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Vier Quadratmeter

  • 13.07.2012, 18:18

Es war ein Morgen wie jeder andere, als Markus (25) vor sechs Jahren wegen vermuteten Besitzes und Verkaufs von Cannabis ohne Vorwarnung festgenommen und für fast zwei Monate in Untersuchungshaft gesteckt wurde. Im Gespräch mit der PROGRESS-Redaktion erzählte er von schlaflosen Nächten, Sonntagen im Knast und Zeit, die nicht verrann.

"Ich war für sechs Wochen in der Justizanstalt Eisenstadt inhaftiert. Über  Persönliches möchte ich nicht sprechen. Aber über den Alltag kann ich berichten. Am ersten Tag kennst du dich erst mal gar nicht aus. Die erste Woche war ich in Einzelhaft. Die Wärter haben auf mich vergessen beim Spazierengehen. Ich habe den anderen zugesehen, als sie im Hof ihre Runden zogen. Und so bin ich vier Tage nur in der Zelle gesessen. Das war einfach …
In meiner Zelle gab es ein kleines Loch in der Wand. Da konnte man Kopfhörer anstecken und Radio hören. Ö3, Krone Hitradio, Radio Burgenland. Super. Der Kontakt zur Außenwelt ist minimal. Ich habe Briefe bekommen. Die waren immer schon geöffnet und gelesen. In der ersten Woche hatte ich zu niemandem Kontakt, auch Besuch war nicht erlaubt. Der kam erst später und ist immer mit einer Glaswand von dir getrennt. Außerdem steht immer ein Jusstudent daneben und hört zu, damit niemand über den Fall redet. Die Polizei sagt dir, du wirst bald wieder entlassen. Aber schnell realisierst du: Das stimmt nicht.

Handschellen.

Verhaftet wurde ich zu Hause, an einem Mittwoch in der Früh, kurz nachdem ich aufgestanden bin. Es hat geläutet, aber ich konnte durch den Spion niemanden erkennen. Ich habe gefragt, wer da ist. „Polizei, aufmachen!“ Ich war versteinert. Es hat gegen die Tür gedonnert. Ich habe aufgemacht, zwei von ihnen haben sich auf mich gestürzt, ich hatte sofort Handschellen am Rücken. Die Polizei hat in meinem Zimmer drei Gramm Gras gefunden. Das war dumm. Sie haben mich mit Anschuldigungen überhäuft, dass ich ein Drogenboss sei. Sie haben mir die Achter um die Handgelenke geschlossen und mich mitgenommen. Für alle sichtbar wurde ich durch die Einkaufsstraße abgeführt. Auf der Wache wurde ich verhört, den ganzen Tag. Sie haben mich angelogen und mich eingeschüchtert. Als sie mir wen geschickt haben, die Vertrauen zu mir aufgebaut hat, bin ich auf sie reingefallen. Sie hat mich zum Reden gebracht. Ich hab mich verhaspelt und bekam Angst. Sie wissen, ein junger Typ, der kennt seine Rechte nicht. Das nutzen sie aus. Ich bin ihnen ins Messer gelaufen. Nach Eisenstadt kommen nur Leute mit kurzen Haftstrafen und Untersuchungshaft. Wer trotzdem länger dort ist, kann auch arbeiten gehen. Als Kugelschreiberabpacker, als Gärtner, als Koch – aber in die Küche kommt man nicht so leicht, da wollen alle hin. Mit der Zeit bekommt man Privilegien. Aber wenn du arbeiten gehst, wirst du erst recht wieder grundlos permanent von den Aufsehern angeschnauzt und musst dich mit ihnen auseinandersetzen. Ich war also nur in der Drogentherapiegruppe. Das war Ablenkung und zugleich ein kleines Kabarett. Ansonsten habe ich mich für alles, was irgendwie gegangen ist, angemeldet. Ich habe mich auch immer zum Arzt einschreiben lassen. Die Tabletten nahm ich aber nicht. Ständig wurde mir etwas verschrieben: Schlaftabletten, Antidepressiva und so. Da kommst du als Kiffer rein und gehst als Tablettensüchtler raus.

23 Stunden Zelle, 1 Stunde Hofgang

. Der Alltag ist im Gefängnis so, dass du relativ früh geweckt wirst. Am Vormittag kann man eine Stunde raus gehen. Dann ist Mittagessen. Und dann macht man die ganze Zeit nichts. Oder man geht zum Arzt. Auch in die Kirche hätte ich gehen können. Nach meiner Einzelhaft wurde ich in eine Fünferzelle verlegt. 20 Quadratmeter, also rund vier für jeden, mit vergitterten Fenstern. Es sind dort nur Männer. Ich war einer der Jüngsten. Jünger war nur ein 14Jähriger, ein 16Jähriger und dann kam schon ich mit meinen 19 Jahren damals. Der Älteste war 74. Er ist auch wegen Gras gesessen. Seine Frau ist gestorben und hat ihm Schulden hinterlassen. Er war Pensionist, hatte keine Arbeit, hat nicht gewusst, wie er die Schulden zurückzahlen soll. Dann hat er Gras angebaut. Was sollte er sonst machen? Ich hatte immer normales Gewand an. In Eisenstadt gibt es keine Anstaltskleidung. Alle hatten normales Gewand an. Duschen konnten wir nur einmal in der Woche. Einmal, als wir zum Arzt gefahren wurden, waren zwei Ungarn mit. Sie wurden von den Aufsehern niedergemacht und als „Ausländer“ und „Scheiß Tschuschen“ beschimpft. Das war sehr heftig. Als Ausländer hast du es überhaupt schwieriger. Du kriegst keinen guten Anwalt, die Anwälte kommen teilweise nicht einmal. Dir wird ständig mit Abschiebung gedroht. Und wenn du Ausländer bist, halten sie dich auf jeden Fall bis zum Prozess in Untersuchungshaft. Viele haben auch gesagt, dass die Gefängnisse in Österreich beispielsweise im Vergleich zu Albanien viel schlimmer seien. Ich bin nicht dafür, dass man Menschen einsperrt – das war ich auch davor nicht. Aber es ist eine schwierige Frage. Vor allem bei MörderInnen, beispielsweise. Man sollte differenzieren: Zwischen Menschen, die anderen schaden, und Dingen wie dem Konsum von Marihuana. Und: Die Ausbildung von PolizistInnen und RichterInnen ist zu schlecht. Es wird viel zu unsorgfältig mit dem Leben von Leuten umgegangen. Wenn ich Geschichten höre, wie dass jemand nach 17 Jahren unschuldig entlassen wird – das darf einfach nicht passieren. Was willst du ihm geben, damit das jemals wieder gut ist? Das Schlimme an der U-Haft ist, dass du nie weißt, was los ist, was draußen passiert, wie lang du noch dort bist. Die Zeit vergeht extrem langsam. Sechs Wochen sind mir vorgekommen wie ein halbes Jahr. Einschlafen ist sehr schwer. Es gibt keine Bewegung, keinen Auslauf. Und auch das Kiffen ist weggefallen. In der Einzelhaft habe ich mich hingelegt, sobald es dunkel war. Dann sind vier Stunden vergangen, bis ich endlich eingeschlafen bin. Das kommt dir wie eine Ewigkeit vor.

Entlassung.

Und dann war es aus, dann stehst du da. Was mach ich jetzt? Das war davor immer in weiter Ferne. Mir wurde ja oft gesagt, dass ich schon bald gehen könne. Das hat nie gestimmt. Wenn sowas passiert, hörst du auf, in kleinen Schritten und an die nähere Zukunft zu denken. Meine Entlassung war ganz plötzlich. Es hat geheißen, ich solle aus der Zelle raus, die Richterin möchte mich sehen. Als ich in ihr Büro kam, war sie nicht einmal da. Nur ihre Vertretung. Sie sagte, dass ich entlassen würde. Leiwand! Aber ich war auch völlig überrumpelt. Ich habe nur kurz meine Sachen geholt. Ich bin raus, hab meine Mama angerufen. Die hat’s gar nicht mehr gepackt. Und dann hat mich mein Vater abgeholt. Wir sind nach Hause gefahren. Pizza essen.“


Markus (25), Name von der Redaktion geändert, will anonym
bleiben. Nach der Untersuchungshaft wurde er zu einer
bedingten Haftstrafe verurteilt.

Der kommende Aufstand

  • 13.07.2012, 18:18

Die Linke hat eine neue Bibel: Ein anarchistisches Manifest geht um die Welt, während der Staat seine AutorInnen jagt.

Die Linke hat eine neue Bibel: Ein anarchistisches Manifest geht um die Welt, während der Staat seine AutorInnen jagt.

Es gibt Texte, die Geschichte schreiben. Durchaus im wörtlichen Sinn: Sie verbreiten Ideen, die noch nicht an der Macht sind, aber bereits in den Köpfen. Sie geben dem Unbehagen, das allenthalben gespürt wird, eine Form und einen Ausdruck.
Zur Zeit geht so eine Schrift auf der ganzen Welt um: Der kommende Aufstand ist ein Manifest, das Staat und Kapitalismus den Krieg erklärt. Es erschien vor drei Jahren in Frankreich im Anschluss der Krawalle in den Banlieues, als Verfasser zeichnet das Unsichtbare Komitee. Die französische Sonderpolizei stürmte eine Kommune auf dem Land, um einen mutmaßlichen Autor, den Philosophen Julien Coupat, festzunehmen, was das Ansehen des Textes nur noch steigerte und ihn international bekannt machte.
Der reaktionäre US-Fernsehstar Glenn Beck hielt die englische Übersetzung des Buches in die Kamera und nannte es „möglicherweise das Böseste, was ich jemals gelesen habe“. Die Linken riefen zur Bewaffnung auf, warnte er seine ZuseherInnen. Seit Sommer dieses Jahres ist der Text auch auf Deutsch erhältlich, woraufhin er die deutschen Zeitungen eroberte. Die wichtigsten FeuilletonistInnen widmeten dem Pamphlet ihre Gedanken und versetzten es in den Rang einer neuen „Bibel der Linken“.

