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Wieso wir Leistung nicht vor Gesundheit stellen sollten

  • 18.01.2022, 15:24
Ein roter Faden durch gefährliche Selbstoptimierung, die neoliberale Idee dahinter und ihren Zusammenhang mit unserer mentalen Gesundheit im Studium.

Wer heute lange genug durch diverse soziale Medien browst, stolpert früher oder später auf Selbstoptimierer_innen. Wenn man Instagram, Facebook und Co. glauben will, wirken Selbstoptimierer_innen zumindest in ihren Beiträgen als Fitnesstrainer_in, Vorzeigestudent_in und Ernährungscoach so, als hätten sie über jedes kleinste Detail in ihrem Leben die vollkommene Kontrolle und als schafften sie es, sich selbst auf einen hingeträumten „Optimalzustand“ des menschlichen Seins zu bringen. Mit dem Mindset „wer lange genug an sich arbeitet, schafft das, was ich geschafft habe“ setzen sie über soziale Medien unrealistische und gefährliche Standards. Ob das Leben der Influencer_innen offline tatsächlich so glamourös abläuft, dringt nicht durch.

Diese gefährlich hoch angesetzten Standards wirken auf außenstehende – und vor allem junge – Leute oft extrem belastend. Der konstante Druck, nicht gut genug zu sein und mehr an sich arbeiten zu müssen, trägt immens dazu bei, dass junge Erwachsene mit ihrer psychischen Gesundheit kämpfen müssen. Auch Jugendliche und Kinder sind diesen nicht einhaltbaren Standards ausgesetzt und erleben schon früh den Stress und Druck, nicht mit anderen mithalten zu können. Das erklärt die seit Jahren steigenden Zahlen der psychischen Krankheiten bei Personen unter 30.

Psychische Belastungen und Krankheiten haben durch die Corona-Pandemie stark zugenommen. Eine Studie der Donauuniversität Krems erhob, dass im Jahr 2019 rund fünf Prozent der jungen Erwachsenen eine depressive Symptomatik aufwiesen, während im Jahr 2021 fast die Hälfte der jungen Erwachsenen betroffen waren. „Besonders deutlich sind die sehr schweren Fälle, die sich in den letzten Jahren verzehnfacht haben“, meint der Leiter des Departments für Psychotherapie und Biopsychosoziale Gesundheit an der Donauuniversität Krems Univ.-Prof. Dr. Christoph Pieh. Er ortet einen deutlichen Rückgang der Lebensqualität, der besonders Frauen, Arbeitslose und Alleinstehende trifft.

Von einer „Radikalisierung von arm und reich“ spricht in diesem Zusammenhang Prof. Dr. Benigna Gerisch, Psychoanalytikerin von der IPU Berlin. „Das heißt, dass mit den entsprechenden Möglichkeiten, die zur Verfügung stehen, man besser durch die Pandemie kommt, als wenn man die eben nicht hat. Einigen ist es also ziemlich gut gelungen, die Pandemie für sich ausgesprochen konstruktiv zu nutzen.“ Damit einhergehend steigt die öffentliche Präsenz von Selbstoptimierer_innen und vor allem auch der durch die fehlenden sozialen Kontakte entstehende Drang, die eigenen Erfolge in den sozialen Medien mit anderen zu teilen.

Selbstoptimierung und der dadurch resultierende Druck sind also kein neues Phänomen, wurden aber durch die Pandemie stark verschärft. Doch nicht alle haben die Möglichkeit, täglich ins Fitnessstudio für Sport, in die Bibliothek zum Lernen und in den Bio-Supermarkt für gesunde Ernährung zu gehen. Menschen, die neben dem Studium nicht arbeiten müssen und zuhause keine Betreuungspflichten haben, schaffen das viel wahrscheinlicher. Doch vor allem der erste Lockdown im März 2020 hat tiefe Gräben in der Gesellschaft gezogen. Die einen verlieren ihren Job, sind auf kleinstem Raum zuhause eingesperrt und müssen sich mit Zukunftsängsten herumschlagen, für die anderen fühlt es sich fast an wie Urlaub: Ein paar Monate zuhause sein, Zeit für Sport, gesunde Ernährung und sich selbst haben, im Studium weiterkommen. Es wird also klar: Selbstoptimierung ist Klassenfrage und wird durch die Pandemie verstärkt.

