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Au Revoir Rojava?

  • 30.12.2019, 15:39
Das progress hat sich im November mit Politikwissenschaftler Thomas Schmidinger getroffen und mit ihm über Rojava und den türkischen Angriffskrieg gesprochen.

progress: Bricht die Türkei gerade Völkerrecht?

Thomas Schmidinger: Völkerrechtlich ist das eindeutig ein Angriffskrieg. Es gab keine Angriffe von syrischen Kräften auf die Türkei - ein Verteidigungskrieg lässt sich nicht mit Behauptungen argumentieren.

progress: Vergangenen Herbst hat Trump angekündigt, dass die USA ihre Truppen an der syrisch-türkischen Grenze abziehen werden – ein implizites Go für eine türkische Invasion. Wie lässt sich dieser Schritt der USA erklären?

Schmidinger: Angekündigt hat das Präsident Trump ja schon mehrmals. Insofern ist es auch schwer zu sagen, ob es einen konkreten Grund für diesen Zeitpunkt dafür gegeben hat. Ich vermute tatsächlich, dass es die Sprunghaftigkeit von Trump ist – dass, nachdem er ein Telefonat mit Präsident Erdogan geführt hat, er da spontan entschieden hat, sich zurückzuziehen. Ich sehe keine strategische Planung hinter diesem Schritt, kein strategisches Interesse.

progress: Was erhofft sich Erdogan von diesem Angriff?

Schmidinger: Die Hauptgründe für die Türkei liegen mehr in der Innenpolitik als in der behaupteten Bedrohung durch die YPG/YPJ (Anm.:Kurdische „Volksverteidigungseinheiten“/„Frauenverteidigungseinheiten“). Es gibt auch keine anderen Interessen, die die Türkei in Syrien hätte, sondern der Hauptgrund ist schlicht und einfach der, dass es in der Türkei immer funktioniert, bei innenpolitischen Krisen die Aggression nach außen zu lenken. Das hat 2018 schon geholfen. Auch damals hat sich die CHP (Anm.: „Republikanische Volkspartei“ der Türkei) als größte Oppositionspartei hinter den Angriffskrieg gegen in Afrin gestellt. In der Zwischenzeit hat die CHP mit Istanbul und Ankara große Städte dazugewonnen und das Regime in Zugzwang gebracht. Wenn es aber Krieg gegen ein Nachbarland gibt, steht die CHP wieder hinter der Regierung. Dieses innenpolitische Kalkül in einer schweren wirtschaftlichen Krise war wohl das Hauptmotiv.

progress: Wie sieht’s derzeit in der Region aus?

Schmidinger: Es ist sehr unterschiedlich an verschiedenen Ecken des Gebiets. In der Mitte des Gebiets gibt es einen türkisch besetzten Streifen. Dort gibt es eine Einigung zwischen russischen und türkischen Truppen, dass dort die Türkei einmarschieren darf. Es gibt in diesen Gebieten keine YPG/YPJ mehr, aber sehr wohl noch immer die lokalen demokratischen Kräfte und die lokale kurdische Polizei. Auch die Selbstverwaltungsstrukturen sind weiterhin aufrecht. In einem Teil, nämlich dort, wo die Ölquellen sind, sind auch weiterhin die USA präsent. Insgesamt gibt es sogar mehr amerikanische Soldat_innen in der Region als vor dem Rückzug, allerdings sind sie weniger aufs gesamte Gebiet verteilt, sondern nur mehr bei den Ölvorkommen präsent. Was es im ganzen Gebiet gibt, sind gehäufte Anschläge vom IS.

progress: Der Angriff der Türkei hat dafür gesorgt, dass jetzt hunderte IS-Mitglieder auf freiem Fuß sind, da die kurdischen Kräfte die Gefängnisse nicht mehr bewachen konnten. Ist ein neues Erstarken des Fundamentalismus in der Region zu erwarten?

Schmidinger: Ja, definitiv. Statistisch wurde ein Anstieg der Angriffe um 300% erfasst. Aber ob das ausreicht, um Territorium unter Kontrolle zu bringen, weiß ich nicht. Man darf nicht übersehen, dass viele ehemalige IS-Kämpfer jetzt bei anderen Milizen sind. Was ich fast für wahrscheinlicher halte als ein Wiederauferstehen des IS ist, dass andere ähnlich ausgerichtete Organisationen mehr an Einfluss gewinnen.

progress: Erdogan geht nicht nur militärisch gegen Kurd_innen vor. Wie spielt sich die antikurdische Gewalt in der türkischen Innenpolitik ab?

Schmidinger: Wir wissen, dass eben erst eine Reihe demokratisch gewählter Bürgermeister_innen abgesetzt worden sind, dass es tausende politische Gefangene gibt, die wegen vermeintlicher Mitgliedschaft bei der Gülen-Bewegung oder der PKK (Anm.: „Arbeiterpartei Kudistans“) oder anderen vorgeblich staatsfeindlich Gesinnten eingesperrt werden. Die Willkür dieser Repression führt dazu, dass auch die, die noch auf freiem Fuße sind, sich selbst zensurieren. Das geht bis in die Diaspora herein. Wir haben auch hier in Österreich jede Menge Personen, die sowas direkt in der Türkei melden. Jede Person, die noch Familienangehörige in der Türkei hat und die noch sehen möchte, überlegt halt zweimal, ob sie etwas kritisches veröffentlicht. Es hat kürzlich den Fall gegeben, dass die Goethe-Universität in Deutschland die dortige Studierendenvertretung aufgefordert hat, Namen der Mitglieder der YXK (Verband kurdischer Studierender) bekannt zu geben. Anscheinend hatte sie das türkische Konsulat in Frankfurt angefragt. Es ist ein Skandal, dass eine deutsche Universität sowas tut. Es ist dann glücklicherweise nicht erfolgt, aber nur weil die Studierendenvertretung schlau genug war, nicht nachzugeben.

progress: International hat es ja einiges an Aufschrei gegeben. Ist diese Solidarität in Rojava angekommen? Welche realen Konsequenzen hat die Türkei für die Offensive erfahren?

Schmidinger: Ankommen tut der Protest in Rojava sehr. Die Leute verfolgen sehr genau, was in Europa und der ganzen Welt passiert. Das ändert sicher etwas am Durchhaltevermögen der Bevölkerung, aber ob das reale Auswirkungen auf das Verhalten von Staaten in der internationalen Gemeinschaft hat, ist eine andere Frage. Was der Türkei wirklich weh tun würde, wären wirtschaftliche Sanktionen. Gezielte Sanktionen gegen Mitglieder des Regimes. Natürlich würde es auch weh tun, wenn die Türkei aus der NATO fliegen würde. All das ist eben nicht geschehen. Man hat im Großen und Ganzen versucht, die Türkei zu appeasen, sie also zu beschwichtigen und Konflikt zu vermeiden, indem Zugeständnisse gemacht werden.

progress: Nun - wie gehts’s weiter?

Schmidinger: Ich glaube nicht, dass die Selbstverwaltung schon völlig am Ende ist. Auch wenn das syrische Regime versuchen wird, die Gebiete vollends zu übernehmen, werden sie noch geraume Zeit auf die Kooperation mit den Syrischen Demokratischen Kräften (Anm.: Militärbündnis, in dem die kurdischen Streitkräfte operieren) angewiesen sein.

Theas Weg in neuen Schuhen

  • 22.02.2020, 17:33
Geschlechterklischees sind überwindbar, findet Thea. Sie ist Studentin, Schauspielerin und sozusagen Genderaktivistin. Und das ist eine Bestandsaufnahme des Weges, den sie gerade geht.

Es ist die Nacht von Freitag auf Samstag und Thea tanzt. Im Takt des harten Technos stampft sie, ihre großen Ohrringe schillern kurz, wenn ein Lichtstrahl sie trifft. Hier auf der Tanzfläche ist es eng, heiß, laut und wirklich dunkel. Wenn wieder frischer Nebel aus den Maschinen emporsteigt, sind nur noch die bunt blinkenden Lichterröhren an der Decke des Clubs erkennbar. Die Gäste tanzen, als ob hier niemand an ein Gestern oder Morgen denkt. In diesen Momenten scheint es, als seien alle Menschen gleich. Theas Gesicht zeigt, sie fühlt sich wohl unter der tanzenden, schwitzenden Menschenmenge. Und ihr Lidschatten glitzert.

Die 20-jährige Studentin* liebt es mit ihrer Geschlechtsidentität zu spielen, Menschen zu verwirren und Normen aufzubrechen. Heute ist sie damit nicht alleine. Die Party in der Grellen Forelle steht heute ganz im Sinne der Vielfalt. Für „Homophobie, Transphobie, Sexismus, Rassismus, Antisemitismus oder toxisch maskulines Verhalten“ ist hier kein Platz, steht schon am Eingang beschildert. Die feiernde Masse im Club macht schnell deutlich, dass sie sich nicht in vielen Dingen ähnelt, aber in einer Sache einig zu sein scheint: Gesellschaftliche Konstrukte, wie etwa Gender, dürfen gerne draußen bleiben.

Gender meint in erster Linie das soziale Geschlecht und ist auch das, worauf schon Simone de Beauvoir in ihrem berühmten Zitat „Man ist nicht als Frau geboren, man wird es“ angedeutet hat. Also das, was nach außen getragen wird, an bestimmte angelernte Rollen und verinnerlichte Muster gebunden ist. Sex im Gegensatz versteht sich im Sinne der englischen Bedeutung, also dem was man gemeinhin als biologisches Geschlecht bezeichnet. In der Regel ist Gender vom Sex abhängig. Denn das Geschlechtsteil, mit dem ein Mensch geboren wird, bestimmt meist jede weitere Sozialisation. Rosa ist für Mädchen, Blau für Burschen, und so weiter. Für Thea ist Gender eine Farbe abseits dieses Spektrums: „Es ist genau wie Make- Up oder Gewand eine politische Entscheidung, die ich treffe, wenn ich zum Kasten gehe.“ Lässt man alle gesellschaftlichen Konventionen außer Acht, wäre Gender durchaus eine bewusst wählbare Sache. So scheint es zumindest an diesem Abend in der Forelle.

Am Anfang waren die Hemden Weiter weg vom DJ-Pult ist es etwas heller, die Menge lockert sich auf. Aus der gedimmten Beleuchtung der Bar und dem grünen Licht des Notausgangsschildes entsteht eine schwache Helligkeit. Thea steht in einem weiten grünen Kleid an der Bar und bestellt noch einen Spritzer. Unter ihrem langen Kleid trägt sie ein bunt gemustertes Hemd und eine grobmaschige Netzstrumpfhose. Eigentlich hat hier alles angefangen: Im Nachtleben. Thea erzählt aus der Zeit, als sie sich ihre Identität selbst noch nicht ganz zusprechen konnte: „Früher habe ich das immer aufs Fortgehen beschränkt, da konnte ich meine crazy Hemden anziehen. Dann habe ich begonnen meine crazy Hemden in der Frauenabteilung zu kaufen.“ Die Binarität von Geschlecht fällt in Kleidungsgeschäften besonders auf. Erdgeschoss Frauen, Obergeschoss Männer. Sogar hier im Club kann die Geschlechter-Zweiteilung nicht ganz ausgeblendet werden: Die Toiletten sind hier, wie fast überall auch, getrennt. Thea hält nicht unbedingt viel von solchen Grenzziehungen. „Obwohl Gender für mich ein Kommunikationswerkzeug ist, mit dem ich vermitteln kann, wer ich bin, finde ich die Kategorisierung schlecht“ erklärt sie. Nur zwei Geschlechteroptionen lassen eben wenig Spielraum für Vielfalt und Identität. Vor dem Thema Identität ist Thea eine lange Zeit weggelaufen. Schritt für Schritt näherte sie sich ihm an. Zuerst beim Fortgehen, dann im Theater, auf Reisen. Bis sich zum Rückflug aus Kopenhagen im Sommer 2019 bei Thea vieles angestaut hat: „Es war mein erster Flug allein und ich habe extreme Flugangst. Als es heftige Turbulenzen gab, habe ich zu mir gesagt: Wenn ich heil ankomme, dann werde ich mein Leben so leben – und es war wirklich so dramatisch – dass ich nichts mehr bereuen werde.“ Und das bedeutete den Schritt zu wagen und anzuerkennen, ihre bisherige Geschlechtsidentität zu hinterfragen. Sie bezeichnet sich heute als Genderfluid, das heißt ihre Geschlechtsidentität ist fließend und kann sich mit der Zeit oder je nach Situation ändern. Am Ende des Tages fühlt sich die Studentin* aber doch wohler als Frau*. „Das gibt mir mehr Energie und ich fühle mich einfach besser“ sagt sie. Ein Widerspruch als Trans*Frau gegen jene Geschlechterkategorisierungen einzutreten sei es keiner. Für Thea bedeutet Weiblichkeit nämlich ganz einfach frei zu sein: „Das umfasst für mich Make-Up, Nagellack und Schmuck zu tragen. Ohne es kategorisieren zu wollen.“

