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Protest, Spektakel und Verschwörungstheorien

  • 13.07.2012, 18:18

Die USA sind besetzt – und Tausende demonstrieren seit September für soziale Gerechtigkeit. Doch wer sind die BesetzerInnen eigentlich und was wollen sie? Ein kritischer Blick auf Occupy Wall Street, direkt aus Downtown Manhattan.

"Mic check“, schreit jemand in die Menge. Ein lautes Brüllen und „mic check“ schallt es zurück. Damit ist der provisorische „Soundcheck“ abgeschlossen. Technik nützt nichts am Zuccotti Plaza, nahe der New Yorker Wall Street. Mikrophone und Lautsprecher wurden polizeilich untersagt, also wiederholt die Menge das Gesprochene. Mitten drinnen steht eine der Ikonen der Anti-Globalisierungsbewegung: Naomi Klein. Alles ist bereit für ihren Auftritt. „Ich liebe euch“, repliziert die Menge ihre Worte. Die Journalistin und Autorin (No Logo, The Shock Doctrine – The Rise of Desaster Capitalism) wartet nicht mit viel Neuem auf. Sie ruft: „Wir zahlen nicht für eure Krise!“ Mit „ihr“ ist dabei jenes „eine Prozent“ gemeint, das laut Klein die „globale“ Krise verursacht habe. Dem stellt sie den Leitgedanken der Bewegung „Wir sind die 99 Prozent“ entgegen: Das reiche eine Prozent würde die Krise nutzen, um sich noch mehr zu bereichern und seine Wunschliste – von der Privatisierung der Bildung bis zum Gesundheitssystem – durchzusetzen. Aber: Nun gäbe es glücklicherweise 99 Prozent, die sich dies ab sofort nicht mehr gefallen ließen. „Was heute anders ist als 1999 in Seattle: Damals griffen wir den Kapitalismus auf der Höhe eines Booms an. Heute zum Zeitpunkt der Krise“, erklärt sie den Protestierenden. Es gelte, die Gelegenheit zum Protest zu nutzen – wie 1999 bei den Protesten gegen G8 in Seattle.* Aber nicht nur Klein sprach ihre Solidarität aus. „Star-Philosoph“ Slavoj Zizek, Skandalpublizist Michael Moore, Hollywood-Linke Susan Sarandon – alle kamen sie und sprachen am Liberty Plaza in New York, dem Herzen der Occupy Wall Street-Bewegung.

Protest-Accessoirs.

Von Boston bis Chicago, von Los Angeles bis Miami von Minneapolis bis Portland sprossen weitere Besetzungen aus dem Boden. Der Protest macht sich in den gesamten USA breit. Seit dem 17. September, dem „Constitution Day“, werden Sit-ins, Teach-ins, offene Foren, Kundgebungen, Demonstrationen, Besetzungen organisiert. Ein unüberschaubares Mischmasch aus AnarchistInnen und anderen „linken“ Gruppierungen, kleineren Gewerkschaften, Parteien wie der Revolutionary Communist Party oder den US-Grünen – jedoch primär eine Masse an erstmals aktiven „Unzufriedenen“ bringt sich in den Protest ein. Zeitungen, Flugblätter, Buttons und all die bekannten Protest-Accessoirs – sogar eine People‘s Library – sind vorhanden. Und während das Plenum tagt, geben sich einige Meter weiter die karnevalesken TrommlerInnen frenetisch, ja fast ununterbrochen, ihren Rhythmen hin. Doch wer sind die AktivistInnen? Es ist die selbsternannte „Mittelschicht“, die sich durch die vorherrschende Politik des Landes bedroht fühlt. Dazu Diana Levinson, deklarierte Demokratin: „Jungen Menschen wird die Zukunft geraubt, die Wirtschaft ist in Amerika außer Kontrolle geraten und hat die Mittelschicht zerstört.“ Eine andere Aktivistin fasst den Protest so zusammen: „Die Leute haben es satt, es braucht eine Umverteilung des Reichtums, wir haben die Mittelschicht verloren, Studierende können ihre Ausbildungskosten nicht mehr zurückzahlen, HausbesitzerInnen ihre Hypotheken.“ Wer aber konkret diese Mittelschicht ist, bleibt offen – insbesondere, weil sich jedeR als Mittelschicht bezeichnet.

Kritik an der Protestbewegung.

Kritik kommt nicht nur von konservativer Seite. So äußert sich die marxistische US-Theoriegruppe The Platybus Affiliated Society kritisch gegenüber Occupy Wall Street. Diese, kurz Platybus genannt, hat mehrere Versuche gestartet, vor Ort zu intervenieren. Parallel zu zahlreichen und regelmäßig stattfindenden Lesekreisen reagiert die Gruppe mit öffentlichen Diskussionen auf die Proteste. Laurie Rojas von Platybus New York etwa wünscht sich mehr konkrete Kritik. „In der Bewegung besteht eine begrenzte Sichtweise auf die Natur des Kapitalismus“, stellt sie fest. „Occupy Wall Street stellt aber auch eine neue Möglichkeit für die Linke dar.“ Rojas und Platybus sehen allerdings grundlegendere Probleme als die meisten der BesetzerInnen und konstatieren „eine sichtliche Schwäche der Linken“. Die Analyse dieser Schwäche könne aber nicht nur an den letzten Jahren festgemacht werden, sondern müsse eine Untersuchung der gesamten Geschichte der Linken bilden. Ross Wolfe, ebenfalls von Platybus, kritisiert in seinem Blog The Charnel-House: „Das endlose Trommeln, pseudo-tribale Tanzen und Singen, wiederholende Slogans („this is what democracy looks like“ und andere populistische Banalitäten), vorhersehbare Plakate, schwarze Halstücher, anarchistischer Chic – all das riecht ein bisschen zu viel nach dem, was nur zur normalen orgiastischen Post-Neue-Linke-Party- und Protestkultur wurde.“

Die Occupy-Bewegung bildet außerdem keine Ausnahme, was klassisch und vermeintlich „linke“ Verschwörungstheorien, Antisemitismus und verkürzte Kapitalismuskritik angeht. Die Krux beim Protest gegen den Kapitalismus ist, dass er sich oftmals nicht gegen das gesellschaftliche System Kapitalismus wendet, sondern sich Einzelpersonen als vermeintliche Sündenböcke herausnimmt. Dies zeigt sich insbesondere darin, dass einerseits primär die „Zerstörung“ der undefinierbaren Mittelschicht anstatt sozialer Verhältnisse kritisiert werden und auf der anderen Seite „Börsenspekulanten“, Banker und die sogenannten ein Prozent als Verantwortliche an den Pranger gestellt werden. Als „links“ betitelter Protest kippt dann leicht in antisemitische Stereotype, die auch schon die Nazis gegen „die Juden“ bemühten. Stereotype wie die Vorstellung vom „parasitären Finanzkapital“ sind Standard-Repertoire von Antisemitismus, und werden oftmals frisch verpackt in der Occupy- Bewegung artikuliert. Wenn es darum geht, den „corporate Greed“, die Gier, an den Pranger zu stellen, wie dies bei Occupy Wall Street der Fall ist, folgt dann auch meist der Fingerzeig auf bekannte UnternehmerInnen und BankerInnen, wie den Präsidenten von Goldman-Sachs, Lloyd Blankfein. Offen bleibt ohnehin auch die Frage, warum die Wall Street als Zentrum allen Übels dargestellt wird und nicht der Kapitalismus an sich. Auch „die Politik“, also Barack Obama, der gefallene Held vieler Occupier, die Demokratische Partei oder die Republikanische Partei und die ultra-konservative Tea-Party, sind nur Ziele zweiter Wahl. Naomi Klein schlägt vor: „Kümmert euch nicht um die Demokratische Partei.“ Um es mit dem inflationär gebrauchten Präfix „post“ zu sagen: Im Zeitalter der Postdemokratie, eines zunehmend autoritärer werdenden Kapitalismus, ist man eben post-politisch, post-anarchistisch. Man hat das ganze Politikspiel satt, fordert nicht und fordert niemanden heraus, will sich die Welt selbst organisieren und mimt eine zeitgenössische Form von „going west“: Nur in diesem Fall mitten in Downtown Manhattan. Konkrete Kritik ist politisch und was politisch ist, will man nicht. Man ist gegen Gier, Korruption und Ungleichheit. Wie dies alles entsteht, ist aber nicht die Frage. Spekulationen, wer dafür verantwortlich ist, rücken ins Zentrum der Auseinandersetzung. Antisemitische Untertöne bis hin zu offenem Antisemitismus finden in einem solchen Umfeld leicht Platz: von Plakaten wie „Hitler‘s Banker – Wall Street“, diversen antisemitischen bis verschwörungstheoretischen Kommentaren auf Webseiten und Bildern eines aufgespießten Lloyd Blankfein.

Lippenbekenntnisse.

Seth Weiss von der Marxist Initiative kritisiert den laschen Umgang mit den vom Plenum beschlossenen „Prinzipien der Solidarität“, welche unter anderem die „Bestärkung untereinander gegen jede Form von Unterdrückung“ miteinschließt. Darüber hinaus halte sich die Linke davon ab, „eine Vision einer befreienden Alternative zum Kapitalismus und seiner Schrecken“ zu entwickeln. Wenngleich sich dennoch zeigt, dass diese Bewegung keineswegs antisemitisch sein will, so zeigt sich genauso, dass ihr dabei die genaue Auseinandersetzung fehlt. Somit verwundert es auch nicht, dass die dringende Frage des Umgangs mit und der Abgrenzung von antisemitischen Elementen unbeachtet im Raum steht. Die Antwort bleibt als Schuld verbucht. „Das Plenum und alle UnterstützerInnen der Wall-Street-Besetzung würden besser daran tun, mehr als ein Lippenbekenntnis dazu abzugeben“, sagt Weiss.

Repression und Repetition.

Der Protestalltag birgt bei all dieser notwendigen Reflexion auch praktische Probleme, Grenzen und Gefahren sowie die Frage nach Strategien. Die Protestbewegung ist mit der härtesten Repression seit den Protesten gegen den Vietnamkrieg konfrontiert. Von großangelegten Pfefferspray- und Prügelaktionen durch die Exekutive, Massenverhaftungen bis hin zu brutalen Auflösungen von Besetzungen und Demonstrationen. Die Besetzung im Zuccotti-Park wurde erst im November durch die Polizei aufgelöst. Der Winter kommt, die Proteste schwächeln. Vielleicht war es nur das repetitorische Erwachen der „Linken“, die sich mehr schlecht als recht als symbolische Figur am Leben erhält – ein bisschen nach dem Vorbild der britischen Monarchie: „The left is dead, long live the left“, wie ein Plakat von Platybus New York es ausdrückt? Doch im November 2012 sind PräsidentInnenschaftswahlen und die Zeichen deuten auf heiße Zeiten. Fix ist dabei jedenfalls: Die öffentliche Diskussion hat sich hin zur sozialen Frage verschoben – und das in einem Land, in dem mehr als in jedem anderen persönlicher Erfolg und Scheitern privatisiert sind und einzementiert scheinen. Und das markiert dann doch einen Erfolg der Bewegung.