Doch woher kommt dieser Drang, sich ständig verbessern zu wollen und nicht gut genug zu scheinen? Die Wurzel befindet sich wie so oft in unserer kapitalistischen und neoliberalen Gesellschaft. Für jede_n brave_n Kapitalist_in ist das wahre Ziel im Leben das Streben nach individuellem Erfolg und persönlichem Reichtum. Nicht die Gemeinschaft, sondern das Individuum muss sich profilieren und nach den Sternen greifen. Um in einem solchen Weltbild Erfolge feiern zu können, ist es also notwendig, nicht in der Masse zu verschwinden, sondern herauszustechen, besser zu sein als die Leute um dich herum und keine Schwächen oder Nachteile zu zeigen. Nur so schafft man es an die Spitze. Doch für jede Person an der Spitze dieser neoliberalen Pyramide werden eine ganze Reihe an Personen an den Boden der Pyramide gedrückt, wo sie unter immer prekäreren Lebenssituationen leiden. Damit einhergehend: ein starker Abfall der mentalen Gesundheit.

Wenn man nun dieser neoliberalen Wertehaltung glauben möchte, ist also Selbstoptimierung die einzige Möglichkeit zum Erfolg. Um diese Theorie zu untermauern, wird oft die Erzählung des „American Dreams“ ausgegraben - jede Person kann es an die Spitze schaffen, wenn man sich fest genug anstrengt. Ob nun persönlicher Erfolg wirklich das einzige Ziel im Leben sein sollte, sei mal dahingestellt. Ein solches individualistisches Denken fördert nämlich kapitalistische Strukturen nur weiter.

Ein weiteres, riesiges Problem in dieser Denkweise ist, sind unterschiedliche Lebensrealitäten in unserer Gesellschaft. Denn wie schon angesprochen scheitert Selbstoptimierung für viele nicht an mangelndem Interesse oder Motivation. Notwendige Arbeitstätigkeit, Care Arbeit, Betreuungspflichten oder emotionale Arbeit sind für viele existenziell und nicht ablegbar. Zusätzlich stellt sich die Frage, nach welchem „Optimalzustand“ überhaupt gestrebt wird. Denkt man an eine stereotypisch makellose Person, entspricht diese meist den folgenden Kriterien: jung, weiß, schlank, cis-hetero, able-bodied, sportlich, klug und gut ausgebildet. Dass diesem Bild der Großteil der Gesellschaft nicht entspricht, nicht entsprechen kann oder will, wird außer Acht gelassen. Außerdem wird damit der Eindruck geweckt, dass alle Personen, die diesen Kategorien nicht entsprechen, minderwertig seien und als Mensch so nicht ausreichend. Schnell wird also klar, dass Selbstoptimierung und das Streben nach Perfektion Hand in Hand mit diskriminierenden Vorurteilen gehen und Rassismus, Sexismus, Ableismus oder Queerfeindlichkeit fördern. Solche Selbstoptimierungsprozesse sind immer an Konkurrenz und Wettbewerbsfähigkeit gekoppelt. Wer nicht mithält, fällt weg. Für alle anderen heißt steigende Selbstoptimierung auch steigender Leistungsdruck und nicht einhaltbare Erwartungshaltungen.

An dieser Stelle wichtig zu erwähnen: Nicht alle, die gerne Sport machen, sich gesund ernähren oder gerne an sich arbeiten, sind schuld an sozialer Ungleichbehandlung. Wichtig ist jedoch, Selbstoptimierung im Zusammenhang mit den obigen Kategorien zu sehen und auf die mentale Last, die Selbstoptimierung mit sich bringt, hinzuweisen. Es ist wichtig, mit großer Entschlossenheit gegen individualistische und neoliberale Strömungen in unserer Gesellschaft vorzugehen.

Das Phänomen der Selbstoptimierung lässt sich jedoch nicht nur in der Freizeit und im privaten Raum wiederfinden, sondern auch an unseren Hochschulen. Auch hier führen Selbstoptimierung und der schnelle Erfolg von einigen wenigen Privilegierten zu massivem Leistungsdruck. Als im ersten Lockdown auch die Hochschulen geschlossen wurden, kam es österreichweit an den Universitäten zu einem deutlichen Anstieg der Prüfungsaktivität unter den Studierenden. Das heißt, dass mehr Studierende in derselben Zeit erfolgreich Prüfungen abgelegt haben. Da die Prüfungsaktivität in direkter Verbindung zum verfügbaren Budget der jeweiligen Hochschule steht, mag diese Zahl auf den ersten Blick erfreulich wirken. Mehr prüfungsaktive Studierende heißt demnach mehr Geld für die Hochschulen.