Inmitten der Gesellschaft Mit dieser Einsicht ist die 20-Jährige recht früh dran. Die meisten Trans*Frauen beginnen zwischen 28 und 35, Trans*Männer zwischen 18 und 26 Jahren mit diesem Transformationsprozess, wie eine Beraterin von TransX, einem Wiener Verein für Transgender Personen, erklärt. Das ist soweit nicht verwunderlich, immerhin braucht es hierfür eine Menge Mut. Queer zu sein, also von der Norm abzuweichen, bedeutet auch Ablehnung. Die Angst im sozialen Umfeld nicht mehr akzeptiert zu werden, sei laut TransX das Hauptproblem. Die Akzeptanz von Personen abseits des binären Geschlechterverständnisses ist immer noch nicht in alle Ecken der Gesellschaft vorgedrungen, wie etwa Ergebnisse der Studie „Queer in Wien“ zeigen. Fast ein Drittel aller Befragten haben demnach in den letzten Monaten Gewalt oder Diskriminierung erlebt. Transphobe Hassnachrichten auf sozialen Medien oder Stänkereien beim Fortgehen kennt Thea leider allzu gut. Trotzdem betont die 20-Jährige, dass sie noch keine schwerwiegende körperliche Gewalt erlebt hätte. Am prägendsten seien für sie die frühen Erfahrungen in der Schulzeit gewesen: „Bis dahin konnte ich immer sein wer ich bin, aber dann kam der Turnunterricht und ich musste bei den Burschen turnen.“ Hätten sie Mitschüler_innen damals gefragt, ob sie ein Mädchen sei, hätte sie nein gesagt. Ein Ja wäre nicht angebracht gewesen, zumindest hat sie dieses Gefühl übermittelt bekommen. Das ist jetzt anders. Weil sich Thea lange als homosexueller Cis-Mann definiert hat, zogen sich Mobbing und das „Anders-Sein“ auch schon durch ihre Zeit als Jugendliche*. „Die Zeit war sicher auch ausschlaggebend, dass ich eine gewisse Haut aufgebaut habe und jetzt gewappnet bin“ fügt sie hinzu. Mittlerweile fühlt sie sich in ihrem Umfeld größtenteils akzeptiert und wohl. „Meine Theatergruppe, mein Freundeskreis, Familie oder die Uni sind für mich Safe Spaces.“ Ihren Nebenjob als Kellnerin* würde sie noch nicht als solchen sicheren Raum bezeichnen, weiterarbeiten werde sie dort trotzdem. Dort sichtbar sein, wo es vielleicht nicht immer angenehm ist - sie sagt: „Das ist gut und wichtig.“

Schützendes Recht, sexistisches Recht. Ein Stück weit schafft es Thea mittlerweile transphobes Verhalten mit ihrem selbstbewussten Auftreten abzuwehren. Soll nicht heißen, dass starke Persönlichkeiten vor Diskriminierung bewahrt sind. Dafür gibt es in Österreich entsprechende Gesetze: Trans*Personen sind rechtlich durch das Diskriminierungsverbot geschützt. Gleichzeitig erzeugt das Recht auch strukturelle Benachteiligung, wie etwa im Namensgebungsgesetz. Da man seinen Vornamen nur entsprechend des eingetragenen Geschlechts wählen kann, benötigt es dazu im Vorhinein eine Personenstandsänderung. Diese ist seit 1983 möglich und seit 2009 nicht mehr mit einer zwingenden geschlechtsanpassenden Operation verbunden. Thea hat besagte Schritte noch nicht unternommen. Sie sei sich noch nicht sicher, ob es bei ihrem aktuellen Namen bleiben wird. „Denkbar ist es aber schon“, sagt sie lächelnd. Ein großes Problem dieser Regelungen ist die Pathologisierung. Transsexualität wird laut Klassifikation der WHO erst mit 2022 nicht mehr als psychische Störung gelten. Im Vergleich: Homosexualität wurde „schon“ Anfang der 90er aus besagtem ICD-Report, kurz für International Classification of Diseases, gestrichen. Da mit den rechtlichen Regelungen eben immer noch entmündigende Verfahren einhergehen, fordern etwa Österreichs Transgender-Gruppen in einem offenen Brief 2016, dass jegliche Änderungen nicht durch ärztliche Gutachten genehmigt, sondern durch Selbstbestimmung vollzogen werden sollten. Außerdem gibt es eine Forderung der Österreichischen Hochschüler_innenschaft den Namens- und Geschlechtseintrag an der Uni unbürokratisch ändern zu können. So könnte Thea sich mit dem Namen, über den sie sich nun primär identifiziert, zu Seminaren anmelden, ohne sich dann vor Ort gezwungenermaßen outen zu müssen. Es könnte vielen Trans*Personen ersparen, mit ihrer bisherigen Wahrnehmung von Geschlecht in Verbindung gebracht zu werden, sie könnten unerwünschter Zurschaustellung entgehen.

Die Sache mit der Sichtbarkeit Zum Thema Sichtbarkeit herrscht in der Trans*Community ein ambivalentes Verhältnis, wie der Wiener Verein TransX erklärt: Einerseits sind die meisten Trans*Personen „eher unfreiwillig als freiwillig sichtbar“. Andererseits hilft die Sichtbarkeit von Trans*Personen Anerkennung in der Gesellschaft zu stiften und auch Impulse zu geben, wie bei Thea. Leute zu sehen, die sind wer sie sind, habe sie inspiriert, sich nicht weiter in einer Opferrolle zu suchen: „Ich bin kein Opfer der Gesellschaft, sondern eine Vorreiterin*.“ Thea nutzt ihre Sichtbarkeit jetzt, um genau das zu sein. Alltag ist bei Thea Aktivismus. Sie findet sich mittlerweile in einer stabilen Situation wieder, in der sie versucht, immer ein Zeichen zu setzten, wenn sie Kraft dazu hat. „Ich gehe durch den 15. Bezirk mit meinem Kleid und wenn die Leute mich blöd anschauen, dann schau ich halt zurück. Das ist eine liebevolle Provokation“ schmunzelt sie. Am Tag vor der Clubnacht bummelt Thea über eine Einkaufsstraße. Sie möchte sich ein Outfit für die anstehende Party besorgen. Es leuchten Schilder in den verschiedensten Farben aus den Schaufenstern: Rot, ein grelles Gelb, Pink oder einfach nur Schwarz. Auf allen steht bedeutungsgemäß das gleiche. Abverkauf. Die Studentin* schlendert durch die Gänge eines Schuhgeschäfts. Schwarze Stiefeletten fallen ihr ins Auge. Ob es diese auch in ihrer Schuhgröße gäbe? Sie fragt nach. Die Sondergrößen wären im Untergeschoß, meint die Verkäuferin. Dort wo sich im stationären Einzelhandel wohl selten ein modischer Schuh hinverirrt hat. Deshalb sollten sie laut Thea dort auch besser bleiben. Im Internet würde sie bestimmt schöne Schuhe finden, die ihr passen. Und bei nächster Gelegenheit würde sie schon darin tanzen.

Anmerkung: Das Gendersternchen (*) wird in diesem Text verwendet, um die Realität geschlechtlicher Vielfalt auch in der Sprache sichtbar zu machen.

Die Queeren Kinder der Umm el-Dunya

  • 22.02.2020, 18:51
Ein kurzer Einblick in meinen Erfahrungen als queerer Jugendlicher in Kairo, der größten Stadt im Nahen Osten, sowie zur Lage von queeren Menschen dort.

„Umm el-Dunya“ bedeutet auf Arabisch „Mutter der Welt“ und ist eine arabische Redewende, die Ägypten beschreibt und die historischen Leistungen der antiken Zivilisation in der Region betont. Nur hat die Umm el-Dunya ein scheinbar schmutziges Geheimnis, das sie und ihre Familie zu leugnen versuchen, weil es von der Gesellschaft nicht akzeptiert wird. Sie hat queere Kinder, mich eingeschlossen. Als ich in Kairo in die Unterstufe ging war „Erstargel“ eine Aufforderung, mit dem ich sehr oft konfrontiert war. Sei es in der Schule von Schulkolleg_innen und Lehrer_innen, von Familienmitgliedern, von einst mir sehr nahestehenden Personen oder sogar von Fremden auf der Straße. „Estargel“ lässt sich am treffendsten mit dem Englischen „Man up“ übersetzen und bedeutet “werde ein Mann“ oder „sei mehr wie ein Mann“. Ein paar mir vertraute Kontexte: „Estargel“, denn dein Verhalten ist sehr feminin. „Estargel“, weil du nur mit Mädchen plauderst wenn du lieber mit Jungs Fußball spielen solltest. „Estargel“, denn dein Gang ist „schwul“.

Auf unterschiedlichste Art und Weise stach ich hervor, da ich nicht dem Männlichkeitsideal meiner Umgebung und meiner Familie entsprach. Ich spielte nicht Fußball, hatte kaum männliche Freundschaften und konnte mich mit dem stereotypischen Machobild hinter „Estargel“ nicht identifizieren. Als ich zwölf Jahre alt war begriff ich, dass ich keinerlei sexuelles Interesse an Frauen hatte und selbst als mir Jahre später klar wurde, dass ich auf Männer stehe, habe ich mich nicht als „schwul“ oder gar „queer“ einordnen können. Grund war meine Sozialisierung und Erziehung in Kairo, der Hauptstadt Ägyptens und größten Stadt im Nahen Osten. Ganz zu schweigen davon, dass es zur Zeit meiner Jugend kein arabisches Wort für „homosexuell“ gab, das nicht „pervers“ oder „abartig“ bedeutete oder generell negativ behaftet war.

Ägypten, wie viele andere Länder in der Region, tabuisiert weitgehend Homosexualität und LGBTQ*-Themen aus verschiedensten Gründen, sei es wegen einer bestimmten Moralvorstellung, der spezifischen Kultur im jeweiligen Land, der Religion und/oder wegen der Folgen europäischer Kolonialisierung. Nicht tabuisiert ist das Wort „Schwuchtel“, das beim Mobbing am Schulhof oder beim Beschreiben von nicht ausreichend „männlichen“ Männern schnell einmal fällt. Staatliche Unterdrückung Zwar gibt es in Ägypten formell keine Gesetzeslage zur Bestrafung von Homosexualität, es kommt aber vor, dass queere Menschen unter den Vorwürfen „Ordnungswidrigkeit“ und „Entartung der Sitten“ inhaftiert werden. Diese Fälle wecken breite mediale Aufmerksamkeit, bekannte Nachrichtensprecher_innen stempeln die unschuldig Inhaftierten als „krank” und „geistesgestört“ ab. Mächtige Institutionen wie zum Beispiel die Koptische Kirche, der Staat oder die islamische Al-Azhar Organisation wähnen sich im Feldzug gegen das moralisch Böse und sehen queere Lebensentwürfe als bekämpfenswert. Die Unterdrückung der queeren Szene in Kairo war und ist nie konstant gewesen. Tatsächlich gab es Phasen, in der es von Seiten der Staatsgewalt mal mehr, mal weniger Repression gab. So zum Beispiel die Zeit vor dem Arabischen Frühling, in der es wesentlich einfacher gewesen sein soll, sich zu vernetzen. Da galten andere Randgruppen als Zielscheibe. Ebenso verhält es sich mit dem stetigen Auf und Ab von medialen Hetzkampagnen gegen die queere Minderheit, die sich ohnehin für die eigene Sicherheit verstecken muss. Zurückzuführen ist dieses Phänomen einerseits auf die sich immer verändernde innenpolitische Lage (Revolutionen, kontroverse Wahlen, Terrorismusbekämpfung) als auch auf die abwechselnde Bereitschaft der Polizei und Repressionsbehörden mit Gewalt zu handeln.

