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In die Erdbeeren gehen

  • 16.06.2020, 20:36
Ohne migrantische Arbeitskräfte wäre die österreichische Landwirtschaft aufgeschmissen. Das wurde während der Pandemie schmerzlich klar, als plötzlich Tausende fehlten. So unverzichtbar sie sind, so misslich ist jedoch ihre Lage.

Etwa 15 bis 20 000 migrantische Erntehelfer_innen arbeiten in Österreich, um die Lebensmittelversorgung zu ermöglichen. Bei Erntehilfe handelt es sich um schwere körperliche Arbeit mit langen Arbeitstagen und -wochen. Die Saisonarbeiter_innen sind unterbezahlt, gesellschaftlich isoliert und genießen kaum rechtlichen Schutz. Vor einigen Jahren wurde deshalb von der Gewerkschaft Pro-Ge, NGOs und linken Aktivist_innen die sogenannte „Sezonieri-Plattform“ für die Rechte von Erntehelfer_innen gegründet. Olja Alvir sprach für progress mit Bernhard Höfler, Gewerkschaftssekretär bei ÖGB-ProGe, über die problematische Geschichte der Erntehilfe und ihren Weg in eine gerechtere Zukunft.

progress: Von der migrantischen Erntehilfe hören wir jetzt wegen der Corona-Reisebeschränkungen viel. Doch schon in den 1990ern arbeiteten viele etwa aus Jugoslawien Geflüchtete als Erntehelfer_innen. Ich kann mich noch erinnern, dass man vom „in die Erdbeeren gehen“ sprach. Es hieß: „Wenn du nichts Besseres findest, kannst du immer noch in die Erdbeeren gehen.“

Bernhard Höfler: Richtig. In den 90ern, mit dem Zerfall Jugoslawiens, kamen viele Menschen nach Österreich, die anfangs als Erntehelfer_innen arbeiteten. Für das Logo unserer Plattform haben wir bewusst die Erdbeere gewählt, als kleinen Hinweis auf diese Assoziationen in der Community. Man sagt das teilweise immer noch so oder ähnlich. Obwohl die Erntehilfe auch Spargel, Marille, und noch so viel mehr umfasst.

Es gibt da historische Kontinuitäten. Seit wann verlässt sich die österreichische Landwirtschaft so stark auf migrantische Arbeitskräfte? Und warum?

Das ist ein Ergebnis der letzten 40 Jahre. Diese Entwicklungen hängen mit dem Wohlstand zusammen: Je höher dieser in Österreich wurde, desto weniger Menschen waren bereit, für wenig Geld am Feld zu arbeiten. Aus welchen Ländern die Erntehelfer_innen kamen, hat sich dann entsprechend im Laufe der Zeit gewandelt. Am Anfang kamen viele aus Polen und der Türkei, dann Jugoslawien und Ungarn. Später Rumänien und Bulgarien. Mit der Zeit stieg auch in diesen Regionen der Wohlstand, weshalb auf andere, ärmere Regionen ausgewichen wurde – ein Dominoeffekt sozusagen. Heute werden die Sezonieri aus dem immer weiter entfernten Osten rekrutiert. Mittlerweile arbeiten Menschen aus der Ukraine und Weißrussland in Österreich am Feld.

Das System ist also angewiesen auf die Armut in den jeweiligen Herkunftsländern der Sezonieri.

Genau, und es ist ein unglaublich fragiles landwirtschaftliches Modell. Wie eine Glasvase. Wenn ein Teil splittert, dann droht das ganze Konstrukt zu zerbrechen. Während der Corona-Krise konnte man das sehr gut beobachten.

„Erntehilfe“ klingt sehr freundlich und positiv, fast einladend. Was ist das eigentlich für eine Arbeit?

Das Wort suggeriert so etwas wie freundliche Unterstützung. Die Realität ist anders. Ich habe das bereits einmal als modernen Menschenhandel bezeichnet. Die Erntehelfer_innen kommen über Personalvermittlungsfirmen zu ihrem Job. Das sind Firmen, die in den Herkunftsländern ihre Büros haben und in wirtschaftlich devastierte Regionen gehen, um dort Menschen für die Erntehilfe zu rekrutieren. Sie liefern die Erntehelfer_innen direkt an die Landwirte, welche die Arbeiter_innen online bei der Recruitingfirma angefragt haben.

Es läuft dann so: Der Erntehelfer aus beispielsweise Cluj, Rumänien, steigt dort in einen Bus ein und muss seinen Pass abgeben. Den bekommt er erst wieder, wenn die Saison beendet ist. Dann arbeitet er monatelang zehn bis zwölf Stunden am Tag in gebückter Haltung für 6,50 bis 7€ netto, sechs bis sieben Tage Woche. Das sind 50 bis 60 Wochenstunden. Manchmal werden sogar die Anfahrtskosten vom ersten Lohn abgezogen. Und es herrscht ein irrsinniger Druck, denn es muss auch eine gewisse Stückzahl verarbeitet werden, die der Handel verlangt. Die Erntehelfer_innen leben währenddessen teilweise vor Ort in Gruppenunterkünften unter mehr als fragwürdigen Bedingungen.

Im Frühling gab es in Österreich aufgrund der Corona-Pandemie so viele Arbeitslose wie zuletzt nach dem zweiten Weltkrieg. Gleichzeitig werden für die Erntehilfe tausende Menschen aus dem Ausland eingeflogen beziehungsweise eingeschleust; mitunter auch bei für die Reisenden gesundheitsgefährdenden Bedingungen …

In Österreich dürfen Menschen, die Arbeitslosengeld beziehen, AMS-Angebote außerhalb ihrer Berufssparte ablehnen, ohne dass ihnen das Arbeitslosengeld gestrichen wird. Wenn man das geändert hätte und Menschen de facto gezwungen hätte, gewisse Jobs anzunehmen – das hätte eine fatale negative Sogwirkung auf das Sozialsystem und andere solidarische gesellschaftliche Strukturen gehabt. Arbeitslose hätten am Feld weniger bekommen als durch den AMS-Bezug und unterm Schnitt verloren. Das hätte individuelle Armutsspiralen ausgelöst und den Weg für einen weiteren Abbau des Sozialsystems geebnet.

Deshalb bin ich dagegen, den Berufsschutz abzuschaffen und Arbeitslose oder Geflüchtete de facto zur Arbeit am Feld oder anderen schlecht bezahlten Arbeiten zu zwingen. Man macht damit die Büchse der Pandora auf. Da muss man politisch extrem vorsichtig sein. Das würde nur verschiedene verletzliche Bevölkerungsgruppen gegeneinander ausspielen.

Trotzdem erscheint es befremdlich und auch gefährlich – zuallererst für die Erntehelfer_innen selbst – dass sie mitten in einer Pandemie zusammengepfercht quer durch Europa reisen, damit wir Spargel knabbern können.

Es gab ja auch Versuche, österreichische Arbeitskräfte über eine Online-Kampagne zu rekrutieren. Ich habe das abschätzig als landwirtschaftliche „Datingplattform“ bezeichnet, weil mir von Anfang an klar war, dass das ohne attraktive Rahmenbedingungen nicht funktionieren wird. Es ist ein Wohlstandsproblem: Die Realität der harten Arbeit wird verkannt. Nur ein Bruchteil jener, die sich freiwillig gemeldet haben, haben auch wirklich produktiv als Erntehelfer_innen gearbeitet. Man hätte allerdings als Motivation Steuerfreigrenzen einschieben, attraktivere Löhne oder Arbeitsbedingungen anbieten können – es gäbe genug Möglichkeiten. Doch das wurde nicht getan. Das ist dann der Kontext, in dem dann die ausländischen Erntehelfer_innen geholt wurden. So hat man von beiden Problemen die schlechtmöglichsten Aspekte kombiniert. Die Österreicher_innen sind weiterhin arbeitslos und die Migrant_innen arbeiten hart und unterbezahlt unter gesundheitsgefährdenden Umständen. Eine richtige österreichische Lösung eben.

Kommen wir zurück zu den migrantischen Arbeitskräften. Es kommt immer wieder zu Fällen, wo Erntehelfer_innen nicht ordnungsgemäß für ihre Arbeit entlohnt werden. Wie kann das sein? „Arbeiter_innenrechte, aber nur für unsere Leut‘“, oder wie?

In dem Machtdreieck zwischen Bäuer_innen, Handel und Erntehelfer_innen sitzen die letzteren immer am kürzesten Ast und zahlen drauf. Die Sezonieri-Plattform wurde genau deshalb ins Leben gerufen. Die Erntehelfer_innen sind in einem ausbeuterischen System gefangen. Sie werden über ihre Rechte kaum informiert, zusätzlich haben nicht wenige auch noch Berührungsängste mit der ihnen gegenüber unfreundlich eingestellten Bürokratie, auch Sprachbarrieren kommen dazu.

Was tut Sezonieri konkret, um Abhilfe zu schaffen?

In den ersten paar Jahren bestand unsere Arbeit daraus, den Betroffenen die Angst zu nehmen. Viele Erntehelfer_innen trauten sich nicht, Missstände anzuklagen, weil sie fürchteten, ihren Job zu verlieren. Am Anfang bearbeiteten wir daher alle Beschwerden und Anliegen anonymisiert. Wir haben im Namen der Betroffenen Beschwerden eingereicht und medial Druck ausgeübt. Die Sezonieri-Plattform hat so bereits viele Skandale aufgedeckt und Menschen zu ihrem Recht und zu zurückgehaltenen Löhnen verholfen. Mittlerweile engagieren sich auch viele selbst bei uns. Doch wir beraten und helfen nicht nur individuell Betroffenen, sondern wir nützen die Plattform auch, um auf generelle Probleme in der Landwirtschaft hinzuweisen.

Zum Beispiel?

Österreich könnte, was Lebensmittel angeht, Selbstversorgerin sein. Was davon abhält, ist einzig die in wenigen Handelskonzernen konzentrierte Macht.

Wir sprechen jetzt von Konzernen wie Spar oder der Rewe Group, welcher Geschäfte wie Billa, Merkur und Penny gehören. Sie kontrollieren den Großteil des Einzelhandels in Österreich.

Genau. Diese Konzerne diktieren den Bäuer_innen die Preise. Die Bäuer_innen müssen die Preise der großen Konzerne annehmen, auch wenn sie für sie zu niedrig sind. Denn sonst sagen die Handelsketten einfach: Pech, dann nehmen wir eben noch billigeres Gemüse aus dem Ausland.

Was ja auch von ökologischer Seite her katastrophal ist, weil es mehr Transportemissionen bedeutet.

Es ist eine Wahnsinnsspirale! Jahrzehntelang rief man: „Der freie Mark regelt alles!“ Die Stimmen, die diese Maxime kritisierten, hatten angeblich keine Ahnung von Wirtschaft. Aber heute sieht man insbesondere in diesem Bereich: Der freie Markt hat komplett versagt. Der Handel diktiert Preise, welche aber nicht wirtschaftlich sind. Die Bäuer_innen machen somit schlechtes Geschäft, und die Verluste werden an die Schwächsten weitergegeben: die Erntehelfer_innen.

Wie ließe sich aus dieser Wahnsinnsspirale ausbrechen?

Meiner Meinung nach müssten Grundnahrungsmittel aus dem Preisspekulationsbereich herausgenommen werden. Es sollten Mindestpreise eingeführt werden, die Bäuer_innen das Überleben sichern und die Gewinnmargen des Handels eingrenzen. So etwas Ähnliches gab es bereits vor nicht allzu langer Zeit mit dem Milchpreis. Wenn man es will, dann kann man es.

Wie sieht die Zukunft für die Sezonieri-Plattform aus, welche nun im Rahmen der Corona-Krise mehr Aufmerksamkeit bekommen hat?

Egal von welcher Seite man sich dem Problem nähert – aus der Sicht der Arbeiter_innenrechte, der ökologischen Nachhaltigkeit oder aus der Sorge für die heimischen Bäuer_innen: Die Lösung ist, die Übermacht der Großkonzerne zu zerschlagen und mehr Rechtssicherheit zu schaffen. Dafür setzen wir uns ein. Aktuell sind ja Landwirtschaft und Tourismus in einem Ministerium vereint. Was da für Möglichkeiten bestehen, für Synergien entstehen könnten! Das muss man sich mal auf der Zunge zergehen lassen. Wenn die jetzige Ministerin den Handel, die Landwirtschaft und den Tourismus – den nächsten großen Player in diesem Bereich – an einen Tisch bekommt und eine gemeinsame Lösung sucht, wäre schon so viel getan. Zum Beispiel: Wenn nur 20% des österreichischen Gemüses an den Tourismus gingen, gäbe es in diesem Bereich eine de facto Vollauslastung. Diese Umsatzsicherheit würde sich, gemeinsam mit rechtlichem und medialem Druck, dann auch in besseren Arbeitsbedingungen für die Erntehelfer_innen widerspiegeln. Und das ist nur eine Idee. Es ist alles möglich, wenn der politische Wille dazu besteht.