Der Autor studiert Jus an der Uni Graz und lebt derzeit in New York.


* Im Dezember 1999 kam es am Rande der Welthandels-Konferenzin Seattle zu heftigen Auseinandersetzungen zwischen Protestierenden und der Polizei – viele betrachten diese Demonstration als Geburtsstunde der zweiten Welle der „globalisierungskritischen“ Bewegung. Die Konferenz konnte aufgrund des Protestes nicht abgehalten werden.

Elend, das uns anturnt

  • 13.07.2012, 18:18

Billige Sozialporno-Dokus bringen den Sendern höchsten Quotenerfolg – warum schauen wir uns das an?

Billige Sozialporno-Dokus bringen den Sendern höchsten Quotenerfolg – warum schauen wir uns das an?

Vom Arbeitsalltag des WEGA-Chefs bis zur 13-jährigen werdenden Mutter - das alles gibt es auf ATV zu sehen. In den so genannten „Eigenproduktionen“ werden Menschen des „echten, einfachen Lebens“ portraitiert. Denn es ist für ATV offensichtlich, was das ZuschauerInnenherz heutzutage begehrt. Sendungen wie Das Geschäft mit der Liebe oder das jüngere Format Saturday Night Fever erfreuen sich großer Beliebtheit beim österreichischen Publikum. Letztgenannte Sendung erreichte im Vorjahr sogar zwischenzeitlich einen Marktanteil von 25 Prozent bei den 12 – 29 Jährigen und erkämpfte Platz drei unter den meistgesuchten Filmen bzw. Serien, die im Jahr 2010 über die österreichische Seite von Google gesucht wurden. Schon beeindruckend, wie aus ein paar Jugendlichen, die das Trinken für das Publikum nach vier Staffeln maximal professionalisiert haben, die TV-HeldInnen der jungen Fernsehgeneration wurden. Aber auch die Bauern auf der Suche nach der großen Liebe, gehen im Jahr 2011 bereits in die neunte Staffel und auch von jenem Format, das junge Schwangere begleitet – Teenager werden Mütter – ist in diesem Jahr schon die vierte Staffel zu sehen.

Haben wir noch immer nicht genug? Offensichtlich nicht. Neben ATV ist auch PULS4 auf diesen Zug aufgesprungen und bedient mit der Sendung Die Puffbrüder – Alltag im Edelbordell das Voyeursherz des österreichischen Publikums. „PULS4 ist mittendrin und zeigt, was es heißt, ein Freudenhaus als Familienbetrieb zu führen“, so soll den potentiellen ZuseherInnen auf der Homepage des Senders das fragwürdige Format schmackhaft gemacht werden. Aber nicht nur die Privaten setzen auf „mittendrin im echten Leben“. Auch der ORF sieht sich mittlerweile gezwungen, eigene Doku-Soaps ins Programm aufzunehmen. Entsprechend seiner Funktion als öffentlich-rechtliche Fernsehanstalt wird der Schauplatz kein Puff sein und die ProtagonistInnen nicht ausschließlich in den tiefsten Beisln rekrutiert werden. Dennoch hat der enorme Erfolg der Privatsender auf diesem Gebiet dem öffentlich-rechtlichen Sender weis gemacht, dass funktionierende Unterhaltung genau so aussieht und der ORF dackelt hinterher – 2011 starten dort gleich zwei Doku-Soaps durch. Die eine wird JungunternehmerInnen auf dem Weg zum großen Geld begleiten und die andere wird eine Kuppel-Show. Elisabeth T. Spira, wenn man so will, das Urgestein des österreichischen „Sozial-Pornos“, Erfinderin der beliebten Alltags- und Liebesg’schichten (davon gibt es schon bald die 15. Staffel), vermutet in einem Interview mit derstandard.at, dass das neueste Vorhaben des ORF „wohl so etwas ähnliches werden soll wie auf ATV, aber sicher wesentlich besser“. Ob das gelingt? Beim ORF wird betont, dass man sich eben durch einen respektvollen Umgang mit den ProtagonistInnen in diesem Genre auszeichnen wolle. Nun rührt der Erfolg des Genres aber daher, Menschen in einem sehr privaten und intimen Kontext darzustellen und dabei ihre Unfähigkeit Die unterhaltenden Elemente dieser Sendungen basieren eben darauf, die Schwächen, Krisen und Blößen der gezeigten Personen zu stilisieren.
Andreas Mannsberger, Regisseur von Das Geschäft mit der Liebe – Frauen aus dem Osten erklärte die Auswahl jener Männer, ddie auf ihrer Jagd nach der perfekten Frau von der Kamera begleitet wurden, mit folgendem Motiv: „Wir haben bewusst Männer genommen, die sehr von sich selbst überzeugt sind, und so zu sagen die Spitze der Klischee- Gesellschaft darstellen“. Dass bei solchen Typen die „richtigen“ Sager, die „richtigen“ Aktionen und die damit einhergehende Belustigung des Publikums inklusive sind, verspricht hohe Einschaltquoten, aber auch die mediale Rezeption solcher Formate. Dass diese im Fall von Das Geschäft mit der Liebe aber auch für Saturday Night Fever zumeist nicht gerade wohlwollend ausfiel, ändert nichts an der Popularität der Sendungen und das Ziel ist in jedem Fall erreicht.

HeldInnen von Unten. Wer sind nun diese Leute, die freiwillig so tiefe Einblicke in ihre Privatsphäre gewähren? „Die heutige Generation ist viel ungenierter als frühere“, sagt der RTL-Chef Gerhard Zeiler in der deutschen Wochenzeitung DIE ZEIT. „Es gibt eine Veränderung in der Beziehung des Einzelnen zur Privatheit.“ Betrachtet man nun die Dar stellerInnem der so genannten Doku-Soaps, besteht wenig Grund an Zeilers Analyse zu zweifeln. Das immer stärkere Verschwimmen von Privatem und Öffentlichem ist nicht erst aktuell seitdem Begriffe wie Web 2.0 und Social-Networks den medialen Alltagsdiskurs dominieren. Auch auf einer wissenschaftlichen Ebene gibt es die Beschäftigung mit Formen der Selbstdarstellung und Kommunikation der jungen Generation im 21. Jahrhundert, die diesen Trend bestätigt.
Jugendforscher Bernhard Heinzlmaier erklärt das große Interesse junger Menschen, bei derartigen Sendungen mitzuwirken, damit, dass es sich dabei um Leute handelt, „die sonst überall ausgegrenzt werden – auf dem Arbeitsmarkt, in teuren Geschäften, außerhalb ihrer Peer Group will sie niemand haben.“ Und jetzt sind sie richtige Stars, mit Facebook Fan-Seiten, eigener Single, Foto-Shooting, Party-Tour, und und und. Ein Auftritt im Fernsehen – die Prominenz wird zum Maßstab des persönlichen Erfolgs. Aber nicht etwa herausragende Verdienste oder Leistungen am Bildschirm führen zu diesem (vermeintlich) persönlichen Erfolg, sondern die schamlose Bereitschaft das Innerste nach außen zu kehren. Dass dieser Erfolg in so gut wie allen Fällen nur von kurzer Dauer ist, zieht für die DarstellerInnen von Doku-Soaps nicht selten auch psychische Konsequenzen nach sich. Von der aktuellen Bekanntheit beflügelt, stürzen sie danach oft in ein umso tieferes Loch.

Fans von überall. Die interessantere Frage ist aber: Warum erzielen diese Sendungen so große Erfolge beim Publikum? Die Mediensoziologin Eva Flicker ortet den Erfolg von Produktionen wie Saturday Night Fever darin, dass diese Formate gleich zwei Zielgruppen bedienen: „Die einen sehen sich die Sendung an, weil sie sich mit ihr identifizieren. Die anderen, weil sie ihnen hilft, sich abzugrenzen." Welche Gruppe größer ist, lässt sich schwer sagen. Nach jeder Ausstrahlung von Saturday Night Fever erreichen ATV die Bewerbungen von 80 – 100 Jugendlichen, die sich auch gerne mal beim Partymachen zeigen wollen und die Online- Fangruppen wachsen stetig. Aktuell spricht ATV von ca. 60.000 Personen. Durchstöbert man hingegen heimische TV-Foren bestätigt sich zwar der Eindruck der enormen Beliebtheit dieses Formates. Die Motive, die hier für das Schauen der Sendung genannt werden, unterscheiden sich aber von jenen der „echten Fans“.
Fremdschämen zum Hauptabendprogramm, so lautet das Credo. Die meisten, die sich hier zu Sendungen äußern, sind der Meinung, dass das alles unglaublich „tief“, „primitiv“, „peinlich“ und vor allem zum „Fremdschämen“ sei. Aber trotzdem, oder besser: genau aus diesem Grund schauen sie sich diese Sendungen Woche für Woche an. Weil die Menschen gerne Menschen sehen, die noch ein bisschen ärmer, peinlicher, ungebildeter, erfolgloser, einsamer und hässlicher sind als sieselbst, denn das hilft dabei sich abzugrenzen und sich eben ein kleines Stück besser zu fühlen. Aber auch das Eintauchen in fremde, „intime“ Lebensbereiche an sich hat seinen Reiz für die ZuseherInnen. Sabine Prokop, Kultur- und Medienwissenschaftlerinerkennt in diesem Voyeurismus eine „relativ menschliche Regung“. So scheint es nicht verwunderlich, dass diese „menschliche Regung“ vor keiner gesellschaftlichen Gruppe Halt macht.

Sind wir tatsächlich so anspruchslos? Unterhaltungmuss nicht grundsätzlich niveaulos sein, um auch tatsächlich zu unterhalten. Betrachtet man die Programm-Schemata der deutschsprachigen Privatsender, wird der Eindruck aber stark erhärtet. So ist das deutsche Privat- TV sogar schon einen Schritt weiter – oder tiefer wenn man so will – und bleibt nicht bei einfachen Doku-Soaps. Nicht mehr echte Menschen mit ihren echten Lebensrealitäten werden gezeigt, sondern LaienschauspielerInnen mimen die Probleme der „echten Menschen“ nach Drehbuch. Das nennt sich dann Scripted Reality. Diese Neudefinition von Doku-Soaps beschert dem Sender RTL Traumquoten am Nachmittag, vor allem in der Gruppe der 19 – 49 Jährigen, sprich der relevantesten Zielgruppe. Was in diesen Sendungen gezeigt wird, ist aber noch eine Schublade unter den Doku-Soaps. Episoden tragen Titel wie „Unzufriedene Mutter ist mega-aggressiv“ und zeigen kaputte Einzelschicksale sowie familiäre Albträume und imitieren dabei stilistisch das Format der Dokumentation. Dass durch solch eine überspitzte, aber „realistische“ Darstellung der Eindruck einer noch viel dramatischeren und brutaleren Realität als diese in Wirklichkeit ist, entsteht, versteht sich von selbst. Grautöne in der gesellschaftlichen Wahrnehmung werden zurückgedrängt, was interessiert, ist das Extrem. In Deutschland hüten sich öffentlich-rechtliche Sendeanstalten noch, auf diesen Zug aufzuspringen. Carl Bergengruen vom Südwestrundfunk konstatiert, dass diese Formate den Publikumsgeschmack verändern und zu einer „Hinrichtung“ bestehender Formate führen. Dass auch Doku-Soaps schon Potential dazu besitzen, zeigt nichts eindeutiger, als die Anbiederung des ORF an das Unterhaltungsformat Nummer Eins.
Bei Scripted Reality sind die österreichischen Privatsender zwar noch nicht angelangt, dennoch stellt sich die Frage, wie lange die echten Menschen mit ihren echten Realitäten noch extrem genug für das Publikum sind – bei den deutschen Sendern funktionieren die echten Menschen bestenfalls noch in der Haustiergeschichte am Nachmittag.