Auch ist die staatliche und soziale Repression, die queere Menschen erleben, abhängig von der sozio-ökonomischen Schicht, aus der die Betroffenen herstammen. In „Sex and the Citadel“, dem Buch der Wissenschaftsjournalistin Shereen El Feki, erkundigt sie im Kapitel „Dare to be different“ die queere Szene Kairos. So legt ein Lehrer einer elitären Schule im Gespräch mit ihr fest: „Es geht um Macht“. Die Polizei traut sich keine Razzia in geschlossenen, abgetrennten Wohnkomplexen durchzuführen, in denen Ärtz_innen, Rechtsanwält_innen, Autor_innen, Professor_innen, usw. verkehren. Auch im kontroversen Film „Family Secrets“ wird Ähnliches geschildert: Marwan, ein Achtzehnjähriger, der schwul ist, outet sich und wird trotz heftiger sozialer Abgrenzung und Gewalt innerhalb und außerhalb der Familie nicht verhaftet. Sein Vater ist einflussreicher Geschäftsmann. Er landet bei fünf verschiedenen Therapeut_innen und ihm wird aus falscher Fürsorge der Familie die Chance gegeben, seine Homosexualität „heilen“ zu lassen, was vielen Menschen niedrigerer sozialen Schichten keine Option ist.

Auch nach meinem Coming-Out war die erste Reaktion eines nahestehenden Familienmitglieds, panisch zum Hausarzt zu fahren und zu fragen, wie man meine „Krankheit“ heilen kann. Mein Glück war es, dass der Hausarzt in den USA studiert hatte und meiner Familie medizinisch erklären konnte, dass Homosexualität keine Krankheit ist und dass es keine Heilmittel gibt. Selbst nicht mehr Testosteron, was als Vorschlag eines anderen Familienmitglieds kam. Anders war die Reaktion eines bestimmten Imams, der mir mit religiöser Autorität aufgrund strittiger Sekundarquellen des Islams erklärte, warum ich einen Exorzismus brauchen würde. Ein anderes Familienmitglied legte mir nahe, dass es doch nur eine Phase ist und dass ich einfach mehr Sport betreiben soll. Auch ein Bluttest wurde vorgeschlagen. Zu dem Zeitpunkt war ich längst nach Österreich gezogen, wo meiner österreichischen Familie mein Coming-Out viel leichter fiel als mir selbst. Denn mich als schwuler Mann zu identifizieren bedeutete für mich anfangs das Auflehnen gegen eine soziale Ordnung, an die ich aufgrund meiner Erziehung in Kairo fest glaubte und die für mich als unerschütterlich galt. Doch ich bin mit österreichischem Pass und der Möglichkeit, nicht in Ägypten leben zu müssen, im Vergleich zu vielen anderen privilegiert.

Unterdrückung als Ablenkungsstrategie Oft fungiert die Unterdrückung von Individuen oder gar ganzen Gruppen als Manöver, um von der wirtschaftlichen und demokratiepolitischen Notlage des Landes abzulenken, wie zum Beispiel im bekannten Fall „Cairo 52“, wo im Jahr 2001 52 Männer in einem Nachtclub für homosexuelle Männer inhaftiert wurden. Politisch gelten queere Menschen als „innere Feinde“, die die Ordnung und Stabilität des Landes zu bedrohen schienen. Alle sozialpolitisch relevanten Institutionen, sei es die islamische Al-Azhar Organisation, die Koptische Kirche, der Militärapparat, die Muslimbruderschaft, die einflussreiche Medienlandschaft oder der Staat, sind in ihrer Überzeugung ausnahmsweise geeint: LGBTQ*-Identitäten sind „Erfindungen des Westens“ und stören die soziale Ordnung. Heutzutage stehen wenige hinter der LGBTQ* Community. Laut Nicola Pratt in „The Queen Boat case in Egypt“ vermitteln Medien und Staat, dass Homosexualität „un-ägyptisch“ sei. Das spiegelt den gesellschaftlichen Konsens: 95% von Ägypter_innen sind gegen eine soziale Akzeptanz von Homosexualität. Dies belegte eine Statistik des Pew Research Center im Jahr 2013. Für mich hieß es konkret: Mit meiner Identität offen umzugehen könnte für mich sozialen Auschluss und wahrscheinlich familiäre Intervention bedeuten. Für mich als Erwachsener in Ägypten könnte mir eine Freiheitsstrafe mit Begründung der Ordnungswidrigkeit drohen. Angesichts der zivilgesellschaftlichen Befürwortung der Bestrafung meiner queerness war mir als Zwölfjähriger schon klar, dass die Lage in Kairo für Menschen wie mich nicht sicher ist.

Die Reaktionen meiner Familie, meiner Schulgemeinschaft und meiner Freund_innen konnte ich nicht einschätzen. Das Risiko ging ich nicht ein. Denn auch wenn das Milieu, mit dem ich konfrontiert war, ihre Urlaube in Nordamerika und Europa verbrachten, Englisch und eine weitere europäische Sprache als Bildungssprache fließend sprachen, viele außerhalb Ägyptens oder an der American oder German University in Cairo studierten und sich als weltoffen, bildungsnahe und des öfteren wohlhabend verstanden, galt Queersein und die Akzeptanz dessen oft als die rote Linie, die man nur schwer überquert.

Hoffnung für die Zukunft:

Es gibt aber positive Entwicklungen. Mit LGBTQ*-Repräsentation in erfolgreichen amerikanischen Serien und Filmen sowie der immer größer werdende Akzeptanz in den USA und Europa wird auch die Akzeptanz unter Kairoer Jugendlichen, die gute Aufstiegschancen haben und privilegiert sind, besser. Da kann man aber trotzdem nicht von einer generellen Norm ausgehen. Für einige gilt nach wie vor: Egal wie „offen“ man westlichen Idealen oder dem westlichen Lebensstil gegenüber ist, ist Homosexualität im besten Falle eine Krankheit, die es zu bekämpfen gilt. Deswegen lebte ich mehrere Jahre mit großer Achtsamkeit; ein Coming-Out und eine öffentlich queere Identität kamen für mich nicht in Frage. Viel einfacher schien mir die Unterdrückung meiner Homosexualität und das Hoffen, dass sie mit Mühe und Disziplin von alleine weggehen würde. Die tiefe Verwurzelung der Queerphobie in der Gesellschaft und im Einzelnen führte dazu, dass ich mich selbst nach meinem Coming-Out gegen die gleichgeschlechtliche Ehe in Ägypten aussprach, denn für mich fühlte sich eine Gleichberechtigung unter ägyptischem Himmel nicht angemessen an.

Für viele queere Menschen mit Wurzeln im Nahen Osten ist die eigene und fremde Akzeptanz keine Selbstverständlichkeit. Es gibt aber seit einigen Jahren vor allem in den sozialen Medien Grund zur Freude. Zum Beispiel gibt es das „Queer Muslim Project“, das in einem sozialpolitischen Kontext die Erfahrungen und das Leben queerer Muslim_innen in den Vordergrund stellt. Rafiul Alom Rahman, der Gründer, ist Aktivist gegen Queerphobie innerhalb und außerhalb der muslimischen Community und arbeitet gegen antimuslimischen Rassismus. Auch bekannt auf Instagram ist @artqueerhabibi, ein account, der queere Postkarten und Illustrationen mit arabischen Queers als Motiven kreiert. Umso bekannter ist Hamed Sinno, der als queerer Aktivist auch gleichzeitig Sänger in der libanesischen Band Mashrou‘ Leila ist. 2017 startete er nach einem kontroversen Konzertauftritt (welcher jedoch gut besucht war) indirekt eine große Debatte um LGBTQ* in Ägypten. Online gründeten sich ebenfalls die Initiativen „No Hate Egypt“ und „Solidarity with Egypt LGBT“. Eines Tages, so meine Hoffnung, werden sich queere Menschen in Ägypten nicht mehr verstecken müssen.

Nichts zu feiern, alles zu gewinnen

  • 24.02.2020, 15:18
„Unmöglich“ nannte das georgische Innenministerium die Pläne, eine Pride-Parade in Tbilisi abzuhalten. Die Organisator_innen der ersten Pride der Kaukasusrepublik belehrten sie eines Besseren. Doch dorthin war es ein harter Weg.

In Wien verbindet man die Pride mit ausgelassen tanzenden Menschen auf den Straßen, mit schrillen Kostümen und unbeschwerter Feierlaune. Die Pride ist in Wien mittlerweile eine einzige große Party, die die Wiener Innenstadt durchzieht. Die Ankündigungen für ihre erste georgische Schwesterveranstaltung 3000 Kilometer weiter östlich liest sich gänzlich anders: „Wir werden keinen festlichen Umzug abhalten. Die queeren Menschen Georgiens haben wenig zu feiern.“

Die Vorzeichen, unter denen diese beiden Events standen, könnten unterschiedlicher kaum sein: Während sich in Wien von der Stadtregierung über die Kaufleute bis zu den Verkehrsbetrieben alles in Regenbogen-Schale wirft, die Pride und ihre Gäste willkommen heißen und Proteste reaktionärer Akteur_innen weitgehend ausbleiben, wurde die Tbilisi Pride von Anfang an mit Ablehnung, Bedrohungen und Gewalt konfrontiert. „Ich mache mir Sorgen, dass jemand sterben könnte“, zitiert die Georgia Times ein besorgtes Mitglied der LGBTIQ-Community. Diese Furcht teilen viele queere Menschen in Georgien, nicht alle unterstützen die Idee größerer Sichtbarkeit, sie fürchten eine weitere Zunahme der Hasses gegen sie. Die queerfeindlichen Widerstände gegen die Pride umfassen diverse Akteur_innen – auch staatliche: Die Stadtregierung etwa gab Informationen über Veranstaltungsorte an ultraorthoxode Gruppen weiter, Medien veröffentlichten die Adresse des Büros des Organisationsteams. Die Folgen waren körperliche Angriffe auf Menschen, die als queer wahrgenommen wurden, LGBTIQ-feindliche Aufmärsche vor den Räumlichkeiten und plötzliche Absagen von bereits gebuchten Veranstaltungsorten.

Trotz dieser schwierigen Voraussetzungen wurde die erste Pride Week in Tbilisi für Mitte Juni 2019 ausgerufen. „Wir werden uns nicht verstecken, denn es ist unerträglich, ein Doppelleben zu führen. So haben wir keine andere Wahl, als für unsere Würde zu kämpfen.“, heißt es im Aufruf der Organisator_innen. Und ein Kampf war es wahrhaftig, die Pride Week sicher und erfolgreich über die Bühne zu bringen. Sie bestand aus insgesamt vier Veranstaltungen: Einem Theaterstück, einer Konferenz, einer Party sowie dem „March of Dignity“ – der eigentlichen Pride. Sie konnten schlussendlich allesamt stattfinden. Doch wie viel Arbeit und vor allem Mut dazu nötig waren, ist kaum in Worte zu fassen. Mehr als einmal standen die Veranstaltungen an der Kippe. Das Organisationsteam, das offen mit Namen und Gesicht auftritt, sah sich der ständigen Gefahr gewalttätiger Übergriffe ausgesetzt und auch jegliche Personen, die sich mit der LGBTIQ-Community solidarisch zeigten, gerieten alsbald in den Fokus ultraorthodoxer Fundamentalist_innen.