Doctoral Schools - miteinander oder gegeneinander?

  • 22.06.2020, 11:11
Die Entwicklung von Doctoral Schools betrifft sowohl Studierende, Professor_innen als auch Rektorat. Was passiert, wenn alle Akteur_innen zusammenarbeiten?

Doctoral Schools (DS) stellen einen neuen Trend an den Europäischen Universitäten dar. Sie sind als eine besondere Einrichtung des Doktoratsstudiums zu verstehen, in der die besten Studierenden ausgesucht werden und von der Universität in größerem Maße gefördert werden. Studierende der DS bekommen im Vergleich zu den normalen Doktoratsstudierenden meistens größere finanzielle Mittel zur Verfügung gestellt, haben oft bessere Möglichkeiten der Betreuung und genießen auch größere Prestige und Wertschätzung innerhalb der wissenschaftlichen Community. Andererseits sind die DS aber mit hohen qualitativen Anforderungen und klarer Strukturierung verbunden, die das Studium schulähnlicher machen und die Studierenden unter höheren Leistungsdruck setzen. Die DS bieten also den leistungsorientierten Studierenden eine sehr gute Möglichkeit für einen Aufstieg in ihrer wissenschaftlichen Karriere. Politisch betrachtet bedeutet die DS aber einen eindeutigen Schritt zur Elitisierung des Doktoratsstudiums. Die Ressourcen werden in einer ungleichen Masse zugunsten einer kleinen Gruppe von Studierenden verteilt, die oft als bessere Wissenschaftler_innen eingestuft werden. Ob diese Annahme stimmt, ist jedoch die Frage. Diesem gegenwärtigen Trend folgend setzte sich die Universität Wien zum Ziel, die DS universitätsweit aufzubauen und forderte im Juni 2019 die jeweiligen Fakultäten auf, Konzepte für die jeweiligen Schulen zu entwickeln. Die DS sollen als eine zusätzliche Erweiterung der gegenwärtigen Doktoratsprogramme verstanden werden und sollen als „Leuchttürme der Universität dienen, die die Attraktivität der Universität in einem internationalen Kontext erhöhen sollen“, so Vizerektor der Universität Wien Jean-Robert Tyran.

Aufbau der Doctoral Schools auf der Fakultät für Sozialwissenschaften

Die Fakultät für Sozialwissenschaften hat sich entscheiden der Aufforderung des Rektorats zu folgen und hat im Wintersemester 2019/20 eine Task Force zur Entwicklung der DS gegründet, zu der auch ich, Martin Pokorny, als Mitglied der Studienvertretung Doktorat Sozialwissenschaften eingeladen wurde. Damit eine möglichst große Inklusion von Studierendenperspektiven erreicht werden konnte, haben wir in unserer Rolle als Studienvertretung zwischen den jeweiligen Task Force Sitzungen auch eine Reihe an Gruppendiskussionen veranstaltet, bei denen Ideen und Feedback von allen interessierten Studierenden gesammelt wurden. Die Fakultätsleitung war sich bewusst, dass für ein gutes Ergebnis die Perspektiven von allen beteiligten Akteur_innen einbezogen werden müssen, demnach war der Umgang miteinander durch eine diskursive und konsensuelle Arbeitsweise gekennzeichnet. Die Task Force – Studierende, Fakultätsleitung, aber auch Rektorat – stand vor einem Problem, das wir nur gemeinsam bewältigen konnten und welches uns durch eine Zusammenarbeit großteils auch gelungen ist.

Als größter Erfolg ist die Milderung der Elitisierung zu verstehen. In der von der Task Force entwickelten Vienna Doctoral School of Social Sciences (VIDSS) wird ein Großteil der Ressourcen nicht nur für relativ kostspielige Fellowship Programmes eingesetzt, da nur eine sehr kleine Anzahl an Personen von einer Vollzeitbeschäftigung auf der Universität profitieren kann, sondern die Ressourcen werden allen Studierenden der VIDSS zur Verfügung gestellt. Entweder in Form von unterschiedlichen Gruppenaktivitäten, deren Restplätze auch Doktoratsstudierenden außerhalb der DS zugänglich gemacht werden, oder in Form von individueller Forschungsförderung. In weiterem werden in die VIDSS prinzipiell alle Studierende zugelassen, die den qualitativen Kriterien der School entsprechen und die Interesse haben, an der DS zu partizipieren. Die VIDSS versucht also möglichst inklusiv zu sein, gibt allen leistungsorientierten Studierenden die Möglichkeit, sich an der DS zu beteiligen, schließt dabei aber die ältere, klassische Variante des Doktoratsstudiums nicht aus. Zuletzt stellt auch die Inklusion von Studierenden in das Entscheidungsgremium der VIDSS (Steering Committee), in einer beratenden Funktion, einen Erfolg dar.

Studierende – neue partners in crime?

Die Inklusion von Studierenden in die Entwicklung der DS stellt auf der Fakultät für Sozialwissenschaften leider eine Ausnahme dar. „Bei der Historisch-Kulturwissenschaftlichen Fakultät, genauso wie bei Physik und Mathematik, wurde bezüglich DS ein Feedback von Studierenden eingeholt und berücksichtigt. Bei dem Großteil von naturwissenschaftlichen Doktorratsstudien wurden die Studierenden aber komplett ausgeschlossen bzw. faktisch vor vollendete Tatsachen gestellt,“ so Thomas Moser, Sprecher der studentischen Kurie am Zentrum für Mikrobiologie und Umweltsystemwissenschaften. Persönlich finde ich es schade, dass viele Fakultäten die Studierendenperspektive als unwichtig betrachten und das Potenzial der studentischen Beteiligung nicht ausnutzen wollen. Wie das Beispiel an der Fakultät für Sozialwissenschaften zeigt, ist es zwar nicht möglich, alle negativen Effekte einer neuen Maßnahme zu verhindern – die DS stellen weiterhin eine Verschulung und Elitisierung des Doktoratsstudiums dar – man kann aber sehr wohl durch eine konstruktive und konsensuelle Mitarbeit aller Akteur_innen die negativen Effekte minimieren und die positiven hervorheben, sodass im Endeffekt alle Beteiligten mit den Ergebnis zurechtkommen. Ein gemeinsamer Dialog, gegenseitiges Vertrauen und ein respektvoller Umgang miteinander sind dafür essentiell. Hoffentlich werden die Leitungen auch auf anderen Fakultäten die Studierenden immer mehr als einen wichtigen und nützlichen Partner betrachten.

Martin Pokorny studiert Soziologie im PhD und ist Studienvertreter im Doktorat Sozialwissenschaften an der Uni Wien.

Menschenunwürdig ist es, wie internierte Migrant_innen die Pandemie durchleben müssen

  • 25.06.2020, 17:14

Auf der Straße ist die Ansteckungsgefahr zehn Prozent, zu Hause ist die Gefahr zu verhungern hundert Prozent“, sagt Helena Maleno Garzón, spanische Migrationsforscherin und Flüchtlingshelferin von Caminando Fronteras/Walking Borders mit Sitz in Tanger (Marokko).

Maleno Garzón berichtet im Gespräch über die Situation der Migrant_innen in Marokko, Algerien und den spanischen Auffang- und Abschiebelagern in den Nordafrika-Enklaven Ceuta und Melilla, „wo die Zustände, unter denen sie leben, schlichtweg ungesund und menschenunwürdig sind.“ Wie mehrere hundert NGOs und migrantische Kollektive fordert auch sie eine Legalisierung aller ohne regulären Aufenthaltsstatus in Spanien lebenden Menschen.

progress: Die Flüchtlingslager in den spanischen Enklaven Ceuta und Melilla sind restlos überbelegt, in Melilla leben über 1600 Menschen im für 800 ausgelegten Centro de Estancia Temporal de Inmigrantes, kurz CETI. Amnesty International und auch der spanische Volksanwalt übten bereits vor der COVID-19-Pandemie massive Kritik an den Zuständen ...

Maleno Garzón: Was sich in den CETI von Ceuta und Melilla zeigt ist, dass in einer Pandemie die vulnerabelsten sozialen Gruppen schier Unglaubliches ertragen müssen. Die Lager sind überbelegt, wenn es regnet, füllen sich Zimmer mit dem Abwasser voller Fäkalien. Es zeigt weiter, dass nicht alle Gruppen der Gesellschaft die Krise unter denselben Konditionen durchleben. Die Menschen, die in den CETI leben, werden ohnehin ihrer sozialen und universellen Rechte beraubt, mit der Ausgangssperre und dem Alarmzustand werden ihre Menschenrechte weiter verletzt. Dabei geht es nicht nur um die Bewegungsfreiheit, die wir alle in gewissem Maße einbüßen. Die Migrant_innen in den CETI verlieren ihr Recht auf Gesundheit, denn die Zustände, in denen sie leben, sind schlichtweg ungesund. Menschenunwürdig ist es, wie internierte Migrant_innen die Pandemie durchleben müssen.

progress: Seit August 2019 sitzen im CETI Melilla auch knapp 700 Tunesier_innen fest, darunter über 50 Frauen und 20 Kinder. Ihnen droht nach wie vor die Abschiebung, über die Spanien mit Tunesien aktuell verhandelt.

Maleno Garzón: Zusätzlich zu all dem, was die Virus-Pandemie für die Psyche bedeutet, und der Situation im Lager, drängt sich eine permanente Angst auf, abgeschoben zu werden. Der Innenminister Fernando Grande-Marlaska (Anm. vom sozialdemokratischen PSOE) verkündete inmitten der Pandemie, rund 600 bis 700 Tunesier_innen abschieben zu wollen, obwohl keine Flüge (Anm. einige wenige FRONTEX-Deportationsflüge finden aus EU-Staaten statt) stattfinden und keine Fährverbindungen existieren und die Grenzen allesamt geschlossen sind. Zugleich ermutigt Grande-Marlaska die spanische Gesellschaft zu Solidarität und Durchhaltevermögen. Das ist eine enorme Verantwortungslosigkeit, die einen immensen Schaden anrichtet und Leid verursacht. 

progress: Wiederholt begaben sich Internierte in den Hungerstreik, so auch vor kurzem wieder.

Maleno Garzón: In Melilla haben Internierte Ende April einen Hungerstreik begonnen, sieben von ihnen haben sich bisher auch die eigenen Lippen zugenäht. Wenn sie nun mit ihrem durch die Nahrungsverweigerung geschwächten Immunsystem mit dem Coronavirus angesteckt werden, kann man sich die Auswirkungen der Infektion nur zu gut vorstellen. Es ist eine schreckliche Situation. In Europa und in den spanischen Nordafrikaenklaven werden Menschen entrechtet, nur weil sie eben in so genannter ‚irregulärer Situation‘ leben. Dazu zählen auch die Migrant_innen, die unser Gemüse bei Almería in Südspanien ernten und in notdürftigen Behausungen leben, damit wir auch in der Quarantäne frische Ware bekommen. Wir Europäer_innen sind Privilegierte in der Pandemie-Krise, das sollte uns klar sein.

progress: Spaniens Innenministerium hat mittlerweile die am Festland in den CIE-Lagern (Centro de Internamiento de Extranjeros) untergebrachten Migrant_innen entlassen. Für die CETI zeichnet sich jedoch noch keine Lösung ab ...

Maleno Garzón: Was die Situation in den restlos überfüllten CETI-Abschiebelagern in Ceuta und Melilla betrifft, muss Grande-Marlaska eine Lösung finden. Und die muss eine menschenwürdige, weitaus bessere Unterbringung beinhalten. Sprich, er muss die Internierten in ganz Spanien, und damit meine ich das Festland, verteilen. Dabei darf man nicht vergessen, dass der Fährverkehr nach Ceuta noch eingestellt ist, was die Bewegungsfreiheit in der Enklave zusätzlich limitiert. Die Unterbringung kann in Wohnungen sein oder in den ohnehin leerstehenden Hotels, wie es etwa in Almería gelöst wurde. Hier haben Hoteliers dem Roten Kreuz ihre Zimmer zur Verfügung gestellt, sodass Migrant_innen, die in Lagern und Heimen untergebracht waren, wo es COVID-19-Fälle gab, nach negativen Tests dort Unterkunft fanden. Solidarität ist gefragt. Wenn Grande-Marlaska die CETI schließen lässt, braucht es auch Einsatz und eine Anstrengung im Sinne der Menschlichkeit. 

progress: Migrantische Kollektive, NGOs im Flüchtlings- und Menschenrechts-Aktivismus fordern eine Legalisierung aller, die ohne regulären Aufenthaltsstatus in Spanien leben. Doch die Politik sträubt sich bisher, dies umzusetzen.

