Der Gegenstand Lernen

  • 13.07.2012, 18:18

Ohne weiteres kann ich eine Reihe von klugen und einverständigen Bemerkungen zum Lernen machen.

Ein Gastkommentar.

Ohne weiteres kann ich eine Reihe von klugen und einverständigen Bemerkungen zum Lernen machen. Dass es nützlich ist und notwendig, dass es Spaß machen kann und Mühe bereiten, dass es lebenslänglich geschieht, dass es allgemein menschlich ist, dass aber auch Tiere selbstverständlich in der Lage sind zu lernen… Solche Sätze stehen um mich wie ein gepflegter Garten, in dem ich auf eigens dafür angelegten Wegen gehe, ohne dass ich etwas zertrete, mich etwas mit Dornen ergreift und verletzt. Ich bin unangefochten.
Dabei löst das Wort Lernen, wenn ich es nur nah genug an mich heranlasse, ein tiefes Unbehagen aus. Es heftet sich an Erinnerungen von Befehl und versuchtem Gehorsam, von Versagen und Unlust, von Schuld. Im Schacht meines Gedächtnisses sind unter dem Namen Lernen vornehmlich Erlebnisse abgelegt, in denen es mir gerade nicht gelang zu lernen, was ich sollte oder wollte. Erinnerung an Unvermögen, Verweigerung, Blockade.

Lernen als Tätigkeit. Ist Lernen also etwas, das nur sprechbar und erkennbar wird im Moment, in dem ein geplantes Ziel nicht erreicht wird, in dem eigene Strategien und Mühe entfaltet werden müssen, und das daher benennbar und erinnerbar ist zunächst als Negativerlebnis, als misslingendes Lernen.
Ich kann das nicht glauben. Ich weiß von Neugier und Lernlust. Also muss es doch in der Erinnerung, wie verschüttet auch immer, gelingende, positive Lernerlebnisse geben. Aber warum solche Vergrabung? Warum diese Unlustbesetzung des Wortes Lernen in eigener Erinnerung bei gleichzeitigem Wissen, dass Lernen gesellschaftlich zu den positiven, anerkannten, guten Tätigkeiten gehört?
Vielleicht ist es sinnvoll, von Lernen nur in Zusammenhängen zu sprechen, in denen für die Bewältigung bestimmter Praxen eigene Schritte gegangen werden müssen, Strategien ergriffen, Fähigkeiten bewusst erlangt werden– und die Hoffnung, es gäbe so etwas wie lustvolles glückliches Lernen dem Reich der Wunschphantasien zuzuschreiben? Lernen wäre demnach an Training gebunden und es gälte, erfolgreiche Programme zu entwerfen und existierende ständig zu verbessern, um den größtmöglichen Lernerfolg zu erzielen? Fähigkeiten müssen durch harte Übung erlangt werden, der Weg ist steinig, das Gehen nur durch äußeren oder/und inneren Zwang möglich. Es ist günstig, in sehr jungem Alter damit anzufangen, wenn die Menschen noch biegsam sind. »Früh krümmt sich, was ein Häkchen werden will.« Alles, was man durch freudiges Tun gleichsam im Fluge erlernt, wäre dann für eine Theorie des Lernens und entsprechende Pädagogik ebenso wenig von Interesse wie die schleichende Ein- und Unterordnung, die das Leben in herrschender Gesellschaft erbringt?
Ich bin nicht überzeugt. Aber es irritiert mich, dass mir immer weiter negative Lernerlebnisse einfallen, bis zu einem gewissen Grade zumindest, und dann der eigentliche Lernschub wie ausgelöscht ist, sodass ich aus ihm wiederum nichts lernen kann.
Ich nehme ein Beispiel aus höherem Alter, sodass kindliche Unlust und womöglicher Unwille, die Fähigkeit hier und jetzt sich anzueignen, keine Rolle spielen können, sondern ich davon ausgehen kann, dass ich als rationales Subjekt lernen wollte.