Attac wird verspottet. Was hat dieser Text zu bieten, dass er in versifften Studierendenheimen gleichermaßen fasziniert gelesen und diskutiert wird wie in den Glaspalästen der großen Redaktionen? Zuallererst stimmt, dass er wirklich gut geschrieben ist, darüber herrscht Einigkeit. Aber die Essenz des kommenden Aufstands ist etwas anderes. Was das Werk so faszinierend macht, ist die so simple wie radikale Feststellung, dass sich der real existierende Kapitalismus nicht zähmen lässt. Dass es den Reichen immer gelingen wird, den Netzen des Steuerstaats zu entwischen. Attac, Grüne, Gewerkschaften, SozialdemokratInnen: Das Unsichtbare Komitee verhöhnt und verspottet sie alle. Sie trügen nur dazu bei, den verhassten Staat und seine bewaffneten Arme, die das Kapital schützen, am Leben zu halten.
Aber müsste nicht zumindest der Wohlfahrtsstaat verteidigt werden? „Der Behinderte ist das Vorbild der kommenden Bürgerlichkeit. Es ist nicht ohne jede Vorahnung, dass die Vereine, die ihn ausbeuten, ein existenzsicherndes Grundeinkommen für ihn fordern“, antwortet das Unsichtbare Komitee.
Aber sollte nicht zumindest versucht werden, das System von innen zu verändern? „Es gibt keinen Grund, sich in diesem oder jenem Bürgerkollektiv zu engagieren, in dieser oder jenen Sackgasse der radikalen Linken, in der letzten vereinten Hochstapelei“, schreiben die unsichtbaren KommunardInnen.
Ihre Haltung ist nicht ganz neu, KommunistInnen verfochten im 20. Jahrhundert eine ähnliche Sicht. Neu sind aber die Antworten, die Der kommende Aufstand bietet, um den Besitzenden die Macht zu entreißen. Nicht mehr Einparteien-Diktatur und Verstaatlichung der Produktionsmittel sollen der Linken den Sieg bringen, sondern Sabotage, Rückzug, Anonymität und „Partisanenkampf“.

Der Partisan im Wald. Wie das Erfolg bringen soll? „Georges Guingouin, der ‚erste Partisan in Frankreich‘, hatte als Ausgangspunkt 1940 nur die Sicherheit seiner Ablehnung der Besatzung“, schreiben die AutorInnen. Damals sei er für die Kommunistische Partei „nur so ein Spinner, der im Wald lebt“ gewesen; bis es „zwanzigtausend Spinner waren, die im Wald lebten“ und die eine Stadt von den Nazis befreit hätten.
Der Partisan im Wald zeigt vor, wie die Logik des Kapitals überwunden werden soll. Es gehe darum, Gruppen zu bilden und sich selbst zu organisieren, um der Hybris des Staates, der alles kontrollieren will, zu entkommen. Hier wird klar, warum Der kommende Aufstand so vielen und gerade auch konservativen FeuilletonistInnen leise zuspricht: Die extreme Linke stimmt ein in das konservative Unbehagen am Staat, der einer Krake gleich mit seinen Tentakeln immer tiefer in unser Leben eindringt, um die „öffentliche Sicherheit“ und letztlich sich selbst zu erhalten. Er operiert mit Videoüberwachung, Rasterfahndung und unscharf formulierten „Mafiaparagraphen“, die jeden Kegelverein ins Gefängnis bringen können.
Wobei Repression aber nur einer der beiden Janusköpfe der Staatlichkeit ist: Der Ausweitung der Überwachung auf der einen Seite entspricht der Ausbau des Wohlfahrtsstaates auf der anderen. Der Sozialstaat trat in der Geschichte immer als Alter Ego des Kontrollstaates auf. Wer gibt, macht das nicht ohne Preis – der Staat tauscht seit jeher Freiheit gegen die Sicherheit seiner BürgerInnen. So muss es nicht wundern, dass die linksliberale Berliner tageszeitung weit hysterischer als die konservative Frankfurter Allgemeine Zeitung ( FAZ ) auf ein Manifest reagiert, das den Staat vernichten soll.

Schwarze Geländewägen. Wie würde aber die Welt aussehen, wenn Der kommende Aufstand gelänge? Die AutorInnen schreiben, „eine aufständische Erhebung ist vielleicht nichts anderes als eine Vervielfachung der Kommunen, ihrer Verbindungen und ihres Zusammenspiels“ und jegliche Kommune könne „nur zwangsläufig nach Selbstversorgung streben und in ihrem Innern Geld als etwas Lächerliches und genau gesagt Deplaziertes empfinden“.
Der FAZ schwebt für den Fall eines Sieges des Unsichtbaren Komitees etwas anderes vor: „Die unsichtbaren linken Militanten überschätzen ihre Kraft: Eine kollabierende öffentliche Ordnung würde (…) durch eine Mafia regiert. Wenn die Züge nicht mehr fahren, folgt nichts Besseres. Nach dem kommenden Aufstand kommen die schwarzen Geländewagen.“

Entfesselung der Empörung

  • 13.07.2012, 18:18

Für soziale Gerechtigkeit, für die „wahrhaftigkeit“ der Politik statt deren „unterwerfung unter Märkte“und für die Chance auf ein würdevolles Leben gehen abertausende „Empörte“ in Portugal und Spanien auf die Straße. Sie starten dabei eine Revolution auf Raten, die sich zusehends globalisiert.

Für soziale Gerechtigkeit, für die „wahrhaftigkeit“ der Politik statt deren „unterwerfung unter Märkte“und für die Chance auf ein würdevolles Leben gehen abertausende „Empörte“ in Portugal und Spanien auf die Straße. Sie starten dabei eine Revolution auf Raten, die sich zusehends globalisiert.

Sie zelteten im Zentrum Madrids an der Puerta del Sol, in Mailand vor der Börse, skandierten zu Hunderttausenden Parolen. Sie forderten soziale Gerechtigkeit im israelischen Tel Aviv und selbst in Santiago de Chile sekundierten über eine Million DemonstrantInnen die Forderung nach einer neuerlichen Verstaatlichung des Bildungssektors. Stets gewaltfrei und mit zivilem Ungehorsam – und konfrontiert mit Attacken seitens der Polizei, die in Madrid und Barcelona mit Schlagstöcken gegen die DemonstrantInnen vorging, die in Athen Wasserwerfer, abgelaufenes Tränengas und brutale Körpergewalt einsetzte und in Chile ebenfalls Tränengas gegen die StudentInnen anwandte.
Die Proteste, die in Portugal am 12. März dieses Jahres mit der so genannten Geração à rasca (dt. „Generation in der Bredouille“) begonnen hatten, schwappten prompt nach Spanien über, wo die Plattform Wahre Demokratie, jetzt – initiiert von Jon Aguirre Such – am 15. Mai in Massendemonstrationen landesweit aufbegehrte. Die Bewegung gewann eine Eigendynamik und wächst weiter, global wie lokal. Es scheint, als fände der beherzte Aufruf des einstigen Widerstandskämpfers gegen Nazi-Deutschland, Stéphane Hessel (93), in seinem Essay „Empört Euch!“ in Iberien den größten Widerhall. Als der Résistance-Veteran Anfang September nach Madrid geladen war, fehlten ihm fast die Worte: „Die Protestbewegung ist etwas Wunderschönes. Spanien, wie die Welt ganz generell, sie sollten sich vom Neoliberalismus verabschieden.“

Murmeltiertagsgefühl. „Nein, sie vertreten uns nicht!“, „Die Revolution hat begonnen!“ oder „Sie nennen es Demokratie, es ist ein Polizeistaat!“ sind einige der vielen Protestrufe der unzähligen spanischen „Empörten“ (span. indignados). Eine „verlorene Generation“, die sich von den aus ihrer Sicht „wirtschaftshörigen“ Großparteien, seien es SozialistInnen oder die rechtskonservative Volkspartei, ihrer Zukunft beraubt fühlt. Dabei geht es unter anderem um würdevolles Arbeiten und Wohnen, sowie um Parolen wie „Eure Krise bezahlen wir nicht“, gegen „die Märkte“, die „Rating-Agenturen“ oder die „Banken- Rettungen“. Die Unterwerfung der Politik durch die „Märkte“ gelte es zu brechen, ebenso die „Zweiparteien-Diktatur“, welche seit 36 Jahren die spanische Politik charakterisiert. So treten die indignados für die Stärkung der Kleinparteien und parlamentarische Pluralität, gegen politische Korruption und Sinnlosigkeiten per Finanzierung aus der Staatskasse an. Bei einem Blick auf die Ansprachen spanischer Ministerpräsidenten seit Leopoldo Calvo-Sotelo im frühen demokratischen Spanien um 1981 über Felipe González bis zu José Maria Aznar, kommt ein Murmeltiertagsgefühl auf: Auf deren Agenda standen seit jeher Arbeitslosigkeit, Wirtschaftskrise und die Verbesserung des Zugangs zu Wohnungen für die junge Generation. Nach wie vor werden diese Themen gebetsmühlenartig in die TV-Kameras posaunt.

Heute hat beinahe jedeR zweite unter 30Jährige in Spanien keinen Job. AkademikerInnen streichen mitunter ihre Titel aus dem Lebenslauf, um überhaupt noch eine Anstellung, freilich prekär, zu erhalten. 45,7 Prozent Arbeitslosigkeit bei den Jungen – das ist ein Wert, der sich nicht nur seit Krisenbeginn verdoppelt hat, er erscheint im EU-Vergleich außerirdisch. Viele, die zu Boomzeiten noch gelockt von den Gehältern der Bauund Tourismusindustrie Schule und Studium abgebrochen haben, zählen heute zum paradox erscheinenden Kollektiv der „jungen Langzeitarbeitlosen“.