Maleno Garzón: Eine Regulierung des Aufenthaltsstatus von Migrant_innen in Spanien, wie es etwa Italien nun umsetzt, oder auch Portugal (Anm. für all jene in laufenden Regulierungsverfahren), und wie es alle NGOs und Organisationen in der Geflüchteten- und Migrant_innenhilfe mit der Kampagne „Regularización ya!“ (Anm. span. „Legalisierung sofort!“) fordern, ist hier noch fern. Das Angebot der Regierung lehnen wir geschlossen ab, da es rein utilitaristisch ist: Es geht einzig und alleine um Arbeitskraft und betrifft primär Erntehelfer_innen, Kranken- und Altenpfleger_innen. Die Regierung wollte nur eine bestimmte Zahl an Migrant_innen legalisieren, und nur für die Dauer des Alarmzustands. Mit Regularización ya! wird eine generelle Legalisierung aller gefordert, dazu gehören auch Opfer des Menschenhandels, all jene, die für unfreiwillige Prostitution in Spanien missbraucht werden. Für diese Personen ist eine Legalisierung ihres Aufenthalts essentiell, um aus den kriminellen Netzwerken herauszukommen und ihrer Ausbeutung ein Ende zu setzen. Viele migrantische Prostituierte wurden von Bordellbesitzer_innen und Zuhälter_innen mit der Ausgangssperre einfach auf die Straße gesetzt, und stehen ohne sozialen Rückhalt vor dem Nichts. Sie sind unsichtbare Gefangene. Der Staat sieht sie nicht und der Kapitalismus, der sie ausbeutet, auch nicht.

progress: Wie ist die Lage für all jene Migrant_innen und Geflüchteten, die von der Pandemie auf dem Weg nach Europa überrascht wurden und nun festsitzen, etwa in Marokko?

Maleno Garzón: Migrant_innen und Geflüchtete, die auf dem Weg nach Europa waren, als die Pandemie ausbrach, sind weitere Opfer der aktuellen Krise. Es gab in Algerien und in Marokko Razzien der Polizei und des Militärs und es wurden Massendeportationen durchgeführt. Bei Nador an der algerisch-marokkanischen Grenze gab es Abschiebungen in beide Richtungen, obwohl die Grenze seit 1994 geschlossen ist. Weiter im Süden, bei El Aioún (Anm. Hauptstadt der von Marokko völkerrechtswidrig besetzten Westsahara) wurden hunderte Migrant_innen aus Subsahara-Afrika in ein gefängnisgleiches Lager gebracht. Es gab Meutereien und Zusammenstöße mit der Polizei. In Marokko, wo die Migrant_innen ohnehin auf engstem Raum zusammenleben, sei es in Camps oder Wohnungen, braucht man ein Dokument des Innenministeriums, um das Haus verlassen zu dürfen, sei es nur, um einkaufen zu gehen. Wer offiziell gar nicht existiert, keine Identität hat, die der Staat bestätigt, kann nicht auf die Straße. Migrant_innen leben dabei meist von Tag zu Tag und Gelegenheitsjobs, die nun mit der Ausgangssperre wegfallen. Sogar das Betteln um Almosen in der Öffentlichkeit ist aktuell unmöglich. Sie leben am Limit, sie können ihre Familien und Kinder nicht ernähren. Die tagtägliche Entscheidung fällt zwischen Hungern oder einer Verhaftung und eine COVID-19-Infektion riskieren. Wo dazu kommt, dass undokumentierte Personen kein Recht auf Gesundheitsversorgung haben. Auf der Straße ist die Ansteckungsgefahr zehn Prozent, die Gefahr, zu Hause zu verhungern, ist hundert Prozent. Der Mensch muss nun mal essen. Hier helfen NGOs, es wird auch seitens des Staates und der Departements Essen verteilt, aber um das zu bekommen, braucht man offiziell auch einen Pass und einen Wohnsitz. Wo es viel Solidarität gibt, das ist mehr unter dem Kollektiv der Migrant_innen an sich. Die Menschen, die in Slums leben, die Straßenhändler_innen, haben sich schon lange organisiert, um einander in schweren Zeiten beizustehen. Das ist der einzige Rückhalt in Zeiten politisch-polizeilicher Verfolgung oder eben der Pandemie. 

progress: Stechen nach wie vor Flüchtlingsboote in See, um nach Europa zu gelangen?

Maleno Garzón: Auch aktuell setzen Flüchtlingsboote aus Marokko und vor allem aus Algerien nach Spanien über. 116 Menschen kamen am ersten Maiwochenende an der spanischen Küste, der Küste Andalusiens, an. Sie starten von Oran aus. Im Atlantik starten Flüchtlingsboote von der Westsahara und Mauretanien in Richtung der Kanarischen Inseln, diese Route ist nun nach fast eine Dekade wieder stark frequentiert und eine der gefährlichsten überhaupt. Grund dafür ist das Abschotten der Mittelmeerrouten zwischen der Türkei und Griechenland, aber auch der Routen von Libyen und Tunesien nach Italien.

(Interview: Jan Marot, Granada)

Zur Person:
Helena Maleno Garzón (* 1970, in El Ejido, Almería, Spaien) ist Menschenrechts- und Flüchtlingsaktivistin, Migrationsforscherin und Frauenrechtlerin bei Caminando Fronteras/Walking Borders im marokkanischen Tanger. Maleno Garzón wurde 2005 mit Migrant_innen in der südmarokkanisch-algerischen Sahara ihrem Schicksal überlassen, und überlebte nur knapp die Deportation. 2015 entging sie in Tanger nur knapp einem Mordversuch, weil sie Migrantinnen vor einem rassistischen Mob schützte. 2017-19 wurde ihr u.a. wegen Menschenhandels in Marokko der Prozess gemacht, weil sie auf Flüchtlingsboote in Not die Küstenwache des Maghreb-Königreichs und Spaniens verständigte. Malenos Einsatz für Migrant_innen wurde mit zahlreichen Menschenrechtspreisen gewürdigt. Am 19. Mai 2020 erscheint ihr autobiografisches Buch „Mujer de Frontera“ (Ediciones Peninsula, vorerst nur auf Spanisch).

Webtipps:
Helena Maleno Garzón auf Twitter: @HelenaMaleno
https://caminandofronteras.wordpress.com/

Auf engem Raum: Geflüchtete und Corona

  • 25.06.2020, 17:19

Abstandsregeln und Massenunterkünfte, wie soll das gehen? Ein Geflüchteter erzählt von seinen Erfahrungen zu Corona und Quarantäne.

In zwei Wochen hat Karim (Name auf Wunsch geändert) Deutschprüfung. Im Mai hat er ein neues Wort gelernt: Quarantäne. Es ist einprägsam, weil er die Bedeutung am eigenen Leib erfahren hat. Karim gehört zu jenen rund 300 Geflüchteten, die im Mai in der Messe Wien in Quarantäne untergebracht wurden. Zuvor waren in der Flüchtlingsunterkunft „Haus Erdberg“, wo Karim lebt, 15 Menschen positiv auf das Coronavirus getestet worden. Spätere Screenings kamen auf 39 Infizierte, darunter auch Betreuer_innen der Einrichtung.

Karim erinnert sich an die Polizeisirenen, unter denen ihm sein negatives Testergebnis mitgeteilt wurde. „Uns wurde gesagt, dass niemand mehr das Asylheim verlassen darf und wir unsere Sachen packen müssen, um in die Messe Wien evakuiert zu werden“, erzählt er. Unter den Bewohner_innen habe sich Nervosität breit gemacht, viele unter ihnen hätten nicht verstanden, was mit ihnen passiere. Erst Dolmetscher_innen hätten aushelfen können: Wegen der Ansteckungsgefahr und dem Infektionsrisiko wurde allen Bewohner_innen des Asylheims Erdberg eine zweiwöchige Quarantäne verordnet. Wie isoliert man sich jedoch, wenn man mit 400 Menschen zusammenwohnt? Weil im Asylheim nicht die notwendigen Hygienestandards und Abstandsmaßnahmen eingehalten werden konnten, wurde eine Evakuierung der Bewohner_innen beschlossen. Karim schüttelt nachdenklich den Kopf: „Im Asylheim hätte ich mich besser isolieren können. Dort habe ich ein eigenes Zimmer“, erklärt er. Küche und Bad teilt er sich jedoch mit anderen.

In der Messe Wien habe man stattdessen auf engstem Raum zusammengelebt, bei der Essensausgabe sei Gedrängel unvermeidlich gewesen. Karim erzählt von seinem kleinen Zimmer, das er sich dort mit einem anderen Asylwerber geteilt hat: Weil der Raum nach vorne hin offen und für jede_n betretbar gewesen sei, hätten Karim und sein Zimmergenosse eigenhändig Bettlaken aufgehängt, um somit ein Minimum an Privatsphäre zu schaffen.

Besonders anfangs habe es viele Probleme in der Messe Wien gegeben, so Karim. Die wenigen Einblicke, die während der Quarantäne an die Öffentlichkeit gekommen sind, bestätigen das: So war in den Medien die Rede von verschimmeltem Brot, Fluchtversuchen und Schweinefleisch, das den muslimischen Betroffenen aufgetischt wurde. „Einen ganzen Tag lang haben wir überhaupt nichts gegessen. Neben dem Schweinefleisch gab es auch Huhn oder Rind, aber das Fleisch war nicht halal“, erklärt Karim. Daraufhin habe man gestreikt, auf Plakaten hätten die Geflüchteten ihre Rechte eingefordert. „Danach ist es besser geworden“, erzählt Karim, „aber die ersten fünf Tage waren sehr chaotisch.“

Seit Beginn der Pandemie häufen sich die Flüchtlingsunterkünfte, in denen Corona ausgebrochen ist. Karims Geschichte ist damit eine unter vielen: Allein in Bayern standen nach Auskunft des deutschen Innenministeriums Ende Mai 26 Unterkünfte unter Quarantäne [1]. In Österreich instrumentalisierte die FPÖ den Corona-Ausbruch im „Haus Erdberg“ für ihren rassistischen Diskurs und sprach von einem „Asylantenvirus in der Bundeshauptstadt“. In den Medien werden Asylheime bereits vielerorts als „neue Corona-Hotspots“ bezeichnet.

In Anbetracht von Gemeinschaftsbädern und Mehrbettzimmern ist es jedoch wenig verwunderlich, dass besonders Asylheime so stark betroffen sind. Das Einhalten von Abstandsregeln und Hygienemaßnahmen fällt dort besonders schwer: Das ist kein schlechter Wille, das ist schlichtweg durch die Infrastruktur und Überfüllung bedingt. Deswegen werden nun Stimmen lauter, die kleinere Unterkünfte oder neue Lösungen zur Unterbringung von Asylwerber_innen fordern, wie beispielsweise leerstehende Hotels. Auch Karim möchte in Zukunft in einer WG leben. Dazu kommen für viele Asylwerber_innen noch sprachliche Barrieren, die den Zugang zu Informationen erschweren. Das zeigt sich auch in Karims Geschichte, in der einige Hausbewohner_innen aus Angst vor einer Abschiebung weglaufen wollten.

Für Karim war die zweiwöchige Quarantäne ein Ausnahmezustand im Ausnahmezustand. Als er nach vierzehn Tagen zurück in sein Zimmer im „Haus Erdberg“ darf, bleibt ein mulmiges Gefühl: Karim hat Angst vor einem zweiten Ausbruch in der Unterkunft – dann würde alles wieder von vorne beginnen, er müsste ein zweites Mal in die Messe Wien übersiedeln. Dort steht das Leben still, die Abschottung verleiht den Menschen ein Gefühl der Ohnmacht. Der Stillstand des öffentlichen Lebens macht Karim jedoch auch anderswo zu schaffen:  Er und viele andere wissen nicht, wie es mit ihrem Asylverfahren weitergeht. Die Deutschkurse, die Karim wöchentlich besucht, finden mittlerweile online statt – allerdings nur mit Unterlagen. Ohne Lehrpersonal fällt Karim das Lernen schwerer als sonst. 

Die Coronakrise verdeutlicht damit auch die soziale Ungleichheit – und verschärft diese gleichzeitig. Wer schon in normalen Zeiten unter prekären Umständen gelebt hat, erlebt in der Pandemie eine Zuspitzung der Verhältnisse. Für Karim hat die Coronakrise verdeutlicht, wie schutzlos seine Wohnsituation ist: Da wäre zum einen das erhöhte Ansteckungsrisiko, wenn 300 Menschen auf gemeinsamer Fläche wohnen und sich dort Bad und Küche teilen. Karim denkt jedoch auch an seine Betreuer_innen zurück, die die zweiwöchige Quarantäne in ihren eigenen vier Wänden ausharren durften, während er unter Polizeisirenen in die Messe Wien evakuiert wurde. Dort wiederum wurden die Ein- und Ausgänge zwei Wochen lang von Securities bewacht.  