Leider konnte der Anstieg in der Prüfungsaktivität aber nicht durch einen Anstieg der Qualität der Lehre oder bessere Betreuungsverhältnisse erreicht werden und sich damit langfristig auf ein höheres Level begeben, sondern durch ein kurzzeitiges Ausquetschen der Studierenden durch Leistungsdruck und Zukunftsängste. Die Folgen davon wurden unter anderem durch die Studie von Univ.-Prof. Dr. Christoph Pieh festgehalten: Die Anzahl junger Erwachsener mit depressiven Symptomen stieg von fünf Prozent auf 50. Das ist ein Anstieg um das zehnfache in nur zwei Jahren.

Betroffen sind von diesen alarmierenden Zahlen überdurchschnittlich oft Studierende aus Arbeiter_innenfamilien. Also die, die sich oft nur durch zusätzliche Lohnarbeit das Studium finanzieren können. Dadurch lastet nicht nur der allgemeine Leistungsdruck an den Hochschulen auf ihnen, sondern auch die Zusatzbelastung durch das Arbeiten. Es bleibt weniger Zeit zum Lernen oder um auf die eigene Gesundheit zu achten. Sich mehr Zeit zum Studieren zu nehmen, klappt jedoch auch nicht. Denn wer das Studium nicht schnell genug abschließt, den erwarten teure Studiengebühren, die sich arbeitende Studierende meist nicht leisten können.

Die erhöhte mentale Belastung unter Studierenden wird nicht ganz unkommentiert gelassen. An den Unis gibt es nun schon seit 50 Jahren die Möglichkeit, psychologische Studierendenberatung in Anspruch zu nehmen. Deren Angebote sind für Studierende kostenlos und in diversen Universitätsstädten erhältlich. Der Andrang auf diese Stellen ist seit dem Sommersemester 2020 um ein Vielfaches angestiegen. Die Leiterin der Wiener Stelle für psychologische Studierendenberatung Dr. Katrin Wodraschke spricht von einem Bedarfsanstieg von einem Viertel. Da von der Regierung nur wenig Unterstützung gekommen ist, um diesen Bedarf decken zu können, haben viele Therapeut_innen Plätze aus eigener Tasche finanziert. Das ist zwar eine kurzfristige Hilfe, kann jedoch nicht dauerhaft aufrechterhalten werden. Leider fehlt bis heute noch immer die politische Antwort der Bundesregierung für die Deckung des gestiegenen Bedarfs.

Der einzige Weg, diese besorgniserregend hohen Zahlen zu beseitigen, ist es, geschlossen gegen Leistungsdruck, Selbstoptimierung und Klassismus an unseren Hochschulen, aber auch in unserer Gesellschaft, vorzugehen. Es braucht politische Antworten auf diese Zahlen. Kurzfristig bedeutet das zum Beispiel die Erhöhung von Kassenplätzen für psychologische Betreuung oder den Ausbau der psychologischen Studierendenberatung. Langfristig müssen unsere Hochschulen zugänglich für alle gemacht werden. Solange der Studienerfolg abhängig vom Geldbörserl der eigenen Eltern ist, werden Universitäten ein Ort der Eliten bleiben und alle anderen psychischem Druck aussetzen.

Schlussendlich ist es die Aufgabe der Politik, sich mit der Frage „und jetzt?“ auseinanderzusetzen. Die erschreckenden Zahlen zu mentaler Gesundheit sollten spätestens durch die Pandemie als Weckruf an die Verantwortlichen dienen. Es braucht sozialen Rückhalt, großflächig angelegte Verbesserungen in Studienplan, -alltag und in der Hochschulgesetzgebung. Nur so kann die Krise in der mentalen Gesundheit von Studierenden überwunden werden.

„Weißes Gold“ am „Westend“ Europas

  • 25.01.2022, 17:43
Im strukturschwachen Grenzgebiet Nordportugals an der Grenze zum nordspanischen Galicien sowie der Extremadura in Südwestspanien prallen die Interessen der nationalen wie europäischen Politik sowie Energie- und Bergbau-Konzerne auf den Widerstand der lokalen Bevölkerung.

