Warum wir Medien brauchen

  • 13.07.2012, 18:18

Gerade erleben wir in Deutschland, was das heißt, wenn viele Menschen einen Sachverhalt, der sie alle betrifft, anders wahrnehmen und verstehen als die Fachleute und repräsentativen Entscheidungsgremien.

Ein Auszug der Rede Uwe Kammanns beim Dialogforum „Orientierung“ im ORF-RadioKulturhaus.

Gerade erleben wir in Deutschland, was das heißt, wenn viele Menschen einen Sachverhalt, der sie alle betrifft, anders wahrnehmen und verstehen als die Fachleute und repräsentativen Entscheidungsgremien. Ich spreche vom Widerstand und vom Protest gegen Stuttgart 21, ein Umgestaltungsprojekt der Bahn, das sieben, vielleicht zehn Milliarden Euro kosten soll und sicher für zehn Jahre die Stuttgarter Innenstadt in eine lästige Baustelle verwandelt.
Schon hier, bei einem doch regional begrenzten Projekt mit einer vergleichsweise klassischen Technik und einem überschaubarem Instrumentarium, wird deutlich: Direkt kommunizieren lassen sich Für und Wider nur schwer, viele Sektoren des heftigen Austausches berühren Bauchgefühle, stehen für Annahmen, mutieren zu Glaubensfragen. Solche Vorbehalte, was Verstehen betrifft, gelten natürlich erst recht für andere Groß-Fragen: Von der Atomkraft über den Klimawandel und die Gen- Technologie bis hin zur Konflikt-Aufrüstung der Welt, zu Kriegsschauplätzen und Terrorismus.
Doch gleichwohl, wie komplex die Sachstände auch sein mögen, wie fremd uns Entwicklungen sind, wie weit entfernt sie zu sein scheinen von unserer Lebenspraxis und unseren Handlungsoptionen: Ohne mediale Vermittlung wären wir noch viel stärker nichts als potentielle passive Zuschauer, erduldende Objekte, bloße Zufallsgeneratoren. Das hat sich eindrucksvoll bestätigt während der Finanzkrise, einer Krise, die sicher auch deshalb so über alle Maßen dimensioniert war, weil zuvor die kritische Wachsamkeit und die finanzwirtschaftliche Vorstellungskraft der Medien nicht einmal im Ansatz taugte, um zumindest als Frühwarnsystem zu wirken. Wir sahen: Komplizenschaft statt nüchterne Analyse, opportune Bewunderung von scheinbar erfolgreichen Akteuren statt kritischer Distanz, eingebundene Nähe statt kühler Einordnung und unerschrockener Kommentierung.
Doch gibt es natürlich auch eine andere Seite der Münze. Und auch das gehört zu den Grundmustern der Moderne, ist eingefangen beispielsweise im berühmten Schlussvers eines Gedichtes von Charles Baudelaire. Der Dichter, Zauberer des Medialen, spricht dort mit dem Leser. Und was ist danach ihr gemeinsamer Spiegel, in brüderlicher Erkenntnis?
Nichts Schrecklicheres als der ennui – Langeweile, Überdruss!
Was nichts anderes heißt, als dass der Kern des ewigen Spiels ausgehöhlt wird. Auf einmal schauen immer mehr Menschen nur noch angewidert dem Treiben und den Erscheinungen zu, ekeln sich vor dem inszenatorischen Charakter, auf welcher Ebene auch immer – vom Schaugeschäft bis zur Politik – und wollen die politische wie die mediale Bühne am liebsten abschaffen.

