ist je nach Geschlecht unterschiedlich. Für die Frau ist es wichtig, ihre Anliegen zu erforschen, weil sie immer von den Anliegen des Mannes geprägt waren.“

Klagen auf Unterhalt

  • 13.07.2012, 18:18

Marode Unis, auseinanderfallende Hörsäle, kein Anspruch auf Studienbeihilfe, zu viele Jobs gleichzeitig? Das sind Probleme, mit denen sich die meisten Studierenden auseinandersetzen müssen. Was aber, wenn zusätzlich noch ein Elternteil keinen Unterhalt mehr bezahlt?

Marode Unis, auseinanderfallende Hörsäle, kein Anspruch auf Studienbeihilfe, zu viele Jobs gleichzeitig? Das sind Probleme, mit denen sich die meisten Studierenden auseinandersetzen müssen. Was aber, wenn zusätzlich noch ein Elternteil keinen Unterhalt mehr bezahlt?

Den eigenen Vater auf Unterhalt klagen? Für den 24-jährigen Florian Bergmaier, Student an der FH Wien, ein notwendiges Übel. Seit zwei Jahren versucht er seine Ansprüche auf Unterhalt vor Gericht durchzusetzen. Was aber, wenn es umgekehrt läuft und der eigene Vater die Einstellung der Unterhaltszahlungen beantragt? Angela Libal, Studentin an der Universität Wien, hat genau hiermit zu kämpfen. In Österreich sind das keine Einzelfälle und trotzdem sind sie exemplarisch dafür, was im österreichischen Unterhalts- und Beihilfensystem falsch läuft. Doch was genau läuft hier schief? Um sicher gehen zu können, dass auch das nächste Semester eine Lebensgrundlage findet, sind Fragen über das finanzielle Auslangen eine Voraussetzung für ein Studium. Was aber, wenn das volle Geldbörsl nicht einfach nur erarbeitet, sondern auch vor Gericht erstritten werden muss? Eines steht jedenfalls fest: Wer in Österreich keinen Unterhalt von den eigenen Eltern bekommt, hat es nicht besonders einfach.
Das österreichische Unterhalts- und Beihilfensystem geht davon aus, dass Eltern ihre Kinder, wenn diese sich für ein Studium entscheiden, auch materiell und finanziell unterstützen. So wird bei einem Antrag auf Studienbeihilfe etwa das Einkommen der Eltern herangezogen, um einen Anspruch festzustellen. Verdient ein Elternteil zu viel, so wird keine Beihilfe gewährt. Ob das bedeutet, dass beide Elternteile den Unterhalt auch wirklich leisten, ist damit noch nicht gesagt. Anderseits werden bei der Berechnung der Studienbeihilfe auch die Schulden oder andere finanzielle Verpflichtungen der Eltern nicht betrachtet. Auf eine Leistung haben aber alle Studierende bis zur Vollendung des 24. Lebensjahres Anspruch: Die Familienbeihilfe. Die Beihilfen für Studierende sind in Österreich auf dem einen oder anderen Weg mit dem Elternhaus verknüpft. Was, wenn es hier zu Problemen mit den eigenen Eltern kommt? Was, wenn ein Elternteil seiner oder ihrer Unterhaltspflicht nicht nachkommt?

Florian ist genau das passiert. Er studiert an der FH Wien Bauingenieurswesen. 2008 begann er sein Bachelor-Studium, das er auch in Mindeststudienzeit absolviert hat, mittlerweile belegt er den Master- Studiengang. Ein Vollzeitstudium. Studienbeihilfe erhält Florian nicht wegen dem angeblich zu hohen Einkommen der Eltern. Für diesen Fall nimmt das Studienförderungsgesetz an, dass beide Eltern ihn ausreichend unterstützen werden, damit er sein Studium zielstrebig bestreiten kann. Die Realität sieht anders aus. Zwar wird der Student nach allen Kräften sowohl von der Mutter als auch von anderen Verwandten unterstützt, der Vater hingegen hat sich hier ausgeklinkt. Die Argumentation dahinter: Der Sohn hätte mit einem HTL-Abschluss eine ausreichende Ausbildung und müsse demnach für seinen Unterhalt selbst sorgen. Bei einem Vollzeit-Studium, noch dazu an einer FH, dürfte es wenig überraschen, dass ein zusätzlicher Nebenjob nur schwer bis nicht machbar ist. Damit er den Unterhalt von seinem Vater doch noch bekommt, hat sich Florian entschieden, vor Gericht sein Recht einzuklagen. In erster Instanz hat er vom Bezirksgericht auch Recht bekommen, der Vater hat dagegen aber Berufung eingelegt. Das Verfahren zieht sich nun schon seit zwei Jahren. „Das Recht bewegt sich in diesem Bereich in einer Mühle wo der Studierende in der Mitte durchfällt. Die einen (Stipendienstelle, Anm.) sagen, die Eltern verdienen zu gut, wir müssen uns an bestimmte Richtwerte halten. Die Eltern, wenn sie sich ausklinken wollen, sagen: ‚Na geh halt arbeiten’“, fasst Florian den gerichtlichen Streit mit seinem Vater im Kontext der staatlichen Studienförderung zusammen.