So widrig die Bedingungen waren, so wichtig war es für die LGBTIQ-Community im Kaukasus, dieses Zeichen der Sichtbarkeit gegen alle Widerstände durchzusetzen. Doch den Aktivist_innen verlangte der Weg dorthin alles ab. Bereits am ersten Tag der Veranstaltungsreihe gingen per SMS Morddrohungen bei zwei Sprechern der Gruppe ein. „Ich weiß, wo dein Büro ist. Ich werde deinen Kopf abschneiden und zum Helden werden“, stand darin zu lesen. Als nahezu zeitgleich eine Journalistin den Ort des Büros des Organisationsteams der Pride öffentlich ausplauderte, wurde das Gebäude vorsorglich geräumt. Und wirklich: Wenig später kam es unweit des Büros zu einem Angriff auf einen schwulen Mann, die Angreifer dürften bereits in der Nähe gewartet haben. Kaum eine Stunde nach dem Bekanntwerden der Büroanschrift sammelten sich etwa hundert ultraorthodoxe Fundamentalisten auf der Straße vor dem Gebäude. Sie trugen Banner, auf denen das Wort LGBTIQ durchgestrichenen war und eine Absage der Pride gefordert wurde. Unter den Teilnehmenden waren mehrere orthodoxe Geistliche, die vor Medienvertreter_innen als Sprecher auftraten. Sie schworen vor diversen Fernsehteams, die Pride Parade, die sie als „Feier der Perversion“ verunglimpften, zu verhindern. „Sie werden über unsere toten Körper gehen müssen“, verdeutlichte Sandro Bregadze, eine der Führungsfiguren der extremen Rechten Georgiens, die absolute Feindschaft zu jeglichem Ausdruck queerer Sichtbarkeit. Die erste Veranstaltung der Pride Week stand durch diese Ereignisse bereits unter großem Druck. Eine Absage stand lange im Raum, doch letzten Endes entschlossen sich die Beteiligten dazu, das Programm unter strenger Geheimhaltung und verschärften Sicherheitsvorkehrungen durchzuziehen.

Kafka im Kirchenasyl

Der erste Programmpunkt war eine Adaption von Kafkas Theaterstück „Die Verwandlung“. Es behandelt das Leben, die zunehmende Verzweiflung und den Suizid eines schwulen Teenagers, der von seiner konservativen Familie verstoßen wird. Die Schlussszene zeigt den Laiendarsteller, einen jungen Mann mit kurzem rosa Haar, mit einer Schlingt um den Hals von der Familie verlassen alleine auf der Bühne. Ein schwermütiger Auftakt, der im konservativen, von der orthodoxen Kirche stark geprägten Georgien einen Nerv trifft. Dass Familien sich von ihren Kindern abwenden, sie verstoßen, sobald sie von deren Homosexualität erfahren, ist ein großes Problem, besonders in ländlichen Gebieten.

Die Aufführung fand an einem so unerwarteten wie symbolischen Ort statt: Einer Kirche. Deren evangelische Pastorin setzte sich für die queere Community ein und stellte ihre Räumlichkeiten zur Verfügung. „Auch sie sind Kinder Gottes“, begründete sie ihr Handeln. Ein lichtdurchfluteter Altar bildete die symbolträchtigste Bühne, die man sich für dieses Theaterstück hätte wünschen können. Diese ungewöhnliche Örtlichkeit war notwendig geworden, nachdem die Behörden die Adresse des Theaters, das die Veranstaltung hosten sollte, an Gegner der Pride weitergab. Über hundert Personen konnten trotz der Geheimhaltung und der ständigen Sorge vor Gegenaktivitäten an der Veranstaltung teilnehmen. Als der letzte Vorhang fiel, war die Stimmung gelöst, fast ausgelassen. Der erste Programmpunkt war geschafft, der erste Erfolg erkämpft. Die Möglichkeit einer Pride Week im erzkonservativen Georgien war damit unter Beweis gestellt und die Hoffnung, auch die Demonstration abhalten zu können, wuchs.

Perspektiven queerer Selbstermächtigung

Der zweite große Programmpunkt der Pride Week war eine internationale Konferenz. Auch sie fand unter strengen Sicherheitsvorkehrungen an einem zuvor geheim gehaltenen Ort in Tbilisi statt. Die Podien brachten aktivistische, politikwissenschaftliche und sozialarbeiterische Sichtweisen auf verschiedene Felder mit LGBTIQ-Bezügen zusammen. Diskutiert wurde etwa über die LGBTIQ-Feindlichkeit europäischer Staaten, über Gesundheitsrisiken, die speziell Schwule, Lesben und trans Personen betreffen, über Erfahrungen mit der Organisation von Pride Demonstrationen und mögliche Perspektiven für Georgiens queere Community.

Ein_e nicht-binäre Sexworker_in referierte am Podium über die verletzliche Position, in der sich exponierte Personen wie er_sie befinden. Ob es denn auch zu physischer Gewalt komme, wollte einer der vielen internationalen Gäste im Publikum wissen. „Jeden Tag“ lautete die Antwort schlicht und ungeschönt. In den Wochen nach der Bekanntgabe der Pläne, eine Queer Pride in Tbilisi zu veranstalten, hatten die Übergriffe sogar noch zugenommen. Die Plätze, an denen sich queere Sexarbeiter_innen oft aufhalten, an denen die Anbahnung der Kontakte stattfindet, sind auch fundamentalistischen Gruppen bekannt. Die Gefahr – man kann beinahe von einer Gewissheit sprechen, mit der sie sich Gewalt aussetzen – ist für die Betroffenen kaum zu vermeiden. Die queere Community hat in einer Reaktion darauf verstärkt selbst Schutz organisiert, denn auf die Polizei ist kein Verlass. Von ihr wird eher weitere Gewalt und Schikane als Hilfe erwartet, wie Aktivist_innen berichteten. Zwischen gewalttätigem LGBTIQ-Hass und sichtbar queeren Menschen steht zumeist nichts als die Solidarität untereinander.

Auch trans Personen müssen alltäglich Übergriffe fürchten. Als die vortragende Person im kleineren Rahmen weiter über die Gewalt, mit der sie und ihre Mitstreiter_innen konfrontiert sind, berichtete, fiel schließlich der Name Zizi Shekeladze. Sie war eine mutige, lebenslustige Frau, vielen in der Community eine Freundin. War. Denn sie wurde im Jahr 2016 auf offener Straße in Tbilisi erschlagen, das Motiv war Hass gegen trans Personen.

Ein russischer Affront als Hindernis

Auf der Konferenz wurde schließlich und sichtlich schweren Herzens auch die Verschiebung des dritten, zentralen Programmpunktes der Pride Week bekannt gegeben: Aufgrund der zu diesem Zeitpunkt sehr aufgeheizten politischen Lage, mit täglichen Demonstrationen in der Innenstadt von Tbilisi, sollte die Pride nicht am geplanten Datum stattfinden. Die Sicherheitslage wurde als zu prekär eingestuft. Grund dieses Aufruhrs war einmal mehr das zerrüttete Verhältnis zu Russland. Dieser Konflikt um mehrere Grenzgebiete ist ein Pulverfass, der letzte Krieg liegt erst wenige Jahre zurück. Eine Provokation durch einen russischen Abgeordneten war der Funken, der vor der Pride erneut Proteste in Gang setzte. Über zehntausend Demonstrant_innen versammelten sich daraufhin vor dem Parlament. Als sie versuchen hineinzugelangen, wurde die Kundgebung von der Polizei unter massiver Gewalt aufgelöst. Über Stunden wurden Wasserwerfer, Tränengas und Gummischrott gegen die Protestierende eingesetzt. Es gab über hundert Festnahmen und viele Verletzte. Bilder einer bekannten Journalistin, die vor laufender Kamera im Tränengas zusammenbrach, sorgten für große Empörung. Die Polizeigewalt, die einer Frau das Augenlicht kostete, wirkte wie ein Katalysator für die Proteste.

Aktivist_innen der Tbilisi Pride Organisation entschlossen sich aufgrund dieser Ereignisse zu einer Teilnahme an den großen Demonstrationen, die seit jener Eskalation vor dem Parlament jeden Tag stattfanden. Eine organisierte Teilnahme mit Sichtbarkeit als LGBTIQ-Aktivist_innen auf einer dieser Großdemonstrationen wurde geplant, aber im letzten Moment von deren Veranstalter_innen unterbunden. Die Hoffnung auf eine offene Solidarisierung der Proteste, die tendenziell progressivere Teile der georgischen Gesellschaft umfassten, mit den Anliegen der Pride, wurde jäh enttäuscht. Die Solidarität zwischen den Protesten erwies sich als einseitig.

Die Pride wird Wirklichkeit

Erst mehrere Wochen später hatte sich die politische Lage einigermaßen beruhigt. Die Regierung war auf einen Teil der Forderungen der anti-russischen Proteste eingegangen. Zwischenzeitlich hatte das Organisationsteam der Tbilisi Pride einen zweiten Versuch, die Pride abzuhalten, abbrechen müssen, nachdem der Ort bekannt geworden war und LGBTIQ-feindliche Gruppen den Versammlungsort besetzten – ein weiterer Rückschlag. Trotz der Enttäuschungen und den nach intensiven Wochen bereits schwindenden Energien entschloss sich die LGBTIQ-Community zu einem letzten Versuch, ihren Protest für ein Leben in Freiheit und Würde auf die Straße zu tragen. Im Geheimen und möglichst kurzfristig wurde intern mobilisiert, um dem Mob ultraorthodoxer Männer diesmal keine Chance zu geben, sich vorab am Versammlungsort zu formieren. Und diesmal sollte es gelingen: Etwa eine halbe Stunde konnten die Teilnehmenden mit Regenbogenfahnen und Protestschildern vor dem Innenministerium ihren Forderungen Öffentlichkeit verleihen - dann wurde die Veranstaltung angesichts dessen, dass sich queerfeindliche Gruppen am Weg zur Kundgebung befanden, beendet.

Diese kleine Kundgebung war für die LGBTIQ-Community Georgiens ein Meilenstein, ein wichtiger Ansatzpunkt. Die allererste Pride in diesem Land hat am Ende unter größten Anstrengungen stattfinden können. Allen Widrigkeiten zum Trotz. Sie ist ein erstes Zeichen, auf dem in den kommenden Jahren aufgebaut werden soll. Der georgischen LGBTIQ-Community stehen noch viele Kämpfe um Gleichberechtigung, Sichtbarkeit und ein Leben in Würde bevor. Ihr Durchhaltevermögen und ihre Unerschütterlichkeit hat sie bereits eindrucksvoll unter Beweis gestellt.

Man muss den Machismus aus der Gesellschaft verbannen

  • 26.02.2020, 10:56
Begriffe wie ‚Eifersuchtsmord‘ sind längst überholt, sagt Tania Sordo Ruz, Juristin und Expertin für machistische Gewalt und Feminizide in Spanien, im progress-Interview.

Frage: Spaniens Gesetz gegen machistische Gewalt wird von anderen Staaten als Vorbild betrachtet. Worin liegen seine Stärken und Schwächen?

Antwort: Die Ley Orgánica de Medidas de Protección Integral contra la Violencia de Género aus dem Jahr 2004 war eine wichtige Weichenstellung. Das Gesetz behandelt die Ursprünge, Hintergründe, Auslöser und Folgen dieser Gewalt. Nun wäre es an der Zeit, das Gesetz auf weitere Formen der machistischen Gewalt auszuweiten. Denn das Gesetz von 2004 behandelt nur Fälle aus dem nächsten Umfeld des Opfers, sprich wenn der (Ex-)Partner der Täter ist. In Fällen, wo die Täter dem Opfer unbekannt waren, gilt der Delikt z.B. nicht als machistische Gewalt. Auch die UNO hat Spanien schon ermahnt, den Gewaltbegriff im Gesetz auszuweiten. Man muss den Rahmen aktualisieren und anpassen. Auch in Bezug auf institutionelle Gewalt muss sich etwas ändern – es kann nicht sein, dass Überlebende von Gewalt die Justiz anrufen und anstelle von Unterstützung nur Demütigung erfahren oder beschuldigt werden, Übergriffe provoziert zu haben. Zudem muss in punkto Entschädigung der Opfer und der berlebenden weit mehr getan werden. Dabei geht es nicht allein um Finanzielles, sondern auch um die Verurteilung machistischer Gewalttaten seitens der Politik und Institutionen sowie Präventionsarbeit.

Frage: Welche Rolle spielen die Medien in der Bewusstseinsbildung?