Arbeitslos vs. Auswandern. César Corrochano ist einer von vielen, die sich empören und sich von Anfang an der Bewegung angeschlossen haben. Vor dem Abschluss seines Architekturstudiums in Madrid stehend, lebt der 29Jährige wie das Gros seiner AltersgenossInnen noch im Elternhaus. Mit seinem „Gehalt“ für einen Uni-Halbtagsjob à 470 Euro (zehn Bezüge jährlich) ist ein WG-Zimmer (ab 350 Euro aufwärts) illusorisch. Sozialversicherung ist ein Fremdwort für ihn und auch Jobbewerbungen hat er nach zig Absagen satt: „Entweder ich wechsle mein Berufsfeld, oder ich wandere aus“, sagt Corrochano: „Vielleicht auch nach Deutschland.“ Immerhin hat er sein Erasmus-Semester in Hannover verbracht, und spricht fast akzentfrei „einbisschen Deutsch“, wie er bescheiden sagt. Zahlreiche KollegInnen wären bereits in Berlin, Paris oder eben in Panama oder Chile in Büros tätig, um der Hoffnungslosigkeit der „verlorenen Generation“ Iberiens zu entfliehen. Von der Politik ist er schwer enttäuscht: „Egal was man wählt, verändern wird sich nichts“, beklagt er. Ein Großteil der PolitikerInnen sei „auf ihren persönlichen Vorteil erpicht und hat den Kontakt zur Bevölkerung ohnehin längst verloren“. Darum fordert er „eine fairere Welt“ ein, „die definitiv möglich sei“.

Worte der Unterstützung äußerte auch der international angesehene Richter Baltasar Garzón. Er wünscht sich, dass „die 15M-Bewegung zu einer dauerhaften Institution“ wird. Und so manches, das auf den „Volksversammlungen“ der indignados auf unter dem Motto „Yes, we camp“ errichteten Zelt-Plätzen landesweit debattiert wurde, steht bereits auf der Agenda der Realpolitik, wenn auch stark abgeschwächt: Der Schutz der vor der Enteignung stehenden Hypotheken-kreditnehmerInnen und ein Transparenzgesetz wider die Polit-Korruption, wie von den „Empörten“ gefordert, ist mittlerweile in Vorbereitung. Immerhin wurden die Vermögenswerte aller Abgeordneten offengelegt. Außerdem steht eine Wahlrechtsreform an, die die Kleinparteien stärken soll. Denn das D’Hondtsche Wahlsystem, das übrigens auch in Österreich angewandt wird, benachteiligt diese bisher. Ein Blick zurück auf den Wahlgang von 2008 veranschaulicht das. Die Vereinigte Linke errang knapp 960.000 Stimmen, erhielt jedoch lediglich zwei Abgeordnete. Ein Sitz „kostete“ die fast 500.000-fache Bekundung des WählerInnenwillens. Die Großparteien errangen mit je zehn und elf Millionen Stimmen hingegen 169 (Sozialisten) und 154 (Konservative) Sitze im Parlament – einen pro 65.000 Stimmen.

Erst der Anfang. Der streitbare Philosoph Fernando Savater empört sich hingegen über die „Empörten“: Diese seien so unbedeutend wie ein „Kistchen Gartenkresse“. Der Soziologe Kerman Calvo, Professor an der Universität Salamanca und Autor einer ersten wissenschaftlichen Expertise über die spanische Protestbewegung, sieht die Bewegung hingegen erst am Anfang. „Sie stehtauf keinen Fall vor ihrem Ende. Ganz im Gegenteil“, sagt er. Sie sei „in eine Phase der Selbstdefinition eingetreten und lege nun ihre Prioritäten fest“. Der spanische staatliche Rundfunk gab zuletzt die Zahl jener, die „in irgendeiner Form an der Protestbewegung mitgewirkt“ hätten, mit bis zu acht Millionen an – in einem Land, das knapp 47 Millionen EinwohnerInnen zählt. Die Vernetzung der Bewegung geschieht nicht einzig über Twitter per Hashtags wie #15M, #spanishrevolution, #tomalaplaza und Facebook. Auf eigenen Blogseiten der zahllosen lokalen Volksversammlungen werden auch zu regionalen Themen Lösungsansätze debattiert. Denn ein Mausklick auf „Gefällt mir“ alleine ist keineswegs ein revolutionärer Akt.

Lokale Stärke. „Neben unseren Blockade-Aktionen gegen die polizeilichen Delogierungen säumiger HypothekenkreditnehmerInnen, ist das das Gebiet, über das wir derzeit den größten Zuwachs verzeichnen“, sagt Marta Cifuentes (28)aus Granada: „Über lokale Themen, wie etwa die Schließung einer Bezirksbibliothek, kommen wir an einen breiten Personenkreis, der uns sonst nicht kennen würde.“ Sie hat Psychologie fertig studiert und widmet sich nun – aus „purem Interesse“ – einer Kunstausbildung im Bereich-Schmuckdesign. Seit Beginn der Proteste ist Cifuentes Teil der 15M-Bewegung. „Ich war bei der Demo im Mai, und zwei Tage später erfuhr ich, dass die Ersten ein Protestcamp errichtet hatten. Ich bin sofort hingegangen“, sagt sie. „Es ist fast unglaublich, wie schnell wir uns organisiert hatten. Binnen weniger Tage hatten wir eine Gemeinschaftsküche, einen Kindergarten, eine Bibliothek, ja selbst psychologische Betreuung leisteten wir im Camp“, sagt Cifuentes, merkt jedoch an: „Bei denjenigen, die Wochen im Freien geschlafen hatten, merkte man deutlich den psychischen Verfall. Manche wurden fast paranoid.“

Zwar wird der kommende Urnengang anlässlich der Parlamentswahlen am 20. November mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit in einer absoluten Mehrheit der konservativen Volkspartei münden. Enttäuscht von den SozialistInnen unter Zapatero, wenden sich viele WählerInnen der Rechten zu – selbst wenn diese nostalgisch der Diktatur unter Francisco Franco und José Antonio Primo de Rivera, dem Gründer der faschistischen Falange Española de las J.O.N.S., huldigen.

Weiß oder Wahlboykott. „Die vorgezogenen Parlamentswahlen eröffnen ein ideales Zeitfenster für neue 15M-Proteste“, meint der Soziologe Calvo. Doch selbst wenn sich ihr Widerstand gegen beide Großparteien, SozialistInnen wieKonservative, richte, werde „ihr Einfluss auf das Wahlergebnis sehr gering sein“, prognostiziert er: „Die meisten Protestierenden sehen sich nahe der Linken oder sind NichtwählerInnen.“ In der Tat, noch bei den Kommunalwahlen im Mai waren sie laut, die Stimmen, die zum Wahlboykott oder zum durchwegs beliebten „Weiß-Wählen“ (die ungültige Stimme wird gezählt, aber keiner Partei zugerechnet, was die Großparteien minimal schwächt) aufriefen.Nun jedoch – „um einen Erdrutschsieg der Konservativen zu verhindern“, wie die Aktivistin Cifuentes sagte – wollen zumindest Teile der Bewegung von ihrem Recht Gebrauch machen. Im Wahlkampf werden sie ohnehin nicht untergehen: 15M-Delegierte reisen quer durch Europa und um die ganze Welt, um sich persönlich auszutauschen. Einem Sternmarsch aus allen Provinzen gen Madrid folgte einer nach Brüssel, wo die „Empörten“ am 15. Oktober eintreffen wollen. Am selben Tag sind Großkundgebungen in ganz Spanien anberaumt und die Online-AktivistInnen des Kollektivs Anonymous, das die spanische 15M-Bewegung unterstützt, kündigte eine zu Redaktionsschluss noch nicht näher definierte Aktion für den Wahltag, die „OP20N“ an.

 

Bereit, den Kampfanzug anzuziehen

  • 13.07.2012, 18:18

Oslo war vorhersehbar, die Gesellschaft rückt nach rechts und kritische Öffentlichkeit stumpft ab. welcher widerstand macht jetzt Sinn? Ein Licht aufs Meer des Antifaschismus.

Oslo war vorhersehbar, die Gesellschaft rückt nach rechts und kritische Öffentlichkeit stumpft ab. welcher widerstand macht jetzt Sinn? Ein Licht aufs Meer des Antifaschismus.

Unfassbar und pietätlos“, empörte sich FPÖ-Chef Heinz- Christian Strache drei Tage nach dem Attentat von Oslo, sei es, die Politik seiner Partei in irgendeinen Zusammenhang mit diesem Ereignis zu stellen. Denn plötzlich wurde öffentlich thematisiert, was ohnehin offensichtlich ist – und schon drei Monate danach in Vergessenheit zu geraten scheint: Dass die FPÖ und ihre Verbündeten in ganz Europa den Boden für „Einzeltäter“ wie Anders Behring Breivik bereitet haben. Die inhaltlichen Parallelen finden sich schwarz auf weiß in Breiviks Manifest: Dort zitiert er die aus Vorträgen am FPÖ-Bildungsinstitut bekannte „Islamexpertin“ Elisabeth Sabaditsch-Wolff genauso wie die freiheitliche Wahlkampflüge vom Verbot des Nikolos in Wiener Kindergärten. Umgekehrt ruft die FPÖ mittels Schüttelreimen, Comics und Computerspielen immer wieder wörtlich und symbolisch zu Gewalt auf. Ganz direkt wird Strache, wenn es „um unsere Heimat“ geht: „Da muss man auch bereit sein, den Kampfanzug anzuziehen“, wetterte er, der einige Jahre davor noch selbst im Kampfanzug durch den Wald robbte, beim FPÖ-Parteitag 2006.
Heribert Schiedel, Rechtsextremismus-Experte im Dokumentationsarchiv des Österreichischen Widerstandes (DÖW), schrieb in den Tagen rund um die Osloer Attentate gerade am letzten Kapitel seines neuen Buches „Extreme Rechte in Europa“, das im Oktober in der Edition Steinbauer erscheinen wird. Er sei damals nicht besonders überrascht gewesen und meint sogar, die Anschläge waren angekündigt: „Das war nur eine Frage der Zeit. Das Bekennerschreiben zur Tat war schon da, dessen Inhalte weitgehend akzeptiert.“ Breiviks Ansichten fände man fast wörtlich in „Texten, Aufsätzen, Reden von europäischen Rechten verschiedener Fraktionen. Je weiter man nach rechts außen geht, desto unmittelbarer werden die Vernichtungsphantasien, die Drohungen, die Paranoia.“

Buckeln und Treten. Basis für Rechtsextremismus sind nicht allein die Skins von nebenan im Thor- Steinar-Style oder rechtsextreme Internetseiten. Vielmehr entspringt all das einer Gesellschaft, in der es schnell einmal hart auf hart gehen kann. Von klein an lernen wir, unsere Wünsche nicht zu hoch zu schrauben, oder gleich zu unterdrücken. Nach den engen Schlingen der Kleinfamilie folgen Kindergarten, Schule und manchmal auch Militär – Institutionen, die patriarchal- autoritär geprägt sind und auf ein hartes Konkurrenzverhältnis in der Arbeitswelt, einen soziallöchrigen Staat und ein hierarchisches politisches System vorbereiten. Die Verletzungen und Demütigungen können dabei immens sein, die Handlungsspielräume, am eigenen Leben etwas zu ändern, minimal. Das führt häufig zu aggressiver Resignation: Nach oben buckeln, nach unten treten. Erklärungen werden gesucht, Verschwörungstheorien entstehen. Angst, Neid und Hass liegen eng beieinander – und werden auf „die Anderen“ projiziert. Rechtsextremismus ist die idealtypische Äußerung davon.