Der Fluch der Partisanen

  • 13.07.2012, 18:18

Bosnien und Herzegowina ist ein Land, das die Hoffnung verlassen hat. Warum – und was tun? Eine Schule zeigt den Weg.

Bosnien und Herzegowina ist ein Land, das die Hoffnung verlassen hat. Warum – und was tun? Eine Schule zeigt den Weg.

Die Dosen und Flaschen, der Schutt und die durch die Luft wirbelnden Plastiksäcke in der „Stadt der Toten“ erzählen mehr über Mostar als jeder Stadtführer. Bogdan Bogdanovićs monumentalstes Kunstwerk, eine in die Hügel gesprengte „Partisanennekropole“, ist verkommen zu einer Müllhalde. Die 810 im Weltkrieg gefallenen Partisanen, deren Seelen hier über Jahrzehnte ruhten, wurden aus ihrem Totenschlaf gerissen durch die Maschinengewehrsalven und Artilleriegeschosse des Bosnienkriegs. Nun, da einmal aufgeweckt, müssen ihre Seelen inmitten des Drecks das Dasein von Untoten fristen. Als Rache dafür, so heißt es, haben sie Bosnien und Herzegowina verflucht. Sie konnten ihren Nachfahren nicht verzeihen, dass diese sich untereinander die Schädel einschossen und einschlugen. Die Geschichte lastet auf den Partisanen so schwer, weil sie einst selbst ihre Brüder und Schwestern ermordet haben, voller Glauben, ein Land zu schaffen, das frei von Blutvergießen sein wird. Durch den säuselnden Wind fragen nun die verlorenen Seelen: Warum habt ihr nichts von uns gelernt? Warum habt ihr uns vergessen?

Die Folgen sind übel. Bosnien und Herzegowina, um es kurz zu sagen, ist ein Land, das die Hoffnung verlassen hat. Und wie sie wieder zurückkommen soll, das ist das große Rätsel dieses unregierbaren Staatenteppichs. Die Republika Srpska und die Föderation Bosnien und Herzegowina, die zusammen eine Nation bilden sollten, verbindet längst nur noch ihr Interesse am destruktiven Status quo. Die Regierungen der Teil-Republiken blockieren und misstrauen sich, keine der beiden ist bereit, ihre Macht gegen die Zukunft des Landes zu tauschen. Und der pro forma mächtigste Mann in Bosnien, der Hohe Repräsentant Valentin Inzko, täte nichts lieber, als sein eigenes Amt abzuschaffen. Nur, dass er das nicht kann, weil das Land dann wohl endgültig auseinanderfiele und womöglich sogar die Flammen des Krieges neu aufflackern würden. Die Folgen dieser Pattstellung sind übel: Hohe Arbeitslosigkeit, vor allem unter den Jungen; die Kinder werden nur schlecht ausgebildet; die Annäherung an die EU stockt; nur wenige Menschen interessieren sich für Politik, die meisten suchen Zuflucht im Privaten und bei der Religion, die das gesellschaftliche Leben immer bestimmter dominiert. Zutaten, mit denen kein prosperierender Staat zu machen ist.
Wer Sarajevo, Mostar oder Banja Luka vor fünf Jahren bereiste, konnte einen feinen, leisen Hauch von Aufwind spüren; wer dieselben Städte heute besucht, sieht eine Gesellschaft, die nur von Agonie stabilisiert wird. Der bosnische Journalist Pedrag Kukic, dem man keinen Gefallen machte, seinen richtigen Namen in die Zeitung zu schreiben, sitzt auf  der Dachterrasse einer Bar in Mostar und erzählt dem ehemaligen EUKommissar Franz Fischler, was falsch läuft in Bosnien und Herzegowina. Kukic sagt, es gebe eine kleine Kaste von PolitikerInnen und GeschäftemacherInnen, nicht selten alte KP-Kader und ihre Nachfahren, die die Macht usurpiert halten würden. Jede Reform würde diese Mafia vor allem unter dem Gesichtspunkt betrachten, ob sie damit an Privilegien einbüßten. Und die einzige Kraft, die dieses Trauerspiel durchbrechen könnte, die Mittelschicht, sei in ihrer Mehrzahl noch zu geblendet von religiöser und nationalistischer Bigotterie, um gegen den Missstand aufzustehen.

Samen des Hasses. Fischler hört aufmerksam zu und begleitet Kukics Analyse mit stetem Nicken. Der ehemalige EU-Kommissar ist zu Besuch in Mostar, um ein Projekt zu besuchen, das im Kleinen das erreichen soll, was Kukic implizit einfordert: Die Entstehung einer widerständigen und selbstbewussten bosnischen Mittelschicht. Fischler ist Unterstützer der United World College Initiative Bosnia. Dabei handelt es sich um eine internationale Privatschule, die 2006 in Mostar mit dem Ziel eröffnet wurde, „Frieden durch Erziehung“ zu schaffen. Es ist die einzige Schule Mostars, wo BosniakInnen, KroatInnen und SerbInnen zusammen in der Klasse sitzen. Und der beste Beweis, wie wichtig dieses Projekt ist, sind die SchülerInnen. Fast allen der knapp 80 bosnischen StipendiatInnen ist der ethnische Scheuklappenblick auf ihr Land so fremd geworden, dass sie nicht mehr verstehen, wie vor knapp zwanzig Jahren dieses unheimliche Schlachten ausbrechen konnte. Mehrere solche Schulen wären der beste Garant für ein friedliches, prosperierendes Bosnien, sagen die SchülerInnen. Das Problem? Die PolitikerInnen winken ab. Sie behaupten, solch ein Schritt käme zu früh, die Menschen seien noch nicht reif dafür. Warum wird ihnen geglaubt?

Tito-Utopie. Der slowenische Psychoanalytiker Slavoj Žižek schreibt, der Balkan sei das Unbewusste von Europa. Wenn dem so ist, dann ist Bosnien das Unbewusste des Balkans. Bosnien war die Seele von Titos Versuch, in den Granitblock der Geschichte eine sozialistische Utopie zu hauen. Hier vermischten sich die Ethnien und Religionen unter dem Dach der Fabrikshallen – und dem der kommunistischen Partei; hier liebten Christen Muslimas und führten sie zum Traualtar – und umgekehrt. Das Bosnien der sechziger und frühen siebziger Jahre des vergangenen Jahrhunderts, glaubt man den Menschen nur die Hälfte ihrer Huldigungen, muss ein Ort der Prosperität gewesen sein, der den alten Marx im Grabe lächeln ließ. Doch unter dem Acker der Harmonie, auf dem Titos Utopie spross, lagen die Leichen der FeindInnen der KommunistInnen. Gesprochen durfte über sie nicht werden, sie waren der blinde Fleck Jugoslawiens. Der Partei genügte es nicht, ihre Opfer unter der Erde in Massengräbern verscharrt zu wissen, nein, aus schlechtem Gewissen trachtete sie danach, die Ermordeten mit krimineller Energie aus dem Bewusstsein der Geschichte zu drängen. Weil sich diese aber auf lange Sicht kein Schnippchen schlagen lässt, wurden die Mordopfer zu unsichtbaren, tief unter der Erde liegenden Samen des Hasses, die im jugoslawischen Unbewussten prächtig keimten. Und ehe sich das Land versah, waren die Geister der alten, für immer verschwunden geglaubten Ermordeten aufgetaucht – und überzogen das Land mit Terror.
Jugoslawien, so schien es in den 1990er Jahren, hatte von allen Staaten Europas aus dem Zweiten Weltkrieg am wenigsten gelernt, obwohl, oder gerade weil es das einzige Land Mitteleuropas war, dass sich aus eigener Kraft von der Nazifaschistenbande befreien konnte. Und weil sich dieser große Sieg in eine so beschämende Niederlage verwandelte, müssen die untoten Partisanen weiterhin inmitten des Mülls in Bogdanovićs „Stadt der Toten“ umhergeistern, und können ihren Nachfahren als leisen Trost nur zuflüstern, dass es sich aus Niederlagen oft leichter lernen lässt, als aus großen Triumphen. Es scheint aber so, als ob ihnen nur noch der Wind zuhören würde.
 

Welche Uni ist die beste?

  • 13.07.2012, 18:18

Hochschul-Rankings finden immer wieder ihren Weg in die Schlagzeilen: Österreich schneidet darin nie besonders gut ab. Doch beeinflussen Rankings tatsächlich bei der Studienwahl?

Hochschul-Rankings finden immer wieder ihren Weg in die Schlagzeilen: Österreich schneidet darin nie besonders gut ab. Doch beeinflussen Rankings tatsächlich bei der Studienwahl?

Mitte November wurde das Shanghai-Universitäts-Ranking veröffentlicht: Einmal mehr werden darin amerikanische Hochschulen wie Harvard und Stanford zu den besten Unis der Welt gekürt; europäische Hochschulen sind kaum unter den Spitzenplätzen zu finden. Die Universität Wien liegt zwischen Platz 151 und 200, weit entfernt von den Top-Unis der Welt. Der Umstand, dass die heimischen Hochschulen derart abgeschlagen sind, bietet jede Menge Stoff für Schlagzeilen samt Kritik am vorherrschenden Bildungssystem. Doch sind derartige Rankings für heimische Studierende überhaupt relevant? Beeinflussen sie die Studienwahl tatsächlich in einem derartigen Ausmaß?

Rankings sind relativ. „Nicht in erster Linie“, meint Richard (26), der an der Wirtschaftsuniversität Wien studiert hat und seinen PhD am Institut für Höhere Studien macht. „Für mich sind Rankings eine Orientierungshilfe. Die Kriterien der Rankings sind manchmal fraglich.“ Eine Meinung, die auch Theresa Oberauer teilt: Sie hat für das Buch Bologna – What’s next? Einen Beitrag zum Thema Uni-Rankings verfasst. „Es muss natürlich hinterfragt werden, auf Basis welcher Daten gerankt wird“, erklärt sie. Im Falle des kürzlich veröffentlichen Shanghai- Rankings wird beispielsweise die Anzahl der Nobelpreisträger, die die jeweilige Hochschule hervorgebracht hat, in die Wertung mit einbezogen. „Das ist eine Zahl, die sich im Laufe der Jahre nicht stark verändern wird – ich und viele Autoren bezweifeln die Aussagekraft dieses Indikators“, meint Oberauer.