Lithium ist weit mehr als ein Antidepressivum, über das Kurt Cobain seine legendäre Grunge-Hymne schrieb. In Batterien steckt es nicht nur in Laptops und Smartphones; es ist für Autobatterien zurzeit das Fundament der Energiewende hin zur postulierten „totalen Elektromobilität“. 

Vorerst, bis sich Alternativen eröffnen. Der Wettlauf um Lithium-Lagerstätten von Bergbau-Weltkonzernen (aber auch weit kleinerer Bergbau-„Start-Ups“) und Regierungen, die sich gleichermaßen satte Gewinne und Steuereinnahmen erhoffen, ist längst ein globaler. Dabei will sich die EU in puncto Rohstoffe zuletzt immer autarker aufstellen und Abhängigkeiten tunlichst verhindert wissen. Die weltgrößten Lagerstätten werden aktuell in Argentinien, Chile und Bolivien sowie in Australien ausgebeutet. Es wurden 2019 weltweit 77.000 Tonnen und 2020 knapp 82.000 Tonnen des Alkalimetalls gefördert; bei einer Wachstumsrate von knapp 25 Prozent soll sich diese Menge bis 2024 mehr als verdoppeln. 

In den nordportugiesischen Minas do Barroso soll die jährliche Fördermenge gleich stattliche 175.000 Tonnen Lithium werden. Savannah-Ressources CEO David Archer betont im progress-Gespräch, dass Portugal „Europa eine lokale Quelle des Minerals gebe“. Damit wäre das Senken der CO2-Ausstoß-Mengen über die Elektromobilität erst im Individual-, dann im Frachtverkehr rascher umzusetzen. Auf 593 Hektar sollen in den Gemeinden Dornelas und Covas do Barroso in der Provinz Trás-os-Montes („Hinter den Bergen“), im als „strukturschwach“ klassifizierten Hinterland ganz im Norden Portugals, 20 Kilometer von der Grenze zum nordwest-spanischen Galicien vier Krater ausgehoben werden, die schlussendlich bis 200 Meter, stellenweise gar 40 Meter, an Häuser der Ortschaft Covas de Barroso heranreichen werden. Liegt doch hier eine der größten Lagerstätten des stark Lithium-Dioxid-haltigen Minerals Spodumen des „Alten Kontinents“, wie Sondierungen belegen. Die Barroso-Mine ist übrigens erst das zweite Großvorhaben von Savannah, das seit 2013 in einer Joint-Venture mit dem Weltkonzern Rio Tinto schwermineralhaltige Sande in Mosambik abbaut (eng. Heavy Mineral Sands). 

NEIN ZUR MINE, JA ZUM LEBEN. Rund 800 Arbeitsplätze (215 direkt, 500-600 indirekt) soll das Mammutprojekt in den Gemeinden schaffen, bei einer Bevölkerung von nicht einmal 300 in 
der Gemeinde Covas de Barroso und knapp 770 in Dornelas. In den 1980ern war die Region das Armenhaus Portugals, in der vergangenen Dekade prägte Überalterung und Landflucht die Demographie. Doch die Bewohner_innen der Ortschaften und Gemeinden, die einerseits von ökologischer Landwirtschaft in Kleinstbetrieben leben (seitens der Welternährungsorganisation als Weltkulturerbe anerkannt) und andererseits vom Aktiv- sowie Wandertourismus in der hier so gut wie unberührten Natur, gehen seit über zweieinhalb Jahren auf die Barrikaden. „Nein zur Mine, ja zum Leben“ ist einer der Slogans, die Protestbanner zieren. Im Weideland bei Covas de Barroso hatte man in überdimensionalen Lettern „HELP!“ in die Vegetation gemäht. Neben dem herben Einschnitt in die Natur, die Basis für die Landwirtschaft und den sanften Tourismus, fürchten die Bewohner_innen gesundheitsschädlichen Staub und die Verschwendung von Wassermassen sowie die Verschmutzung des Grundwassers. Neben dem permanenten Lärm von Explosionen zur Förderung, versteht sich.