Das sind zwei unterschiedliche Lebensrealitäten, die zeigen, wie fremdbestimmt das Wohnen von Asylsuchenden ist. Für die Zukunft wünscht Karim sich deswegen, in einer WG zu leben – wo er sich nach eigenem Willen einbringen und zurückziehen kann, wie er möchte. 

 

Elisa Leclerc studiert Vergleichende Literaturwissenschaft und Internationale Entwicklung an der Universität Wien.  

 

[1] Quelle: https://www.sueddeutsche.de/politik/corona-fluechtlinge-massenunterkuenfte-1.4912742

Hass im Netz

  • 18.03.2021, 16:08

Dickpicks nach der Yogastunde und Instagramkunde in der Volksschule

Unangemessene grafische Inhalte und beleidigende Privatnachrichten gehen Hand in Hand mit dem rasanten Wachstum der neuen Technologien und des Internets sowie der verstärkten Nutzung von Netzwerken wie Facebook, Telegram oder Tinder. Als Folge der anhaltenden Pandemie, die die Menschen in ihre Wohnungen - und vor allem hinter ihre Bildschirme - zwingt, schießen Cybergewalt und Hassattacken im Netz in die Höhe. Und damit auch die fatalen Folgen jener Übergriffe auf die Gesundheit junger Menschen. 

Vor ein paar Wochen spazierte ich um 7:30 Uhr nach meiner morgendlichen Yogastunde zu meinem Studijob in einer Kanzlei, als ich plötzlich einen Anruf von einer meiner engsten Freundinnen erhielt: „Babsi, ich war gerade bei der Polizei und bin noch sehr nervös, können wir kurz reden?“. Sie erklärte mir, dass sie trotz mehrmaligem „Nein“ von einem Mann unangebrachte Fotos erhalten hatte und dass es in Österreich (noch) keine Möglichkeit gäbe, ein solches Verhalten mit strafrechtlichen Konsequenzen zu ahnden. Komplett erschrocken verwandelte sich mein Spaziergang in eine unglückliche Recherche: 

Der aktuelle United Nations Women-Bericht besagt, dass im Jahr 2018 fast 73% der Frauen Online-Missbrauch erlebt haben. Erst kürzlich hat Hass im Netz einen neuen Höhepunkt erreicht: Zwischen Juli 2019 und 2020 wurden insgesamt 104.852 gefälschte Nacktbilder von Frauen veröffentlicht. Der Bösewicht in dieser Causa war ein mit künstlicher Intelligenz ausgestatteter, großteils kostenloser Bot des Nachrichtenkanals Telegram. Benutzer*innen können dem Bot Fotos von Frauen –aktuellen Meldungen zufolge auch von Kindern - schicken, der diese daraufhin innerhalb kürzester Zeit digital auszieht.

Schmerzbereitend sind auch die Zahlen im Bereich Cyber-Stalking: 70 % der Frauen, die Cyber-Stalking erlebt haben, haben auch mindestens eine Form körperlicher und/oder sexualisierter Gewalt durch einen Intimpartner erlebt, und 5 % der Frauen in Europa haben seit dem Alter von bereits 15 Jahren eine oder mehrere Formen von Cyber-Stalking erlebt.

Es ist kein Geheimnis, dass Frauen den (bisher gemeldeten) Zahlen zufolge weitaus am meisten von solchen Angriffen betroffen sind. Viel weniger wird über sexualisierten Kindesmissbrauch im Netz gesprochen. Dieser setzt sich zu 90% aus Darstellungen von Mädchen und zu 10% aus Darstellungen von Jungen zusammen. Entsetzlicherweise zeigen 79% davon Kinder im Alter zwischen 3 und 13 Jahren. 

Die Folgen solcher Angriffe sind fatal. Nach Angaben von Amnesty International erlebt jede zweite Frau, die Opfer von Online-Missbrauch wurde, ein geringeres Selbstwertgefühl oder einen Verlust des Selbstvertrauens sowie Stress, Angst oder Panikattacken. Im Jahr 2014 bestätigte UNICEF, dass das Risiko eines Selbstmordversuchs für Opfer von Cybercrimes 2,3-mal höher ist als für Nicht-Opfer.

In ganz Europa gibt es unzählige Initiativen, die Schutz vor Hass im Netz bieten. Um einige der zahlreichen Beispiele zu nennen: SafetyNed194, eine niederländische Plattform, die von vier Frauenhäusern geleitet wird, mit dem Ziel, sowohl Opfer häuslicher Gewalt als auch diejenigen, die sich um sie kümmern, mit Schutzinstrumenten auf digitalen Plattformen und neuen Technologien auszustatten; Fix the Glitch, eine im Vereinigten Königreich ansässige Organisation, die von Seyi Akiwowo, einer jungen britisch-nigerianischen Politikerin, gegründet wurde, bietet Workshops und Empfehlungen zur Bekämpfung des Online-Missbrauchs von politisch aktiven Frauen an; Antiflirting (mittlerweile @antiflirting2), ein Instagram-Account mit über 80.000 Followern, der Sexismus im Netz sichtbar macht; Dickstinction in Deutschland, eine Website mit der in unter einer Minute eine Strafanzeige erstellt wird; das No Hate Speech Movement des Europarates, Stop Cybersexisme in Frankreich, PantallasAmigas in Spanien oder ZARA, die österreichische Organisation für Zivilcourage und Anti-Rassismus-Arbeit. 

ZARA ruft vor allem zur Zivilcourage auf. Es brauche entsprechende Präventionsmaßnahmen, weshalb der Verein ein Gegenrede-Tool entwickelt hat, damit man schnell und wirksam auf Hasspostings reagieren kann. Die Meldungen nehmen erschreckenderweise jährlich um ein Drittel zu. Allein im Zeitraum vom August 2019 bis September 2020 gingen bei der ZARA-Beratungsstelle #GegenHassimNetz 2.521 Hass-Meldungen ein. Durch die intensive Thematisierung und mediale Aufmerksamkeit wurde vielen Opfern erst bewusst, dass man sich gegen derartige Angriffe wehren kann: Es ist nicht verwunderlich, warum Joko und Klaas vor ein paar Wochen mit ihrer Ausstellung „Männerwelten“ über Gewalt gegen Frauen im Netz nicht mehr zu übersehen waren. Solche Aufschreie aus der Gesellschaft und Bewegungen, die Hass direkt thematisieren, wie beispielsweise #BlackLivesMatter, vervielfachen Meldungen. Einer auf ZARA veröffentlichten Statistik zufolge sind 35% der gemeldeten Fälle (straf)rechtlich verfolgbar – vorwiegend handelt es sich hier um Verhetzung, Beleidigung und Verstöße gegen das Verbotsgesetz – bei 65% der Meldungen konnten keine rechtlichen Schritte gesetzt werden.

Aktuell gibt es neben den bereits bestehenden Straftatbeständen eine eigene Strafbestimmung für "Cyber-Mobbing". Verstöße gegen diese sind mit einer Freiheitsstrafe bis zu einem Jahr oder mit einer Geldstrafe bis zu 720 Tagessätzen zu ahnden. Etwas mulmig wird mir bei der Strafbemessung, wenn die Tat den Selbstmord oder einen Selbstmordversuch der verletzten Person zur Folge hat. In diesen unvorstellbar schrecklichen Fällen sind Täter*innen mit einer Freiheitsstrafe von bis zu drei Jahren zu bestrafen. Auf Gesetzgeberseite ist das Gesetzespaket „Hass im Netz“, das am 01.01.2021 in Kraft getreten ist, ein wichtiger Schritt für die Implementierung eines effektiveren Schutzes vor Hasspostings im Internet. Allerdings spießt sich das Gesetz mit mehreren EU-Richtlinien und könnte weniger wirksam ausfallen als erhofft. Es fällt mir schwer, bei dieser formalen Symptombekämpfung einen Erfolg zu verzeichnen, wenn man sich die Zahlen ansieht. Ist die Aufnahme neuer gesetzlicher Tatbestände wirklich der aktuell effektivste Schutz für Generation Google?

Nach wie vor wird genau diese Generation mit verstaubten Lehrplänen, wie sie unsere Eltern noch kennen, für das Leben ausgerüstet. Während unsere Jüngsten nach wie vor lernen, wie die alten Römer im Liegen aßen, wird kaum auch nur erwähnt, wer dafür verantwortlich ist, dass all die Antworten auf diese Fragen binnen Sekunden im Netz abrufbar sind oder wie man kritisch an die etlichen Antworten herangeht. Es wird in der Schule wochenlang darüber gesprochen, wie Nikotin die Lunge schwärzt, aber nicht darüber, wie das Internet unsere Denkweise und Laune, ja sogar unsere Hirnmasse in ihrer Form verändert. Das Zetterlschreiben ist binnen weniger Jahre zum WhatsApp-Chat geworden, der Unterricht hat sich bis auf das gelegentliche Aufpeppen durch Power Point kaum verändert. Wäre Corona nie gewesen, wäre wohl auch nie ein Onlineraum fürs Lernen denkbar gewesen. 

Jetzt ist es wichtiger als je zuvor genau diese Chance zu nutzen, um diesen virtuellen Raum in einen sozialen Lernraum zu verwandeln. Nur weil der Hass im Internet steht, bedeutet das nicht, dass er dort entsteht. Berichten des Europarates zufolge haben 54% der Opfer, die online schikaniert oder sexuell belästigt wurden, ihren Missbraucher im wirklichen Leben schon einmal getroffen. Es ist also zu Recht anzunehmen, dass potentielle Täter*innen im selben Klassenzimmer sitzen wie ihre Opfer. Jungen Erwachsenen muss nicht nur beigebracht werden, Gedichte zu analysieren, sondern auch kritisch mit sozialen Medien und den Inhalten, die man teilt und sieht, umzugehen. Der gravierende Einfluss dieser Medien und die damit einhergehenden Konsequenzen und Gefahren müssen jungen Menschen nähergebracht werden. Es wird Zeit, die Bühne für Lehrer*innen frei zu machen, die statt dem Handyverbot die Handys gemeinsam mit den Schüler*innen in die Hand nehmen. Und jetzt, wo man endlich in einem Raum angekommen ist, der uns dazu zwingt, uns mit Hass im Netz auseinanderzusetzen, muss ein Umdenken stattfinden. Kommunikation hat sich verändert und mit ihr auch die Köpfe der Schüler*innen. Im Schulalltag macht sich diese Veränderung aber kaum bemerkbar, sie wird oft ignoriert, anstatt sie mit in das Klassenzimmer zu nehmen. Natürlich kann man immer wieder mit dem Finger auf das Internet zeigen. Sinn macht es aber mehr, das Fingerzeigen in ein gemeinsames Tappen am Bildschirm umzuwandeln. 

Wie sieht es an Österreichs Hochschulen mit der Problematik aus? Langsam aber sicher – und um einiges schneller als im Pflichtschulbereich - kommt Hass im Netz auch in der Lehre an. Unter dem Begriff „Cyberpsychologie“ wird mittlerweile sogar ein Masterstudium an der FH WKW angeboten, das sich ausschließlich den Auswirkungen des Internets und der Sozialen Medien auf die Psyche des Menschen widmet. Verschiedenste Curricula erlauben immer wieder die Einbeziehung der Thematik im Pflichtbereich, immer öfter konfrontieren Dozent*innen und Professor*innen in ihren LVs Studierende direkt, wie beispielsweise in der letztes Semester auf der Uni Wien angebotenen Lehrveranstaltung „Hass im Netz: Geschlechterperspektiven auf Gewalt in digitalen Medien“. Von einzelnen Organisationen wurden während der Pandemie und während der Lockdowns vermehrt Helplines als Erstanlaufstelle eingerichtet und beworben. Die ÖH startete vor wenigen Wochen die „Mental-Health“-Kampagne „#reddrüber“, um die massive psychische Belastung von Studierenden nach außen zu tragen und aufzuzeigen, wo Hilfe bereitsteht. 

Je sichtbarer es wird, dass gemeinsam gegen solche Angriffe und daraus folgende Schwierigkeiten vorgegangen werden kann, und je transparenter und lauter Initiativen dagegen vorgehen, umso höher ist auch die Schwelle für potentielle Täter*innen. Zahlreiche Initiativen bewegen Gesetzgeber zu Reformen - ob diese solche Angriffe tatsächlich zurückdrängen werden, bleibt allerdings fraglich. Instagramkunde scheint vielleicht für so manch eine*n Leser*in etwas überspitzt. Solange die Problematik aber nicht intensiv(er) junge Menschen erreicht, wächst die potentielle Angriffsgefahr und mit dem Unwissen über (gesetzliche) Verfolgungsmöglichkeiten auch die Zahl der potentiellen Angreifer*innen. 