Antwort: Es ist enorm wichtig, welche Botschaft in der Berichterstattung transmittiert wird. Begriffe wie „Eifersuchtsdelikt“, „Familiendrama“ oder „Mord aus Leidenschaft“ sollten längst nicht mehr verwendet werden, weil sie das strukturelle Element von Gewalt gegen Frauen verschleiern. In der medialen Berichterstattung geschieht es leider oft, dass den Betroffenen selbst Schuld oder Mitschuld zugeschoben wird, etwa durch Berichte zum Verhalten oder Details aus dem Privatleben des Opfers, die für die Straftat irrelevant sind und keine Funktion haben, außer das Delikt zu rechtfertigen.

Frage: Die rechtsradikale Vox-Partei mit ihrem antifeministischen Diskurs erreicht Wählerschichten. Dabei sind die Ultrarechten nicht nur frauenfeindlich, sondern auch rassistisch.

Antwort: Exakt, denn exualisierte Delikte werden gerne Migranten in die Schuhe geschoben, dabei hat Gewalt gegen Frauen nur einen gemeinsamen Nenner: den Machismus, keinesfalls die Herkunft. Man muss den Machismus aus der Gesellschaft verbannen. All die Fake-News-Massen, die die extreme Rechte produziert, müssen wir mit Daten aktiv widerlegen. Viele Ideen der Vox-Partei sind darüber hinaus antidemokratisch, verfassungswidrig und sie wollen alles rückgängig machen, was wir in hartem Kampf erreicht haben. Das liegt auch an der mangelnden Aufarbeitung der Franco-Diktatur, die nun hoffentlich mit der Linkskoalition beginnen wird. Der Diskurs der Vox-Partei ist klar fernab der Realität. Die Debatte, die Vox schürt, ist längst überholt. Aber wir dürfen sie nicht unterschätzen. Gewalt hat immer eine Geschlechterperspektive und punkt. Wenn Vox dem widerspricht, normalisieren sie Gewalt gegen Frauen und das kann zu ihrem Ansteigen führen.

Frage: Fälle sexualisierter Gewalt und Vergewaltigungen haben kürzlich viel mediale Aufmerksamkeit erregt, Gerichtsurteile in Folge haben Massenproteste ausgelöst.

Antwort: Wie anfangs angesprochen muss auch sexualisierte Gewalt, die von Unbekannten ausgeht, in das Gesetz der Geschlechtergewalt aufgenommen werden. Das Strafgesetzbuch muss klarer zwischen sexualisierter Gewalt und Missbrauch unterscheiden. Mit einer Gesetzesänderung ist es aber nicht getan, die Mentalität der Richter_innen in solchen Fällen muss sich ebenso ändern. Sie müssen sich bewusst sein, wann Unterdrückungsverhältnisse, Dominanz und Ohnmacht oder ungleiche Machtverhältnisse bestehen. Die in der Justiz Beschäftigten müssen dahingehend auch in Genderperspektive geschult werden. Zudem gibt es in Spanien bisher kein Krisenzentrum für Überlebende von Vergewaltigungen, die „Rape Crisis Centers“, wie sie in den USA und England seit Jahrzehnten existieren. Opfer brauchen eine Anlaufstelle, an die sie sich wenden können, und spezialisierte Anwält_innen, die in Sachen sexualisierter Gewalt Expertise haben. Aber das Recht alleine kann nicht alle Probleme lösen, es braucht auch Bildung aus Genderperspektive.

Zur Person:

Tania Sordo Ruz (* 1984 in Mexico-Stadt) ist Juristin spezialisiert auf Internationales Recht und Geschlechtergewalt. Sie lebt seit elf Jahren in Spanien, wo sie ihr Doktorat in Interdisziplinären Genderstudien abschloss. An der Madrider Universität Carlos III. forscht Sordo Ruz zu Geschlechtergewalt aus internationaler Perspektive. Zudem ist die Mexikanerin Anwältin und Autorin zahlreicher Studien über Geschlechtergewalt und Feminizide. Sie berät auch Institutionen, wie zuletzt die baskische Regionalregierung über die Neufassung ihres Gesetzes gegen die Geschlechtergewalt.

@TaniaSordoRuz auf Twitter.

Autoreninfo: Jan Marot (*1981 in Graz) studierte Publizistik- und Kommunikationswissenschaft in Wien und Zürich.

Uns Reicht’s!

  • 29.02.2020, 22:44
Was für viele nichtsahnend mit einer Kundgebung begann, endete in einer halbtägigen Besetzung des Festsaals der Technischen Universität Wien.

Den prestigeträchtigen Festsaal der Uni bekommt man als Student_in in der Regel frühestens bei der akademischen Abschlussfeier zu sehen. Schade eigentlich, denn mit der nötigen Ausstattung würde der Saal sicher auch einen geeigneten Lernraum bieten. Das stellten auch die Aktivist_innen der Bewegung „Uns Reicht’s“ im Dezember bei ihrer Besetzung des Saals fest.

Schon im November wurde mit der Besetzung der ungenutzten ehemaligen Cafeteria Nelson’s auf das Raumproblem an der TU aufmerksam gemacht. Die Forderung nach mehr Raum bildete den Ausgangspunkt für die Protestbewegung „Uns Reicht’s“, die sich daraufhin entwickelte. Mittlerweile stehen zehn Forderungen im Katalog, die die gesamte österreichische Hochschulpolitik betreffen.

Die Bewegung sieht sich als überparteiliches, selbstverwaltetes, universitätsübergreifendes Kollektiv, das sich für eine soziale, gerechte und diskriminierungsfreie Hochschule einsetzt. Gefordert wird die Ausfinanzierung der Hochschulen, welche es erst ermöglichen würde, viele der unterliegenden Anliegen der Bewegung anzupacken. Neben dem Recht auf konsumzwangsfreie Räume für Arbeit und Austausch stehen die Aktivist_innen für den offenen und freien Hochschulzugang ein, also eine Abschaffung der sozialen Selektion durch Studiengebühren und Zugangsbeschränkungen, welche dazu führen, dass viele Studieninteressierte es sich gar nicht erst leisten können, ein Studium anzutreten. Dazu zählt auch die Verbesserung der Konditionen von Familien- und Studienbeihilfe, sowie mehr Unterstützung für Drittstaatsangehörige, die aktuell durch doppelte Studiengebühren und erschwerte Bedingungen am Arbeitsmarkt bestraft werden. Auch die Forderung nach mehr Bildung statt Ausbildung kritisiert das wirtschaftsliberale System, in das die Studierenden möglichst schnell entlassen werden sollen, statt umfassend gebildet zu werden.

Damit verbunden ist ein enormer Leistungsdruck durch die geringe Mindeststudiendauer. Für die Studierendenvertretungen wird ein echtes Mitspracherecht verlangt, da seit der Abschaffung der Drittelparität – also einer jeweiligen 1/3-Repräsentation von Studierenden, Professor_innen und Assistent_innen – in den Gremien der Hochschulen von einer entscheidungsfähigen Studierendenschaft kaum die Rede sein kann.

Doch die Forderungen beschränken sich nicht auf Studierende allein – für das Hochschulpersonal werden ebenfalls bessere Bedingungen gefordert. Das bedeutet auf allen Ebenen eine gendergerechte Hochschule. Diese ist im Jahr 2020 noch immer keine Realität, da beispielsweise Professorinnen zu selten eingestellt werden und Frauen noch immer vorwiegend in administrativen Berufen beschäftigt sind. Die Forderung inkludiert aber auch Maßnahmen für Menschen mit Behinderung, das nichtakademische Personal sowie Kinderbetreuungsplätze für Menschen mit Betreuungspflichten. Auch klimagerechte Hochschulen stehen im Programm der Bewegung, die sich für die Verankerung der Klimakrise in den Curricula, Förderung von Klimaforschungsprojekten und leistbare Tickets für den öffentlichen Verkehr einsetzt. Schließlich soll ein eigenes Ministerium für Bildung, Wissenschaft und Forschung beibehalten werden, damit die Wissenschaft nicht wirtschaftlichen Interessen unterliegt. Anlass für die Ausarbeitung dieses umfangreichen Katalogs bot einerseits das zehnjährige Jubiläum des Studierendenprotests #unibrennt, andererseits die damals noch anstehenden Koalitionsverhandlungen zwischen der ÖVP und den Grünen. Das neue Bildungspaket stand noch zur Debatte, und so kam es zu der lautstarken Aktion des studentischen Kollektivs.

Der Verlauf der Besetzung.

Am 10. Dezember meldete „Uns Reicht’s“ eine Kundgebung vor der Technischen Universität an. Die noch recht unbekannte Bewegung erregte die Aufmerksamkeit einer Schar von Studierenden, die sich durch die Reden von Aktivist_innen der Gruppe und verschiedener solidarischer Organisationen mitreißen ließen. Nicht alle Teilnehmer_innen wussten im Vorhinein, dass die Kundgebung lediglich ein Vorwand war – das eigentliche Ziel war die Besetzung des Festsaals der TU, ein Vorhaben, das schließlich Erfolg hatte, wenn auch unter unerwartet erschwerten Voraussetzungen.

Der Plan, den Prestigeraum zu stürmen, verbreitete sich durch Mundpropaganda wie ein Lauffeuer, auch die Anspielung auf #unibrennt war unübersehbar und sorgte schon im Vorhinein für Gerüchte. So hatten auch die Sicherheitskräfte der TU bereits etwas geahnt und standen positioniert vor den Türen des Festsaals, in dem kurz zuvor eine Veranstaltung des Wissenschaftsfonds zu Ende gegangen war. Schnell füllten sich der Gang und das Stiegenhaus vor den Eingängen mit Protestierenden, die mit Sprechchören Einlass in den bewachten Saal verlangten. Als die Securitys sich schließlich mit aller Wucht gegen die Türe warfen, um einen Catering-Mitarbeiter daran zu hindern, den Raum zu verlassen, kippte die Stimmung. Aufgebrachte Rufe, niemanden im Raum einzusperren, wurden laut und im Flur kam es zu einem Gedränge. Der Bewegung der Masse konnte niemand mehr etwas entgegenhalten. Die unmittelbar neben den zwei Sicherheitskräften stehenden Aktivist_innen erhoben zwar als Zeichen der Gewaltlosigkeit die Hände über den Kopf, wurden aber dennoch zusammen mit den beiden machtlosen Security-Mitarbeitern beiseite geschoben. Den Nachrückenden gelang es in Folge, die Türen zu öffnen und die ca. 100 Aktivist_innen strömten schließlich in den Festsaal.

Ein großes Banner mit dem Schriftzug „Besetzt die Unis – #wiederbrennen für freie Bildung“ wurde direkt am Balkon des Festsaals angebracht. Das Adrenalin und die Aufregung saßen vielen noch in den Gliedern, als schon die Sprecherin von Uns reicht's am Redner_innenpult das Wort ergriff, um die Anwesenden über die Absichten und das geplante Vorgehen während der Besetzung aufzuklären. Ein erstes Plenum wurde einberufen, bei dem beschlossen wurde, dass der Saal solange besetzt bleiben würde, bis Vertreter_innen der Koalitionsverhandlung zu Bildung, Wissenschaft und Forschung sich bereit erklärten, mit den Studierenden in Dialog zu treten. Anschließend begaben sich die Besetzer_innen in verschiedene Arbeitsgruppen, um z.B. an den Forderungen, der externen Kommunikation oder der Versorgung im Festsaal zu arbeiten. Dies sollte sich als schwieriger erweisen als gedacht, da bereits wenige Minuten nach der Besetzung die Polizei vor Ort war, um zusammen mit dem Sicherheitsdienst den Raum abzuriegeln. Es wurde niemand mehr rein oder raus gelassen und damit auch die Möglichkeit der Lebensmittelversorgung unterbunden. Später wurde ein System mit Garderobenzetteln eingeführt, das den Besetzer_innen zwar die Möglichkeit gab, auf die Toilette zu gehen und wieder in den Saal zurück zu kehren, die prekäre Versorgungslage aber dennoch bestehen ließ.