Kaum vergleichbar. Doch wie könnten Rankings zu einer höheren Aussagekraft kommen? „Wenn man sich auf eine einheitliche Messmethode zur Evaluierung einigen könnte, würde ein Uni-Ranking sicher als Orientierungshilfe dienen“, ist Theresa Oberauer überzeugt. Doch die derzeitigen Evaluationen wie das Times Higher Education Ranking oder das Shanghai-Ranking arbeiten mit unterschiedlichen Indikatoren, die Vorgehensweisen bleiben intransparent. Dazu kommt, dass Hochschulen auf der ganzen Welt kaum miteinander vergleichbar sind. „Größere Universitäten schneiden bei Rankings immer besser ab, weil mehr Absolventen positive Angaben zur Hochschule machen können als in Kleinen“, erklärt Oberauer. „Dabei ist gerade in kleineren Universitäten das Betreuungsverhältnis meist besser.“
Relevant sind Uni-Rankings in jenen Ländern, in denen sie durchgeführt werden, wie beispielsweise in den USA. „In europäischen Breitengraden werden Rankings eher noch als Zusatzinformation beachtet“, meint Stefan Hopmann. In Österreich scheinen die Hochschul- Tests bei der Wahl von Auslandssemestern eine Rolle zu spielen: In Fächern wie Internationale Betriebswirtschaft, die das Absolvieren eines Auslandssemesters erfordern, werden Rankings doch zur Entscheidungshilfe herangezogen. Die 27-jährige Christine hat sich vor ihrem Auslandssemester in Lyon sehr wohl das Ranking der dortigen Uni näher angeschaut. Und trotz des guten Rankings waren „die Klassen nicht unbedingt kleiner, und die Lehre nicht besser“ im Vergleich zur WU. Ein Aspekt, der eine viel größere Rolle spielen dürfte, ist das Prestige einer Hochschule.

Heimische Tests. Rankings, die sehr wohl die Meinung von (Neo-) Studierenden bei der Wahl der Hochschule beeinflussen könnten, sind jene, die von heimischen Magazinen durchgeführt werden. „Es ist zu hinterfragen, wie qualitativ hochwertig diese Rankings sind“, gibt Oberauer zu bedenken.
 Letztendlich vertrauen (Neo-) Studierende dann doch am liebsten Referenzen von Bekannten und FreundInnen: Mundpropaganda und Sympathie für eine Hochschule sind die Indikatoren, die die Entscheidung für eine Universität maßgeblich beeinflussen. Auch Student Richard meint: „Es kommt darauf an was die langfristigen Ziele sind: Wie wichtig einem das Leben und die Stadt sind und Aspekte wie Freizeit, Sprache und Kultur.“ Indikatoren, die ein Ranking nur schwer messen kann.

Als Familie gut aufgestellt?

  • 13.07.2012, 18:18

Die Familienaufstellung als eine Methode der Systematischen Psychotherapie findet zunehmend AnhängerInnen. Doch diese Kurzzeittherapie stößt auch auf Kritik, welche vor der Vorgangsweise warnt. Ein Erfahrungsbericht.

Die Familienaufstellung als eine Methode der Systematischen Psychotherapie findet zunehmend AnhängerInnen. Doch diese Kurzzeittherapie stößt auch auf Kritik, welche vor der Vorgangsweise warnt. Ein Erfahrungsbericht.

Sanfte Töne erfüllen den lichtdurchfluteten Raum, in dem sich an diesem Samstagmorgen ein Dutzend Menschen eingefunden hat. In der Mitte stehen, scheinbar willkürlich aufgestellt, fünf Personen. Um diese herum sitzen in einem Stuhlkreis weitere Menschen und schauen gebannt auf das, was sich in diesem Moment abspielt.
Wir befinden uns inmitten eines Seminars zur Familienaufstellung. Vor einiger Zeit hatte mir eine begeisterte Freundin von dieser Therapiemethode erzählt und gefragt, ob ich sie zum ersten Seminartermin begleiten könne, da sie sich diesen Schritt alleine nicht trauen würde. Ich war wenig begeistert von dieser Idee, doch wollte ich meine Freundin nicht im Stich lassen.

Das Konzept. Im Rahmen der Familienaufstellung sollen fremde Personen die eigenen Familienmitglieder repräsentieren und dadurch Unstimmigkeiten und Probleme innerhalb des eigenen familiären Systems sichtbar machen. Vor allem Bert Hellinger gilt als einer der umstrittenen Vertreter dieser Therapieform. Sobald ich anfing, mich über dieses Thema näher zu informieren, stieß ich auf kritische Gegenstimmen, die vor der Methode warnten. Sie sei „gefährlicher Hokuspokus“, praktiziert von fachlich mangelhaft ausgebildeten Personen, die sich selbst dem Esoterik-Bereich verschrieben haben. Worauf hatte ich mich da bloß eingelassen?
Da stand ich nun, inmitten des Stuhlkreises, elf Augenpaare auf mich gerichtet. Ich fühlte mich unwohl. Direkt vor mir stand eine Frau und schaute mich mit weit aufgerissenen Augen an. Zuvor hatte sie dem Gruppenleiter ihr Anliegen geschildert: Sie hatte keine Lust mehr mit ihrem Mann zu schlafen und machte sich deswegen unglaubliche Vorwürfe. Ihre Ehe war im Begriff zu zerbrechen. Einen Grund für ihre Unlust kannte sie nicht genau. Im kurzen Vorgespräch mit dem „Therapeuten“ kam heraus, dass sie als dreijähriges Kind von ihrem Vater sexuell missbraucht worden war. Vor dem Hintergrund dieser Information sollte sie nun aus den anwesenden Personen diejenigen raussuchen, die ihrer Meinung nach als so genannte StellvertreterInnen eingesetzt werden konnten und wesentliche Personen oder Emotionen verkörperten. Scheinbar zielgerichtet steuerte sie auf einen jungen Mann zu, der die Sexualität repräsentieren sollte. Eine andere Person verkörperte die Liebe und eine dritte ihren Ehemann. Ich wurde ausgesucht, um das dreijährige Kind darzustellen. Spätestens zu diesem Zeitpunkt verfluchte ich meine Gutmütigkeit und hätte mir gewünscht, nie auf die Bitte meiner Freundin hin eingewilligt zu haben. Ein dreijähriges, missbrauchtes Kind zu verkörpern war alles andere als eine Wohltat und ebenso, in die Probleme anderer in einem so hohen Maße involviert zu werden. Die Aufstellerin schien dieses Unwohlsein jedoch nicht mit mir zu teilen. Auf einmal fiel sie mir um den Hals und fing bitter an zu weinen. Aus einer Ecke des Raumes hörte ich den Übungsleiter fast lautlos hauchen, dass sie nun „Frieden mit mir geschlossen habe“ und wir dies gemeinsam noch mit der Liebe, der Sexualität und letztendlich ihrem Ehemann machen sollten.

Was war passiert? Ich konnte es mir nicht erklären. Offensichtlich war in der Gefühlswelt der Person einiges vor sich gegangen. Sie hatte sich mit sich selbst, als Dreijährige, konfrontieren und den Tatsachen im wahrsten Sinne des Wortes ins Auge sehen müssen. Doch wie ging es nach diesem Tag mit ihr weiter? Ihre gewohnten, alltäglichen Muster blieben ja die gleichen. Ihr Umfeld hatte sich nicht einfach dadurch geändert, dass sie sich eine Stunde lang in einer Art Crashkurs mit ihrer Geschichte auseinander gesetzt hatte. Ganz abgesehen von der ohnehin schon fehlenden Vorbetreuung, wurde sie daraufhin auch noch ohne Nachbetreuung in ihren Alltag entlassen, ohne die Chance zu haben, noch ausstehende Fragen oder später auftauchende Emotionen zu klären. Darüber hinaus hatte sie sich an diesem einen Seminartag noch die Probleme von vier anderen Personen anhören müssen, bei denen sie wiederum als Stellvertreterin eingesetzt wurde.
Am ehesten könnte diese Therapiemethode vielleicht noch im Rahmen einer laufenden Psychotherapie eingesetzt werden, bei der die oder der studierte TherapeutIn auch zugleich SeminarleiterIn der Familienaufstellung ist. Er oder sie hat die Vorgeschichte seines Patienten oder seiner Patientin vor Beginn des Seminars bereits näher kennen gelernt. Im Anschluss ist es ihm dann auch möglich, die gemachten Erfahrungen aufzuarbeiten. Die AufstellerInnen werden dadurch mit den eigenen seelischen Erschütterungen oder Unsicherheiten nicht einfach alleine gelassen, sondern hat die Möglichkeit, diese in einem kompetenten Rahmen weiter zu verfolgen.
Häufig übernehmen jedoch selbsternannte „TherapeutInnen“ die Leitung dieser Seminare. Sie müssen für eine teure Ausbildung lediglich die Bereitschaft mitbringen „sich mit sich selbst auseinander zu setzen und offen für neue Lösungsmöglichkeiten sein“. Ein jahrelanges, fundiertes Studium können sie dabei aber nicht vorweisen, weswegen diese Therapiemethode in der klinischen Psychologie auch nicht anerkannt ist. Für Rat suchende Laien stellen sie somit eine immense Gefahr dar, missbräuchlich Einfluss zu nehmen.
Ich selbst begab mich mit einem leichten Tagesrucksack, gepackt mit alltäglichen Problemchen, in dieses Experiment hinein und kam mit einem schweren Backpack, voll gestopft mit fremden Problemen, wieder heraus.

Die Bestrafung ist der Freiheitsentzug

  • 13.07.2012, 18:18

Mit dem Ziel, Verantwortung für ihr Handeln zu übernehmen, leben 114 Schwerverbrecher ohne Zellen und Gitter auf der norwegischen Gefängnisinsel Bastøy. Sie können sich auf der zwei Quadratkilometer großen Insel frei bewegen, sofern man von den geregelten Arbeitszeiten, Ausgehsperren und den viermal täglich stattfindenen Zählterminen absieht.