Barbara Abdalla

Die Sache mit der Psyche

  • 18.03.2021, 16:16

Die Sache mit der Psyche

Die Corona-Krise drückt auf die Seele. Junge Menschen sind besonders gefährdet. Es ist höchste Zeit zu handeln.

Florenz im 14. Jahrhundert: In Italien wütet die Pest und rafft die Bevölkerung dahin, Leichengestank hängt in den Straßen, Institutionen funktionieren nicht mehr, die Gesellschaft bricht auseinander. Sieben junge Frauen und drei Männer entfliehen dem Tumult und ziehen sich auf einen Landsitz zurück. Dort erzählen sie einander ihre Geschichten, genießen köstliche Speisen und Wein, tanzen, um ihre Sorgen zu vergessen. Was der italienische Schriftsteller Giovanni Boccaccio in seinem Meisterwerk, dem Decamerone, beschreibt, erfahren wir rund 700 Jahre später am eigenen Leib: Anstatt der Pest ist es nun das neuartige Coronavirus SARS-CoV-2, das Menschenleben auf der ganzen Welt fordert und alle Bereiche des öffentlichen und privaten Lebens beherrscht. Von Tanz und Genuss ist wenig übrig. Wir befinden uns inmitten einer Krise, deren Auswirkungen weder vor dem Gesundheits- und Bildungswesen, noch vor dem Arbeitsmarkt und dem wirtschaftlichen System Halt machen. Noch etwas ist längst nicht mehr zu übersehen: Corona macht Angst. Und einsam. Expert*innen warnen, dass jetzt eine dritte Welle anrollt – und zwar die der psychischen Erkrankungen.

Quälende Unsicherheit. 

Der international bekannte Psychiater der Harvard Medical School, Viktor Patel, ist alarmiert. Auf der Online-Konferenz der Europäischen Gesellschaft für klinische Mikrobiologie und Infektionskrankheiten warnt er vor einem „weltweiten Tsunami schwerer psychischer Leiden“ infolge der Isolation und Angst. Eine Studie der Donau-Universität Krems bestätigt, dass auch die österreichische Bevölkerung psychisch stärker belastet ist als vor der Pandemie. Besonders besorgniserregend: Die depressiven Symptome haben auch nach Ende des ersten Lockdowns weiterbestanden. Insbesondere jene Menschen, die im Lockdown verstärkt Stress und Einsamkeit durchlebt hatten, waren danach prädestiniert für Depressionen und Co. Doch während zu Beginn der Krise befürchtet wurde, dass hauptsächlich ältere Menschen aufgrund ihres hohen Infektionsrisikos und des damit einhergehenden höheren Isolationsfaktors unter der seelischen Belastung leiden würden, zeigte sich rasch ein anderes Bild: Es sind auch junge Erwachsene zwischen 20 und 30, denen die Ausnahmesituation auf die Psyche schlägt. Die Fakultät für Psychologie der Universität Wien startete während des ersten Herunterfahrens des Alltages im April eine siebentägige Tagebuchstudie. 800 Teilnehmer*innen in Österreich und Italien machten dabei fünfmal am Tag via Smartphone-App Angaben zu ihrem Wohlbefinden und Stressniveau. Mit dem Ergebnis, dass Ängste und Unsicherheiten den Jungen besonders zu schaffen machen. Aber warum?

Abnabelung auf dem Prüfstand.

Unser soziales Leben liegt seit Monaten auf Eis. Bitter ist das für jede und jeden, aber gerade unsere Generation wird in einer heiklen Phase erwischt – nämlich jener der Identitätsbildung. Das Entwickeln eigener Interessen und Routinen, das Gestalten von Eigenzeit, spannende Übergangsphasen in neue Lebensabschnitte – vieles ist gerade nicht möglich und nicht alles kann in „besseren Zeiten“ nachgeholt werden. „Es gehört im jungen Erwachsenenalter dazu, sich gegen das Establishment aufzulehnen, andere Meinungen infrage zu stellen, um sich die eigene zu bilden. Da wiegen alternativlose Regeln und Maßnahmen umso schwerer“, betont Dr. Mag. Birgit Hladschik-Kermer, MME, Leiterin der Abteilung für Medizinische Psychologie an der MedUni Wien. Auch die notwendige Distanz zu Mitmenschen ist ein hartes Pflaster für die Psyche: „Gerade für junge Menschen ist der Kontakt mit Gleichaltrigen ein wichtiger Baustein der emotionalen und kognitiven Entwicklung“, sagt Hladschik-Kermer. Das Wegfallen dieses Bausteins sei vor allem dann problematisch, wenn man wenig Kontakt zur Familie hat oder wenn ein stabiles soziales Netz fehlt – zum Beispiel, weil man erst kürzlich von zuhause ausgezogen, Jobeinsteiger_in oder single ist. Funktionierende soziale Ressourcen aufzubauen wäre jetzt wichtiger denn je, meint die Expertin. Einfach sei das aber nicht, denn: „Zurzeit haben viele junge Menschen mit massiven Schuldgefühlen zu kämpfen. Medial wird ihnen oft der schwarze Peter zugeschoben, sie werden für die starke Ausbreitung des Virus verantwortlich gemacht. Diese Stigmatisierung ist falsch – was natürlich nicht bedeutet, dass man in Zeiten wie diesen Partys veranstalten soll. Es bräuchte aber spezifische Unterstützungsangebote für alle Altersgruppen und das Aufzeigen von Perspektiven.“ 

Die Bedeutung von Zukunftsperspektiven ist nicht zu unterschätzen: Sie geben dem Leben eine Richtung und helfen dabei, auch Durststrecken durchzustehen. Wichtig dabei ist jedoch, dass der zeitliche Rahmen abgesteckt ist und man weiß, wie lange ein Zustand noch andauert.  Wir denken zum Beispiel an die Abreißkalender, die wir früher vor den Ferien oder vor der Matura gebastelt haben – eine optische Hilfe für die Seele. Dass aktuell aber das zeitliche Ziel fehlt, ab dem wir unsere sozialen Bedürfnisse wieder befriedigen und unseren Hobbys nachgehen können, ist einer von vielen Stressfaktoren. „Über uns schwebt eine Wolke aus Unsicherheit“, sagt Hladschik-Kermer. „Dieser Zustand ist nicht nur unangenehm, er führt auch zu einer Aktivierung des vegetativen Nervensystems. Dadurch kommen möglicherweise auch Ängste an die Oberfläche, die bereits vor der Pandemie bestanden haben, die man aber im normalen Alltag und mit einem strukturierten Tagesablauf gut bewältigen konnte.“ Hinzu komme in vielen Fällen die fehlende Erfahrung im Umgang mit Krisen. „Ältere Menschen haben in ihrem Leben meist schon einige Krisen durchgemacht und sich dadurch Bewältigungsstrategien angeeignet, die sie jetzt anwenden können. Junge Erwachsene verfügen meist noch nicht über diese Krisenresistenz“, so die Psychologin. 

Zukunftsängste?

Social Distancing zieht sich nicht nur durch das Privatleben sondern bleibt uns vorerst auch im Studium nicht erspart. Wenngleich sich durch den Fernunterricht auch bestimmte Vorteile ergeben, haben Studierende dennoch viele Herausforderungen zu bewältigen. „Distance Learning erfordert sehr viel Selbstdisziplin und Organisation. Gleichzeitig bekommen Studierende ein unterschiedlich hohes Maß an Qualität geboten. Lehrkräfte wiederum sind gefordert, digitale Mittel kreativ zu nutzen, Feedback zu geben und den Studierenden Unterstützung anzubieten. Die Situation ist für beide Seiten nicht einfach und oftmals überfordernd“, gibt Hladschik-Kermer zu denken. Die Novelle des Studienrechts, mit der künftig Mindestleistungen für Studienanfänger_innen festgeschrieben werden (wer nicht in den ersten zwei Jahren seines Bachelorstudiums 24 ECTS-Punkte sammelt, verliert die Studienzulassung) ist da nur die Spitze des Eisbergs.

Auch der Ausblick auf eine baldige Impfung offenbart nicht unbedingt rosige Aussichten. Es wird eine ganze Weile dauern, das Wirtschaftssystem wieder anzukurbeln. Vielfach wird die Befürchtung geäußert, dass es die Jungen sein werden, die in den kommenden Jahren finanzielle Wogen glätten müssen. Das sorgt für Unsicherheit auf dem Arbeitsmarkt und wirft Fragen auf: „Werde ich nach dem Studium einen Job finden? Bekomme ich einen Praktikumsplatz? Kann ich es mir überhaupt leisten, eine Familie zu gründen?“ 

Belastung ist keine Schwäche.

Wie geht man mit all diesen Unsicherheiten am besten um? „Indem man auf jeden Fall das Gespräch mit jemandem sucht, dem man vertraut“, sagt Hladschik-Kermer. Sind persönliche Gespräche aufgrund der Maßnahmen nicht möglich, empfiehlt die Expertin Videocalls, da man sich dem*der Gesprächspartner*in dabei verbundener fühlt als beim Telefongespräch. Darüber hinaus gibt es auch verschiedene kostenlose anonyme Angebote, an die man sich jederzeit wenden kann. „Was uns im Augenblick besonders fehlt sind die schönen Dinge, die man gerne macht und mit denen man sich belohnen kann – zum Beispiel sich zum Essengehen verabreden oder einmal über das Wochenende wegzufahren. Nichtsdestotrotz sollte man auch jetzt versuchen, sich ab und an etwas Gutes zu tun, auf das man sich freuen kann“, rät die Psychologin. Das können ganz banale Dinge wie ein Spaziergang, ein virtuelles Mittagessen mit Freund*innen oder Sport sein. „Routinen vermitteln Sicherheit in einer unsicheren Zeit. Wer sich einen Tagesplan erstellt, bringt Struktur in den Alltag. Auch körperliche Aktivität tut jetzt gut – sie hält gesund und hebt die Laune“, sagt Hladschik-Kermer. Zusätzlich rät sie zum regelmäßigen Nachrichten-Fasten, denn uns wurde zwar die Kontrolle über einige grundlegende Bereiche genommen, aber wir können uns die Kontrolle darüber zurückholen, wann wir uns über die Geschehnisse informieren. Denn auch wenn wir tausendmal am Tag einen Liveticker verfolgen, können wir die aktuelle Situation nicht ändern und werden in den meisten Fällen nur zusätzlich in Panik versetzt. Eine Sache, betont Hladschik-Kermer, sei jetzt besonders entscheidend: „In Zeiten wie diesen psychisch belastet zu sein, ist keine Schwäche – im Gegenteil! Es ist ganz normal, während einer Pandemie nicht immer gut gelaunt, positiv und produktiv zu sein.“ Deshalb: Seid nicht zu streng mit euch selbst. Bessere Zeiten werden kommen!

Michaela Neubauer hat Publizistik- und Kommunikationswissenschaft studiert und arbeitet hauptberuflich als Redakteurin.

 

Corona-Härtefallfonds

  • 18.03.2021, 16:23

Corona-Härtefonds

Seit 13. März 2020 steht unser aller Leben Kopf. An diesem Freitag wurde der erste Lockdown aufgrund des neuartigen, hoch ansteckenden Virus SARS-CoV-2 verkündet. Spätestens an diesem Tag stand fest, dass das Virus und die zur Eindämmung angeordneten Maßnahmen gravierende Spuren in unserer Gesellschaft hinterlassen würden. 

Die Corona-Krise und ihre psychischen, wirtschaftlichen und sozialen Folgen treffen die gesamte Bevölkerung. Doch knapp ein Jahr nach der Verkündung des ersten Lockdowns steht fest, dass Menschen unter 30 Jahren besonders hart von den Auswirkungen der Krise betroffen sind. Unter ihnen spüren vor allem Studierende die Folgen nahezu tagtäglich: Distance Learning, Ausgangsbeschränkungen und daraus resultierende Einsamkeit, weil man weder Studienkolleginnen und -kollegen, Freund_innen oder Familie treffen kann, sind nur ein Teil der vielen Einschränkungen, mit denen Studierende zurechtkommen müssen.

Auch wenn seit Beginn der Pandemie in nahezu allen Altersgruppen ein Anstieg der Betroffenen von Ängstlichkeit und Suizidgedanken beobachtet werden kann, treten diese bei jungen Menschen seit April in größerem Maße auf als bei älteren Menschen. Frauen sind hiervon sogar noch stärker betroffen als Männer.