Mit dem zunehmenden antimuslimischen Ressentiment in der Gesellschaft hingegen tun sich klassische Rechtsextremist_innen oft schwer – werden doch die Muslim_innen von Vielen als Verbündete gegen „die Juden“ betrachtet. Eine elegante inhaltliche Klammer zwischen klassischem Rechtsextremismus und antimuslimischem Alltagsrassismus bietet aber der Mythos der „Türkenbelagerung“. Bereits im Austrofaschismus wurde dieser als „Kampf um das Abendland“ hochstilisiert. Der FPÖ gibt er nicht nur eine Möglichkeit, die „rein“ gehaltene Nation zu feiern und damit die Kernklientel zu bedienen, sondern auch, um mit dem verstärkten Ressentiment gegen Muslim_innen Stimmen zu fangen. Der antimuslimische Konsens verbreite sich also „auf Basis der ‚Verteidigung europäischer Werte‘ gepaart mit paranoiden Vorstellungen einer ‚linkslinken Multi-Kulti-Verschwörung‘“, sagt Schiedel.

Verschiebung der Normalität. Martina Wurzer, Grüne Gemeinderatsabgeordnete mit antifaschistischem Schwerpunkt, konstatiert Österreich ein tiefsitzendes Problem mit antisemitischen und rassistischen Ressentiments. Die FPÖ spiele auf dieser Klaviatur: „Durch das Erstarken der FPÖ fühlt sich nicht nur die neonazistische Szene bekräftigt, es wirkt auch als Legitimation für latente Fremdenfeindlichkeit. Die Politik und Parolen der FPÖ führen dazu, dass das an den Stammtischen viel besser verbreitbar ist.“ Dies spiegle sich im Verfassungsschutzbericht wider, wobei dieser sehr zurückhaltend mit der Thematisierung rechtsextremer Straftaten sei. Eine eklatante Zunahme von Delikten mit rechtem Hintergrund ist jedoch kaum zu verbergen. Der Ende September veröffentlichte Sicherheitsbericht spricht gar von einem Anstieg um 28 Prozent im Jahr 2010.

Lichtermeer und schwarzblau. Diesem neuerlichen Erstarken des Rechtsextremismus gilt es etwas entgegen zusetzen. Die Frage ist nur, was. Die großen Kundgebungen des „anderen Österreich“ scheinen gescheitert. Die Forderungen des Anti- Ausländer_innen-Volksbegehrens der FPÖ 1993, gegen das damals 300.000 Menschen im Zuge des Lichtermeers auf die Straße gingen, sind heute weitgehend umgesetzt – großteils von SP-Innenministern. Sibylle Summer, linke Sozialdemokratin und Vorstandsmitglied im Republikanischen Club, sieht einen Normalisierungsprozess, der in den letzten Jahren in Bezug auf autoritäre Tendenzen, Rassismus und den Wunsch nach einem „starken Mann“ stattgefunden habe. Dennoch betrachtet sie die klassischen antifaschistischen Kundgebungen, wie sie 1986 gegen Waldheim, 1993 gegen das FPÖ-Volksbegehren und 2000 gegen Schwarz-Blau stattgefunden haben, nicht als sinnlos: „Da war jeweils eine neue Generation engagiert, es sind NGOs entstanden. Solche Bewegungen sind generationsprägend. Daraus erwächst kritischeres Bewusstsein.“ Außerdem sei es wichtig, nicht abzustumpfen und der Empörung Ausdruck zu verleihen: „Eine Demonstration ist eine Verortung der Emotion und kann Ausgangspunkt für politische Organisierung und Aufklärungsarbeit sein.“

Kein Spielplatz für die FPÖ. Auch durch die Vernetzung der Rechten im Internet tun sich hier neue Aktionsformen auf. „Wir sehen unsere Arbeit als Teil einer antifaschistischen Protestbewegung“, sagen die Aktivist_innen von Bawekoll, dem Basisdemokratischen Webkollektikv. Sie beobachten seit Mitte Juni die Tätigkeiten der FPÖ im Internet, sammeln und kontextualisieren diese auf ihrer Website. Den Facebook- Auftritten von FPÖ-Politiker_innen wird dabei genauso nachgegangen wie ihren Verbindungen im Real Life. Denn „Social Media-Plattformen sind kein Spielplatz, auf dem ich, ohne Konsequenzen fürchten zu müssen, tun kann was ich will“, meinen sie. Bawekoll übernehmen gemeinsam mit anderen Blogs und Internetleser_innen einen wichtigen Teil der Recherchearbeit über rechtsextreme Netzwerke. Diese Archive seien ein wertvoller Bestandteil antifaschistischen Engagements, sagt auch Martina Wurzer: „Es ist dramatisch, wie abgestumpft wir von den ständigen Vorfällen und Aussagen von FPÖ-Politiker_innen, Burschenschaftern und Neonazis sind. Diese Blogs helfen, sich daran zu erinnern. Denn der österreichische Staat zeigt extreme Lücken auf, wenn es darum geht, Rechtsextremismus zu beobachten und zu ahnden.“ Schiedel setzt weniger beim Staat als bei der Arbeit mit Jugendlichen an, beim Auslösen von Reflexionsprozessen vor einem historischen Hintergrund: „Warum sollte das nicht auch gesamtgesellschaftlich funktionieren?“ Skandalisierungen und Demonstrationen könnten es schaffen, mehr Zustimmung für antifaschistische Positionen zu erreichen. Doch, so Schiedel nachdrücklich, die Frage sei: „Was mach ich dann mit der Zustimmung? Feiere ich den Sieg der Massen gegen die Nazis? Oder gehe ich einen Schritt weiter, freue mich zwar über Zustimmung, aber frage auch, wie es mit mir selbst, der eigenen Partei, dem eigenen Umfeld, der eigenen Gesellschaft aussieht.“

Die AutorInnen studieren Politik und Geschichte

ÖH unter Verdacht

  • 13.07.2012, 18:18

Der Überwachungsstaat nimmt immer beängstigendere Auswüchse an. Drei ehemalige ÖH-FunktionärInnen werden in einer Datenbank des Verfassungsschutzes als ExtremistInnen geführt. Ein kommentar

Der Überwachungsstaat nimmt immer beängstigendere Auswüchse an. Drei ehemalige ÖH-FunktionärInnen werden in einer Datenbank des Verfassungsschutzes als ExtremistInnen geführt. Ein kommentar

Am 22. Dezember 2010 organisierte die ÖH-Bundesvertretung gemeinsam mit AktivistInnen der #unibrennt-Bewegung anlässlich der Kürzungen bei der Familienbeihilfe eine Protestaktion im Parlament. Eine Aktion mit schweren Folgen, denn seither ist unter anderem das gesamte ehemalige ÖH-Vorsitzteam in der Datenbank zur Abwehr gefährlicher Angriffe und krimineller Verbindungen, kurz EDIS des Bundesverfassungsschutzes gespeichert, als AktivistInnen der Gruppe 2-EX (Extremismus).

Parlamentsprotest. 19 Personen entrollten mitgebrachte Transparente, warfen Flyer und ließen die Abgeordneten mit Parolen wie „Wir sind hier und wir sind laut, weil ihr uns die Zukunft klaut!“ wissen, was sie von den geplanten Sparmaßnahmen im Zuge des neuen Budgets halten. Die Sitzung des Nationalrats wurde für drei Minuten unterbrochen, die AktivistInnen vom Sicherheitspersonal des Parlamentsvon der BesucherInnentribüne geholt und ihre Daten aufgenommen. Unmittelbare Konsequenzen der Aktion waren ein Hausverbot über die Dauer von 18 Monaten, das von der Parlamentsdirektion verhängt wurde, sowie eine Verwaltungsstrafe in der Höhe von 70 Euro wegen Störung der öffentlichen Ordnung für alle Beteiligten. Doch damit nicht genug. Einige Monate nach der Aktion stellten elf der 19 Personen ein Auskunftsbegehren an das Innenministerium, um zu erfahren, welche Daten über sie gespeichert wurden. Fünf Personen, darunter das ehemalige Vorsitzteam der ÖH-Bundesvertretung Sigrid Maurer, Thomas Wallerberger und Mirijam Müller erhielten Auskunft über ihre Eintragung in die EDIS-Datenbank mit der Speicherdauer von zehn Jahren. Als Rechtsgrundlage und Speichergrund wurde die Abwehr von kriminellen Verbindungen angegeben. Laut Gesetz besteht diese, sobald sich drei oder mehr Menschen mit dem Vorsatz zusammenschließen, fortgesetzt gerichtlich strafbare Handlungen zu begehen, wozu Verwaltungsübertretungen eindeutig nicht zählen.