Unter den Anwesenden befanden sich unter anderem auch Vertreter_innen verschiedener ÖH-Fraktionen und anderer studentischer Organisationen, der Donnerstagsdemo oder der Klimabewegung. Es war ein ziemlich bunter Haufen zusammengekommen und dennoch waren ein echtes Gemeinschaftsgefühl und Zusammenhalt zu spüren. So wurde schnell arrangiert, dass Garderobenzettel an solidarische Studierende weitergegeben wurden, um diese auch in den Raum zu schleusen. Immer wieder wurden auch Speisen und Getränke in den Saal geschmuggelt und dort miteinander geteilt. Auf dem Vorplatz der TU fanden sich gegen Abend solidarische Protestierende ein und wurden vom Balkon aus per Megafon von den Besetzer_innen angefeuert.

Das Rektorat weigerte sich, direkt mit dem Uns reicht's-Plenum zu verhandeln, und ließ nur eine Delegation von drei Vertreter_innen in Begleitung mehrerer Polizeibeamt_innen zu Wort kommen. Verschiedene als zu schwach empfundene Angebote des Rektorats wurden daraufhin vom Plenum abgelehnt. Als die Anspannung vor der erwarteten Räumung stieg, wurde ein spontanes Aktionstraining abgehalten, um die Sicherheit der Aktivist_innen zu gewährleisten und sie auf mögliche Szenarien vorzubereiten.

Die Räumung und das Nachspiel. Die Befürchtung einer langanhaltenden Besetzung á la #unibrennt stand Security und Rektorat ins Gesicht geschrieben. Seit der erfolgreichen studentischen Raumnahme im Audimax vor zehn Jahren hat sich die politische Atmosphäre in Österreich allerdings geändert und die Bedrohung polizeilicher Repression ist gestiegen. Die vielbeklagte Politikverdrossenheit unter Studierenden scheint wieder Realität geworden zu sein, politischer Aktivismus zur bedauernswerten Seltenheit. Anders als bei #unibrennt wurden die Besetzer_innen nicht geduldet, sondern noch am selben Abend polizeilich geräumt. Dabei kam es zu einem Großeinsatz, bei dem alle sich noch im Gebäude befindlichen Student*innen die Technische Universität verlassen mussten und sämtliche Eingänge von außen versperrt wurden. Dieses Vorgehen steht im krassen Widerspruch zur Aussage einer Sprecherin der TU, die dem STANDARD gegenüber verlauten ließ, dass Universitäten Orte der freien Meinungsäußerung seien und sogar die Besetzung als gewählte Protestform für legitim erklärte. Wenn eine Uni ihre eigenen Studierenden von je zwei Polizist_innen zur Tür hinaus tragen lässt, bis sich nur mehr Uniformierte im Haus befinden, ergibt dies ein einprägsames Bild, das so auch von den Medien rezipiert wurde. Den Protestierenden half auch nicht mehr, dass sie währenddessen „Power to the People“ sangen.

Die Forderungen der „Uns Reicht’s“-Aktivist_innen sind beinahe deckungsgleich mit denen von #unibrennt. Zehn Jahre nach der zweimonatigen Besetzung des Audimax der Universität Wien hat sich kaum etwas getan. Dabei bestand die Hoffnung mit der ehemaligen #unibrennt-Aktivistin Sigrid Maurer in den Koalitionsverhandlungen für Bildung, Wissenschaft, und Forschung eine echte Chance auf Verankerung der Forderungen im neuen Bildungspaket zu haben. Doch obwohl Sigi auf die Protestaktion und einen Besuch der Aktivist_innen im Nationalrat reagierte und sich sogar mit einem Presseteam von Uns Reicht’s zu einem Gespräch traf, konnte sie die Forderungen lediglich gutheißen, aber nicht umsetzen. Die Klimapolitik sei aktuell wichtiger als die Abschaffung von Studiengebühren und diese somit kein Ausschlusskriterium für eine Koalition, sagte sie den Studierenden. Diese Aussage wird durch das mittlerweile veröffentlichte schwarz-grüne Regierungsprogramm bestätigt. Statt einer Abschaffung werden die Studiengebühren an die Inflation angepasst und Zugangsbeschränkungen verschärft, die soziale Selektion an den Hochschulen wird somit weiter verstärkt.

Die frisch gebackene Regierung schafft es also nicht, den Studierenden entgegenzukommen – und kann dafür sicher noch mit Gegenwind rechnen. Mit dem Anbringen von Bannern an verschiedenen Wiener Unis kündigte „Uns Reicht’s“ bereits weitere Aktionen an: „Wir kommen wieder!“

Positiv Studieren

  • 01.03.2020, 00:22
Es gibt HIV-positive Menschen und Menschen die studieren - die Schnittmenge dieser zwei fällt im Diskurs aber meistens raus. Ein Bericht über Leben und Studieren am Rande der Tabuisierung.

„Ich verstehe gar nicht, wie du bis jetzt in dem Zustand studieren konntest“. Dieser Satz vom Arzt beschäftigte Michael*, als er die Ordination verließ. Plötzlich machte alles Sinn - Michael war Student und im vierzehnten Semester. Lange Zeit hatte er gedacht, dass er schlichtwegs die geistige Kapazität für ein Studium nicht besäße. Seine Kommiliton_innen, mit denen er angefangen hatte zu studieren, waren mit ihrem Studium längst fertig. Michael litt unter Konzentrationsschwäche und Müdigkeit. Üblicherweise konnte er Vorlesungen nicht folgen und sich nicht auf Prüfungen vorbereiten.

Doch dann war klar warum – er erhielt die Diagnose HIV-positiv. Dabei war der 27-Jährige am Anfang seines Studiums sehr erfolgreich. Jede Prüfung bestand er mit ausgezeichneten Noten. Später verschlechterten sich seine Leistungen und er fiel öfters durch. Irgendwann traute er sich nicht, mehr als drei Vorlesungen pro Semester zu belegen, normal sind bei seinem Curriculum sechs. Michael hat sich mit dem Virus im Laufe seiner Studienzeit vermutlich durch ungeschützten Geschlechtsverkehr angesteckt. Er meint selbst, „Ich war dumm, ich hatte Sex ohne Kondom“. Sex war für ihn ein Tabuthema, da Michael homosexuell und nicht geoutet ist. Weder mit seiner Familie noch mit Freund_innen konnte er über seine Sexualität reden. Dieses Schweigen führte dazu, dass er sich einsam fühlte und Zuneigung bei anonymen OneNight-Stands fand. Im Nachhinein ist ihm klar: „ich hatte Angst davor, nicht akzeptiert zu werden und entwickelte Minderwertigkeitskomplexe“.

Obwohl er selbst spürte, dass irgendetwas mit ihm nicht stimmte, wollte er sich nicht auf Geschlechtskrankheiten testen lassen. „Aus Scham ging ich nicht zum Arzt“. Schließlich erfuhr der Student durch einen Bluttest seinen Status. „Es war furchtbar, die Ärztin sagte mir, dass ich HIV-positiv bin, verwies mich an einen Facharzt und gab mir nur paar Broschüren mit. Mit dem Schmerz, der auf diese Nachricht folgte, musste ich alleine klarkommen. Ich hätte mir psychologische Unterstützung gewünscht“. Kurz darauf fing er mit der Behandlung an. Jeden Morgen und jeden Abend musste er eine Pille nehmen, die den Ausbruch von AIDS bekämpfen soll. Doch die Pillen hatten starke Nebenwirkungen, jeden Morgen musste er sich übergeben und bekam Wunden im Mund. Also erhielt er andere Tabletten, deren Nebenwirkungen nicht so heftig waren. Tatsächlich musste er in der Anfangsphase seiner Behandlung alle zwei Wochen zur medizinischen Kontrolle. Später wurden diese Kontrolltermine weniger.

Mittlerweile ist HIV kein Todesurteil mehr, Medikamente hemmen die Ausbreitung der Viren im Körper. Mit der richtigen Behandlung kann das Virus so weit unterdrückt werden, dass gängige Testmethoden den HI-Virus im Blut nicht nachweisen. Allerdings kann der Erreger nicht ganz eliminiert werden. Einige der Viren verstecken sich im Knochenmark, in Immunzellen oder im Gehirn. Damit Michael unter dieser Nachweisgrenze bleibt, muss er die zum heutigen Stand der HIV-Forschung verfügbaren Medikamente ständig zu sich nehmen. „Ich nehme die Medikamente natürlich jeden Tag ein, denn so kann AIDS nicht ausbrechen und ich kann andere nicht anstecken“. Solange er die Behandlung fortführt, besteht für seine Mitmenschen keine Ansteckungsgefahr. Der gemeinnützige Verein AIDS Hilfe Wien verdeutlicht: „Im Alltag kann HIV nicht übertragen werden. Eine wirksame Therapie unterdrückt HIV im Körper (bis unter die Nachweisgrenze). So können HIV-positive Menschen das Virus – auch beim Sex – nicht weitergeben.“

Nichtsdestotrotz sind Menschen mit dem HIV-Erreger stark stigmatisiert. Als Michael irgendwann den Mut hatte, sich seinen besten Freund_innen gegenüber zu öffnen, fielen die Reaktionen sehr unterschiedlich aus. Hauptsächlich erfuhr er Mitgefühl und Unterstützung, doch eine Freundin distanzierte sich tatsächlich und wurde vorwurfsvoll. „Sie fragte mich, wie ich nur so dumm sein konnte und behauptete sogar, dass ich nicht begraben werden kann, sondern verbrannt werden muss“. Die Gemütslage von Betroffenen ist häufig sehr schlecht, sie verfallen oft in Depressionen und können suizidgefährdet werden. Die Tatsache, dass das Thema HIV üblicherweise totgeschwiegen wird, führt zu einer verstärkten Trauer. Michael haben die stundenlangen Gespräche mit Freund_innen und Expert_innen sehr viel geholfen. „Durch die Unterhaltungen mit meinem Therapeuten oder mit Freund_innen konnte ich meine Situation verarbeiten“.

Michael hat auch schon die psychologische Studierendenberatung der Universität Wien in Anspruch genommen. Allerdings kannten sich die Berater_innen mit dem Thema überhaupt nicht aus und konnten ihm keine konkrete Hilfeleistung bieten. Der Student hätte sich von der Universität mehr Unterstützung gewünscht. Um Jugendliche auf die Risiken von ungeschütztem Geschlechtsverkehr vorzubereiten, bietet die AIDS Hilfe Jugendpräventionsarbeit an, bei der sie Jugendliche über Ansteckungsgefahren informiert. Frenky Varga von der AIDS Hilfe Stuttgart beteuert die Wirkung bei Jugendlichen: „Man merkt, dass viele sich der Risiken von ungeschütztem Geschlechtsverkehr nicht bewusst sind, weil beispielsweise im Elternhaus nicht darüber geredet wurde“. Ganz wichtig ist es, das gesellschaftliche Stigma gegen HIV-positive Menschen aufzubrechen, und Personen mit HIV nicht auszugrenzen. Für ein größeres Verständnis sind Debatten und Diskurse vonnöten, die HIV-Belange behandeln. Veranstaltungen an der Universität, die die Thematik aufgreifen, können für ein geschärftes Bewusstsein sorgen.

„Ja“ oder nur kein „Nein“ – die österreichische Lösung

  • 01.03.2020, 00:47
Warum erst jetzt über die Fragilität junger Sexualität diskutiert wird und warum man den Begriff „sexual consent“ vor der Quarterlife Crisis kennen sollte.

Die Erlebnisse der Schulzeit prägen einen Menschen das ganze Leben lang. Auch im Sexualkundeunterricht vermittelte Werte und Praktiken bleiben in den Köpfen der Schüler_innen verankert. Wieso kümmert es also erst seit den Teenstar-Leaks jemanden, mit welchen Folgen Jugendliche nach unzureichender Aufklärung zu kämpfen haben? Im November 2018 veröffentlichte die Wochenzeitung der Falter die Teenstar-Leaks. Der fundamentalchristliche Sexualpädagogik-Verein deklarierte unter anderem Homosexualität als heilbar und Masturbation zur Sünde. Nach großem medialem Aufschrei verbannte Bildungsminister Faßmann unter Kurz I Teenstar aus den Schulen Österreichs. Kurz II verkündet im Regierungsprogramm nun, einen Fokus auf „geschlechtersensible Mädchen- und Burschenarbeit“ zu legen. Mit dem Ziel „Kinder und Jugendliche aus patriarchalen Milieus zu stärken und ihre Selbstbestimmung zu fördern“. Soweit, so gut. Einen konkreten Plan, wie mittels Akkreditierungsverfahren „weltanschaulich neutraler und wissenschaftsbasierter“ Unterricht gewährleistet werden kann, gibt es nicht.

