Schönheit im Zerfall

  • 13.07.2012, 18:18

Wer der Perfektion misstraut, ist in New Orleans gut aufgehoben. Vieles bröckelt ab, und doch ist die Stadt das Interessanteste, was die Golfküste zu bieten hat. Ein Erfahrungsbericht.

Wer der Perfektion misstraut, ist in New Orleans gut aufgehoben. Vieles bröckelt ab, und doch ist die Stadt das Interessanteste, was die Golfküste zu bieten hat. Ein Erfahrungsbericht.

Rumms. Das Taxi erwischt ein Schlagloch mit 35 mph, die Fonds-InsassInnen schüttelt es durch. “I hate this street!”, flucht der Fahrer. Er befindet sich auf einer der Hauptverkehrsstrecken der Stadt, selbst dort findet sich eine breite Auswahl an “Potholes”, dem gemeinsamen Erkennungsmerkmal der Straßen von New Orleans. Nicht nur die Straßen bröckeln. Häuser, Dächer, Autos, Plätze: Ohne Dellen, abblätternder Farbe und fehlende Steine wären sie nicht Teil der Stadt. Was mit dem Euphemismus Elegant Decay umschrieben wird, ist Ausdruck der prekären sozioökonomischen Situation der Crescent City.
Das Stadtbudget ist knapp, doch nicht nur der Verwaltung fehlt hier das Geld, sondern auch den BürgerInnen. Das Median-Haushaltseinkommen in New Orleans liegt bei knapp 37.000 Dollar, das sind etwa 15.000 Dollar weniger als im U.S.- Durchschnitt. 24 Prozent der Bevölkerung leben unter der Armutsgrenze.
So viel Negatives kann schon über New Orleans geschrieben werden, ohne den Hurrican Katrina auch nur einmal zu erwähnen. Dieses Symbol für das Versagen des amerikanischen Katastrophenschutzes markiert hier die Stunde Null der Zeitrechnung. 2005 standen weite Stadtteile wochen- und monatelang in einer toxischen Brühe. Was Sturm und Wasser übrigließen, fraß der Schimmel auf.
Wenn hier nichts rosig und alles schadhaft ist, warum wollten die BewohnerInnen nach Katrina in die Stadt zurück? Weil New Orleans die interessanteste Stadt der USA ist, behauptet die Tafel an der Stadteinfahrt. Und Belege finden sich dafür genug: großzügige Parks, die von angelegten Teichen über verwilderte Eichenwälder bis zu Baseball-Feldern alles bieten. Der Lake Ponchartrain, an dessen Ufer es sich ein wenig wie am Meer anfühlt. Historische Bauten, die nicht Hochhausprojekten zum Opfer gefallen sind, sondern stolz renoviert wurden. Der mächtige Mississippi und die Öltanker, die den Old Man River entlanggleiten. Kein(!) Alkoholverbot auf öffentlichen Plätzen. Eine kreative und ambitionierte Essenskultur. Und natürlich die Musik. Bars mit Live-Musik gibt es hier wie Sand am Meer. Allerdings finden sich darin nicht wie in Österreich mehrheitlich stark alkoholisierte Möchtegern-Bon- Jovis, sondern ernstzunehmende MusikerInnen. Sie reinterpretieren Jazz-Standards aus den 20ern, erfinden den Rockabilly neu oder pusten in einer 10er-Formation als Brass Band die halbe Straße weg. Kein Jazz-Fan? Kein Problem – von Bright Eyes bis Jay-Z können geneigte Austauschstudierende hier alles haben. Fast jedes Wochenende steht ein anderes Festival am Programm, und die Stadt ist leistbar.
Wer sich aus dem Uni-Campus rauswagt, kann hier also eine tolle Zeit verbringen. Denn alleine wegen den Hochschulen kommen wenige her. Die beste Privatuniversität am Platz ist die Tulane University. Für etwas über 40.000 Dollar Studiengebühren im Jahr bekommen Kinder reicher Eltern hier einen Campus mit hübschen historistischen Gebäudefassaden geboten. Im Times Higher Education Ranking der besten Hochschulen der USA taucht diese Alma Mater dennoch nicht auf. Im lokalen akademischen Feld allerdings nimmt sie einen wichtigen Platz ein. Nicht zuletzt ist die Tulane University der zweitgrößte Arbeitgeber der Stadt und damit ein unverzichtbarer ökonomischer Motor. Ein Großteil der Studierenden kommt jedoch nicht aus New Orleans oder Louisiana, denn wer hier lebt, kann sich die hohen Studiengebühren selten leisten. 70 Prozent der Studierenden an der Tulane sind „weiß“, die Uni passt damit gut in die Demografie des Stadtteils, in dem sie angesiedelt ist: Uptown. Die Gegend ist hübsch, die Streetcars sind pittoresk, die Immobilien teuer, und wer hier wohnt, ist selten arm.
Am Ufer des Lake Ponchartrain, also mehr oder weniger am anderen Ende der Stadt, befindet sich die öffentliche Universität. Die University of New Orleans kann zwar ein vielversprechendes Akronym vorweisen, doch die Gebäude sind weniger prächtig, die Campus-Ausstattung dürftiger und die Eichhörnchen dreister als an der privaten Schwester Tulane. Hier kostet ein Studienjahr als Bachelor-StudentIn „nur“ etwa 4.700 Dollar, und so finden sich hier viele Studierende aus New Orleans. 55 Prozent der Studierenden sind „weiß“. In einer Stadt mit 30 Prozent „Weißen“ im demografischen Mittel ist das zwar immer noch viel, aber der Campus-Rundgang zeigt deutlich mehr Diversität als jener an der Tulane University. Mit Star-Alumni kann sich diese Uni kaum schmücken, dafür aber mit ihrer bekanntesten Studienabbrecherin: US-Talkshowmoderatorin und Schauspielerin Ellen DeGeneres.