Weitreichende Folgen. ÖH-FunktionärInnen, sprich VertreterInnen einer öffentlich-rechtlichen Körperschaft, die von allen Studierenden demokratisch gewählt wird, werden aufgrund einer friedlichen Protestaktion und bloßen Verwaltungsübertretung vom Verfassungsschutz als ExtremistInnen angesehen und in dessen Extremismusdatenbank geführt. Der Verfassungsschutz sieht also hinter der Protestaktion eine kriminelle Verbindung und verdächtigt die betroffenen ÖH-FunktionärInnen als Mitglieder dieser Verbindung. Ein derartiger Verdacht hat weitreichende Folgen für die Betroffenen, denn er ermächtigt die Polizei zahlreiche Überwachungs- und Ermittlungsmaßnahmen einzuleiten, ohne dass diese einer gerichtlichen Kontrolle unterliegen. Unter anderem darf die Polizei gegen die Betroffenen verdeckt ermitteln, Bild-, Video- und Tonaufzeichnungen an öffentlichen Orten, bzw. durch Verwanzung von ErmittlerInnen auch an privaten Orten, erstellen sowie sämtliche abrufbare personenbezogenen Daten ermitteln und weiterverarbeiten. Momentan kann weder bestätigt noch ausgeschlossen werden, ob derartige Maßnahmen gegen die ÖH-FunktionärInnen und AktivistInnen eingeleitet wurden. Der Überwachung von regierungskritischen Personen steht, wie dieser Fall klar zeigt, nichts im Weg: und das ohne richterlichen Beschluss, ohne staatsanwaltschaftliche Genehmigung, ohne dass ein konkreter Verdacht begründet werden muss, die ermittelnden BeamtInnen schulden niemandem Rechenschaft.

Alle sind verdächtig. Seit im Sommer erneut die Diskussion rund um die Abwehr von Terrorismus und dementsprechende Antiterrorgesetze entflammt ist, bastelt die Regierung an neuen Gesetzen, die nun kurz vor der Beschlussfassung stehen. In diesem Paket werden die Befugnisse der Sicherheitsbehörden noch weiter ausgeweitet – künftig sollen sie ohne konkreten Verdacht auch gegen Einzelpersonen ermitteln können. So reicht es zukünftig, sich mündlich, schriftlich oder elektronisch in irgendeiner Form positiv zu Gewalt gegen verfassungsmäßige Einrichtungen oder Belangen verfassungsfeindlich zu äußern, um dem Verfassungsschutz zu ermöglichen, diverse Überwachungsmaßnahmen einzuleiten. Die Polizei darf ohne gerichtliche Kontrolle sogenannte Bewegungsprofile auf Basis von Handystandortdaten, die von Handyunternehmen abgefragt werden, erstellen. Auch der Einsatz von Peilsendern wird zukünftig möglich, Besetzungen dürfen ohne Räumungsverordnung beendet werden, und was gerade politisch aktive Menschen stark betrifft, ist die zukünftige Möglichkeit der erweiterten Gefährdungsanalyse bei Delikten des Staatsschutzes. Bei dieser werden personenbezogene Daten in einer Analysedatenbank gesammelt und weiterverarbeitet, um als Ausgangspunkt für weitere Maßnahmen zu dienen. Dadurch sollen Menschen vom Verfassungsschutz auf ihre „Staatsfeindlichkeit“ und Gefährlichkeit geprüft werden, ohne dass dieser dabei irgendwelchen Auflagen unterliegen würde – nicht einmal die Zustimmung des oder der Rechtsschutzbeauftragten ist vorgeschrieben. Datenbanken werden international vernetzt, die gespeicherten Daten mit denen aus anderen Ländern abgeglichen und ausgetauscht.

Rechtstaat adé. Wenn Menschen aufgrund einer harmlosen Protestaktion im Parlament als ExtremistInnen und die ÖH als kriminelle Verbindung verdächtigt wird, wird Strafbarkeit auf Meinungsäußerungen verlagert. Es kommt so zu einer Abkehr vom Individualstrafrecht, hin zur Kriminalisierung von Vorbereitungshandlungen, Meinungsäußerungen und der Zugehörigkeit zu Gruppen/Vereinigungen. Parallel dazu kommt es durch ständig neue Überwachungsmöglichkeiten, die Sammlung sensibler Daten und deren fehlende bzw. mangelnde Kontrolle zu massiven Einschnitten im Privatleben, im Rechts- und Datenschutz und bezüglich der Unschuldsvermutung. Gerade NGOs und Menschen, die politische Entscheidungen nicht unkommentiert stehen lassen wollen und aktionistisch auf Missstände aufmerksam machen, sind von diesen Änderungen betroffen und können leicht Ziel von Ermittlungen werden. Mögliche Folgen derartiger Gesetze konnten beim Tierschutzprozess beobachtet werden. Die seit Jahren schrittweise erweiterten Kompetenzen der Sicherheitsbehörden schaffen einKlima, in dem sich jedeR BürgerIn potentiell kriminell oder staatsfeindlich fühlen muss. Mit dem vorgeschlagenen Terrorpaket der Regierung bewegen wir uns noch einen Schritt weiter in Richtung Sicherheitsstaat und entfernen uns von den Prinzipien der Rechtsstaatlichkeit.

 

Sterne, Pfeile, Kreuze und ein Haken

  • 13.07.2012, 18:18

Am staatlich finanzierten Museum „Haus des Terrors“ lässt sich der ideologische Kurs der ungarischen Regierung ablesen. Die Gleichsetzung von Stalinismus und Nationalsozialismus und die Darstellung der ungarischen Nation als rein gebliebenes Opfer ebnen den weg für die Bekämpfung von Linken und Liberalen.

In der Mitte des Raumes mit dem Titel „Doppelte Besatzung“ steht eine zweiseitige Videowand. Auf der einen Seite sind Aufnahmen von einer stalinistischen Propagandaveranstaltung zu sehen, von der Roten Armee im Krieg und von Toten im Gulag-Lager. Auf der anderen eine Hitler-Rede vor jubelnden Massen, die Wehrmacht im Krieg und Leichenberge aus dem KZ Bergen-Belsen. Diese Art der Gleichsetzung und der Darstellung Ungarns als Spielball fremder Mächte zieht sich in der Folge durch die gesamte staatlich geförderte Ausstellung, die seit 2002 im Budapester „Haus des Terrors“ zu sehen ist.
Für die ungarisch-deutsche Kulturwissenschaftlerin Magdalena Marsovszky ist das Ausdruck eines „narzisstischen völkischen Denkens“. Im Gespräch mit PROGRESS sagt sie: „Es seien immer Andere, immer die großen Mächte gewesen, die die Nation ins Unheil gestürzt haben. Die Ungarn seien heilig und unschuldig geblieben. Das ist der Grundtenor der Ausstellung“.

Historische Kontinuität.

In dem alten Museumsgebäude, das sich wenige Meter von der Staatsoper auf einer der prachtvollsten Alleen Budapests befindet, errichtete die ungarisch-nationa lsozia listische Pfeilkreuzlerpartei 1944 ihr Hauptquartier. Nach Kriegsende und bis zum Aufstand 1956 verwendete die stalinistische Geheimpolizei das Haus, um darin vermeintliche DissidentInnen zu inhaftieren, unter Folter zu verhören und zu exekutieren.
Heute besuchen etwa 1000 bis 1500 Menschen täglich die Ausstellung. Sie erstreckt sich über zwei Obergeschosse und den Keller, wo einige Gefängniszellen rekonstruiert wurden. Jeder der 36 Ausstellungsräume ist einem bestimmten thematischen Schwerpunkt gewidmet, nur drei davon jedoch dem Nationalsozialismus. Die Abfolge der Räume entspricht nicht der historischen Chronologie und lässt so die Grenzen zwischen den politischen Systemen weiter verschwimmen.

Historische auslassungen. In den Textblättern zu den Räumen über die Pfeilkreuzler-Partei der ungarischen Nazis erscheint die Shoah im Wesentlichen als ein Werk von Adolf Eichmann, dem für die Shoa zentral mitverantwortlichen Obersturmbannführer der SS, und seinen unmittelbaren Untergebenen. Im Museum des Budapester Holocaust-Dokumentationszentrums wir dagegen darauf hingewiesen, dass Eichmanns Kommando aus gerade einmal 150 Personen bestanden hat. „Ohne die aktive, initiativenreiche Mithilfe und unermüdliche Arbeit des fast 200.000 Personen umfassenden Apparats der ungarischen Polizei, Gendarmerie und öffentlichen Verwaltung “, heißt es dort, „wäre es unmöglich gewesen, hunderttausende Menschen innerhalb weniger Wochen zu ghettoisieren und deportieren“.
Der ungarische Antisemitismus vor dem Einmarsch der Wehrmacht wird in der Ausstellung und dem Begleitmaterial des „Haus des Terrors“ überhaupt ausgeklammert. Dabei wurde bereits 1920 im konservativen volksnationalen Regime unter Miklós Horthy ein Numerus Clausus erlassen, der eine Beschränkung des jüdischen Anteils der Studierenden auf sechs Prozent vorsah. Die Bestimmung wurde zwar 1928 aufgehoben, dafür folgten ab 1938 weitere, deutlich schärfere antisemitische Gesetze.
Darauf angesprochen, sagt die Direktorin des „Terrorhauses“, Mária Schmidt, im Gespräch mit PROGRESS

: „Wenn Sie sich für die Numerus-Clausus-Gesetze und für die Juden-Gesetze interessieren, dann gehen Sie bitte zum Holocaust-Museum.“ Ungarn sei kein so reiches Land, dass mehrere Museen die selbe Geschichte erzählen könnten. Und warum die Schwerpunktsetzung auf den Realsozialismus? „Wir wollten einerseits die Geschichte der kommunistischen Diktatur erzählen“, so Schmidt, „und andererseits die Geschichte des Hauses, wo beide totalitären Diktaturen einen wesentlichen Ort hatten. Die Pfeilkreuzler haben das Gebäude nur einige Monate als ihre Zentrale benutzt und die kommunistische Staatssicherheitspolizei ein ganzes Jahrzehnt.“
Schmidt ist Historikerin und hat bis zum Jahr der Museumseröffnung als Beraterin des inzwischen wiedergewählten Ministerpräsidenten Viktor Orbán gearbeitet. Ihr jetziges Verhältnis zu seiner Fidesz-Partei bezeichnet sie im Interview als „sehr gut“. In einem Artikel von 2001 beschreibt sie den Kampf gegen den Antisemitismus als ein taktisches Ablenkungsmanöver liberaler und linker intellektueller Eliten. Sie hätten damit ein Phantom konstruiert, weil es nicht in deren Interesse gelegen habe, „die Geschichte Ungarns im 20. Jahrhundert im Licht nationaler ungarischer Interessen neu zu bewerten“.
Diese nationalistische Neubewertung entspräche allerdings der Strategie der Regierung, so Marsovszky. „Der Antikommunismus und der Antiliberalismus werden in einer subtilen Weise geschürt, um sie gegen heutige Linke und Liberale einsetzen zu können.“ Mit Erfolg: „Das Haus des Terrors, die Stiftung dahinter und Mária Schmidt sind mit dem Ungarischen Geschichtsbild voll im Einklang.“

Angst fressen Europa auf: Die Zeit des Zorns ist gekommen

  • 13.07.2012, 18:18

Ein Politik-Kommentar von Stefan Apfl.