Ehe für alle? „Gute Sexualerziehung sollte jungen Menschen helfen, den Wunsch nach Liebe, Ehe und Familie im eigenen Leben umzusetzen“, lautet die Vision der Website sexualerziehung.at, welche Lernmaterialien bereitstellt und ein Partner von Teenstar zu sein scheint. Die dreiste Vermittlung dessen, dass die heterosexuelle Ehe das Hauptziel einer jeden Person sein muss, drängt gleichgeschlechtliche Paare aus der gesellschaftlichen Norm. Dies wiederum vermittelt Kindern erstmals, alles außer Heterosexualität sei abnormal. „Die Ansicht, dass Homosexualität eine Identitätsstörung ist, die geheilt werden kann, war schon in den 1990er-Jahren veraltet“, sagt Paul Haller, Geschäftsführer der Hosi (Homosexuelle Initiative) Salzburg. Wie realitätsnah kann ein cis Mann über hormonelle Veränderung und Gefühlslage während einer Geburt berichten? Und wie authentisch kann eine streng konservative und religiöse Person in einer heterosexuell-monogamen Beziehung über LGBTQIA+ erzählen? Richtig: Gar nicht. Dementsprechend sinnvoll wäre es, LGBTQIA+ Personen selbst über verschiedene Sexualitäten sprechen zu lassen, um queeren Schüler_innen Wissen und ein Gefühl der Akzeptanz zu vermitteln.

„Ja“ oder nur kein „Nein“ – die österreichische Lösung Was ich im Sexualkundeunterricht – den ich im Übrigen nie hatte – gerne vermittelt bekommen hätte? Was sexueller Konsens ist und wie man Konsens früher umsetzt, als mit Anfang 20 inmitten der ersten depressiven Lebenskrise, und wie ich das eingetrichterte höflich und brav sein im Alltag von meinem Sexleben trennen kann. Digitale Abhilfe in diesen Fragen bringt die Instagram-Blase von Stanić, Berger und Kompanie. Die Vice-Chefreporterin Alexandra Stanić veröffentlichte in der ersten Jännerwoche einen Artikel mit dem Titel „Heimlich das Kondom abgezogen: Betroffene erzählen von Stealthing“. Christian Berger, Sprecher vom Frauenvolksbegehren, schaffte basierend auf ebendiesem Sammelwerk an Erlebnissen eine vorübergehende Plattform für Betroffene und veröffentlichte weitere Geschichten seiner Follower_innen. Mit diesen Arbeiten schaffen Journalist_innen ein Stück weit Bewusstsein, doch ein Gesetz, das sexuelles Einverständnis beinhaltet, bleibt vorerst trotzdem aus. In Österreich, Deutschland und der Schweiz gibt es im Strafgesetzbuch keinen Paragrafen, der einen Tatbestand nach ursprünglich einvernehmlichem Sex behandelt. Allerdings gibt es bereits rechtskräftige Fälle, in denen die Täter_innen der Schändung bezichtigt wurden. Über Umwege und mit viel Beharrlichkeit und Mut besteht für Betroffene die Chance, einen Prozess zu gewinnen. Diese Umwege gehören schleunigst gekürzt. Die Devise in Schweden lautet bereits: „Nur Ja heißt Ja!“.

„Niemand kann eine Vulva beschreiben“ „Es herrscht Vulvenaufklärungsbedarf“, titelt der Falter das Interview mit Schauspielerin und Autorin Grischka Voss. Diese erläutert weiters: „Jedes Kind weiß, wie ein Penis aussieht, aber niemand kann eine Vulva genau beschreiben“, und damit hat sie erschreckenderweise mehr als Recht. Auch Parlamentsabgeordnete Stephanie Cox sah es als ihre Pflicht ihren Mitabgeordneten den Teil der Klitoris zu erläutern, welcher von außen nicht sichtbar ist, allerdings 95% des Organs ausmacht und sich in der Vagina befindet. Die Reaktion der männlichen Abgeordneten bestätigte Unwissen und Scham. Eine umfassende Aufklärung der Männer über die weibliche Anatomie würde Situationen wie zum Beispiel die gemeinsame Entscheidung über die Einnahme der Pille (danach) oder die Verwendung eines Präservativs vereinfachen. Dieses Unwissen rührt aus Situationen wie sie zum Beispiel die Studentin Theresa in der Schule erlebt hat: „Bei uns wurden die Burschen zum Fußball spielen rausgeschickt und die Mädchen im kleinen Kreis aufgeklärt, das hatte dann eher den Charakter einer Bestrafung“. Denn genauso wenig wie alle cis Männer wissen, wo und wie sie die Klitoris stimulieren können, wissen alle, was der Eisprung ist, geschweige denn bewirkt. Für unser aller Wohl sollten wir beide Fragen dringend klären.

Die Aufklärung ganzer Schulklassen von der Expertise einer einzigen Lehrkraft und Lerneinheit abhängig zu machen ist zu alledem äußerst risikoreich, also warum nicht ein weiteres Thema aus der Tabu-Kiste locken und öfter über unsere Sexualität sprechen?

The (un)happy Prince

  • 01.03.2020, 11:54
Oscar Wildes Leben war geprägt von Glamour und Kunst. Gehasst und verehrt zu seiner Zeit war er ein Vorreiter für den offenen Umgang mit Homosexualität. Ein Portrait.

Als ich vergangenes Jahr auf der Suche nach einer neuen Lektüre den nächstgelegenen Büchertauschschrank unsicher machte, war unter meinen Errungenschaften ein Roman, der mir schon von mehreren Freund_innen als Lieblingsbuch empfohlen wurde: The Picture of Dorian Gray von Oscar Wilde. Und tatsächlich zog mich das Buch direkt in seinen Bann. Die Leichtigkeit der Sprache, der einzigartige, zuweilen zynische Humor und nicht zuletzt diese mystische Erzählung eines Jünglings, der sich in seiner jugendhaften Schönheit verliert, verleihen dem Prosawerk einen in der Literatur des 19ten Jahrhunderts einzigartigen Charme.

Ein exzentrischer Dandy. Man merkt diesem Buch – abgesehen vom Setting – kaum an, dass es vor knapp 120 Jahren in der viktorianischen Ära erschien; also zur wohl prüdesten Epoche der Weltgeschichte. The Picture of Dorian Gray ist das Portrait eines Dandys, der kein Geheimnis aus seiner Lust an sexuellen Ausschweifungen macht und durchaus autobiographische Parallelen zum Autor aufweist. Es ist wenig verwunderlich, dass es einen Skandal in der Londoner Oberschicht auslöste, in deren Kreisen Oscar Wilde verkehrte. Homosexualität selbst wird zwar nur angedeutet, aber die Zeitgenoss_innen sahen in dem Werk den Beweis für Oscar Wildes sexuelle Neigungen, die mit den viktorianischen Moralvorstellungen unvereinbar waren. Oscar Wilde war aber nicht nur wegen seines Prosawerkes Opfer zahlreicher Hetzkampagnen, sondern sein ganzes Auftreten gab den Kritiker_innen Anlass, sich an der auffallenden Persönlichkeit abzuarbeiten. Lange Kniehosen, Seidenstrümpfe, seine Vorliebe für Schönes, nicht zuletzt seine Wortgewandtheit und sein entwaffnender Humor prägten das Bild des Homosexuellen in der britischen Gesellschaft nachhaltig. Männer mit ähnlichen Begehren wurden noch lange Zeit nach Wildes Verurteilung als „Oscar“ verpönt.

Ob Oscar Wilde tatsächlich homosexuell war, ist bis heute umstritten. So gingen aus seiner Ehe mit Constance Lloyd zwei Söhne hervor; zudem sind zahlreiche Sympathien zu Frauen bekannt, die eine bisexuelle Orientierung des Poeten vermuten lassen. Seine Verhältnisse zu Männern beruhten zudem auf einer ephebophilen Neigung, da seine Liebhaber meist wesentlich jünger waren. Insbesondere die Verhältnisse zu den deutlich jüngeren Männern Robert Ross und Lord Arthur Douglas sind gut dokumentiert.

Der tiefe Fall des Genies. Letztere Beziehung führte zum Eklat, als der Vater von Lord Arthur Douglas Oscar Wilde öffentlich der Sodomie beschuldigte. Dieser Auseinandersetzung folgten drei Gerichtsverhandlungen, die zur Diskreditierung des einst so gefeierten Literaten führten. Auch der Roman The Picture of Dorian Gray wurde als Beweisobjekt für Wildes homosexuelle Unzucht (gross indecency) herangezogen. Schlussendlich waren es die Aussagen zahlreicher männlicher Sexarbeiter, die ihn belasteten und ihm zwei Jahre Haft in Kombination mit schwerer Arbeit im Zuchthaus einbrachten. Der einst so schimmernde, lebensfrohe und bei Zeiten arrogante Poet zerbrach an den Haftbedingungen. Nach seiner Freilassung kehrte er England den Rücken und verbrachte drei weitere von Trauer gekennzeichnete Jahre, ehe er im Alter von 46 Jahren starb. Die Rehabilitation der Person Oscar Wilde dauerte lange. Ihm wurde erst 2017 im Zuge des Alan Turing Law in Großbritannien mit knapp 49.000 weiteren homosexuellen Männern durch ein „Pardon“ vergeben. 117 Jahre nach seinem Tod!

Rechte Homosexueller weltweit. In Österreich wurde erst im Jahr 1971 wurde die strafrechtliche Verfolgung von Homosexuellen eingestellt. Seit 2010 ist die eingetragene Lebenspartnerschaft bei gleichgeschlechtlichen Paaren in Österreich anerkannt und seit 2019 ist auch die Zivileheschließung hier möglich. Dennoch sind gleichgeschlechtliche Ehen immer noch nicht gänzlich gleichberechtigt. Auch in Bezug auf die gesellschaftliche Akzeptanz gegenüber Homosexuellen, Bisexuellen und Queers ist die Gesellschaft noch nicht vollends aufgeschlossen. Dies zeigt sich vor allem im Vergleich von Stadt und Land sowie jung und alt. Weltweit sieht die Lage Homosexueller weiterhin Besorgnis erregend aus. Der von der International Lesbian, Gay, Bisexual, Trans and Intersex Association (ILGA) herausgegebene Report on State-Sponsored Homophobia (2019) gibt an, dass 68 Staaten Homosexualität kriminalisieren (35 Prozent aller UN-Staaten), wobei in fünf Ländern (Mauretanien, Vereinigte Arabische Emirate, Katar, Pakistan und Afghanistan) sogar noch die Todesstrafe verhängt wird. Aber der Report macht auch Hoffnung, da weltweit eine Entkriminalisierung von Homosexualität zu beobachten ist. Vor allem in OstAsien bessert sich die Situation. Letztes Jahr führte etwa Taiwan als erstes asiatisches Land die Ehe für alle ein.

Man möchte sich überhaupt nicht vorstellen, wie viele Genies wie Oscar Wilde daran zerbrochen sind, nicht ausleben zu können, wer sie eigentlich sind. Kaum auszumalen bleibt, wie viel Kunst und Fröhlichkeit der Menschheit verloren geht, weil es Menschen verboten ist, die Menschen zu lieben, die sie wollen.

Folklore als Weg zu sich selbst

  • 01.03.2020, 12:43
Hanna und Alicja haben im Volkstanz, in bunten Trachten und langen Zöpfen sich selbst neu gefunden. Heute geben sie ihre Leidenschaft weiter. Ein Gespräch über Folklore, Identität und Integration.

progress: Könnt ihr euch an eure erste Begegnung mit Volksmusik bzw. Volkstanz erinnern?