FRAUEN PRÄGEN DEN KAMPF. Catarina Alves Scarrott, die Vorsitzende der selbstorganisierten Widerstandsbewegung Associação Unidos em Defesa de Covas do Barroso, ist sich bewusst, gegen wen man alles kämpft. Im Gespräch mit progress meint sie, „dass sich in der portugiesischen Regierung eine Lithium-Lobby festgesetzt hat“. Sie beklagt eine massive „Kampagne der Desinformation im staatlichen und privaten TV und der Presse“, gekoppelt an „sozial-verantwortungsbewusste“ Werbeeinschaltungen von Savannah. Gegen den „drohenden Ökozid, den die Regierung zu Gunsten kurzfristiger Gewinne plant, ist man im Recht, für das Land zu kämpfen“, sagt sie. Es wären in erster Linie die Frauen der Gemeinden, die den Kampf prägen, erzählt Alves weiter, „weil wir langfristig denken.“ Politisch werde man bisher nur von den Grünen (in Allianz mit Kommunist_innen als Coligação Democrática Unitária) unterstützt. Und man tourte mit den Zapatistas in den Sommermonaten durch Europa, um Menschen wachzurütteln. 

Wie viel Geld exakt Savannah in Werbeeinschaltungen und Image-Kampagnen in Radio, TV, Print- und Digitalmedien für die Mina do Barroso in Portugal investiert, wollte die für den Bergbau-Konzern arbeitende britische Top-PR-Agentur Camarco auf mehrere progress-Anfragen hin nicht offenlegen. Die Summe muss beträchtlich sein. Massiv für das Bergbauprojekt tritt auch die Mediengruppe Global Media um Diario de Noticias, Jornal de Noticias und insbesondere die zuvor zitierte Wirtschaftszeitung Dinheiro Vivo ein. Hier spielt man quasi unentwegt eine Pro-Kampagne, und es finden sich fast täglich Savannah-Inserate. Auf den offenen Meinungsseiten schrieb der Savannah-CEO einen fast ganzseitigen Werbe-Artikel. Und Chefredakteurin Joana Petiz führte nicht nur ein Promo-Interview mit Archer, in einem Editorial diskreditierte sie Umweltschützer_innen und Gegner_innen der Mine, wie auch Alves‘ Verein. Auch der Lokal-TV-Sender Sinal-TV produzierte eine Lithium-Reportage, die schlussendlich nur Savannah und Befürworter_innen der Mine zu Wort kommen ließ, obwohl auch Alves und ein kritischer Bürgermeister interviewt worden waren. Auf Nachfrage von Alves hieß es lapidar, dass die Aufzeichnungen leider verloren gegangen seien.

Hinzu kommt eine ganze Riege an Geologie-Professor_innen, in erster Linie von der Universität Porto, die in Interviews und Meinungsartikeln für die Lithium-Bergbaupläne eintreten. Sogar bei einer Konferenz zu „Green Mining“ in Lissabon kamen einzig Befürworter_innen zu Wort.

Zumindest die Speerspitze des portugiesischen Qualitätsjournalismus, Expresso, recherchiert tief- und hintergründig, um schlichtweg illusorische Zukunftsträume vom „Green Mining“, die Savannah und andere Bergbaukonzerne schüren, zu widerlegen. Sei es die postulierten 100-prozentige Versorgung durch nachhaltige Energien – die Wasserkraftwerke der Region liefern nicht ausreichend Energie, und Portugal importiert Strom – bis hin zu rein elektrisch betriebenen Bergbaufahrzeugen. Für die massigen Bergbau-Laster gibt es wohl auf lange Sicht auch keine Alternative zu Dieselkraftstoff.

Der Kampf gegen die Mine ist freilich keiner, der einzig und alleine in Portugal ausgetragen wird. Die EU will dezidiert unabhängiger von ausländischen Rohstofflieferanten werden, seit September vergangenen Jahres steht Lithium auf der EU-Liste der „kritischen Rohstoffe“. Deshalb sollen in EU-Mitgliedsstaaten Lithiumminen entstehen. Um die „grüne Revolution“ zu ermöglichen, ist die EU-Kommission in Brüssel eine Befürworterin dieser Bergbauprojekte. Wenig überraschend, dass neben zahlreichen EU-Parlamentarier_innen auch Peter Handley, der Beauftragte der EU-Kommission für Energie- und Ressourceneffizienz, und natürlich die Zeitung Economist für den erhofften „Lithium-rush“ in Portugal eintreten.