Die wirtschaftlichen Folgen der Krise spürt vor allem die junge Generation. 

Besonders belastend ist nicht nur die Einschränkung sozialer Kontakte, sondern auch Zukunftsängste, denen sich junge Menschen auch ohne globale Pandemie stellen müssen. Jobsuche, Konkurrenzkampf am Arbeitsmarkt und niedrige Einstiegsgehälter haben jungen Menschen schon vor der Corona-Krise das Berufsleben erschwert. Jüngere arbeiten oft in prekären Arbeitsverhältnissen, die leicht gekündigt werden können oder einfach nicht verlängert werden. Die Krise verschärft diese Schlechterstellung. Corona-spezifisch kommt hinzu, dass jüngere Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer in den am stärksten von der Krise getroffenen Branchen überproportional vertreten sind. Vor allem Beschäftigte im Tourismus oder in der Gastronomie, im Handel sowie in der Arbeitskräfteüberlassung haben ihren Job verloren. Auch hier ist es so, dass der Jobverlust mehr Frauen als Männer betrifft.

Es gibt für Österreich bereits Statistiken, die diese neuen Schwankungen am Arbeitsmarkt belegen. Die Arbeitsmarktdaten vom April zeigen, dass die Beschäftigung vor allem bei Jüngeren stark gesunken ist, während sie für die Bevölkerung im Alter von 50+ fast gleich geblieben ist. Zu befürchten ist, dass unsere Generation diese Auswirkungen ihr gesamtes Berufsleben lang spüren wird.

Obwohl bereits viele, auch staatliche, Unterstützungsangebote bestehen, erfüllen oft geringfügig Beschäftigte nicht die Kriterien für deren Gewährung. Hinzu kommt, dass nicht nur Studierende selbst, sondern auch ihr Umfeld von den wirtschaftlichen Folgen betroffen sein können. Sind Lebenspartnerinnen oder -partner, Eltern, Kinder oder andere Nahestehende von Arbeitslosigkeit oder Kurzarbeit betroffen, wirkt sich dies auch auf die Studierenden aus.

Besonders Studierende mit Kindern, Studierende mit Erkrankungen oder Behinderungen oder eben auch solche, die in der aktuellen Situation den Job verloren haben, mit dem sie ihr Studium finanziert hatten, werden vor große Herausforderungen gestellt.

Soforthilfe durch ÖH-Fonds

Um jenen Studierenden, die durch die Auswirkungen der Corona-Krise in eine finanzielle Notlage geraten sind, finanziell unter die Arme zu greifen, haben bereits im Frühjahr 2020 diverse lokale Hochschulvertretungen Hilfsfonds eingerichtet. Für viele Studierende war diese Hilfe eine dringend notwendige finanzielle Unterstützung. 

Um darüber hinaus ein weiteres Unterstützungsangebot zu schaffen, hat die ÖH Bundesvertretung einen weiteren Corona-Fonds eingerichtet und diesen mit insgesamt 700.000 Euro dotiert. 

Hinter den bisher 1.300 bewilligten Anträgen stehen Schicksale von Studierenden, die durch die Corona-Krise in eine Notlage geraten sind. Die zahlreichen Anträge und unterschiedlichen Lebensumstände zeigen, wie notwendig diese zusätzliche Hilfe in vielen Fällen war. 

Mit den Sommermonaten und der warmen Jahreszeit nahmen auch die Ausgangsbeschränkungen ab, Schanigärten waren geöffnet, Treffen waren wieder erlaubt: Zumindest was die Sozialkontakte betraf, war ein Aufatmen möglich. Eine Verbesserung der finanziellen Situation war jedoch weiterhin nicht absehbar. 

Seit 01.01.2021: Corona-Härtefonds II

Wissenschaftsminister Heinz Faßmann und ÖH-Vorsitzende Sabine Hanger waren sich daher schnell einig: Es muss weitere Hilfen geben! 

Aus diesem Grund wurde im Dezember 2020 gemeinsam der Corona-Härtefonds II ins Leben gerufen. Dieser Fonds ist mit insgesamt 450.000 Euro dotiert und wird zur Hälfte vom Wissenschaftsministerium, zur anderen Hälfte von der ÖH Bundesvertretung finanziert. Eine Förderung kann seit 01.01.2021 beantragt werden.

 

Antragsberechtigt sind Studierende, die unverschuldet in eine Notlage geraten sind. Das ist der Fall, wenn ihre monatlichen Ausgaben die monatlichen Einnahmen übersteigen und das nicht in ihrer Verantwortung liegt. 

Antragstellerinnen und Antragsteller können maximal 800 Euro erhalten, wenn sie die Voraussetzungen für die Förderung, unter anderem den Nachweis eines adäquaten Studienerfolges, erfüllen und noch keine Unterstützung durch den Sozialfonds der ÖH Bundesvertretung oder durch ihre lokale Hochschulvertretung erhalten haben.

Wie kannst du einen Antrag stellen?

Die genauen Details zu den Antragskriterien, Formulare und alle weiteren Infos findest du auf der ÖH-Webseite (www.oeh.ac.at).

 

Kunstkrise Corona

  • 18.03.2021, 16:31

Die Kunst und Corona. Ein Kommentar zu einer toxischen Mischung.

Grenzen fördern die Kreativität. Wer alle Mittel hat, muss nicht um die Ecke denken. Doch was ist, wenn man so begrenzt ist, dass einem nicht nur die Mittel fehlen, sondern auch noch die gewohnten Möglichkeiten, das Publikum zu erreichen. Dies ist die traurige Realität, in der die meisten Kunstschaffenden zurzeit leben. Die Corona-Krise brachte Verödung im ersten Lockdown und bring nun auch noch Verarmung. Klar ist, wer ums Überleben kämpfen muss, hat kaum Zeit, sich auf das kreative Schaffen zu konzentrieren. 

Was macht also das Publikum in der Zwischenzeit? Es belustigt sich an der Konserve. Es gilt, sich vom öden Alltag der Isolation abzulenken. Lieblingsbücher, alte Filme, Konzertaufnahmen und vergangene Kabarettabende. Die Theater stehen leer, die Ausstellungen sind dicht und wer länger in der Menschenmenge rund um eine*n Straßenkünstler*in stehenbleibt, macht sich strafbar. 

Wohin das führt? Herbert Grönemeyer hat keine rosigen Aussichten, wie der Tagesspiegel berichtet: „Ein Land ohne die so unmittelbare Live-Kultur gibt und öffnet den Raum für Verblödung, krude und verrohende Theorien und läuft Gefahr, nach und nach zu entseelen.“ Leider ist es genau diese fehlende Live-Kultur, die viele in den finanziellen Ruin treibt. Große Teile des Umsatzes, die eine Künstlerin oder ein Künstler machen, werden bei Veranstaltungen verdient. Dies trifft leider die kleineren Künstlerinnen und Künstler am schlimmsten, da die erfolgreiche Vermarktung im Internet eine gewisse Bekanntheit voraussetzt. Selbst wenn aber die Vermarktung des Materials doch funktioniert, kann man damit trotzdem keine Hallen mehr füllen, egal ob Nummer 1 in den Charts oder ein Mixtape auf SoundCloud. 

Nun mag es gewisse Künstlerinnen und Künstler geben, die die Mittel finden, sich durch das Internet zu vermarkten. Doch Kunst ist keine Einbahnstraße. Die Improvisationen der Jazzmusiker*innen stehen in direkter Verbindung mit den Reaktionen des Publikums. Diese Resonanz darf sowohl bei einer Kabarettistin nicht fehlen, die so erst sieht, welche Teile ihres Programms funktionieren und welche nicht, als auch beim Schauspieler, der beim Vortragen seines Monologs durch die Spannung im Publikumsraum sein Potenzial ausschöpfen kann. Die Problematik liegt also nicht nur bei der Verarmung der Künstler*innen, sondern auch bei der Schädigung der Kunst selbst, weil sich die Kunstschaffenden nicht im gewohnten Arbeitsraum mit den gewohnten Rahmenbedingungen befinden. 

Hinzu kommt noch, dass vor allem Menschen, die durch die Pandemie psychisch angeschlagen sind, sich kaum in ihrer gewohnten Arbeitsroutine bewegen können. David Lynch sagte einmal in einem Interview, dass es nicht möglich ist, unter solchen Bedingungen kreativ zu sein. Desto mehr man leidet, desto weniger ist man gewillt, etwas Kreatives zu schaffen. Ist man depressiv, kann man sich ja kaum aufraffen, aus dem Bett aufzustehen. Das Gehirn ist so eingenommen, dass es die Künstlerin oder den Künstler vergiftet. Wie viel Arbeit kann man dann noch fertigbringen und wie sehr kann man einen solchen Prozess noch genießen? Mit genug psychischem Stress und genug negativen Gedanken hat man keinen freien Kopf und das steht dem kreativen Prozess beträchtlich im Weg.

Isolation allein ist aber glücklicherweise noch nicht der Tod der Kreativität. Kommt nun also nach der Corona-Krise eine Welle an Corona-Kunst auf uns zu? Laut einem Artikel des Deutschlandfunks nicht wirklich. Darin heißt es, vielen Künstlerinnen und Künstlern falle zu dieser Pandemie nicht wirklich was ein. Es gibt zwar vereinzelt Beispiele, wie der Film Coronation von Ai Weiwei, der sich dem Ausbruch der Pandemie in China durch eine Collage von Handyfilmen aus Krankenhäusern und Städten widmet, oder auch die Rolling Stones, die mit ihrer Single Living in a Ghost Town im April die iTunes Charts anführten, aber irgendwann ist die Nachfrage an Fotos von leeren Straßen und bekannten Figuren aus Gemälden mit Masken auch erschöpft. 

Allerdings gibt es auch Kunstschaffende wie die Band Annenmaykantereit, in deren neuem Album nicht die Pandemie selbst im Vordergrund steht, sondern mehr die Stimmung unserer gegenwärtigen Realität porträtiert wird. In der Produktbeschreibung ihrer neuen Platte merkt die Band an: „Es ist fertig. Unser drittes Album. Es heißt »Zwölf«. Es ist ein Album aus dem Lockdown. Ein Album, das unter Schock entstanden ist. Für uns hat es immer drei Teile gehabt – den düsteren Beginn, das Aufatmen danach und die süß-bittere Wahrheit zum Schluss. Wir wünschen uns, dass dieses Album am Stück gehört wird. Die Reihenfolge der Lieder hat für uns Bedeutung, und wer so großzügig ist, sich das Album auch in dieser Reihenfolge anzuhören, hat einen gepolsterten Sitzplatz in der Mehrzweckhalle unserer Herzen. Hoffentlich bis bald. Hoffentlich. […]“

Spannend wird, was auf uns zukommt, wenn die Krise vorbei ist. Nicht nur Kunstschaffende werden wie wild den Markt mit neuem Material überfluten, sondern auch das Publikum wird hungrig auf Neues die Veranstaltungsräume stürmen. Ob hier diejenigen erfolgreicher sind, die mit neuem Material still und heimlich auf das Ende der Krise gewartet haben oder diejenigen, die die neuen Konditionen nutzen, die sich möglicherweise nach der Pandemie auftun, wird die Zukunft zeigen. Sicher ist nur, dass Veränderung bevorsteht. 

Die Branche ist von der Krise stark gezeichnet und viele stehen am Rande ihrer Existenz. Doch die Kunst selbst wird auch diese schwierige Zeit überstehen. Wie sagte schon Konstantin Wecker? „Kultur ist vielleicht nicht systemrelevant, aber sie ist lebensrelevant.“ Womöglich wird nachher nichts so sein, wie es vorher einmal war, doch das menschliche Bedürfnis nach Kunst bleibt bestehen. Eines schönen Tages wird Corona überstanden sein. Die Raupe der Gegenwart mag hässlich sein, doch der Schmetterling der Zukunft wird schöner werden als wir es zu träumen wagen. 

 

Und die Menschen blieben zu Hause.

  • 18.03.2021, 16:34

Mein Weg von der planlosen Studentin zur Verlegerin mit großer Vision

Mir war während meines Studiums nie so wirklich klar, was ich danach arbeiten wollte. Ich machte mir darüber eigentlich auch ziemlich wenige Gedanken und ließ es stattdessen auf mich zukommen. Die meisten meiner Kommilitoninnen und Kommilitonen der Geisteswissenschaften hatten, genau wie ich, ein riesiges Fragezeichen über ihren Köpfen, wenn sie an ihre Zukunft dachten. Wir wussten nicht so wirklich, wo in der Gesellschaft später unser Platz sein würde. Das ist die Herausforderung vieler Studiengänge, die einfach aus Interesse studiert werden. Zwar lernt man, komplex zu denken, zu argumentieren, wissenschaftlich zu arbeiten und Texte zu schreiben, aber zumindest gefühlt wartet danach nichts und niemand so wirklich auf eine*n.