Der Weg zur Gefängnisinsel Bastøy kann nur mit der kleinen Fähre Vederøy bestritten werden. Diese verlässt jeden Morgen um 8.15 Uhr mit GefängnisarbeiterInnen sowie BesucherInnen an Bord die Kleinstadt Horten. Was früher eine Art Bootcamp für männliche Jugendliche war, ist seit 2007 das erste humanökologische Gefängnis der Welt. Verlässt man die Fähre nach der Ankunft, steht man inmitten des Gefängnisses. „Übungsplatz für Verantwortung“ steht dort geschrieben. Bastøy ist zwei Kilometer lang, einen Kilometer breit und wie ein kleines Dorf organisiert. Mit einem Bus werden die ArbeiterInnen täglich zum Hauptgebäude gebracht. Auf der Insel stehen in großen Abständen zueinander kleine, farbig gestrichene Häuser, in denen jeweils vier bis sieben Männer in einer Wohngemeinschaft zusammenleben. Dazwischen erstrecken sich große, braune und grüne Felder, die von den Insassen selbst bearbeitet werden. „Die Insassen müssen ihren Alltag hier selbst regeln“, erklärt Rolf Hansen, ein Gefängniswärter. „Sie können zwischen Privatsphäre und Gemeinschaft wählen.“ Hansens Job ist es nicht nur, die Gefängnisinsassen zu bewachen, sondern auch, BesucherInnen zu begleiten. Nicht das Beschützen vor Insassen ist hier das Ziel, sondern vielmehr das Vermitteln der Arbeitsweise auf Bastøy. Auf dem gesamten Gefängnisgelände gibt es keine einzige Waffe, nur eine Attrappe im Büro des Gefängnisleiters. Normalerweise müssen alle GefängniswärterInnen in Norwegen eine dreijährige Ausbildung absolvieren. Hansen gehört zu den zehn Prozent der WärterInnen, die über keine formale Ausbildung verfügen. „Der Leiter von Bastøy will dich kennenlernen, und dann entscheiden, ob du hier arbeiten darfst“, erklärt er das Aufnahmeverfahren. Beim Organisieren des Insellebens werden die Insassen von 80 MitarbeiterInnen unterstützt. Diese arbeiten als AufseherInnen, in der Bibliothek, in der Kirche, in der Küche, in der Administration oder bei sonstigen Projekten im Gefängnis.

Das geringere Übel.

„Du siehst hier keine Wärter Innen, wenn du nicht möchtest. Das einzige Gefühl von Gefängnis entsteht durch die Tatsache, dass es eine Insel ist“, kann der 54jährige Ketil Petersson*, der wegen Drogenhandels verurteilt wurde, dem Konzept von Bastøy einiges abgewinnen. Seit einem halben Jahr ist er auf Bastøy, davor war er in einem geschlossenen Gefängnis und verbrachte dort 23 Stunden am Tag in einer Zelle, eine Stunde hatte er Hofgang. Dass er wegen seiner Vergangenheit im Gefängnis sitzen muss, kann er nicht wirklich nachvollziehen. Seiner Meinung nach sollten Drogen legalisiert werden. „Aber was soll’s“, sagt er mit dem Wissen, dass er einen Großteil seiner Strafe schon abgesessen hat. Auch Per Aastan kam aus einem geschlossenen Gefängnis hierher. Sieben Jahre muss der ebenfalls wegen „Drogengeschichten“ verurteilte Vater absitzen, ein Jahr steht ihm noch bevor. Seine Aufgabe hier ist es, sich um die Tiere zu kümmern und mit dem Traktor im Winter Schnee zu räumen. Er mag seine Arbeit und muss dafür täglich vier bis fünf Stunden aufwenden. Seine Entlohnung beträgt, wie die der anderen auch, 50 Kronen (6,50 Euro) pro Tag. An einem typischen Tag steht er um halb sechs in der Früh auf, kümmert sich um seine Tiere, um halb neun wird das erste Mal gezählt: „Ich finde es fair, hier zu sein“, meint Per reumütig: „Ich muss bezahlen für das, was ich getan habe“. Der Unterschied zwischen Bastøy und einem geschlossenen Gefängnis sei wie Tag und Nacht. „Ich glaube schon, dass eine Gesellschaft Gefängnisse braucht, trotzdem müssen sich die Bedingungen in vielen ändern“, sagt Per. Das Ziel von Gefängnissen sei schließlich „die Möglichkeit zu bekommen, wieder zurückzufinden“. Im Sommer sei es besonders schlimm, das Festland zu sehen und Partys und Konzerte unfreiwillig mitzuhören, da sind sich die beiden einig. „Darüber darfst du nicht nachdenken, sonst drehst du durch“, schüttelt Ketil den Gedanken gleich wieder ab. Trotzdem gab es laut Per erst einen, der von Bastøy fliehen wollte, und der wurde am darauffolgenden Tag geschnappt. „Grundsätzlich kannst du aber jeden Tag fliehen, wenn du willst“, sagt Per: „Das wäre aber natürlich dumm, weil nachher alles nur noch schlimmer wird“. Draußen warten seine Frau und eine bestehende Existenz auf ihn, in die er sich nur wieder einfügen muss. „Zurückkehren zur Normalität ist alles, was ich möchte.“

Elitegefängnis.

Normalität ist auch das, was Gefängnisleiter Arne Kvernvik Nilsen auf der Insel erzeugen möchte. Der ausgebildete Psychotherapeut ist seit zweieinhalb Jahren der Leiter von Bastøy, seither gab es noch keinen einzigen Zwischenfall. „Das erste, was ich den Insassen sage, wenn sie ankommen, ist Folgendes: Ich werde dir jetzt deine Verantwortung zurückgeben. Das bedeutet einerseits viel Freiheit, andererseits aber auch Möglichkeiten, um Dummes zu tun.“ Das humanökologische Gefängnis basiert für Nilsen auf dem Bewusstsein, dass die Umwelt den Menschen beeinflusst und umgekehrt. „Ein Mensch kann noch so schlimme Sachen getan haben, steckst du ihn in die richtige Umgebung, wird das auf ihn wirken.“ Auf Bastøy werden nur Schwerverbrecher aufgenommen. Die meisten Insassen waren davor in einem geschlossenen Gefängnis und haben sich von dort aus für Bastøy beworben. Nilsen sucht sich den Großteil der Insassen aufgrund der Bewerbung aus, und bevorzugt dabei die schwierigen Fälle. Ein paar werden ihm auch vom Staat zugeteilt. Auf Bastøy wird den Leuten klar gemacht: Wenn du dich nicht an die Regeln hältst, musst du zurück in ein geschlossenes Gefängnis. Dieses Druckmittel besitzen die anderen Gefängnisse nicht. Die Statistiken geben Bastøy Recht. Die Rückfallsquote ehemaliger InsassInnen aus euro-päischen Gefängnissen beträgt im Durchschnitt 70 Prozent, in Skandinavien 30, in Norwegen 20 und jene von Bastøy 16 Prozent. Bei Menschen, die mehrere Male im Gefängnis waren, vervielfacht sich die Wahrscheinlichkeit, wieder reinzukommen. Und: Aufgrund des im Vergleich zu anderen europäischen Ländern geringen Unterschieds zwischen Arm und Reich hat Norwegen eine der niedrigsten Kriminalitätsraten der Welt. „Wie können Leute behaupten, wir seien auf dem falschen Weg?“, fragt Nilsen in Richtung der PolitikerInnen, die gerade in letzter Zeit auch in Norwegen nach härteren Strafen schreien. „Das alles hat mit einer egalitären Gesellschaft zu tun und damit, wie wir die Leute im Gefängnis behandeln“, so Nilsen. Eines Tages müssen diese Leute schließlich wieder in die Gesellschaft zurück.

Mit dem Ziel, Verantwortung für ihr Handeln zu übernehmen, leben 114 Schwerverbrecher ohne Zellen und Gitter auf der norwegischen Gefängnisinsel Bastøy. Sie können sich auf der zwei Quadratkilometer großen Insel frei bewegen, sofern man von den geregelten Arbeitszeiten, Ausgehsperren und den viermal täglich stattfindenen Zählterminen absieht. päischen Gefängnissen beträgt im Durchschnitt 70 Prozent, in Skandinavien 30, in Norwegen 20 und jene von Bastøy 16 Prozent. Bei Menschen, die mehrere Male im Gefängnis waren, vervielfacht sich die Wahrscheinlichkeit, wieder reinzukommen. Und: Aufgrund des im Vergleich zu anderen europäischen Ländern geringen Unterschieds zwischen Arm und Reich hat Norwegen eine der niedrigsten Kriminalitätsraten der Welt. „Wie können Leute behaupten, wir seien auf dem falschen Weg?“, fragt Nilsen in Richtung der PolitikerInnen, die gerade in letzter Zeit auch in Norwegen nach härteren Strafen schreien. „Das alles hat mit einer egalitären Gesellschaft zu tun und damit, wie wir die Leute im Gefängnis behandeln“, so Nilsen. Eines Tages müssen diese Leute schließlich wieder in die Gesellschaft zurück.

Guilty as hell.

Chris Nyborg und Lars Væring wohnen mit fünf anderen Mitbewohnern im Blueshouse. Für ein Zimmer in der Musiker-WG kann man sich bewerben, wenn man Mitglied der Gefängnisband „Skyldig som faen“ („Guilty as hell“) werden möchte, oder sich einfach für Musik interessiert. Chris ist seit Jänner hier und Bassist der Band. Beigebracht hat sich der 39Jährige das Bassspielen selber. Seit Oktober hatte die Band schon fünfzehn Auftritte, einige davon in Oslo, ein paar in anderen Gefängnissen. „Hier fängt man wieder an, zu leben“, sagt der wegen Totschlag verurteilte Chris, „sogar Mike Gallaher, der Gitarrist von Joe Cocker, hat uns hier schon besucht.“ Einen Großteil des Equipments bekommt die Band von der staatlich finanzierten Musical Study Association, die Gruppen wie Skyldig som faen auch finanziell unterstützt. Auch Chris hat die meiste Zeit seiner Strafe in Eidsberg, einem geschlossenen Gefängnis, abgesessen. Dort hat er in einer Bücherei gearbeitet, trotzdem musste er 23 Stunden am Tag in der Zelle verbringen. „Die meiste Zeit im Gefängnis fühlt man sich nutzlos, die Arbeit ist umsonst“, sagt er rückblickend. „Aber in Bastøy fällt der Druck des Weggesperrtseins weg.“ Das Gefühl der Nutzlosigkeit ist eines der größten Probleme für InsassInnen in herkömmlichen europäischen Gefängnissen, in denen Häftlinge kaum die Möglichkeit haben, einer Arbeit nachzugehen oder Kontakt mit der Außenwelt herzustellen. Das sieht auch Ole Loe Andersen, der Leiter von Wayback, der größten Resozialisierungsorganisation in Norwegen, so. „Die Bestrafung ist der Freiheitsentzug, nicht das Kreieren einer Hölle im Gefängnis“, sagt Andersen, der selbst acht Jahre lang wegen mehrmaligen Bankraubes im Gefängnis saß, zwei Jahre davon auf Bastøy. Die Diskussion um Gefängnisbedingungen findet Andersen oft verfehlt, da sie sich meist auf physische Möglichkeiten beschränkt: „Wenn du im Gefängnis sitzt, geht es nicht in erster Linie darum, ob du eine Toilette in deiner Zelle hast. Wenn nicht, ist das nämlich oft die einzige Möglichkeit am Tag, aus der Zelle rauszukommen.“

Abschied vom alten leben.