Die Frage. Die Erinnerung ist wie ein Alptraum. Ich sitze in einem Seminar. Wie selbstverständlich ist meine Hauptkraft darauf gerichtet, nicht aufzufallen und doch aufzufallen. Es darf niemand merken, dass ich rein gar nichts weiß, kaum etwas verstehe, schon gar nicht, wozu ich es verstehen sollte, dass ich die Texte nicht durchdringend gelesen habe, nicht lesen konnte, weil sie mir nichts sagten und anderes mir mehr. Auch sitze ich hier in einem Hauptseminar, obwohl dies erst mein drittes Semester ist, weil es mir gelungen war, den Eindruck zu vermitteln, sehr klug zu sein und strebsam. Das scheint mir mit einem Mal kein so großer Erfolg mehr zu sein, sondern eine selbst gestellte Falle. Ich schreibe in jedem Semester wenigstens vier Referate und bin also fleißig, habe aber mehr und mehr den Eindruck, hauptsächlich eine Inszenierung zu betreiben, nichts wirklich zu sein und also vergeblich den Versuch zu machen, Lernbissen zu ergattern. Fieberhaft überlege ich, was ich fragen könnte. Dies scheint die hauptsächliche Erwartung zu sein, dass die Studenten Fragen stellen und so Verständnis, Wissensdurst, Interesse zeigen. Es muss mir einfach eine Frage einfallen, bevor ich plötzlich an die Reihe komme, in den Mittelpunkt rücke und jedermann sieht, dass ich nichts zu fragen weiß. Um mich herum sitzen die Studenten, es sind fast alles Männer, und daher wundere ich mich nicht, dass sie eifrig und fähig aussehen. Sie sitzen also gespannt wie Bögen und stellen Frage auf Frage: Schon gibt es eine lange Liste der Fragenwollenden, und wenn ich mich nicht jetzt melde, komme ich in dieser Sitzung überhaupt nicht mehr dran. Jede Studentenfrage ist eingebettet in einen Urstrom an Wissen. Querverweise, Namen, Bezüge – wenn mir doch auch bloß eine so intelligente Frage einfallen würde. Mein Gesicht fühlt sich von innen an, als sei es außen rot vor Anstrengung, meine Hände sind schweißnass– der Rest meines Körpers ist verschwunden, da keimt in mir eine Fragemöglichkeit.
Es ist nicht meine Frage – um zu fragen, verstehe ich zu wenig –, es ist eine mögliche Frage in diesem hochintelligenten Raum. Ich melde mich, bin die Achte auf der Liste und begebe mich in die schreckliche Zeit des gespannten Wartens, der Hoffnung, ich möge gar nicht mehr drankommen, der Gewissheit, dass es jetzt unvermeidlich ist. Ich forme elegante und gelehrte Sätze in meinem Kopf, fange immer wieder von vorn an, bis die Frage– sie ist beileibe nicht lang– jene unverwechselbare Gestalt erhält, unerhört wichtig zu klingen, klug und gelehrt, und doch sich nicht als eine zu verraten, die von mir gar nicht ausgeht, nicht auf Antwort drängt, sondern die nichts vorhat, als im Raume zu stehen und auf mich als ihre Urheberin zu verweisen und solcherart ein glänzendes Licht auf mich zu werfen, allgemeine Anerkennung, einverständiges Nicken: bedeutend. Der Punkt, an dem ich einsetzen muss, rückt näher. Immerhin ist es eine Diskussion und ich habe schon geraume Zeit überhaupt nicht mehr zugehört, worum es geht. So weiß ich, als ich endlich aufgerufen werde, nicht, ob die Frage überhaupt noch sinnvoll in den Raum passt, und ausgerechnet jetzt muss ich daran denken, damit überhaupt an Sinn und Bedeutung der Frage, und beginne zu stottern. Die auswendig gelernten wohlgeformten Sätze haben meinen Kopf verlassen. In die Leere und allgemeine Stille hinein sage ich irgendetwas und lehne mich wieder zurück, jetzt erst bemerkend, dass ich mich angespannt ganz nach vorne gebeugt hatte, und bin verzweifelt enttäuscht, dass meine Frage, die ich nicht mehr weiß, von niemandem aufgenommen und beantwortet wird. Die ganze Anstrengung war umsonst.

Privilegierte Möglichkeit. Wieder eine Lernsituation aus einem institutionellen Raum, wieder eine Erinnerung an Unsicherheit, Vergeblichkeit, jetzt Täuschung, an den Versuch, sich in die Welt zu begeben, wie es erwartet wird, aber kaum eine Erinnerung an Neugier, an die Lust des Lernens, gar an das Studium als eine privilegierte Möglichkeit, Welt zu erkunden. Vor allem heftet sich Erinnerung wieder an Leid, an Unvermögen, an Misslingen. Wie von ungefähr mischen sich in die Erinnerung Kritik an der Lernsituation, Spott über womöglich leere Worte, Bedeutung produzierende Anordnung, die anderen Studenten– jedoch bleiben dies bloße Gesten, da in der Erinnerung kein eigenes Wollen, keine tatsächliche Frage, kein Wissenszuwachs verzeichnet ist. Lernen scheint eingeklemmt zwischen individuellem Wollen, das sich aber noch nicht kennt, und gesellschaftlicher Institution, deren objektiver Sinn verschlossen bleibt, ein Ausflug in eine unerkennbare Fremde.

Auszug aus meinem Buch Lernverhältnisse. Selbstbewegungen und Selbstblockierungen, Hamburg 2003, 2.A 2007

Frigga Haug, Dr. phil. Habil. Ist Vorsitzende des Berliner Instituts für kritische Theorie.

AutorInnen: Frigga Haugg