In Spanien, wo 45 Prozent Jugendarbeitslosigkeit herrschen, lässt die Regierung friedliche Demonstrierende von der Straße prügeln. In Griechenland, wo der unausweichliche Staatsbankrott gerade zum zweiten Mal hinausgezögert wird, greifen die Kinder einer enterbten Mittelschicht zu Molotowcocktails. Und jene arabischen Kids, die beim Versuch, in eine bessere Zukunft zu fliehen, nicht vor Italiens Küste ersaufen, werden wie eine Seuche behandelt, wegen derer die Grenzbalken wieder fallen.
Kurzum, etwas läuft gewaltig schief in Europa, und jeder kann es spüren, am meisten die Jungen.
Denn während sich als Folge der Finanzkrise die größte Umverteilung in der Geschichte des Kapitals ankündigt, nämlich von unten nach oben, vom Sozialstaat zu den Krisenauslösern, wächst in Europa die erste Generation seit dem Zweiten Weltkrieg heran, für die das Versprechen, es einmal besser als die eigenen Eltern zu haben, nicht mehr gilt. Das nächste Praktikum, die nächste Party, das nächste Neon kommen bestimmt.
In Brüssel haben risikoscheue Juristinnen und Juristen das Sagen übernommen, in Europas Hauptstädten Egomaninnen und Egomanen wie Frankreichs Nicolas Sarkozy, Zauderer wie Angela Merkel oder Wohnbaustadträte wie Werner Faymann. Auf die unsicheren Zeiten reagieren sie mit Sonntagsreden und Homestories, soziale Verteilungskämpfe nennen sie einen „Clash of Cultures“. An die Stelle von Erweiterung und Integration sind Entsolidarisierung und Renationalisierung getreten. Dabei ist Europa nicht weiß, ängstlich, männlich, christlich und 50plus. Nur seine Elite ist es.
Noch haben die Zeltstädte der spanischen Jugend keinen europäischen Frühling ausgelöst. Dabei ist die Zeit für einen neuen Projektvertrag gekommen. Denn gerade in der Krise benötigen wir das Projekt Europa mehr denn je. Nicht, weil es dazu keine Alternative gäbe, sondern weil das Projekt selbst bereits die Alternative ist.
Und wenn es einen Tag, eine Woche, ein Monat des Zorns dauert, um ein offenes, ein solidarisches, ein neu gedachtes Europa einzufordern: Nehmen wir uns die Zeit dafür. An Zorn wird es nicht mangeln.

Stefan Apfl studierte Journalismus in Wien und arbeitet als Politik-Redakteur bei der Wiener Wochenzeitung Falter.

„Kleines“ Spiel groß im Geschäft

  • 13.07.2012, 18:18

Erschreckend viele Menschen werfen ganze Monatsgehälter in Glücksspielautomaten. Das provoziert immer mehr soziale Probleme, doch die Politik kümmert sich nur halbherzig um Lösungen. Gesetzeslücken und Vollzugsstreitigkeiten stehen einem Verbot der Automaten im Weg.

Es ist ein Bombengeschäft. Der größte österreichische Glücksspielkonzern Novomatic versetzt mit seinen Jahresabschlüssen regelmäßig die AktionärInnen in Staunen. Ein Umsatzplus von 19 Prozent und 131 Millionen Euro Profit erwirtschaftete das Gumpoldskirchner Unternehmen im Jahr 2010. Verkauf und Vermietung von Glücksspielautomaten sowie der Betrieb von Glücksspielen machen den Löwenanteil davon aus. Laut eigenen Angaben betreibt Novomatic weltweit 165.000 Spielautomaten. Stimmen die Rahmenbedingungen, ist das Geschäft krisensicher. 2009 musste der Konzern zwar einen leichten Umsatzrückgang einstecken, da Russland das Glücksspiel verbot, doch wo die Spielautomaten erlaubt sind, liefern sie regelmäßig hohe Erträge. Das ist kein Wunder, denn 60 Prozent des Umsatzes liefern Spielsüchtige, die aufgrund ihrer Krankheit immer mehr Geld in die Automaten werfen. Und so kümmerte sich der Konzern gut um die Rahmenbedingungen in Österreich: Lobbyismus und großzügiges Sponsoring von Parteien ebneten den Weg zu einem Glücksspielgesetz, mit dem Novomatic „zufrieden“ sei.

Wiederbelebt. Als soziales Problem erlebt die Spielsucht eine Renaissance. Sie hängt mit der Liberalisierung des Glücksspielmarktes zusammen.
Seit den 1980ern wurde das vormals strikt monopolisierte Geschäft für MarktteilnehmerInnen geöffnet. In Folge dessen stieg das Angebot, die Spielsucht folgte am Fuß. Besonders das Automatenglücksspiel hat Anteil daran.
Ein Beispiel aus Kärnten verdeutlicht das: Während vor 1997 weniger als ein Prozent der PatientInnen der Suchtklinik De La Tour an pathologischem Spielverhalten litten, stieg diese Zahl nach der Legalisierung des so genannten kleinen Glücksspiels an. 2005 hielten sie bei 15 Prozent.
Die Automaten fördern das Suchtverhalten: Ein Spiel dauert ein oder zwei Sekunden, oft erscheinen Beinahe-Jackpots am Schirm, den SpielerInnen wird vorgegaukelt, sie könnten durch geschicktes Spielverhalten das Ergebnis beeinflussen. Doch am Ende gewinnen die BetreiberInnen, so schreibt es das Gesetz vor: Zwischen 85 und 95 Prozent der Einsätze müssen die Automaten wieder ausspucken. Da bleibt für alle restlichen Beteiligten genug übrig: AutomatenherstellerInnen, BetreiberInnen und die öffentliche Hand profitieren.
Letztere hat allerdings einigen Handlungsspielraum. Das Glücksspiel ist bundesgesetzlich geregelt. In der Frage der Automaten wurde mit dem neuen Glücksspielgesetz von 2010 Regelungskompetenz an die Länder abgegeben. Sie können selbst entscheiden, ob das kleine Glücksspiel im Bundesland legal sein soll oder nicht. Wenn ja, kann eine an der Bevölkerungszahl ermittelte Obergrenze von Automaten aufgestellt werden.
Das Land erhebt dafür Gebühren. In Wien werden beispielsweise 1400 Euro pro Automat und Monat kassiert. Diese können entweder als „Einzelaufstellungen“ (maximal drei Automaten pro Lokal, 1 Euro Maximaleinsatz) oder in Automatensalons (bis zu 50 Automaten, 10 Euro Maximaleinsatz) bewilligt werden.
Krankhaftes Automatenspiel kommt ziemlich teuer. Jene, die den Weg zur Spielsuchtberatung schaffen, sind durchschnittlich mit 40.000 Euro verschuldet. Beschaffungskriminalität, Therapie, Gerichtskosten, SchuldnerInnenberatung, zerrüttete Familien und Arbeitsplatzverlust sind typische „Nebeneffekte“ des Automatenspiels. Sie kosten Geld, und zwar mehr als der Staat damit einnimmt. Das ist das Ergebnis einer Studie von Joanneum Research, die 2009 publiziert wurde. Von der Legalisierung des kleinen Glücksspiels hält das aber kaum ein Bundesland ab. In Wien, der Steiermark, Niederösterreich und Kärnten sind die Automaten bereits erlaubt, der Oberösterreichische Landtag beschloss kürzlich die Legalisierung, auch das Burgenland steht schon in den Startlöchern.

Lücke im Gesetz.