„Si meg hva betyr adjo?“ ist eine Zeile aus einem Lied des berühmten norwegischen Sängers Jahn Teigen. Sie steht auf einer Wand im Wohnzimmer des Blueshouse geschrieben. „Das bedeutet so viel wie ‚Tell me, what does goodbye really mean?’“, erklärt Lars. Er hat nur mehr zu sechs Freunden draußen Kontakt. „Mit allen anderen war es zu schwierig, Kontakt zu halten. Sie kamen entweder nicht mehr zu Besuch oder waren nicht mehr erreichbar.“ Lars ist seit drei Jahren im Gefängnis und hat erst knapp die Hälfte hinter sich gebracht. Der 26Jährige singt in der Band und jeden Montag im Kirchenchor in Horten. „Wenn du einem 26jährigen Typen in Freiheit sagst, er soll in einem Kirchenchor singen, erklärt er dich für verrückt. Einen im Gefängnis brauchst du das nicht zweimal fragen“, sagt Lars. Die anderen lachen. „Hier im Gefängnis nimmst du alles an, um für kurze Zeit rauszukommen.“ Zehn Kilo Amphetamin und 2000 Stück Ecstasy wollte der damals 23Jährige Lars von Amsterdam nach Oslo schmuggeln. „Ich war völlig stoned, als ich gefragt wurde, ob ich das mit einem gemieteten Auto machen will.“ Er wirkt, als würde er gerne die Zeit zurückdrehen. „Hätten sie mich nicht in Schweden, sondern erst in Norwegen er wischt, hätte ich eine geringere Strafe bekommen“, schildert er, wie ein paar hundert Kilometer sein Leben bis zu seinem 30. Geburtstag entschieden haben.

Chris findet es nachvollziehbar, dass er im Gefängnis sein muss. Trotzdem sieht er Widersprüchlichkeiten bezogen auf die Existenz von Gefängnissen. „Es ist ziemlich barbarisch, Menschen einzusperren. Wenn man das privat machen würde – Menschen gegen ihren Willen einsperren – würde man das als Gewalt bezeichnen. Auf jeden Fall wäre es wichtig, die Gefängnisse mehr in die Gesellschaft zu integrieren, so ähnlich wie es mit Bastøy passiert.“ Für Arne Kvernvik Nilsen, der vor seiner Tätigkeit als Gefängnisleiter jahrelang im Correctional Service tätig war und Experte für alternative Strafmethoden ist, ist das Gefängnis für den Großteil der Häftlinge nicht die richtige Institution. „Ich glaube, auf die meisten Gefängnisse in Norwegen könnten wir verzichten. Obwohl mir natürlich schon bewusst ist, dass es immer Menschen geben wird, die wir in einer Gesundheitseinrichtung oder etwas Ähnlichem verwahren müssen, um sie und die Gesellschaft zu beschützen.“ Ob er auch Anders Breivik aufnehmen würde? „Wir hatten einen sehr schlimmen Sommer in Norwegen. Aber ich glaube, in einigen Jahren wird Breivik auch hier sein.“


* Nachname auf Wunsch des Interviewten geändert.


Die Autorin studiert Philosophie an der Uni Wien.

Zeit statt Zasta

  • 13.07.2012, 18:18

Tauschkreisexperimente verstehen sich als Alternative zum geldbestimmten Wirtschaftssystem und als eine Form von Solidarischer Ökonomie. Es gibt sie auch in Österreich.

Tauschkreisexperimente verstehen sich als Alternative zum geldbestimmten Wirtschaftssystem und als eine Form von Solidarischer Ökonomie. Es gibt sie auch in Österreich.

Die Idee der Solidarischen Ökonomie hat viele Projekte mit sehr unterschiedlichen Ansätzen hervorgebracht. In der Praxis werden unter diesem weitgefassten Begriff Initiativen wie Kost-Nix-Läden, Faire Gemeinden, ReproduktionsgenossInnenschaften, solidarische Mikrokredite und viele andere zusammengefasst. Ihr Ziel ist es eine Ökonomie zu schaffen, die sich an den Bedürfnissen der Menschen orientiert und nicht umgekehrt. Erreicht werden soll dies unter anderem über regionale Projekte, die sich aber durchaus interregional vernetzen. Ein Teil davon bilden Tauschkreise, auch Zeittauschbörsen genannt, bei denen geldloses Tauschen von Dienstleistungen und Waren auf regionaler Ebene ermöglicht wird.

Zeit ist Geld? Die ersten Tauschkreis- Projekte starteten in den 1990ern und konnten sich seither einer stetigen Verbreitung erfreuen. Vor allem in den letzten Jahren bildeten sich viele neue Zeittauschbörsen, nicht nur in Österreich. Die Idee leitet sich von einer grundsätzlichen Kritik am vom Geld gesteuerten Wirtschaftssystem ab. Vor allem Zins und Zinseszins werden dabei stark abgelehnt. Als Alternative wird bei Tauschkreisen die Zeit als „Währungseinheit“ begriffen. Eine Stunde bleibt immer gleich viel wert, egal ob es dabei ums Abwaschen oder Computer-Programmieren geht. Bei dieser Form von Tausch entsteht wegen Zins noch Wertverlust. Dabei muss es sich nicht um einen direkten Tausch zwischen zwei Personen handeln, es kann jede Leistung aus dem Pool an Angeboten ausgewählt werden. Ein einfaches Beispiel: Mirijam hilft Thomas eine Stunde lang bei der Gartenarbeit und lässt sich dafür zwei Wochen später beim Ausmalen von Nadin unterstützen. Auf diese Weise kann jede Person für eine erbrachte Leistung das Angebot von anderen Mitgliedern des Tauschkreises in Anspruch nehmen. Es können auch Schulden gemacht werden, die am Stunden-Konto der Person verbleiben.
In Niederösterreich beteiligen sich momentan etwa 300 Menschen am Talente-Tauschkreis, der in sieben Regionalgruppen unterteilt ist. Neben einer Online-Datenbank, die Übersicht für alle Mitglieder garantiert werden auch monatliche Koordinationstreffen veranstaltet.
Die aktive Teilnahme an dieser Form der Nachbarschaftshilfe ist für Menschen mit wenig Geld natürlich besonders interessant. So sind es hauptsächlich PensionistInnen, Arbeitslose und „Hausfrauen“, die das Angebot nutzen. Jugendliche und Erwerbstätige beteiligen sich nur in Ausnahmefällen am Projekt.
Für Arbeitslose etwa kann ein Tauschkreis eine wichtige Organisation sein. Ob die Teilnahme daran einen Arbeitsplatz ersetzen kann, dürfte aber von Fall zu Fall unterschiedlich zu bewerten sein. So können Zeit-Gutscheine, sofern diese in Anspruch genommen werden, nur zu einem gewissen Ausmaß eingesetzt werden, da das Finanzamt auch diese als Einkommen verrechnet und die Grenze von knapp 4000 Euro pro Jahr (1h = 10 Euro) nicht überschritten werden darf. Vergessen werden darf auch nicht, dass ein Tauschkreis nur Teilweise ein Ersatz für ein monetäres Einkommen ist. Die Miete für eine Wohnung etwa kann über dieses Tauschsystem nicht beglichen werden.

Barter-Ring. Auch für kleine und mittlere Unternehmen besteht die Möglichkeit, sich am Niederösterreichischen Tauschkreis zu beteiligen. Dieses System wird als Barter-Ring bezeichnet und bietet lokalen Unternehmen die Möglichkeit beim Tauschsystem mitzumachen. Dieser funktioniert in den Grundzügen gleich wie das Zeit-Tauschen zwischen Privatpersonen. Unternehmen, die Zeit-Gutscheine von Mitgliedern annehmen, können diese gleichwertig weiterverwenden. Entweder sie nehmen das Angebot einzelner Personen in Anspruch oder sie tauschen wiederum mit anderen Unternehmen in der Umgebung. Will ein Unternehmen aus den eingenommenen Zeit-Gutscheinen aber Geld machen, muss eine Abgabe entrichtet werden. Das soll dazu animieren, vermehrt Geschäfte mit andern regionalen Betrieben zu machen, als mit großen internationalen Billiganbietern. Auf diese Weise bekommt der Tauschkreis eine größere wirtschaftliche Bedeutung, indem lokale Unternehmen und ProduzentInnen gefördert werden. Die teilnehmenden Unternehmen sind auch dazu verpflichtet, die Leistungen, die mit Zeit-Gutscheinen beglichen werden, zu versteuern, denn ob in Zeit oder Geld bezahlt wird, ändert nichts an der Steuerpflicht.
Tauschkreise werden von Franz Holzer, Obmann des Talente- Tauschkreis Niederösterreich, aber nicht als Alternative zum bestehenden Wirtschaftssystem gesehen, sondern nur als Ergänzung dessen. Gezielt wird sowohl auf den lokalen Einfluss als auch in die Hoffnung, über kleine Veränderungen in der Gemeinde schließlich auch größere Prozesse anstoßen zu können. Der Tauschkreis ist gänzlich von der Motivation und Beteiligung der Mitglieder abhängig und kann auch in diesem Sinne mit anderen Projekten der Solidarischen Ökonomie verglichen werden. Im Unterschied zu Kost-Nix-Läden oder Volksküchen werden durch den Barter-Ring auch UnternehmerInnen in das Projekt einbezogen.
Franz Holzer sieht im Tauschkreisexperiment durchaus auch eine Perspektive für die Zukunft. Er geht davon aus, dass die regionalen Gruppen weiterhin an Zulauf gewinnen werden. Denn das Vertrauen in das gegenwärtige Wirtschaftssystem werde weiter sinken. Schließlich ist es schwer, Vorhersagen über die Entwicklung von Wert und Bedeutung des Geldes zu treffen. Eine Stunde, die ich heute tausche, bleibt aber voraussichtlich auch in 20 Jahren noch eine Stunde.

Von der UN ausgebeutet

  • 13.07.2012, 18:18

Der Einstieg in eine Karriere bei der UN ist teuer. Die Weltorganisation ist bei den Bedingungen für Praktika alles andere als fair.

Der Einstieg in eine Karriere bei der UN ist teuer. Die Weltorganisation ist bei den Bedingungen für Praktika alles andere als fair.