Viele junge Menschen nehmen nach dem Studium einen Job an, der irgendwie im Entferntesten etwas mit ihrem Studium zu tun hat, ohne wirklich dafür zu brennen. Nach meinem Abschluss entschied mich, stattdessen der “brotlosen Kunst” nachzugehen, richtete mir mein Leben so sparsam wie möglich ein, schrieb Gedichte und jobbte nebenher. Ich war zufrieden mit einem Leben in finanzieller Unsicherheit, dafür aber in vermeintlicher ultimativer Freiheit und Flexibilität. Dass Geldsorgen wenig mit Freiheit und Flexibilität zu tun haben, musste ich in der darauffolgenden Zeit immer wieder schmerzlich erfahren.

Dann wurde ich schwanger, mein Partner und ich waren überglücklich und ich widmete die nächsten zwei Jahre unserer kleinen Tochter. Als sie ins Kleinkindalter kam und immer selbstständiger wurde, wusste ich plötzlich, was ich beruflich als Nächstes machen wollte. Es war kein zermürbender Prozess, ich schrieb keine Pro- und Contra-Listen, ich dachte nicht über verschiedene Möglichkeiten nach. Ich kann mich auch nicht an den Moment erinnern, an dem mir die Idee kam. Sie war plötzlich einfach da: Ich wollte einen Buchverlag gründen, als erstes einen Lyrikband von mir veröffentlichen und dann nach und nach mein Sortiment erweitern. Es sollte eine „Ideenfabrik“ werden, in der meine eigenen Ideen und die anderer Autor*innen Realität werden konnten. Als ich einer guten Freundin freudig von meinem Vorhaben erzählte, schüttelte sie – zu meinem Erstaunen – missbilligend den Kopf: “Marie, willst du nicht mal was RICHTIGES machen?”. Aber nein, das wollte ich nicht. Zumindest nicht das, was sie darunter verstand.

Als ich dann noch in einer Bücherkiste, die jemand zum Verschenken auf die Straße gestellt hatte, ein Buch über Verlagsgründung fand, schien mein Schicksal besiegelt.

Ich arbeitete also den Ratgeber durch und setzte die Schritte nach und nach um. Wenige Wochen und einen Besuch auf dem Gewerbeamt später, war der Goldblatt Verlag geboren.

Damit begann mein Leben als Verlegerin. Und erst nach und nach merkte ich, was das eigentlich genau bedeutete. Denn mein Ziel war es nicht, einfach aus reiner Freude ein paar Bücher zu veröffentlichen. Ich wollte aus reiner Freude, ein funktionierendes Unternehmen aufbauen.

Mein Weg seit meiner Selbstständigkeit ist pures “learning by doing”. Als die erste Bestellung einer Privatperson aus meinem Onlineshop eintraf, googelte ich erstmal, was eigentlich auf einer Rechnung stehen muss. Als zum ersten Mal eine Buchhandlung bestellte, musste ich zuerst herausfinden, wie viel Rabatt eine Buchhandlung normalerweise vom Verlag bekommt. Ich war nicht panisch, weil ich so vieles nicht wusste, sondern freudig erregt, weil ich so viel in so kurzer Zeit lernte. Auch heute noch, vier Jahre nach meiner Unternehmensgründung, lerne ich wirklich täglich Neues dazu. Die unbegrenzten Möglichkeiten des Internets sind unbezahlbar. Es ist so unglaublich praktisch, dass fast alles online erklärt wird, es gibt Foren und Tutorials. Eine fast grenzenlose Bandbreite an Wissen ist oft nur ein paar Klicks von uns entfernt. Was es braucht, ist unsere Bereitschaft, uns dieses Wissen anzueignen, uns “reinzufuchsen” und es dann anzuwenden. Und wie das so ist, wenn man für ein Thema brennt und sich viel damit beschäftigt: Im Laufe der Zeit lernte ich mehr und mehr Menschen in der Branche kennen, angefangen von Buchhändler*innen bis hin zu anderen Verleger*innen von Independent-Verlagen. Wie bei einem riesigen, wunderschönen Mosaik kam so nach und nach eins zum anderen und die vielen kleinen Teilchen, die anfangs noch recht wirr und zusammenhanglos wirkten, fügten sich immer mehr zu einem stimmigen Ganzen zusammen. Ich schaute mir verschiedene Online-Kongresse an, trat Mastermind-Gruppen bei, war in Facebook-Gruppen aktiv und begann, meine sozialen Medien aktiver zu gestalten. Und mehr und mehr setzt der sogenannte „Schneeballeffekt“ ein, es erreichten mich immer mehr Bestellungen über meinen Online-Shop und oft bestellten Leute später noch mehr Bücher, um sie zu verschenken. Immer mehr Buchhandlungen kamen auf mich zu, um meine Bücher in ihr Sortiment aufzunehmen. Zeitschriften und Blogs schrieben über meine Neuerscheinungen. Aber der Weg ist steinig, mittlerweile habe ich noch ein zweites Kind, schlafe seit viel zu langer Zeit viel zu wenig und begegne immer wieder neuen Herausforderungen. Glücklicherweise weiß ich, dass diese dazugehören und wichtig sind. Meine Bereitschaft, sie zu meistern, ist immer größer, als die Herausforderungen selber.

Gearbeitet habe ich in den letzten Jahren vor allem abends und nachts, wenn die Kinder schliefen und ich die Weite der Nacht vor mir hatte und mit ihr den Deal einging, mich meinen Träumen ein Stückchen näher zu bringen. Was ich immer wieder festgestellt habe: Wenn die Vision stimmig ist und das gesetzte Ziel groß und aufregend, dann wird plötzlich ein innerer Kompass aktiviert und man muss nur noch durchatmen und sich in Bewegung setzen. Was man dabei braucht, ist Vertrauen. Vor allem in sich selbst. Vieles macht erst rückblickend Sinn. Ob man ein glückliches Leben lebt, hängt nicht von den äußeren Umständen ab, sondern von der inneren Einstellung.

Im März diesen verrückten Jahres 2020 habe ich das Gedicht „And the people stayed home“ auf Facebook entdeckt und war so begeistert davon, dass ich es dort gleich geteilt habe. Es handelt davon, dass wir unsere Erfahrungen im Lockdown dazu nutzen können, uns selbst besser kennenzulernen und uns über unsere Prioritäten klar zu werden. Das hat meine tiefste Überzeugung bestätigt: In jeder Krise steckt auch eine Chance. Dieser Glaube gibt mir die Kraft, auch in schwierigen Zeiten die Ärmel hochzukrempeln und weiterhin Bücher zu veröffentlichen, die eine positive Botschaft für die Menschen bereithalten und ihnen Mut machen. Als ich gesehen habe, dass dieses Gedicht bald als Bilderbuch in einem amerikanischen Verlag erscheint, war ich Feuer und Flamme. Ich hatte sofort die Vision, diese optimistische Botschaft auch im deutschsprachigen Raum zu verbreiten. Glücklicherweise ist es mir gelungen, die Rechte für die deutsche Übersetzung zu bekommen. Im Zuge dessen habe ich auch einen sehr persönlichen und herzlichen Kontakt mit der Autorin, einer pensionierten Lehrerin und Seelsorgerin. Ihr Gedicht ist Anfang des Jahres viral geworden, sie wurde sozusagen über Nacht weltberühmt und hat Millionen Menschen Hoffnung geschenkt. Wirklich eine bewegende Geschichte. Für mich hat dieses Gedicht etwas greifbar gemacht, für das ich bis dahin noch keine Worte hatte. Nämlich, dass wir uns durch die Pandemie an das erinnern können, was uns wirklich wichtig ist. Dass wir alle zusammen mit diesen Erkenntnissen eine bessere Welt gestalten können. Meine Lieblingszeilen des Gedichtes sind diese hier: „Und in Abwesenheit der rücksichtslosen, gefährlichen und herzlosen Lebensweisen der Menschen begann die Erde zu heilen.“  In diesem Satz steckt, dass es noch nicht zu spät ist, unsere Erde zu retten. Der Klimawandel beschäftigt mich sehr und ich hoffe, dass es uns Menschen gelingt, noch rechtzeitig die Notbremse zu ziehen.  Durch die Pandemie werden wir aus unserem Alltagstrott geworfen und zum Innehalten gezwungen. In vielerlei Hinsicht bemerken wir erst jetzt, wie schön unser Leben „vorher“ eigentlich war. Ähnlich wird es uns gehen, je mehr die Natur durch die Umweltzerstörung aus dem Gleichgewicht gerät. Ich wünsche mir, dass der Zusammenhalt der Menschheit durch Corona größer wird und dass wir ein Bewusstsein dafür entwickeln, wie fragil, schützenswert und gar nicht selbstverständlich das Leben auf der Erde eigentlich ist.

Im August haben mein Partner und ich uns mit Corona infiziert. Wir waren wochenlang sehr geschwächt und mit unseren beiden kleinen Kindern in Quarantäne. Hinzu kam ein großer Arbeitsdruck für mich, denn ausgerechnet in dieser Zeit gab es besonders viel zu tun, weil wir an der deutschen Ausgabe von „Und die Menschen blieben zu Hause“ gearbeitet haben. Sich auszuruhen ist so ziemlich das Einzige, was man bei Corona machen kann. Das wird sogar dringend empfohlen. Das war ein wirkliches Dilemma für mich. Aber mein Körper hat mich sozusagen dazu gezwungen, mir Auszeiten zu nehmen. Zum Beispiel habe ich seit meiner Erkrankung alle meine Abendtermine auf tagsüber gelegt, um genug Schlaf zu bekommen. Vorher hatte ich an drei Tagen der Woche meinen letzten Termin um 22.00Uhr. Damals dachte ich, dass das nicht anders geht. Aber siehe da: Irgendwie habe ich trotzdem alles unter einen Hut bekommen und das Buch ist rechtzeitig in den Druck gegangen. Das Gedicht stand in dieser Zeit für mich auf dem Prüfstand, aber letzten Endes war es ein großer Hit. Denn schließlich geht es darum, schwierige Situationen anzunehmen und dann das Beste daraus zu machen. Das habe ich mit Hilfe des Buches nochmal verinnerlicht. Ist das naiv oder weltfremd? Ich glaube nicht. Denn was sind die Alternativen dazu? Resignation und Trostlosigkeit. Beides bringt uns keinen Schritt weiter. Ich glaube, was die Welt gerade am dringendsten braucht, sind genügend sture Optimist*innen, die beherzt handeln und andere dadurch inspirieren, das Gleiche zu tun. Meine Neuerscheinung „Und die Menschen blieben zu Hause“ steht ihnen dabei zur Seite. Das Gedicht, in Kombination mit den kraftvollen Illustrationen, gibt Erwachsenen und Kindern Halt in dieser herausfordernden Zeit. Denn es gibt nichts, was mehr beruhigt und bestärkt, als hoffnungsvoll in die Zukunft zu blicken.

Ich habe noch so viel vor und freue mich unglaublich auf alles, was da noch kommen wird. Ich finde es extrem wichtig, groß zu denken und alles für möglich zu halten. Sich nicht selbst mit den eigenen Gedanken zu limitieren. Eine Vision zu haben, die sich so verdammt gut anfühlt, dass man alles daransetzt, sie zu realisieren - auch, wenn man währenddessen keine Ahnung hat, wie das klappen kann. Meine Mission umfasst auch, mich persönlich weiterzuentwickeln und mehr und mehr zur besten Version meiner Selbst zu werden. Ich will mit dem Goldblatt Verlag viele Menschen erreichen und ihnen wertvolle Impulse mit auf ihren Weg geben. Erfolg ist für mich nicht das Ende vom Weg, sondern ein bestimmtes Mindset, während man den Weg geht. Ich glaube generell ist es sehr wichtig zu wissen, wo man hin will. Man kann sich konkrete Ziele setzen und trotzdem total im Moment leben. Das schließt sich nicht aus – im Gegenteil. Um das eigene grenzenlose Potenzial zu entfalten, braucht man einen klaren Fokus. Wenn man die eigene Passion konsequent verfolgt, mit Misserfolgen rechnet und aus ihnen lernt, unerschütterlich an sich selbst glaubt und dabei auch mal über sich selber lachen kann – dann fühlt sich plötzlich sehr vieles sehr richtig an.

Marie Franz

Land der Äcker?

  • 18.03.2021, 16:41

„Land der Äcker?“

Bodenversiegelung und Flächenfraß sind nicht nur baukulturelle Sünden. Warum die Folgekosten uns alle etwas angehen. 