Familienidyll? Für Fälle, bei denen ein Elternteil seiner oder ihrer Unterhaltspflicht nicht nachkommt, gibt es zumindest für Minderjährige eine Zwischenlösung. Das Unterhaltsvorschussgesetz sieht hier eine Möglichkeit vor, in welcher der Staat den Unterhalt des Elternteils vorschießt und sich diesen zugleich von der unterhaltspflichtigen Person zurückholt, ganz ohne langwierige Gerichtsverfahren. Studierende haben diese Möglichkeit jedoch nicht.
Probleme mit dem Unterhalt eines Elternteils können aber auch unter umgekehrten Vorzeichen auftreten. „Das mit den Alimenten ist so eine unendliche Geschichte“, sagt Angela Libal (24). Sie weiß, wovon sie spricht. Die Kunstgeschichte-Studentin hat ebenfalls keinen Anspruch auf Studienbeihilfe, wieder mit der Begründung, die Eltern würden zu viel verdienen. Auch hier will der Vater das Studium der Tochter nicht unterstützten und hat die Aussetzung der Unterhaltspflicht beantragt, mit der Begründung, die Tochter würde ihr Studium nicht zielstrebig bestreiten. Der Antrag des Vaters läuft noch. Zwar bezahlt er den Unterhalt einstweilen noch, wie lange das so bleiben wird, ist jedoch fraglich. Angela ist neben ihrem Studium in der Studierendenvertretung aktiv. Um sich ihren Lebensunterhalt halbwegs leisten und ihr Studium finanzieren zu können, arbeitet sie nebenbei in der Gastronomie. Aus gesundheitlichen Gründen musste sie ein Semester lang ihr Studium aussetzen und ist trotzdem gerade dabei, den ersten Abschnitt abzuschließen. „Das sind klassische Gummiparagraphen. Ein Studium zielstrebig zu betreiben, was genau bedeutet das? Schlussendlich bleibt die Interpretation von Zielstrebigkeit jenen überlassen, die über meinen Unterhaltsanspruch entscheiden“, sagt Angela. Sollte ihr Vater tatsächlich Recht bekommen, ist anzunehmen, dass sich ihr Studien- und Arbeitsalltag drastisch verändern wird.
Der gesetzliche Rahmen, der Fälle wie jene von Angela oder Florian möglich macht, scheint von einem idyllischen Familienbild geprägt zu sein. Ein zynisches ist es zugleich. Frei nach dem Prinzip „Mitgehangen mitgefangen“ werden die Voraussetzungen der Bildungsentscheidungen von jungen Menschen an die Bande der Familie gebunden.
Zwei Mühlen rädern hier gleichzeitig und gegeneinander. Einerseits sollen Studierende ihr Studium möglichst schnell mit einem möglichst guten Erfolg abschließen. Anderseits sind sie dabei auf die Unterstützung der Eltern angewiesen. Fällt diese weg, sind Nebenjobs unvermeidlich. Wer jedoch mehr arbeiten muss, kommt wahrscheinlich auch langsamer im Studium voran. Wer Prüfungsnachweise nicht rechtzeitig erbringen kann, dem droht ein Verlust von Beihilfen, was wiederum mehr Arbeit bedeutet. Vom Mühsal, sich dabei vielleicht auch noch mit einem Gerichtsverfahren beschäftigen zu müssen, ganz zu schweigen.

Was tun? An eine grundlegende Reform des Beihilfensystems in Österreich wird selten gedacht. Einen, wenn auch recht kleinen, Schritt will nun aber zumindest die Partei der Grünen gehen. Um bei Problemen mit Eltern, die der Unterhaltspflicht nicht nachkommen, entgegenzuwirken, ist ein Entschließungsantrag zur Änderung des Unterhaltsvorschussgesetzes geplant. Dieser soll womöglich in einen der nächsten Justizausschüsse des Parlaments eingebracht werden und die Regierung mit der Vorlage einer Änderung zum entsprechenden Gesetz beauftragen. Eine Änderungen, die es etwa ermöglichen könnte, dass der staatliche Unterhaltsvorschuss künftig auf Studierende ausgedehnt wird. Das könnte lange Verfahren vor Gericht für Studierende künftig abkürzen. Was aus diesem Vorstoß wird, bleibt abzuwarten.
Die Frage bleibt jedoch, wie das Problem im Kern gelöst werden kann. Zumindest am Rande wird immer wieder über eine Vereinheitlichung des Beihilfensystems, sowie dessen Entkopplung vom Elternhaushalt diskutiert. Eine Vorlage auf Grund derer diskutiert werden könnte, gäbe es ja bereits – die Grundsicherung.