Ein Verbot sei unmöglich durchzusetzen, argumentieren die PolitikerInnen häufig. Das würden die vielen illegalen Automaten zeigen, die etwa in Oberösterreich nicht kontrolliert werden konnten. Die Gründe dafür liegen sowohl im Gesetz, als auch im Vollzug desselben. Während 2010 die Glücksspiel-Soko des Finanzministeriums ausrückte, um illegale Automaten zu konfiszieren, wurde die Beschlagnahmung von der jeweils zuständigen Bundespolizeidirektion bereits zweimal aufgehoben. Polizei und Finanz sind sich nicht einig, wie der Vollzug der Gesetze vonstatten gehen soll.
Auch eine Lücke im Gesetz stellt die Politik vor Probleme. So können zwar die Länder entscheiden, ob sie das kleine Glücksspiel legalisieren wollen oder nicht, doch geringfügig andere Spielautomaten – Video Lotterie Terminals (VLT) – können überall in beliebiger Zahl aufgestellt werden. Landesgesetze hin oder her. Sie gelten als Lotteriespiele und sind im Glücksspielgesetz in einem anderen Paragraphen geregelt, haben aber mindestens so verheerende Auswirkungen wie die Landes-Automaten. Denn Höchsteinsatzgrenzen gibt es bei diesen Geräten nicht. Davon profitieren die Österreichischen Lotterien bzw. ihr Mehrheitseigentümer, die Casinos Austria, da sie die einzige Lizenz für Online- Lotterien besitzen.
Für Christoph Lagemann von der ARGE Suchtvorbeugung macht ein Verbot, das nicht durchgesetzt werden kann, wenig Sinn. Denn ein illegaler Markt schaffe noch mehr Probleme. Sein Interessensverband gab eine Studie zum Thema Spielsuchtvorbeugung in Auftrag, die Mitte Mai veröffentlicht wurde. Dort steht schwarz auf weiß: 64.000 ÖsterreicherInnen haben ein Spielsuchtproblem, 60 Prozent der Umsätze im Automatenglücksspiel kommen von ihnen. Kurzfristig müsse der SpielerInnenschutz ausgebaut und die Prävention verbessert werden. Allerdings sei das Automatenglücksspiel „eine derart gefährliche Sache, dass langfristig über den Umgang damit noch einmal nachgedacht werden muss“, gibt Lagemann zu bedenken. Ein staatliches Glücksspielmonopol, das die Gewinne der Allgemeinheit zuführt, wäre seiner Meinung nach die vernünftigste Lösung.
In Österreich haben sich besonders die Bundesländer mit ihrer impliziten Zustimmung zum Glücksspielgesetz selbst ein Ei gelegt: Scheinbar können sie das Angebot zwar regeln, aufgrund der VLTs und der Streitigkeiten im Vollzug sitzen sie jedoch am kürzeren Ast. „Durchgerutscht“ sei die VLT-Regelung im Gesetz, hört man aus dem Parlament. Während sich die Politik selbst um ihren Handlungsspielraum bringt, wirft die Bevölkerung Tag für Tag weiter Geld in die Automaten. Doch die Lücken im Gesetz könnte man schließen – es scheitert am mangelnden Willen.

Die Autorin studierte Sozioökonomie in Wien und ist Vize-Chefin der Sektion8.

Claus Pándi ist ein böser Mensch

  • 13.07.2012, 18:18

Die belgische Dokumentarfilmerin Nathalie Borgers, Produzentin der Krone-Doku „Tag für Tag ein Boulevardstück“, spricht mit PROGRESS zum einjährigen Todestag von Hans Dichand über die Ängste und den Obrigkeitswahn der ÖsterreicherInnen, den „bösen Menschen“ Claus Pándi und den persönlichen Umgang mit Hans Dichand.

Progress: In Ihrer Dokumentation ist die Rede davon, dass die Kronen Zeitung einen großen Teil der österreichischen Seele repräsentiert. Was sagt das über das Land aus?

Borgers: Es geht hier immer um den gleichen Vergleich: Wir und die anderen. Dazu kommt dann noch die Angst. Die Angst davor, überschwemmt zu werden, und dadurch Werte, Lebensqualität, schlichtweg alles, was man erreicht hat, zu verlieren. Daher muss immer Ordnung herrschen. Befehlen hat man zu gehorchen. Man ist in diesem Land zu Recht stolz auf die beste Lebensqualität in Europa. Aber wo bleibt dabei das Leben? Was ist das für eine Lebensqualität, wenn für Ordnung jegliche Lebendigkeit geopfert wird? Ein bisschen mehr Mut! Ein bisschen mehr Fantasie!

Sie haben auch mit überzeugten LeserbriefschreiberInnen der Kronen Zeitung gedreht. Wie ticken diese HobbykolumnistInnen?

Es war leicht, mit ihnen zu reden. Sie sind einfach Fans der Zeitung. Sie identifizieren sich sehr mit der Krone und die Zeitung benutzt die Leserbriefschreiber.

Dichand sagt im Film relativ trocken: „Das sind Seiten, die uns nichts kosten.“ Zu Dichands Lebzeiten gab es in Österreich immer auch den Witz, der Herausgeber schreibe die Leserbriefe selber.

Vielleicht hat er das getan. Das weiß ich nicht. Angesichts der großen Anzahl an Zuschriften hätte er das aber nicht nötig gehabt. Da genügte schon die richtige Auswahl. Ich habe auch Gerüchte gehört, dass er die nackte Frau auf Seite sieben persönlich ausgewählt hat. Das habe ich leider auch nicht in Erfahrung gebracht.

Neben den LeserbriefschreiberInnen und der Nackten prägen vor allem die „Krone-StarkolumnistInnen“ das Gesicht der Zeitung.

Dichands Konstruktion der Zeitung ist wirklich unglaublich schlau. Durch diese Kolumnisten hat er eine weitere Form der Identifikation geschaffen. Es gibt Leute, die sind immer da. Sie stellen eine Art Familie dar. Damit nimmt man die Leser mit. Dichand hat das wirklich gut geplant: Ich bin der Vater aller Österreicher. Ihr seid alle meine Kinder. Ich schütze euch und bringe euch eine klare Linie.

Gibt es unter den KolumnistInnen überhaupt eine klare, gemeinsame Linie?

Natürlich sind das alles Individuen, aber die Zeitung macht sie zu einer Familie. Günther Nenning und Andreas Mölzer hatten sicherlich unterschiedliche Werte. Aber alle Kolumnisten einte eine Tatsache: Hans Dichand bedeutete für sie Ruhm und Geld. Vor allem Geld ist sehr wichtig. Sie sind alle sehr gut bezahlt. Dafür müssen sie aber auch stets loyal sein, Widerspruch wird nicht geduldet.

Lassen Sie uns über einzelne „Familienmitglieder“ sprechen. Claus Pándi inszeniert sich etwa seit geraumer Zeit als Videoblogger, der die Mächtigen vorführt. Sie haben Pándi während ihrer Dreharbeiten kennengelernt. Welchen Eindruck hat er bei Ihnen hinterlassen?

Ich mag ihn überhaupt nicht. Ich habe mich bei ihm sehr schlecht gefühlt. Er ist kein guter Mensch. Es gibt in der Kronen Zeitung auch gute Menschen, aber Claus Pándi ist ein böser Mensch.

Ist er intelligent?

Er ist wahrscheinlich sehr klug. Aber intelligent im Sinne von Analysen tätigen und Feinheiten erkennen? Das glaube ich nicht. Er spielt sehr stark mit der Angst der Bevölkerung: Die Anderen sind schlecht, sie haben Werte, die nicht richtig sind. Er drückt das sehr gut und sehr schnell aus. Außerdem weiß er, wie Macht funktioniert.

Wie denken Sie über den Radaupoeten und Volksdichter Wolf Martin?

Wolf Martin war noch schlimmer, er war der schlimmste von allen. Bei ihm herrscht so eine negative Atmosphäre. Eine Atmosphäre, bei der man denkt, diese Person hat nie etwas Positives in ihrem Leben erlebt. Alles ist dunkel, negativ und traurig. Egal ob beim Rauchen oder Trinken, überall herrscht Exzess. Alles ist sehr extrem. Irgendwas in ihm ist entweder kaputt oder schon gefressen worden.

Wie erklären Sie sich das?

Diese Einstellung muss aus einer Zeit stammen, in der Strafe ein sehr großer Teil der Erziehung war, in der Mütter und Frauen sehr schlecht angesehen wurden. Also aus einer sehr patriarchalen und autoritären Gesellschaft. Man kann sich die Stimmung bei Wolf Martin wie in einem Werk von Elfriede Jelinek oder Thomas Bernhard vorstellen.

Es gibt in der Krone aber auch weit weniger düstere Facetten, die Tierecke etwa.

Sich für Wesen zu interessieren, die nichts zu sagen haben, passt sehr gut zur Kronen Zeitung. Es herrscht dort im Allgemeinen eine Kleingeistigkeit.
Alles ist klein, nichts ist offen. Das ist für mich so erstaunlich an der Krone. Die Redakteure könnten jederzeit mit Menschen aus aller Welt, aus den verschiedensten Kulturen, in Kontakt treten. Dennoch verschließen sie sich lieber und kümmern sich um Problemchen wie Hunde und Katzen.

Man könnte den Einsatz der Kronen Zeitung für gewisse Anliegen ihrer LeserInnenschaft doch auch positiv sehen.

Durchaus, das hat aber mit Journalismus nichts zu tun. Die Krone benutzt ihre Macht, um etwas im Parlament zu ändern. Das ist nicht der Job einer Zeitung. Vor allem: Wer entscheidet darüber, was richtig ist und was falsch? Einzig und allein die Krone – und das hieß bis vor einem Jahr einzig und allein Hans Dichand.

Wer die notorische Verschlossenheit der Kronen Zeitung kennt, der weiß zu schätzen, welche tiefen Einblicke Sie sich verschafft haben. Wieso hat Dichand das überhaupt zugelassen? Bei einem ARTE- Dokumentarfilm konnte er doch damit rechnen, dass es sich um einen kritischen Film handeln würde.

Am Anfang wusste ich gar nicht, für welche Fernsehstation der Film sein würde. Die Tatsache, dass sich jemand aus dem Ausland für seine Zeitung interessiert hat, muss Dichand wohl sehr gefallen haben. Mein französischer Akzent hat wohl auch geholfen, Dichand liebte Frankreich. Als er dann erfuhr, dass ARTE bei dem Film involviert war, hat er mir erstmals Geld angeboten, damit der Film dort nicht erscheint. Ich habe das natürlich abgelehnt. Dichand hat sich dann wohl gedacht, wenn schon ein Film entsteht, ist es für die Krone besser, offen zu sein, damit nicht nur Feinde der Zeitung zu Wort kommen.

Und danach gab es keine Momente mehr, bei denen die Dokumentation hätte scheitern können?

Einen Moment gab es noch. Dichand hat erfahren, dass ich mit Heide Schmidt und Erhard Busek gedreht habe. Er hat mir sofort vorgeworfen, dass ich mit der Tageszeitung Der Standard einen Komplott vorbereite. Das war natürlich überhaupt nicht wahr. Ich musste daraufhin zusichern, Dichand den Film vor seiner Ausstrahlung zu zeigen. Das habe ich dann auch gemacht.