Die Erzählungen der Studierenden über die Zeit nach Katrina zeigen die Perspektive der Jungen auf die Naturkatastrophe. Quer durch den Bundesstaat und noch weiter waren sie im Wintersemester 2005 verstreut. Viele landeten in Baton Rouge, und sie konnten das Sankt Pölten von Louisiana nicht ausstehen. Am Tag als New Orleans „wieder aufsperrte“, kamen sie zurück. Geschäfte habe es da zwar noch keine gegeben, doch mit Food-Trucks tuckerten die Hilfsteams täglich durch die Stadt und verteilten Essen. Für Studierende mit beschränkten Budgets seien das paradiesische Zustände gewesen, so erzählen einige.
Mit der Zäsur „Katrina“ hat sich für New Orleans auch eine Möglichkeit eröffnet: Besser zurückzukommen. Rebirth Brass Band ist der passende Name für die beste Bläser-Kombo der Stadt, und als 2010 die New Orleans Saints den Superbowl in die Crescent City holten, schien das Comeback perfekt. Doch auch systematische, nicht nur symbolische „rebirths“ finden sich in der Stadtgeschichte. Vor Katrina war New Orleans für die schlechtesten öffentlichen Schulen des Landes bekannt. Nach einer radikalen Umstrukturierung des Schulsystems schneiden die Jugendlichen in
den standardisierten Bildungstest nun deutlich besser ab. Aktuell wird ein neuer Versuch unternommen, die Mord rate der Stadt zu senken. Während in Österreich auf 100.000 EinwohnerInnen ein halber Mord pro Jahr kommt, beläuft sich diese Zahl in New Orleans auf 52.
Opfer und TäterInnen sind fast ausschließlich junge AfroamerikanerInnen – Arbeitslosigkeit und fehlende Zukunftsperspektiven haben damit mehr zu tun als die oft beschworene Bandenkriminalität. Diese „Kultur der Gewalt“ soll nun nachhaltig geschwächt werden. Die Stadtregierung finanziert ein Gewaltpräventionsprojekt mit 250.000 Dollar. Ob New Orleans damit weite Sprünge machen kann, wird sich zeigen.

AutorInnen: Eva Maltschnig