Eine Ortseinfahrt in Österreich: Zuerst Lidl, dann ein Obi, Bellaflora, Fressnapf, McDonalds und Shoe4You. Vor den Geschäften unzählige Stellplätze, die auf PKWs der Kund*innen warten. Das ganze selbstverständlich weit außerhalb der Ortskerne, es könnte ja sonst jemand die Sinnhaftigkeit des Autos in Frage stellen. Dies ist hierzulande leider ein allzu gängiges Ortsbild. Österreich gehört bei der Einkaufsfläche pro Kopf zu den Spitzenreitern in Europa. 51% der Handelsflächen werden auf die „grüne Wiese“ gebaut, was dazu führt, dass Bodenversiegelung und Zersiedelung in einem besorgniserregenden Ausmaß voranschreiten. In punkto Versiegelung, also die luft- und wasserdichte Verbauung, Betonierung oder Asphaltierung von natürlich gewachsenem Boden, sind wir Europameister. Laut Umweltbundesamt werden rund 13 Hektar Boden pro Tag in Österreich verbaut. Zudem haben wir eines der dichtesten Schnellstraßennetze des ganzen Kontinents. 

Doch nicht nur Mobilität und unsere Einkaufspräferenzen, auch unsere Wohnbedürfnisse tragen zu diesem massiven Flächenfraß bei: Der Traum vom Haus im Grünen oder vom Nebenwohnsitz am Waldrand. Die Frage ist nur, geht sich das in der Zukunft noch aus? Können wir uns dieses Tempo beim Verbauen der Landschaft weiter leisten? Boden ist eine nicht-erneuerbare Ressource. Es benötigt rund 200 Jahre, bis 1 cm Boden nachwächst. Was wir also heute verbauen, geht für eine längere Zeit verloren. 

Sind Zersiedelung und Flächenfraß also ein österreichischer Fetisch? Schon Thomas Bernhard charakterisierte die Veränderung der Landschaft in seinem Roman „Holzfällen“: „Da wo noch vor 20 Jahren die schönsten Wiesen und Weiden gewesen sind, stehen jetzt dutzende sogenannte Einfamilienhäuser. Eines hässlicher, wie das andere […] Da wo ein Wäldchen war, da wo ein Garten aufblühte im Frühjahr […] wuchern jetzt die Betongeschwüre unserer Zeit, die auf Landschaft, überhaupt auf Natur, keinerlei Rücksicht mehr nimmt und die nur von der politisch motivierten Geldgier beeinflusst ist.“

Ursachen der Zersiedelung in Österreich

Die Anfänge dieser Entwicklung in Österreich liegen im Bevölkerungs- und Wirtschaftswachstum der 1950er und 1960er Jahre. Der Wirtschaftsaufschwung brachte eine erhöhte Nachfrage nach Fläche mit sich. Gleichzeitig verlor die Landwirtschaft immer mehr an Bedeutung. Der Druck auf Grundbesitzer und Gemeinden, mehr Bauland bereitzustellen, wurde größer. Es wurde umgewidmet, was das Zeug hält. Grünland, allen voran landwirtschaftliche Fläche, wurde als Bauland ausgewiesen. Das Wachstumsversprechen war damals so groß, dass mehr Bauland zur Verfügung gestellt wurde, als tatsächlich Nachfrage bestand. 

Doch von Rückwidmung heute keine Rede, aus einem einfachen Grund: Boden erfährt bei einer Umwidmung eine Wertsteigerung. Wird beispielsweise eine landwirtschaftliche Fläche als Bauland gewidmet, so bringt das in der Regel mehr Geld für den*die Eigentümer*in. Diese*r hat auf Wertverlust durch Rückwidmung in Grünland natürlich wenig Lust. Ist der Boden also einmal Bauland, wird er zu einer attraktiven Wertanlage. 

Bildvorschlag: Baugrund zu verkaufen (im Anhang); Copyright: Johann Jaritz, Wikimedia Commons, lizensiert unter CC BY-SA 4.0; Collage: Christina Kirchmair

Betongold

Die Aussicht auf hohe Renditen locken auch Investor*innen an, die oftmals die Flächen nicht bebauen, sondern nur darauf spekulieren, dass der Boden mit der Zeit an Wert gewinnt. Das führt unter anderem zu dem Umstand, dass Flächen in besten Lagen nicht genutzt werden und verfallen, während die Siedlungsentwicklung an den Ortsrändern und in der „grünen Wiese“ weiter voranschreiten muss. Das treibt Bodenpreise in die Höhe und beschleunigt die Zersiedelung. Expert*innen fordern hier gegen Spekulation durch Baulandhortung gesetzlich vorzugehen, beispielsweise mittels Fristsetzung, innerhalb derer das Grundstück bebaut werden muss, andernfalls drohen Sanktionen.

Vor allem seit der Finanzkrise 2008 ist der Lockruf des „Betongolds“ besonders laut. Seit damals wird Grund und Boden verstärkt finanzialisiert und ist als Anlagegut begehrt. Und das zahlt sich aus. In den Jahren 2010-2020 ist der Bodenpreis in Österreich im Durchschnitt um 71,64% gestiegen. Erfreulich zwar für Anleger*innen und Besitzer*innen, doch der Profit einiger weniger kommt der Allgemeinheit teuer zu stehen. Die Mieten steigen hierzulande stärker als die Löhne. In Ballungszentren ist Wohnraum unerschwinglich, ein Viertel der Bevölkerung gibt mehr als 50% des Einkommens für Wohnen aus. Längst sind es nicht mehr die Baupreise, sondern die Baulandpreise, die die Mieten in die Höhe treiben. Unter diesen Gesichtspunkten mutet es paradox an, dass Boden auf dem freien Markt gehandelt wird, obwohl er sich nicht vermehren kann. 

Verbaute Zukunft

Doch steigende Mieten sind nicht der einzige Effekt, den unser verantwortungsloser Umgang mit Boden mit sich bringt. Durch die zunehmende Zersiedelung und das Bauen auf der „grünen Wiese“ steigen die Ausgaben für Infrastruktur. Auch Gebiete am Stadtrand wollen mit Straßen und Kanal erschlossen werden, während gleichzeitig Ortskerne und ganze Dörfer aussterben. Nicht nur volkswirtschaftlich entsteht hier ein Schaden durch die Verbauung, auch die Natur leidet. Boden erfüllt zahlreiche Ökosystemdienstleistungen. Er ist Lebensraum für unzählige Tier- und Pflanzenarten, er ist eine wichtige CO2-Senke, er reinigt Wasser und saugt es auf, was gerade bei Starkregen und Unwettern von Bedeutung ist, wenn man Überschwemmungen entgegenwirken will. Außerdem hat er eine temperaturabsenkende Wirkung und verhindert die Entstehung von Hitzeinseln. Versiegelter und verbauter Boden kann all diese Ökosystemdienstleistungen nicht mehr erfüllen. Gerade unter dem Aspekt der Klimakrise muss Bodenschutz ein zentrales Anliegen der Debatte darstellen. 

Durch den zunehmenden Flächenfraß und -verbrauch, vor allem von landwirtschaftlichen Ackerflächen, sinkt die Ernährungssicherheit. Das in der Corona-Krise oft beschworene Eigenversorgungspotenzial mit Lebensmitteln wird uns in naher Zukunft nur mehr im Rückblick ein Begriff sein. Zersiedelung und überbordende Bodenversiegelung sind also nicht nur baukulturelle Sünden. 

Kontrolle wäre besser

Grundsätzlich wären Raumordnung und Raumplanung dafür zuständig, Flächenfraß und Zersiedelung einzudämmen. Diese sind aber in Österreich Querschnittsmaterien, Kompetenzen und Instrumente sind zwischen Bund, Land und Gemeinden aufgeteilt. So obliegen beispielsweise Entscheidungen über die Flächenwidmung dem Gemeinderat, der oft fachlich nicht genug mit der Materie vertraut ist oder von monetären oder politischen Zwängen abhängig ist, sprich wiedergewählt werden will und so unbequeme Entscheidungen oft umgeht. Die Landesregierung kommt ihrer Pflicht als Aufsichtsorgan oft zu wenig nach. 

Das führt dann zu Entscheidungen, die zwar für Einzelne von Vorteil, für die Allgemeinheit aber von Nachteil sind. So kommt es, dass beispielsweise der Zugang zu Österreichs Seen nahezu vollständig verbaut und privatisiert ist, unberührte Natur oft Seilbahnen weichen muss und leerstehende Luxusimmobilien in Tourismusorten mittlerweile das Ortsbild prägen. 

Boden für alle

„Eine gute Bodenpolitik ist die Voraussetzung für eine gerechte, ökologische und schöne Welt“, so Angelika Fitz, Direktorin des Architekturzentrums Wien (AzW) im Rahmen der (virtuellen) Eröffnung der Ausstellung „Boden für alle“. Die Ausstellung, die bis 03.05.2021 im AzW zu sehen ist, macht deutlich, wie der sorglose und kapitalgetriebene Umgang mit der Ressource Boden unsere Dörfer und Städte verändert, möchte Zusammenhänge greifbar machen und aufrütteln. Genau recherchierte Zahlen und Daten zu dem Thema werden in der Ausstellung comichaft illustriert und aufbereitet, sodass die trockene Statistik doch etwas greifbarer wird. So wird beispielsweise dargestellt, wie unser Steuersystem Flächenverbrauch begünstigt. Immobilien-relevante Steuern wie die Grundsteuer oder die Bodenwertabgabe sind vergleichsweise niedrig, während Faktoren wie Arbeit hierzulande hoch besteuert werden. Steckt hier Potenzial für ein Umdenken?

Lösungsansätze

Die Ausstellung möchte gleichzeitig Lösungsansätze und Alternativen präsentieren sowie skizzieren, wie eine mutige Bodenpolitik aussehen könnte. So wird das Fallbeispiel des Kantons Basel in der Schweiz als Best-Practice gezeigt. In der Schweiz sieht das Bundesgesetz für Raumordnung vor, dass 50% der Wertsteigerung, die ein Grundstück erfährt, wenn es als Bauland „hochgewidmet“ wird, in einen Fonds fließen. Dieser Fonds ist zweckgewidmet und wird für das Anlegen von Grünflächen, Parks und die Renaturierung von Stadtteilen verwendet, was zur Verbesserung der Lebensqualität der Bewohner*innen beiträgt. In Österreich steht die Wertsteigerung eines Grundstücks allein dem*der Eigentümer*in zu. Die Folgekosten der Verbauung trägt die Allgemeinheit. 

Doch Eigentum verpflichtet, sein Gebrauch soll der Allgemeinheit dienen. So steht es zumindest im deutschen Grundgesetz, was den dortigen Gerichten in Bezug auf raumsparende und bodensparende Grundsatzentscheidungen mehr Handlungsspielraum eröffnet. In Österreich ist Bodenschutz in der Raumordnung aufgrund der verfassungsrechtlichen Unverletzbarkeit von Eigentum schon schwieriger durchzusetzen. 

Eine weitere Möglichkeit, bodensparendes Bauen zu fördern, wäre Bodenschutz als Kriterium für Wohnbauförderungen durchzusetzen. Die Gemeinde Zwischenwasser in Vorarlberg wiederrum stoppt die Außenentwicklung auf der grünen Wiese, indem sie Siedlungsgrenzen definiert, über die die Gemeinde nicht hinausbauen bzw. hinauswachsen soll. Bestehende Flächenreserven innerhalb der Gemeinde und Leerstand sollen vorrangig genutzt werden. 

Der Boden im Fokus

Nicht nur die aktuelle Ausstellung im Architekturzentrum zeigt, dass das Bewusstsein über Bodenverbrauch und Flächenversiegelung langsam wächst. Auch der Baukulturgemeindepreis 2021 stellt mit dem Motto „Boden g´scheit nutzen“ die Ressource Boden in den Mittelpunkt. Auch der „Verein Bodenfreiheit“ wird tätig. Der Verein kauft aktiv Grün- und Freiflächen auf, um sie vor der Bebauung zu schützen. 

Der Unmut der Bevölkerung über den Ausverkauf der Heimat zugunsten von Skiliften, Luxusimmobilien oder Einkaufsparks drückt sich auch in Wähler*innenstimmen aus. In Schladming und Haus im Ennstal wurden unabhängige Bürger*innenlisten bei den Gemeinderatswahlen gestärkt und alte Bürgermeister*innen abgewählt. Die Neuen haben nun eine zweijährige Bausperre für ihre Gemeinden verhängt. Das Thema wird heiß diskutiert. Wir alle müssen unsere eigenen Bedürfnisse hinterfragen und sind aufgerufen uns zu beteiligen, um für eine neue Politik zu sorgen. Es tut sich also was, im Land der Äcker. 

Sebastian Hafner studiert Raumforschung und Umwelt-Bioressourcenmanagement in Wien

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