Was sie dabei übersehen: Natürlich gibt es Unterschiede in den medialen Leistungen, sehr große sogar.
Da gibt es die großen Presse-Publikationen, überregional, die investieren in redaktionelle Ressourcen, in Recherche, in Dokumentationsgenauigkeit und in Darstellungsvielfalt. Da gibt es die Fachpresse, da gibt es Bücher, Foren, Symposien. Und da gibt es auch Fernseh- und Radiosendungen, in gar nicht geringer Zahl, welche genaue und weiterführende Anschauung bieten, welche audiovisuelle Bereicherung bieten, ihre Möglichkeiten ausreizend.
Und natürlich ist eine ganz neue Informationswelt entstanden. Das Netz ist in seinem Grundcharakter anarchisch, chaotisch, unübersichtlich. Was auch heißt: Die Genauigkeit und die Seriosität der Informationen (um es neutral zu sagen) ist erst einmal nichts als eine Wunschvorstellung der Nutzer.
Und doch: In diesem Netzprinzip steckt auch eine ungeheure Stärke: Nämlich ohne innere Restriktionen, ohne falsche Rücksichtnahmen, ohne institutionelle Einengungen publizieren zu können. Wer hatte früher Zugang zu Bibliotheken, zu Filmen, zu Akten, zu Verwaltungsdokumenten?
Hier, wie an vielen anderen Punkten tut sich mit dem Netz tatsächlich eine Welt des Info-Mehrwerts auf, auch der Demokratisierung von Wissen, der Förderung des politischen, des wirtschaftlichen Handelns und der eigenen Kultivierung.
Aber zugleich wird etwas anderes produziert und transportiert: Nämlich die rasante Entgrenzung. Denn mit jedem Klick tun sich potentiell Milliarden von Infowelten auf – was dann wieder die Unübersichtlichkeit steigert.
In der Inflationierung verliert die vielfach gerühmte Schwarmintelligenz ganz schnell jegliche Richtung und jeglichen Bezugspunkt: Mit der logischen Folge für die Akteure auf allen Ebenen, ohne Orientierung zu sein, hilflos zu wirken.
Aber einsichtig ist auch: Ein anderes, ein verordnetes Grundmuster kann es nicht geben – denn die sinngebenden Großordnungen sind nicht mehr zu haben. Deshalb müssen wir uns im System einrichten, müssen es herrichten als Erkenntnisinstrument. Genau hierin liegt eine große Chance: Es braucht offen sichtbare Umschlagpunkte, es braucht noch nicht festgelegte Baustellen von neuen Plattformen, um sich neu zu vergewissern, was die Ziele des eigenen medialen Handelns – im Herstellen, im Verbreiten, im Wahrnehmen – ausmacht und bestimmt.

Ohne ein weitergehendes Bild von sich und der Welt (und allen vielfältigen Beziehungen dazwischen) würde unsere eigene menschliche und mitmenschliche Dimensionalität verflachen – zusammengeschrumpft auf den alleinigen Mechanismus von Angebot und Nachfrage, von Stärke und Schwäche. Eine dagegen sich aufbäumende Leistung ist unter Kultivierung zu verstehen, individuell und gesellschaftlich. Und hiervon dürfen die Medien – auch jene, welche sich den schlichten Verkaufsgesetzen verdanken – nicht dispensiert werden.
Dies wiederum setzt voraus, dass es noch eine Vorstellung von Allgemeinheit, von Gesellschaft, von Öffentlichkeit gibt – schlicht: Von den res publica. Und zur Vorstellung muss der politische Wille gehören, diesen öffentlichen Raum zu gestalten und auch gegen einengende und widrige Umstände zu bewahren, wenn es denn notwendig ist.
Christina Weiss, Ex-Medien- und Kulturbeauftragte des Bundes, hatte dies in ihrer schönen Schiller- Rede 2004 klar formuliert. Danach ist eben die Vorstellung der ästhetischen Erziehung keine leere Formel, sondern ein ganz und gar lebendiger Auftrag.
Schiller selbst war dabei nicht blauäugig, sondern hat den unauflöslichen, zirkelhaften Zusammenhang zwischen Idee und Praxis klar benannt, indem er die Frage stellte: „Die theoretische Kultur soll die praktische herbeiführen und die praktische doch die Bedingung der theoretischen sein?“ Und weiterfragte: „Alle Verbesserung im Politischen soll von Veredlung des Charakters ausgehen – aber wie kann sich unter den Einflüssen einer barbarischen Staatsverfassung der Charakter veredeln?“
Die Antwort war für ihn einfach: Die Kunst sollte das ausdrücken und hervorbringen, als Werkzeug mit unsterblichen Mustern, um schöne und lebbare Konventionen vorzuzeigen, welche der Willkür einen zivilisierenden Entwurf des eigenen Ich und der Gesellschaft entgegensetzen.
Wenn man Kunst unter den heutigen Möglichkeiten weiter übersetzt, dann gehören die Medien in allen ihren Ausprägungen unbedingt dazu. Und dann darf ganz einfach gefordert werden, dass die Medienmacher den Zirkel von theoretischer und praktischer Kultur nicht vergessen machen wollen, sondern dass sie auf dessen reflektiertem Vorschein bestehen – und damit auf einem Bild des reflektierenden Menschen.
Es muss gelingen, diesen Prozess dauerhaft und gesellschaftlich gut verankert zu etablieren. Denn er ist notwendige Voraussetzung einer Bürgergesellschaft, die sich nicht vom ökonomischen Egoismus, sondern von der steten Verantwortung für das Allgemeine leiten lässt. Einer Bürgergesellschaft, die auf einem selbst bestimmten und selbst bestimmenden Menschen besteht. Eines Menschen, der immer und notwendigerweise auf Medien angewiesen ist, weil eine Welt ohne Vermittlung schlichtweg nicht denkbar ist.

Uwe Kammann ist Direktor des Adolf-Grimme-Instituts.
Die ungekürzte Rede wird in der Jänner-Ausgabe der ORF-Schrift „Texte“ abgedruckt.

AutorInnen: Uwe Kammann