Vom Wesen Europas

  • 13.07.2012, 18:18

Was verbindet den Wiener Stadtteil Ottakring mit dem Balkan?

Buch-Rezension

Was verbindet den Wiener Stadtteil Ottakring mit dem Balkan? In Karl-Markus Gauß’ Erzählung Im Wald der Metropolen ist die Antwort weniger offensichtlich, als man vermuten würde. Bei ihm ist Ottakring Schauplatz vom Leben desjenigen Schriftstellers, bei dem „so viel gestorben wie in keinem anderen Werk der Weltliteratur“ wird, dem Slowenen Ivan Cankar nämlich, der über zehn Jahre in einem düsteren Kabinett bei einer Ottakringer Näherin zur Untermiete lebte, und welchem die Ottakringer Straße als Vorlage für seinen Roman Die Gasse der Sterbenden diente.
Erkundungen wie diese, die an 13 Stationen und noch mehr Schauplätzen innehalten, machen die ineinander verwebten Reportagen zu einer großen Erzählung. Kleine Hinweise, aufgelesen an Gedenktafeln oder Grabsteinen, verweisen dabei zu immer neuen Orten, Personen und Ereignissen: So war das Ottakring von 1911, damals innerhalb weniger Jahre zur Vorstadt der Fabriken und Zinskasernen gewachsenen, auch Schauplatz von ArbeiterInnenaufständen, die von habsburgischen Soldatentruppen aus Bosnien und Herzegovina niedergeschlagen wurden. Für die unangenehmen Aufträge wie Verprügeln und Niederschießen rekrutierte die Monarchie lieber Soldaten vom Balkan als aus Wien.
Gauß führt die LeserInnen vom Burgund bis zum Belvedere, von Brünn nach Bukarest, von den künstlich gotischen Plätzen des schlesischen Oppeln bis zur neapolitanischen Piazza San Francesco, hält inne in der trägen Hitze griechischer Inseln, um endlich in die europäische Hauptstadt Brüssel zu kommen. Richtungsweisend für die Wege, die Gauß im Laufe des Erzählens einschlägt, sind die Lebens- und Arbeitsstationen zahlreicher SchriftstellerInnen, die auf jeden Fall die ProtagonistInnen in Gauß´ Werk darstellen. Gauß ist Herausgeber der Literaturzeitschrift Literatur und Kritik, die Erforschung von Biographien Schreibender sind nicht zum ersten Mal Teil seiner Arbeit. Insofern ist Im Wald der Metropolen nicht nur im Bezug auf persönliche Bemerkungen im Verlauf des Buches, wie der wiederkehrenden Angst vor dem drohenden Herzinfarkt, autobiographisch. Eine Vielzahl von Anekdoten aus dem Leben des Begründers der modernen serbischen Schriftsprache, Vuk Karadžić, des kroatischen Nationaldichters Petar Preradović oder des Brünner Dichters Ivan Blatný, um nur einige zu nennen, machen das Buch auch zu einer Zusammenschau des intellektuellen Lebens in Europa.
Ist Im Wald der Metropolen über weite Strecken von der Vergangenheit inner-europäischer Verstrickungen geprägt, thematisiert Gauß an mehreren Stellen auch Europas Randgruppen als zweite Protagonisten: Einerseits die Roma als Beispiel für die größte innereuropäische Randgruppe. Andererseits zeigt Gauß am Beispiel der überwiegend afrikanischen EinwohnerInnen des Brüsseler Stadtviertels Marollen auf, dass Europa die neue Randgruppe der von außen nach Europa dringenden ZuwanderInnen nicht mehr länger aufhalten wird können.
Die vielleicht am schönsten beschriebenen ProtagonistInnen in Im Wald der Metropolen sind aber diejenigen, die von der Geschichte und ihren Verstrickungen völlig ungerührt scheinen: Die Alten und Greise der Städte und Inseln Südeuropas, die, in der Mittagshitze in Straßen schlurfend und auf Mauern sitzend, Sinnbild für die Ewigkeit sind.

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