Die UN ist kein Ponyhof. Wer in der Weltorganisation arbeiten will, hat besser das nötige Startkapital zur Hand. Ein Polster von ein paar tausend Euro öffnet einem die Eingangstür. Wer weiter hinauf will, sollte schon den Gegenwert einer Luxuslimousine in die Hand nehmen.
Viele versuchen den Weg in die UN über ein Praktikum. Diese sind in der Regel unbezahlt. Die drei Hauptsitze der Organisation sind in Wien, Genf und New York. Die Lebenskosten in New York liegen laut Schätzungen des UN-Personalbüros bei rund 2.000 Euro im Monat. Ein Praktikum dauert in der Regel sechs Monate. Neben Wohnung, Essen und UBahntickets sind auch Flugreise und Unfallversicherung selbst zu bezahlen.
Ein Praktikum ist eine schwere finanzielle Belastung. Alles in allem kostet ein Aufenthalt am Hauptsitz der UN so viel wie ein neuer Kleinwagen. Wien ist zwar günstiger als New York, aber auch hier kostet das Leben zumindest ein paar hundert Euro im Monat; Genf gilt sogar als eine der teuersten Städte der Welt.
Ein fertiges Studium ist Grundvoraussetzung. Für die Bewerbung werden ein Bachelor-Abschluss und ausgezeichnetes Englisch gefordert, weitere Sprachen und Berufserfahrung gelten als unerlässlich. Qualifikationen, mit denen man gutes Geld verdient werden kann. Er hat Gerichtsurteile studiert, übersetzt und zusammengefasst, sagt Peter, der seinen richtigen Namen nicht in der Zeitung lesen will. Der 27-Jährige studierte in Deutschland Jus und machte in einem Wiener UN-Office sein Praktikum.
PraktikantInnen sind billige Arbeitskräfte. Die Betreuung sei in Ordnung gewesen, hätte aber individueller sein können, sagt Peter. Ein anonymer UN-Mitarbeiter wird in einem Online-Forum expliziter: „Die Praktikanten seien meist reine Lückenbüßer für Aufgaben, für die es an bezahlten Mitarbeitern fehlt. Ehemalige PraktikantInnen bei mehreren UN-Organisationen berichten PROGRESS von ähnlichen Verhältnissen.
Zu Lernen gibt es bei den Praktika oft recht wenig. Bei der UN gebe es zwei Arten von ChefInnen, sagt Filip Aggestam, Sprecher des PraktikantInnen- Netzwerks UNIIN: „Die einen erlauben ihren Praktikanten nicht, substanzielle Arbeit zu übernehmen, und setzen sie für Sekretärs- Aufgaben ein.“ Andere bürdeten den Jungen ihre eigenen Aufgaben auf. Nur in seltenen Fällen erlaubten die ChefInnen echte Mitarbeit.
Bessere Bedingungen für Praktika könnten die UN stärken. „Um beruflich tatsächlich zu wachsen, sollte die Arbeit von PraktikantInnen viel genauer definiert werden“, sagt Aggestam. Das stärke die Fähigkeiten späterer Arbeitskräfte. Bezahlung für Praktika würde zudem mehr Menschen den Zugang zur UN ermögliche. Das ermögliche der UN, von einer breiteren Basis an möglichen MitarbeiterInnen zu rekrutieren, sagt der Sprecher des PraktikantInnen- Netzwerks.
Die Menschenrechtscharta der UN verbietet die Ausbeutung von Arbeitskräften. JedeR, der oder die arbeitet, hat das Recht auf gerechte und befriedigende Entlohnung, die eine der menschlichen Würde entsprechende Existenz für sich selbst und die eigene Familie sichert, heißt es in Artikel 23. Offiziell argumentiert die UN, dass ein Praktikum eine Ausbildung sei, und darum nicht bezahlt wird.
Innerhalb der UN gibt es positive Ausnahmen. Einige kleinere UN-Unterorganisationen wie die Atomenergiebehörde in Wien und die Internationale Arbeitsorganisation in Genf zahlen PraktikantInnen eine Aufwandsentschädigung, decken aber damit aber oft bei weitem nicht alle Kosten ab. Intern gelten die diplomatischen VertreterInnen der Nationalstaaten als GegnerInnen einer Praktika-Entlohnung; diese seien Geldverschwendung, heißt es aus UN-Kreisen.
Durch die unbezahlte Arbeit öffnet sich eine soziale Schere, die von Stipendien kaum ausgeglichen wird. Staatliche Förderungen für UN-Praktika gibt es vor allem in großen Ländern wie Deutschland und den USA, die einen umfangreichen diplomatischen Stab unterhalten, und für dessen Nachwuchs sorgen müssen. Die große Mehrheit der PraktikantInnen bei der UN stammen ohnehin aus Europa und den USA, zeigt eine Studie von UNIIN.
Österreich bietet keine Förderung. Es existieren weder öffentliche noch private Stipendien für UN-Praktika, berichtet der Österreichische Austauschdienst. Im Ausland fördern private Stiftungen Aufenthalte bei der UN. Diese sind aber oft an spezielle Vorgaben gebunden, etwa eine bestimmten StaatsbürgerInnenschaft oder religiöse Zugehörigkeit.

The kids don’t stand a chance. Für eine Karriere reicht ein Praktikum meist ohnehin nicht. Kaderschmiede für die UN ist ein Zirkel von Elite- Universitäten mit speziellen Masterstudien. Die renommierteste Adresse ist das Graduate Institute, das direkt am UN-Sitz in Genf liegt. Zu den Lehrenden zählen Koryphäen aus den Vereinten Nationen und der Weltbank. „Wenn die UN Praktikanten braucht, kommt sie zu uns“, sagt die Sprecherin des Instituts. Neben fixen Praktikaplätzen bietet die Schule persönliche Beratung für Karriereplanung und Bewerbungen.
Die Studierenden profitieren dabei vom Netzwerk ihrer ProfessorInnen. „Wir verschaffen ihnen mit hoher Wahrscheinlichkeit ihren Traumjob“, sagt die Sprecherin. Ein Viertel der Studierenden finde später eine Stelle bei der UN, der Rest komme bei anderen internationalen Organisationen unter.
Die Universitäten suchen sich ihre Studierenden genau aus. Weltweit gibt es ein Netzwerk von 33 solcher „Professional Schools“ für Internationale Beziehungen, neben dem Graduate Institute sind darunter auch bekannte Namen wie die Columbia in New York und Sciences Po in Paris. Nur ein paar Personen erhalten jedes Jahr einen Platz in deren Masterprogrammen.
Geld und Vorbildung entscheiden über die Studienplätze. Das Genfer Institut kostet zwar mit 3.700 Euro Studiengebühren für zwei Jahre im internationalen Vergleich wenig, für ein Jahr in der Schweiz brauche man aber rund 12.000 Euro zum Leben, rechnet das Institut vor. Ein zweijähriger Master kostet damit ähnlich viel wie ein Mercedes der C-Klasse. Bevorzugt werden BewerberInnen, die vorher an einer teuren Universität den Bachelor gemacht haben. Ein Oxford-Abschluss schade nicht, sagt die Pressereferentin.
Die Vereinten Nationen schließt damit die Mittelklasse nahezu aus, von finanz schwächeren Menschen nicht zu sprechen. Eine DiplomatInnenkarriere bei der UN kostet mehr Geld, als die meisten Studierenden aufbringen können. Der Weg steht damit für jene offen, denen die Höhe der anfänglichen „Investition“ egal sein kann. Die Weltorganisation hilft das zu schaffen, was ihre Gründerväter im Geiste von Demokratie und Aufklärung zu verhindern suchten – eine Weltaristokratie.

Reise zu einem alten Nachbarn

  • 13.07.2012, 18:18

Die Autorin des vorliegenden Artikels entdeckte bei ihrer Reise in die Vojvodina erstaunliche Parallelen zwischen ihrer Kärntner Heimat und Serbien. Ein Essay.

Die Autorin des vorliegenden Artikels entdeckte bei ihrer Reise in die Vojvodina erstaunliche Parallelen zwischen ihrer Kärntner Heimat und Serbien. Ein Essay.

Der die Enge seiner Heimat begreifen will, der reise. Wer die Enge seiner Zeit ermessen will, studiere Geschichte“, sagte einst Kurt Tucholsky. Diesen Sommer verschlug es mich nach Serbien, nach Novi Sad, in die Hauptstadt der Vojvodina, um Serbisch zu lernen und das nächste Sommersemester werde ich dort verbringen. In Österreich gehen diesbezüglich außer in slawophilen Kreisen die allgemeinen Reaktionen in Richtung „Aha, Serbien, wieso machst du denn das?“, was mich aber nicht nachhaltig erschüttert, weil die Reaktionen ähnlich waren, als ich mit dem Slowenischstudium begann.
Diesen, im Allgemeinen diffusen „antislawischen Reflex“, um mit den Worten eines Freundes zu sprechen, kannte ich schon: Schließlich gelten etwa slawische Sprachen immer noch als ExotInnenstudien, der Balkan und Südosteuropa immer noch als stiefmütterliche Gebiete der Geschichtswissenschaften und als terra incognita der DurchschnittsösterreicherInnen, wenn man von der kroatischen Küste mal absieht. Noch einmal schlimmer und eigentlich genauso diffus wütet dieser antislawische, hier antislowenische Reflex in meinem Heimatbundesland Kärnten. Gerade als Kärntnerin zeigten sich mir erstaunliche Parallelen, als ich nun Serbien ein bisschen kennen lernte: Die Vojvodina bzw. ganz Serbien und Kärnten sind aus ähnlichen Gründen wunderschön, wie sie auch an denselben Problemen und Krankheiten laborieren.

In Geiselhaft. Zunächst vielleicht eine kurze Vorstellung: Die Vojvodina, einst „Kornkammer Serbiens“ genannt, ist der nördlichste Teil des Landes und unterschiedet sich vom restlichen Serbien. Die Vojvodina ist bunt in vielerlei Hinsicht, war sie etwa immer schon Heimat vieler verschiedener Volksgruppen, Religionen und Sprachen. Neben SerbInnen, die mittlerweile die Mehrheit stellen, leben hier UngarInnen, SlowakInnen, Roma und Sinthi, KroatInnen, BulgarInnen, RumänInnen, BunjewatzInnen, GoranInnen, RussInnen und viele mehr. Die Provinz kann als ein vorbildliches Beispiel für Mehrsprachigkeit, Minderheitenschutz und politischer Partizipation der Volksgruppen gelten – also etwas, was man sich für Kärnten nur wünschen kann.
Als Folge dessen sind offizielle Aufschriften und Anschriften sehr lang: Der Stempel der Universität etwa ist handtellergroß, um dem Namen der Universität in allen Amtssprachen Platz zu bieten. Bunt ist die Vojvodina auch landschaftlich, durchzogen von Donau, Theiß, Save und ihren unzähligen Nebenarmen, und sehr fruchtbar: Pannonisch flach sieht man oft nicht, wo die riesengroßen Sonnenblumenoder Weizenfelder enden.
In Serbien gibt es wie in vielen anderen Staaten ein Nord-Südgefälle. Die Vojvodina gilt als reicher, relativ gut entwickelter Norden mit (für serbische Verhältnisse) viel Wohlstand und Stabilität und wenig Arbeitslosigkeit und Nationalismus. Nicht so zufällig also, dass das größte Musikfestival Südosteuropas Exit in Novi Sad stattfindet, wo es vor elf Jahren von einer studentischen Bewegung gegen das Milošević-Regime gegründet worden ist.
Was wir in den letzten 20 Jahren über die Medien von Serbien gehört haben lässt sich leicht unter ein paar Schlagwörtern zusammenfassen: Nationalismus, Milošević, Kriegsverbrechen. Serbien ist medial (aus gutem Grund) schlecht weggekommen. Aber: Es gibt auch ein anderes Serbien. So wie ich oft betonen muss, dass es auch ein anderes Kärnten gibt, fern von dem Haidergeprägten. Es gibt junge Menschen, denen bei diesen Parolen schlecht wird, die sich nicht damit identifizieren und versuchen, es besser zu machen. Und solche gibt es eben auch in Serbien.