Waren Sie bei dieser Vorführung dabei?

Ja.

Wie unangenehm war das?

(lacht) Das war natürlich sehr unangenehm. Leider saß Dichand hinter mir. Ich konnte also nicht abschätzen, wie er reagierte. Nach der Vorführung hat er geschwiegen. Der Finanzdirektor der Kronen Zeitung, der auch anwesend war, hat sich hingegen beschwert: „Wir fühlen uns in die rechte Ecke gedrängt.“

Wie war Dichand im persönlichen Umgang?

Er war eine recht angenehme Person. Natürlich nur solange man machte, was er wollte. Er war sehr gut erzogen. Er konnte mit Frauen und hätte eine Frau wohl auch nie angeschrien. Wie gesagt, als ich ihm den fertigen Film gezeigt habe, hat er geschwiegen. Das wäre vielleicht anders gewesen, wenn ich ein Mann gewesen wäre.

Dichand war ja nicht nur ein mächtiger Herausgeber, sondern auch ein gewiefter Journalist. Wie schwierig war es, ihn zu interviewen und mit ihm zu drehen?

Er hat sich selbst inszeniert und somit war es sehr einfach für mich. So einen Charakter bekommt man nicht für jeden Film. Die unangenehmen Fragen habe ich hauptsächlich gegen Ende der Dreharbeiten gestellt. In der Zwischenzeit hat sich Stück für Stück gezeigt, was er wirklich mit seiner Zeitung macht, wie er funktioniert, was er denkt. Er hat das alles von sich aus preisgegeben. Das ist natürlich „sugar“ für einen Film.

Wie haben Sie eigentlich von Hans Dichands Tod erfahren?

Die Austria Presse Agentur hat mich angerufen und wollte ein Statement von mir haben. Ich habe nicht gewusst, was ich sagen sollte. Natürlich ist es keine gute Nachricht, selbst wenn ein Mann wie er stirbt. Es ist aber auch keine schlechte Nachricht. Das ist das Leben.


Das Gespräch führten Markus Kiesenhofer und David Donnerer.

Schönheit im Zerfall

  • 13.07.2012, 18:18

Wer der Perfektion misstraut, ist in New Orleans gut aufgehoben. Vieles bröckelt ab, und doch ist die Stadt das Interessanteste, was die Golfküste zu bieten hat. Ein Erfahrungsbericht.

Wer der Perfektion misstraut, ist in New Orleans gut aufgehoben. Vieles bröckelt ab, und doch ist die Stadt das Interessanteste, was die Golfküste zu bieten hat. Ein Erfahrungsbericht.

Rumms. Das Taxi erwischt ein Schlagloch mit 35 mph, die Fonds-InsassInnen schüttelt es durch. “I hate this street!”, flucht der Fahrer. Er befindet sich auf einer der Hauptverkehrsstrecken der Stadt, selbst dort findet sich eine breite Auswahl an “Potholes”, dem gemeinsamen Erkennungsmerkmal der Straßen von New Orleans. Nicht nur die Straßen bröckeln. Häuser, Dächer, Autos, Plätze: Ohne Dellen, abblätternder Farbe und fehlende Steine wären sie nicht Teil der Stadt. Was mit dem Euphemismus Elegant Decay umschrieben wird, ist Ausdruck der prekären sozioökonomischen Situation der Crescent City.
Das Stadtbudget ist knapp, doch nicht nur der Verwaltung fehlt hier das Geld, sondern auch den BürgerInnen. Das Median-Haushaltseinkommen in New Orleans liegt bei knapp 37.000 Dollar, das sind etwa 15.000 Dollar weniger als im U.S.- Durchschnitt. 24 Prozent der Bevölkerung leben unter der Armutsgrenze.
So viel Negatives kann schon über New Orleans geschrieben werden, ohne den Hurrican Katrina auch nur einmal zu erwähnen. Dieses Symbol für das Versagen des amerikanischen Katastrophenschutzes markiert hier die Stunde Null der Zeitrechnung. 2005 standen weite Stadtteile wochen- und monatelang in einer toxischen Brühe. Was Sturm und Wasser übrigließen, fraß der Schimmel auf.
Wenn hier nichts rosig und alles schadhaft ist, warum wollten die BewohnerInnen nach Katrina in die Stadt zurück? Weil New Orleans die interessanteste Stadt der USA ist, behauptet die Tafel an der Stadteinfahrt. Und Belege finden sich dafür genug: großzügige Parks, die von angelegten Teichen über verwilderte Eichenwälder bis zu Baseball-Feldern alles bieten. Der Lake Ponchartrain, an dessen Ufer es sich ein wenig wie am Meer anfühlt. Historische Bauten, die nicht Hochhausprojekten zum Opfer gefallen sind, sondern stolz renoviert wurden. Der mächtige Mississippi und die Öltanker, die den Old Man River entlanggleiten. Kein(!) Alkoholverbot auf öffentlichen Plätzen. Eine kreative und ambitionierte Essenskultur. Und natürlich die Musik. Bars mit Live-Musik gibt es hier wie Sand am Meer. Allerdings finden sich darin nicht wie in Österreich mehrheitlich stark alkoholisierte Möchtegern-Bon- Jovis, sondern ernstzunehmende MusikerInnen. Sie reinterpretieren Jazz-Standards aus den 20ern, erfinden den Rockabilly neu oder pusten in einer 10er-Formation als Brass Band die halbe Straße weg. Kein Jazz-Fan? Kein Problem – von Bright Eyes bis Jay-Z können geneigte Austauschstudierende hier alles haben. Fast jedes Wochenende steht ein anderes Festival am Programm, und die Stadt ist leistbar.
Wer sich aus dem Uni-Campus rauswagt, kann hier also eine tolle Zeit verbringen. Denn alleine wegen den Hochschulen kommen wenige her. Die beste Privatuniversität am Platz ist die Tulane University. Für etwas über 40.000 Dollar Studiengebühren im Jahr bekommen Kinder reicher Eltern hier einen Campus mit hübschen historistischen Gebäudefassaden geboten. Im Times Higher Education Ranking der besten Hochschulen der USA taucht diese Alma Mater dennoch nicht auf. Im lokalen akademischen Feld allerdings nimmt sie einen wichtigen Platz ein. Nicht zuletzt ist die Tulane University der zweitgrößte Arbeitgeber der Stadt und damit ein unverzichtbarer ökonomischer Motor. Ein Großteil der Studierenden kommt jedoch nicht aus New Orleans oder Louisiana, denn wer hier lebt, kann sich die hohen Studiengebühren selten leisten. 70 Prozent der Studierenden an der Tulane sind „weiß“, die Uni passt damit gut in die Demografie des Stadtteils, in dem sie angesiedelt ist: Uptown. Die Gegend ist hübsch, die Streetcars sind pittoresk, die Immobilien teuer, und wer hier wohnt, ist selten arm.
Am Ufer des Lake Ponchartrain, also mehr oder weniger am anderen Ende der Stadt, befindet sich die öffentliche Universität. Die University of New Orleans kann zwar ein vielversprechendes Akronym vorweisen, doch die Gebäude sind weniger prächtig, die Campus-Ausstattung dürftiger und die Eichhörnchen dreister als an der privaten Schwester Tulane. Hier kostet ein Studienjahr als Bachelor-StudentIn „nur“ etwa 4.700 Dollar, und so finden sich hier viele Studierende aus New Orleans. 55 Prozent der Studierenden sind „weiß“. In einer Stadt mit 30 Prozent „Weißen“ im demografischen Mittel ist das zwar immer noch viel, aber der Campus-Rundgang zeigt deutlich mehr Diversität als jener an der Tulane University. Mit Star-Alumni kann sich diese Uni kaum schmücken, dafür aber mit ihrer bekanntesten Studienabbrecherin: US-Talkshowmoderatorin und Schauspielerin Ellen DeGeneres.

Die Erzählungen der Studierenden über die Zeit nach Katrina zeigen die Perspektive der Jungen auf die Naturkatastrophe. Quer durch den Bundesstaat und noch weiter waren sie im Wintersemester 2005 verstreut. Viele landeten in Baton Rouge, und sie konnten das Sankt Pölten von Louisiana nicht ausstehen. Am Tag als New Orleans „wieder aufsperrte“, kamen sie zurück. Geschäfte habe es da zwar noch keine gegeben, doch mit Food-Trucks tuckerten die Hilfsteams täglich durch die Stadt und verteilten Essen. Für Studierende mit beschränkten Budgets seien das paradiesische Zustände gewesen, so erzählen einige.
Mit der Zäsur „Katrina“ hat sich für New Orleans auch eine Möglichkeit eröffnet: Besser zurückzukommen. Rebirth Brass Band ist der passende Name für die beste Bläser-Kombo der Stadt, und als 2010 die New Orleans Saints den Superbowl in die Crescent City holten, schien das Comeback perfekt. Doch auch systematische, nicht nur symbolische „rebirths“ finden sich in der Stadtgeschichte. Vor Katrina war New Orleans für die schlechtesten öffentlichen Schulen des Landes bekannt. Nach einer radikalen Umstrukturierung des Schulsystems schneiden die Jugendlichen in
den standardisierten Bildungstest nun deutlich besser ab. Aktuell wird ein neuer Versuch unternommen, die Mord rate der Stadt zu senken. Während in Österreich auf 100.000 EinwohnerInnen ein halber Mord pro Jahr kommt, beläuft sich diese Zahl in New Orleans auf 52.
Opfer und TäterInnen sind fast ausschließlich junge AfroamerikanerInnen – Arbeitslosigkeit und fehlende Zukunftsperspektiven haben damit mehr zu tun als die oft beschworene Bandenkriminalität. Diese „Kultur der Gewalt“ soll nun nachhaltig geschwächt werden. Die Stadtregierung finanziert ein Gewaltpräventionsprojekt mit 250.000 Dollar. Ob New Orleans damit weite Sprünge machen kann, wird sich zeigen.

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