Hanna Góral: Ganz genau kann ich mich daran jetzt nicht mehr erinnern. Ich war bestimmt ein kleines Kind im Vorschulalter. Ich kann mich aber an meinen ersten Tanzunterricht in der Grundschule erinnern, zu dem mich damals meine Eltern geführt haben. Dort haben wir gelernt, unseren ersten Volkstanz zu tanzen.

Alicja Zell: Ich kann mich an solch eine Begegnung nicht erinnern, bestimmt nicht bewusst. Ich glaube, dass alles in der Musikschule begonnen hat. Ich habe den Klavierunterricht in unserer städtischen Musikschule besucht, wo ich in Kontakt mit Volksmelodien gekommen sein muss. Wir hatten auch Tanzunterricht in der Schule, bei dem wir Volkstänze gelernt haben.

progress: Kann es sein, dass ihr noch früher in den Kontakt mit der Folklore treten konntet? Hat ein Familienmitglied etwa Volkslieder gesungen oder wurden Volkstänze während eines Anlasses getanzt?

H.G.: Nein, gar nicht. Meine Eltern waren schon musikalisch. Meine Mutter hat Klavier gespielt, mein Vater hat Gitarre gespielt. Beide waren allerdings autodidakt in dieser Disziplin. Sogar die Großmutter hat kaum Volkslieder gesungen oder Volkstänze getanzt.

A.Z.: Das Zuhause war bestimmt der Ort, wo ich das erste Mal in Kontakt mit Musik getreten bin. Ich weiß, dass meine Mutter Cello gespielt hat, obwohl ich mich daran nicht erinnern kann. Sie hat mir auch viel vorgesungen. Ich glaube, dass das einfache Volksmelodien waren. Meine Großeltern waren auch musikalisch. Mein Großvater hat Akkordeon gespielt, meine Großmutter hat viel gesungen. Ich denke mir gerade, was sonst hätten sie singen können, wenn nicht gerade Volkslieder?

progress: Wie sieht die Arbeit in einem institutionalisierten Ensemble für Volksmusik und Volkstanz aus?

H.G.: Die Gruppe von Menschen, die aus den unterschiedlichsten Milieus kommen und die diese Leidenschaft für Folklore verbindet, probt und tritt in solch einem Ensemblemeistens unbezahlt auf. Gewöhnlich gibt es in solchen Ensembles zwei Gruppen: eine Chorgruppe und eine Ballettgruppe. Im Ensemble „Wrocław“ (Breslau), wo ich meine ersten professionellen Erfahrungen gemacht habe, habe ich lediglich die Ballettgruppe besucht.

A.Z.: Die Arbeit in solch einer Tanzgruppe hat in der Gesangs- und Bewegungsbildung bestanden, d. h. wir haben uns zwei Mal wöchentlich getroffen, wobei eine Hälfte des Unterrichts dem Gesangsunterricht am Klavier, die zweite Hälfte des Unterrichts dem Tanz gewidmet war. Ich kann mich an viel Musik und wirklich viel Bewegung erinnern. Die erste Begegnung eines Kindes mit einem Volkstanz geschieht während des Tanzspiels im Kreis. Das ist die wohl einfachste Figur, aber spielt eine sehr wichtige Rolle bei der Kindererziehung, denn sie lehrt Integration, Zusammensein und Zusammenarbeit. Ich denke ebenfalls, dass ein sehr wichtiger Aspekt der Arbeit in solch einer Tanzgruppe das Miteinbeziehen der Kinder in regionale Traditionen ist. Es wurden mehrere Volksfeiern organisiert, die die Menschen in polnischen Großstädten heute kaum mehr veranstalten werden, wie beispielsweise Ostatki (poln. „die letzten Tage des Karnevals“) oder Andrzejki (poln. „Andreasnacht“). Die Kinder haben die Möglichkeit, während solcher Feiern eine lebendige Folklore zu erfahren, d. h. sie singen ein Volkslied nicht, um zu zeigen, welche Gesangstechniken sie gemeistert haben, sondern um eine Geschichte zu erzählen, die in dem Lied versteckt liegt, die vor Jahrhunderten entstanden ist und die diese Kinder schlussendlich verstanden haben. Sie werden also zum Teil einer gewissen Kultur.

progress: Was bedeutet für euch Folklore? Wo ist ihr Platz heutzutage unter anderen Kunstarten?

H.G.: Folklore hat mich mein Leben lang begleitet und beeinflusst es noch immer. In Musikschulen, an Musikuniversitäten habe ich Motive aus der Volksmusik bzw. dem Volkstanz in meinen Auftritten am Institut für Musik- und Bewegungspädagogik immer wieder aufgegriffen. Ich habe den Eindruck, dass wir in einer Zeit leben, in der dieses menschliche Bedürfnis nach Annäherung an das Originale, an die Wurzeln immer stärker wird. Seit einiger Zeit beobachtet man ebenfalls die Präsenz volkstümlicher Motive in der Popkultur. Für mich ist Volkstanz die tollste Art des Tanzens, weil man solo, als Paar oder in einer Gruppe tanzen kann.

A.Z.: Folklore ist für mich eine Möglichkeit, sich selbst auszudrücken. Ich habe in der Folklore, in diesen Melodien, Schritten, Trachten, Zöpfen, im Zusammensein mit Anderen mich selbst wiedergefunden. Ich habe den starken Eindruck, wenn ich einen Volkstanz aufführe oder die Tracht anziehe, dass ich mein wahres Gesicht zeige. Vielleicht begebe ich in eine Rolle hinein, aber ich bin mit ihr im Einklang. Deine Frage erinnert mich daran, als ich einmal beim Casting zu „America‘s Got Talent“ in New York war und mir vorgenommen habe, etwas aus der polnischen Folklore darzustellen. Tanzen konnte ich allein nicht. Deswegen habe ich ein Volkslied ausgewählt, das mich ausdrückt. Das Lied handelt von einem jungen Mädchen, das heiraten musste und ihre Freiheit verloren hat. Ich kenne diese Situation zwar nicht, weil ich so was niemals erlebt habe, aber ich spüre, dass mein Alter Ego sie doch kennt. Ich fühle den Schmerz dieser Frau, kann mich mit ihr identifizieren. Persönlich war ich immer von jeglichen Freiheitsbewegungen berührt. Ich habe das starke Gefühl, dass Frauen immer viel zu sagen gehabt haben, aber aus politisch-soziologischen Gründen keine Möglichkeit dazu hatten. Durch die Folklore fühle ich mich, als ob ich diesen Frauen ihre Stimme zurückgeben würde. Dort in Amerika auf dieser Bühne habe ich genau das gesungen, was ich dem Publikum erzählen wollte, über dieses Mädchen, das einmal etwas erlebt hat. Ich habe die Anwesenheit ganzer Generationen, die diese Geschichte weitergegeben haben, gespürt. Die Folklore ist für mich eine Chance, sich anderen Kulturen zu öffnen. Wenn ich keine Ahnung über meine eigene Kultur hätte, was könnte ich in andere Kulturen einbringen bzw. was könnte ich von anderen Kulturen lernen? Wenn ich mich nicht mit Folklore beschäftigen würde, würde ich heute auch nicht so viel reisen, hätte ich nicht die gleiche Wissbegierde. Ich würde nicht wissen, was ich suche. Dank der Folklore weiß ich, wonach ich suche, und das ist jedes Mal eine Kultur.

progress: Nach der Absolvierung des Trainer_innenlehrganges für Volkstänze in Krakau habt ihr euch entschieden, die Volkstanzgruppe „Mazurki“ für kleine Kinder in Wien zu begründen. Was wollt ihr euren kleinen Schützlingen von Folklore vermitteln, denn ich verstehe, dass es nicht um Hebefiguren und ballettartige Zehentechnik geht?

H.G.: Ich bin stark davon überzeugt, dass Volkstanz eine sehr facettenreiche Grundlage für andere Tanztechniken bietet. Ich kenne persönlich viele Menschen, die sich nach dem Volkstanz anderen Tanzarten gewidmet haben, beispielsweise dem Gesellschaftstanz, modernem Tanz oder sogar dem Ballett. Technisch spielt für Kinder die Wiederholbarkeit der Schritte und die Schlichtheit der Melodien eine große Rolle. Was uns aber viel wichtiger ist als die richtige Technik ist die Vermittlung der polnischen Kultur an die jüngste Generation. Unsere Schüler_innen sind Kinder, die sich in einer ganz anderen Lage als ihre Gleichaltrigen, die in Polen leben, befinden. Hier in Wien haben sie kaum Chancen, in Kontakt mit polnischer Folklore zu treten. Entweder können es die Eltern ihnen nicht vermitteln oder es gibt vor Ort keine Institution, die sich damit befassen würde. Wir wollen, dass „Mazurki“ ein Platz für jedes sowohl polnische als auch nichtpolnische Kind ist, das an der polnischen Kultur Interesse hat. Schlussendlich ist „Mazurki“ ein Ort für das gemeinsame Spiel sowie Freude an Musik und Bewegung.

A.Z.: Das Wertvollste, was die Folklore zu vermitteln hat, sind meiner Meinung nach Werte. Werte, die sehr unterschiedliche Lebensaspekte strukturieren, von der Familie über die Kultivierung der Tradition bis zur Aufgeschlossenheit gegenüber anderen Kulturen. Kinder können sich natürlich einer anderen Freizeitgestaltung widmen. Ich habe jedoch den Eindruck, dass man innerhalb einer Volkstanzgruppe intuitiv einen gemeinsamen Nenner finden kann, sprich eine gemeinsame Kultur, die auf Herkunft zurückgeht. Unsere Volkstanzgruppe hat in meiner Vorstellung auch eine starke Erziehungsfunktion abseits der Folklore: wir treffen uns regelmäßig, pünktlich um eine bestimmte Uhrzeit. Wir üben in einer Gemeinschaft, jede_r hat eine Rolle in der Gruppe. Wenn diese Rolle fehlt, kann die Choreographie nicht ganz klappen. Was interessant ist, ist die Tatsache, dass keiner von unseren Schützlingen in Polen geboren ist. Alle Kinder sind in Österreich geboren und sie sehnen sich nicht nach Polen, weil sie dieses Land als Heimat gar nicht kennen. Wir möchten ihnen die polnische Kultur ein bisschen näherbringen, aber sie auf keinen Fall damit bombardieren. Wir bemühen uns, ihnen zu zeigen, dass die polnische Kultur attraktiv und wertvoll ist, da sie Freude und Vergnügen bereiten kann. Sie kann auch eine gemeinsame Sprache für diese Kinder sein. Es zeigt sich, dass polnische Volkstanzspiele, polnische Sprache und Kultur eine gemeinsame Bezugsebene haben können.

progress: Wo seht ihr Folklore in Zukunft?

H.G.: Wir leben in der Zeit der Globalisierung. Dieses Phänomen hat uns viele neue Möglichkeiten eröffnet. Wir können heute Musik und Kultur aus anderen Ländern und sogar von anderen Kontinenten erfahren. Auf die eigene Kultur vergisst man oft. Ich glaube stark daran, dass die Teilnahme an solchen Volkstanzgruppen Menschen die eigene Kultur vertrauter machen kann. Ich hoffe, dass es noch mehr folkloristische Veranstaltungen und Initiativen geben wird.

A.Z.: Ich erfahre persönlich ein großes Interesse an der Folklore, nicht nur in Polen oder in Österreich, sondern allgemein auf der ganzen Welt. Es werden zahlreiche Volksfestivals organisiert, wo sich verschiedene Volkstanz- oder Gesangsgruppen aus der ganzen Welt treffen. Man bemerkt auch ein gesteigertes Interesse an der Volkskultur im Kino. Ich meine hier z.B. den oscarnominierten Film „Cold War“ von Paweł Pawlikowski, in dem die polnische Volksmusik den Hintergrund für eine Liebesgeschichte bildet. Wir sehen Volksmotive in der Mode, wenn bunte Blumenmuster aus traditionellen Trachten auf tagtägliche Kleidungsstücke überspringen. Wenn es um die Aufführung der Folklore selbst geht, gibt es heute leider einen starken Trend zur Stilisierung und ich befürchte, dass dieser Trend in Zukunft weiter zunehmen wird.

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