Erzählt von uns! Ein Anliegen kam auf der Sommerschule der Universität, die wir besuchten, öfter auf: Ihr, die ihr hier wart, habt nun gesehen, dass Serbien sehr schön und lebenswert sein kann – wenn ihr wieder nach Hause geht, dann erzählt dort davon. Jenen, die in Serbien die Stellung halten, ist also glasklar, wie Serbien in den letzten Jahren medial im Ausland rezipiert wurde. Ich tue es hiermit sehr gerne, weil ich noch nie gastfreundlichere Menschen getroffen habe als dort. An dieses Ausmaß an Gastfreundschaft muss man sich erst mal gewöhnen: Manches Mal war es uns schon unangenehm, weil wir das Gefühl hatten, nicht genügend zurückzugegeben. Aber das war eine falsche Denkweise. Mittlerweise habe ich ihre Art von Gastfreundschaft verstanden: Sie ist kategorischer Imperativ und hat nichts mit Berechnung oder Reichtum zu tun. Ja, wir sind „dem Balkan“ in vielerlei Hinsicht voraus (demokratiepolitisch, wirtschaftlich, in der Bekämpfung von Korruption und Arbeitslosigkeit), aber in mancherlei Hinsicht sollten wir uns was von ihm abschauen.
Es gibt noch eine andere traurige Parallele zwischen Serbien und Kärnten: Der Exodus der jungen, unternehmungslustigen, gebildeten Elite. Kärnten entschwinden pro Tag vier KärntnerInnen und neben der geringen Zuwanderung und der niedrigen Geburtenrate ist das Auswandern der Bildungselite der Hauptgrund dafür. Serbien leidet im Vergleich noch viel stärker an diesem Brain-drain: In den Neunzigern verließen fast eine halbe Million junge, gut ausgebildete SerbInnen ihr Land (darunter 33 Prozent der 20- bis 30-Jährigen) – und dieser Trend hält an. In einer Umfrage gaben 20 Prozent der hochqualifizierten SerbInnen an, sie seien fest entschlossen auszuwandern, und immerhin 54 Prozent waren der Idee nicht abgeneigt. Zurück bleiben vielfach die Unterprivilegierten und die schlecht Gebildeten, denen die korrupten PolitikerInnen auf der Nase herumtanzen können.
Es liegt mir fern, ein romantisch- verklärtes Bild von Serbien zu zeichnen. Klar liegt dort vieles im Argen. Jahrzehnte nationalistischer Manipulation haben ihre Spuren hinterlassen. Allerdings sind wir sehr schnell mit einem Urteil bei der Hand, wenn es um ein Land geht, das nur die wenigsten von uns selbst bereist haben. Ganz klar, in unserem GastarbeiterInnenbus, der einmal die Woche die Route von Bregenz nach Požarevac abfährt, waren wir auf weiter Flur die einzigen NichtserbInnen. Klar, das Tourismusziel Nummer Eins ist es nicht, wie etwa Kroatien, das übrigens mit ähnlichen Übeln zu kämpfen hat. Der Unterschied ist nur: Kroatien sehen wir es eher nach, „weil dahin fahren wir ja so gern auf Urlaub“. Es ist viel leichter, unbekanntes Land und Leute zu verdammen. Insofern ist es uns nur zu wünschen, in der Zukunft noch stärker zusammenzuwachsen und unsere Nachbarländer überhaupt erst mal kennen zu lernen.

Die Angst vor dem Demos

  • 13.07.2012, 18:18

Eine Demokratie lebt von informierten BürgerInnen. Aber in Österreichs Amtsstuben herrscht Verschwiegenheit. Ein Bericht.

Eine Demokratie lebt von informierten BürgerInnen. Aber in Österreichs Amtsstuben herrscht Verschwiegenheit. Ein Bericht.

Der ehemalige Präsident der USA, George W. Bush, schreibt in seiner Autobiografie, dass die mit Abstand schwierigste Aufgabe eines Gouverneurs oder einer Gouverneurin das Prüfen von Todesurteilen ist – die Entscheidung also, ob ein Todesurteil vollstreckt, aufgeschoben oder nicht durchgeführt wird. Dabei würde er alle Fakten nachdenklich und sorgfältig abwägen, und erst dann entscheiden, schreibt Bush. Ein Reporter der New York Times hat allerdings nachgewiesen, dass Bush sich für diese Frage von Leben und Tod in der Regel nur 15 Minuten Zeit genommen hat. Diese Konfrontation mit der tatsächlichen Vorgehensweise war nur aufgrund eines Informationsfreiheitsgesetzes im Bundesstaat Texas möglich. Nicholas D. Kristof von der Times stellte einen Antrag und bekam Einblick in den Terminkalender von Bush.
Eine Demokratie lebt von Informationen über die Tätigkeit des Staates und seines Personals. Nur ausreichend informierte BürgerInnen können an demokratischen Prozessen teilnehmen. Da kann es auch hilfreich sein, den Tagesablauf eines Amtsträgers oder einer Amtsträgerin zu kennen.
Aus gutem Grund sind daher in Österreich Parlamentssitzungen und Verhandlungen vor Gericht öffentlich zugänglich. Aber das ist nicht genug: In selbstbewussten Demokratien braucht es auch den geregelten Zugang zu Dokumenten von Behörden und Ämtern. Erst das ermöglicht Medien, NGOs und einzelnen BürgerInnen, ihre Regierung zu kontrollieren und ihre Rechte zu schützen. Die Einsicht in Originaldokumente und Akten ist ein wichtiges Instrument gegen Korruption und Amtsmissbrauch. Der freie Zugang soll Offenheit und Transparenz fördern. Als Folge kann sich auch die Akzeptanz für die Arbeit der Behörden verbessern. Soweit die Theorie.
Die Praxis sieht in Österreich freilich anders aus: Nach wie vor bestimmen Geheimniskrämerei und zugeknöpfte BeamtInnen das politische Geschehen und die Verwaltung. Ihre Verschwiegenheit wird durch die Verfassung geschützt. Franz C. Bauer, JournalistInnengewerkschafter und Präsident des Presserats, kritisiert die österreichische Situation: „Die Mächtigen haben kein Interesse an informierten Bürgern.“
freedominfo.org, ein Netzwerk von Initiativen für Informationsfreiheit aus verschiedenen Ländern, stellt in einem Report von 2006 fest, dass es derzeit in 70 Ländern Informationsfreiheitsgesetze gibt; in 50 weiteren sind Gesetze in Arbeit. Allerdings, schränkt der Report ein, sind die Gesetze in vielen Ländern längst nicht ausreichend. Durch zahlreiche Ausnahmeregelungen und hohe Gebühren, die für Auskünfte zu bezahlen sind, halten die Gesetze oft nicht, was ihr Name verspricht. Weiters beobachten die Initiativen im Zuge des „Kampfs gegen den Terror“ seit einigen Jahren den Trend, bestehende Gesetze durch neue Bestimmungen wieder einzuschränken.

Geist der Gegenaufklärung. Dennoch gibt es Staaten mit fest verankerten und schlagkräftigen Zugangsregeln zu Informationen. In Skandinavien ist die Behördentransparenz seit langem geregelt, Schweden hat das älteste derartige Gesetz. Es wurde vor 244 Jahren beschlossen. In den USA existiert der Freedom of Information Act seit 1966. Nicht nur der Terminkalender von George W. Bush wurde mit Hilfe von Gesetzen zu Tage gefördert, sondern auch viele Nachrichten über den Irak-Krieg. Der jüngste spektakuläre Fall: Ein Bericht des US-Justizministeriums, der jahrelang der Öffentlichkeit vorenthalten wurde. Er zeigt, wie Naziverbrecher nach dem Kriegsende vom Geheimdienst CIA geschützt wurden.
In Österreich hingegen weht noch immer der Geist der Gegenaufklärung und des staatlichen Absolutismus durch die Ämter. Nicht der freie Zugang zu Informationen ist in der Verfassung festgeschrieben, sondern deren Geheimhaltung. Sämtliche Organe der Bundes-, Landes- und Gemeindeverwaltung sind dazu angehalten, Tatsachen zu verschweigen, „deren Geheimhaltung im Interesse der Aufrechterhaltung der öffentlichen Ruhe, Ordnung und Sicherheit, der umfassenden Landesverteidigung, der auswärtigen Beziehungen, im wirtschaftlichen Interesse einer Körperschaft des öffentlichen Rechts, zur Vorbereitung einer Entscheidung oder im überwiegenden Interesse der Parteien geboten ist“. Das macht Kontrolle unmöglich. Recherchieren JournalistInnen heikle Themen, stoßen sie früher oder später auf eine Mauer des Schweigens – oder genauer: auf StaatsdienerInnen, die sich dahinter verschanzen.

Recht auf Information. Trotz dieser staatlich verordneten Geheimniskrämerei wird Österreich von dem Netzwerk freedominfo.org zu den Ländern gezählt, die ein Informationsfreiheitsgesetz haben. Hier wird das zahnlose Auskunftspflichtgesetz von 1987 angeführt, das schlicht erklärt: „Die Organe des Bundes (...) haben über Angelegenheiten ihres Wirkungsbereiches Auskünfte zu erteilen, soweit eine gesetzliche Verschwiegenheitspflicht dem nicht entgegensteht.“ Der JournalistInnengewerkschafter Franz C.    Bauer sagt, das Gesetz „wird in keiner Form wahrgenommen, ganz zu schweigen von ernst genommen.“
Manfred Redelfs, Leiter der Recherche-Abteilung von Greenpeace Deutschland und Fürsprecher von Informationsfreiheitsgesetzen, vertritt die Meinung, es seien Gesetze notwendig, die „Amtsverschwiegenheit von der Regel zur begründungsbedürftigen Ausnahme machen und damit zu einem Klima der Offenheit beitragen“.
„Was in Österreich ganz einfach fehlt“, sagt Bauer, „ist das Recht jedes Staatsbürgers auf Information.“ Bei einer entsprechenden gesetzlichen Regelung sollten nur Themen der öffentlichen Sicherheit von der Akteneinsicht ausgenommen sein und der Schutz der Privatsphäre müsse gewahrt bleiben. Auch der Presseclub Concordia und der Verband der Österreichischen Zeitungen verlangen von der Regierung ein solches Gesetz, damit der Zugang zu Informationen garantiert sei und Medien ihre Kontrollfunktion erfüllen könnten.
Mit derartigen Vorschlägen, die es JournalistInnen erleichtern würden, ihrer „Watchdog“-Aufgabe nachzukommen, stieße er bei PolitkerInnen seit Jahren auf taube Ohren, erzählt Bauer. „Politiker haben immer nur Angst, dass wir sie nur durch den Kakao ziehen wollen.“

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