Russland ist eine sanfte Diktatur

  • 13.07.2012, 18:18

Sergej Mitrochin, Vorsitzender der liberalen russischen Oppositionspartei „Yabloko“, spricht über organisierte Korruption in Russland, wie der Westen mit Putin und Medwedew umgehen soll und warum er bereit ist, ins Gefängnis zu gehen.

Sergej Mitrochin, Vorsitzender der liberalen russischen Oppositionspartei „Yabloko“, spricht über organisierte Korruption in Russland, wie der Westen mit Putin und Medwedew umgehen soll und warum er bereit ist, ins Gefängnis zu gehen.

PROGRESS: Wir haben Ihren Namen gegoogelt und fanden fast ausschließlich Fotos, auf denen Sie gerade verhaftet werden. Wie schwer ist das Leben eines russischen Oppositionellen?

Mitrochin: (lacht) Es ist hart, weil es so viele Einschränkungen gibt. Es ist fast unmöglich, etwa mit einer Demonstration nicht gegen ein Gesetz zu verstoßen, weil den Behörden jede öffentliche Versammlung verdächtig erscheint. Die Polizei reagiert häufig mit Gewalt, viele Aktivisten werden für einige Tage weggesperrt. Wir leben in einem autoritären Staat, das wissen wir. Deshalb müssen wir für Demokratie kämpfen.

Würden Sie Russland als Diktatur bezeichnen?

Russland ist im Moment eine sanfte Diktatur. Es ist nicht vergleichbar mit dem Stalin-Regime, aber es ist eine Diktatur, die vorgibt, eine Demokratie zu sein, um vom Westen akzeptiert zu werden.

Wird die Opposition von russischen Medien überhaupt wahrgenommen?

Putin und Medwedew kontrollieren und zensurieren die Medien. Für Putin ist es eines der wichtigsten Instrumente, um an der Macht zu bleiben. Das macht die Oppositionsarbeit noch viel schwieriger.

Wie sieht es mit dem Internet aus?

Wir haben uns über die Zensur der russischen Fernsehstationen beschwert. Medwedew teilte uns daraufhin mit, wir sollen doch einfach ins Internet gehen. Aber man kann die Effektivität der beiden Medien nicht vergleichen.

In Westeuropa heißt es: Unter Jelzin gab es Chaos, Putin hat Ordnung nach Russland gebracht. Deshalb vertrauen ihm die Leute.

Das ist ein Mythos. Putin machte dort weiter, wo Jelzin aufgehört hatte. Unter Jelzin war alles und jeder korrupt, aber das ganze geschah ungeordnet. Unter Putin ist die Korruption nicht weniger, sie ist nur besser organisiert.

Hat die russische Bevölkerung Vertrauen in ihre Regierung?

Sie vertrauen Putin und vielleicht noch Medwedew, weil sie die beiden ständig im Fernsehen sehen. Sie sind Symbole für Hoffnung. Aber sie vertrauen weder der Regierung, noch den Gouverneuren, der Polizei oder sonst einer staatlichen Institution.

Wie soll der Westen mit Putin und Medwedew umgehen?

Er sollte Russland in seine Politik und gemeinsame Projekte einbinden. Die Menschenrechte müssen angesprochen werden, aber es wäre dumm, wäre dies das einzige Thema, das der Westen anspricht.

Könnte eine verstärkte Integration Russlands früher oder später zu einem EU-Beitritt führen?

Das halte ich für wenig realistisch. Es gibt andere Möglichkeiten, Russland einzubinden. Der Beitritt zur EU kann höchstens ein weit entferntes Ziel sein.

Wie wichtig ist diese Anbindung an Europa für einen politischen Wandel in Russland?

Es ist ein wichtiger Faktor von vielen, wie etwa die Einhaltung der Menschenrechte, der Aufbau einer Zivilgesellschaft oder eine wirkliche Gewaltenteilung. Es ist die Aufgabe der russischen Bürger und Bürgerinnen, für diese Sachen zu kämpfen. Aber es wäre einfacher, hätte die EU ein Konzept, um Russland einzubinden.

Arbeitet Ihre Partei mit anderen Oppositionskräften zusammen?

In einzelnen Fällen, ja. Aber oft ist es aus historischen Gründen unmöglich: Wir können uns ganz einfach nicht mit Extremisten wie etwa den Nationalbolschewisten zusammenschließen.

Hat sich Russlands Politik unter Medwedew verändert?

Medwedew hat so getan, als würde er etwas ändern. Aber er hat nicht gehalten, was er versprochen hat. Es ist vollkommen klar, dass er nichts gemacht hat und er wird auch im letzten Jahr seiner Präsidentschaft nichts mehr machen.

Gibt es einen Machtkampf zwischen Putin und Medwedew?

Medwedew hat nicht die Unterstützung der russischen Eliten und der Regierung. Putin kontrolliert alles – inklusive Medwedew, der einfach eine Erfindung Putins ist.

Glauben Sie, dass Medwedew seinem Erfinder bei der nächsten Wahl wieder Platz machen wird?

Das ist möglich, aber ich schließe auch nicht aus, dass Putin einfach einen weiteren Präsidenten erfindet.  

Kann Putin die Macht in Russland überhaupt noch verlieren?

Derzeit nicht. Das wäre nur bei einer zweiten Wirtschaftskrise möglich, aber Russland ist aufgrund der Gewinne im Öl- und Gassektor weit von einer ernsten Krise entfernt. Ich glaube nicht, dass Putin die Kontrolle in den nächsten Jahren verlieren könnte.

Im Sommer kam es zu Demonstrationen gegen den Bau eines Highways durch den Chimki-Wald. Schließlich gab Medwedew nach und ließ den Bau stoppen. Hört Medwedew doch mehr auf das Volk, als ihm zugetraut wird?

Nein, zum Baustopp kam es erst, nachdem das Thema auch international für Schlagzeilen sorgte. Putin und Medwedew mussten reagieren und sich vor der Weltöffentlichkeit rechtfertigen.

Es kam auch zu gewalttätigen Übergriffen durch maskierte Männer. Waren Sie davon auch betroffen?

So geht man mit Demonstrationen in Russland immer um, es ist das übliche Prozedere. Man versucht, die Teilnehmer einzuschüchtern.

Wer steckt hinter diesen maskierten Schlägern?

Jene Unternehmen, die ein Interesse am Bau dieses Projektes haben.

Immer wieder hört man von AktivistInnen, die wegen Widerstands gegen die Staatsgewalt eingesperrt werden. Wie unabhängig sind Russlands RichterInnen?

Es gibt kein einziges unabhängiges Gericht in Russland. Besonders nicht, wenn es sich um einen politischen Prozess handelt.

Wie oft waren Sie schon im Gefängnis?

(lacht) Unzählige Male. Aber nie für lange.

Haben Sie manchmal Angst?

Ich fürchte mich davor, dass meinen Kollegen etwas passiert. Es ist gefährlich, in Russland politisch aktiv zu sein.

Aber Sie selbst haben keine Angst?

Im Gefängnis zu sein, ist… unangenehm. Aber als russischer Oppositionspolitiker muss man bereit sein, eingesperrt zu werden.

AutorInnen: Markus Kiesenhofer, Andreas Rossmeissl