Mehr Narren auf die Bühne

  • 13.07.2012, 18:18

Es ist alles so normal geworden.

Kommentar

Es ist alles so normal geworden. Man nimmt es für normal, dass die Freiheitlichen die Rassengesetze früherer Terrorzeiten fortschreiben wollen. Es ist normal geworden, dass man eine hermetische sozialdemokratische Stadtverwaltung für nahezu perfekt ausgibt, die den Integrationsgedanken heute erst als Neuigkeit entdeckt. Es wundert niemanden, dass Christsoziale die Schwächsten der Gesellschaft, die ohnehin am Boden liegen, noch mit Zwangsarbeit traktieren wollen. Es ist normal geworden, dass Grüne, die exzentrische und originelle Alternativen entwickeln sollten, vor lauter Begierde platzen, endlich im  Mainstream mitregieren zu dürfen.
Wer annähme, die Friktionen in den Basisstrukturen der Grünen Alternative in Wiens unkonventionelleren Bezirken sei so etwas wie konstruktive Narretei, der irrt: Sie sind nach Art der Altparteien vom Apparat manipuliert; und hier manifestiert sich die verhängnisvolle Normalisierung auch dieser Partei, in der Rankünen machtpolitisch-personeller Art Inhalte zu ersetzen beginnen. Wo sind die Zeiten, dass wahrhaftige Querköpfe als Chaoten, als Kommunisten, als Schädlinge beschimpft wurden – ja, als Schädlinge für die betuliche Bürgerruhe eines ungemein reichen Gemeinwesens, das mit  seinen Ressourcen gesellschaftlich, ökonomisch und umwelttechnisch wuchern könnte.
Könnte. Es zu tun sich aber weigert; radikale Ansätze als Gefährdung fürchtet; Originale zu Spinnern macht und die Narretei lähmender Besitzstandswahrung zur wünschenswerten Normalität erklärt, statt die wahren Exzentriker, die Kreativen, die dynamischen Narren und deren Phantasie und Visionen zum Leitmotiv zu machen. Eine der schönen und lebenslustigen Städte Europas führt einen hässlichen und lustfeindlichen Kampf mit sich selbst. Die reichste Millionenstadt des Kontinents findet nicht zu genug Witz, ihre ethnisch-sprachliche Vielfalt zu einem kulturellen Feuerwerk zu bündeln: Wo ist der Stolz auf die geniale Mixtur des Wiener Blutes? Die sollte die Krieger um das Stadtschicksal inspirieren, statt der Angstkomplex um seine Reinheit: Die „Reinrassigen“, ob ethnisch oder ideologisch und welcher Spezies auch immer, waren noch immer die Tumben, Faden, Uninteressanten. Mehr intelligente Bastarde, mehr Narren auf die Bühne!

Der Autor ist Österreich-Korrespondent der Süddeutschen Zeitung.

AutorInnen: Michael Frank