Savannah verspricht derweil „minimale Auswirkungen auf die Umwelt“. Wenn alles abgebaut ist, werde man Baggerseen aus den Kratern machen, was den Tourismus ankurbeln wird, so ein Firmen-Video auf Youtube. „Green Mining” ist auch der Slogan der EU-Kommission, die nach knapp zwei Dekaden der rigorosen Minen-Schließungen nun wieder auf eigenem Terrain Bodenschätze fördern will. Dabei ist es ein Irrglaube, dass der Bergbau in der EU aufgrund der meist strengeren Auflagen weniger umweltschädlich sei als in Staaten am afrikanischen Kontinent oder in Südamerika, wie der Responsible Mining Index 2020 belegt. Umweltschützer_innen der NGO Asociación Nacional para la Conservación de la Naturaleza (Quercus) haben berechnet, dass eine jede Lithium-Mine 1,79 Mio. Tonnen CO2 pro Jahr freisetzt, womit die „grüne Wende“ ab absurdum geführt wäre.

Gegen Bergbaustaub würden selbstfahrende E-Fahrzeuge eingesetzt, die beispielsweise hinter den Riesen-Minenlastern (die Giganten werden noch lange Zeit mit Diesel fahren, bei einem Verbrauch von ca. 190 l/Betriebsstunde) automatisch Wasser versprühen. Umweltdaten sollen in Echtzeit öffentlich zugänglich gemacht werden und man will, so Savannah, „lokale Gemeinschaften“ mit einbinden, Stichwort Cooperate Social Responsibility (CSR). 

„Lithium ist aber nur eine Übergangslösung und der Boom wird nicht ewig halten, maximal 20 Jahre. Damit lässt sich das Weltklima sicher nicht retten“, sagt Mario Klammer zum progress. Der österreichische Unternehmer, der 10 Jahre Erfahrung im E-Mobility-Bereich hat und Gründer von EVN (Liechtenstein) ist, hat sich spezialisiert auf E-Transport-Lösungen (autonome WAB, Wechselaufbaubrücken), Öffi-Busse und Taxis. Die Zukunft sieht er in Graphen-Batterien und klassisch in Natrium, das sei billig und überall vorhanden. Bergbauvorhaben wie das in den Minas de Barroso sieht er überaus kritisch: „Bei No-Name-Glücksrittern (Anm. Bergbau-Start-Ups wie Savannah), die nur auf das schnelle Geld aus sind, zieht die Natur den Kürzeren und schlussendlich muss der Staat, und das heißt wir alle, die Zeche zahlen.“ 

OPFER BRINGEN. Die Regierung Portugals unter dem sozialdemokratischen Premier António Costa (Partido Socialista, PS) hat indes einen „Masterplan“ ausgearbeitet, eine Nationale Lithium-Strategie. Bodenschätze seien ein Allgemeingut, und um diese zu fördern, müsse man eben Opfer bringen, argumentierte das Umweltministerium. Es gibt Pläne, bis zu zehn Prozent der Landesfläche dem Bergbau zu überantworten. Und Lissabon hat längst eine Hand nach Madrid ausgestreckt, um in den beiden Staaten die komplette Wertschöpfungskette unterzubringen, vom Rohstoff bis zum E-Auto, und den Lithium-Abbau somit zur Win-Win-Situation für alle - mit Ausnahme der Lokalbevölkerung - zu machen. Doch die Linksregierung der Sozialist_innen unter Costa, gestützt von Linksblock (Bloco de Esquerda), Kommunist_innen, Grüne und die Tierschutzpartei scheiterte am Budget 2022, Neuwahlen sind für Anfang 2022 anberaumt. Zugleich laufen, wie Alves gegenüber progress betont, „Weichenstellungen über strategisch-wichtige Ressourcen weiter“. Dies sei lediglich eine Blendgranate, so die Aktivistin, mittels derer die scheidende Regierung die Lithium-Pläne durchboxen wolle. Parallel dazu liefen „taktische Manöver“, um parlamentarische Kontrollinstanzen zu umgehen. Neue Bergbaugesetze, Reformen, Lizenzen und Verträge waren knapp vor der Auflösung des Parlaments durchgewunken wurden. 

Doch der Widerstand in Barroso muss nicht zwecklos sein: Proteste der Bevölkerung verhinderten in Spanien bereits andere groß angelegte Tagebauvorhaben, z.B. eine Lithium-Mine unweit der Stadtgrenze von Cáceres (Extremadura) oder eine Uran-Mine bei Retortillo (Salamanca). Zuletzt konzentrierte sich in der Extremadura der Protest der Lokalbevölkerung auf das kleine Dorf Cañaveral in den weiten, kargen Ebenen zwischen Cáceres und Mérida.

Rassismus im Bildungssystem

  • 12.03.2022, 15:02

„Heute lernen wir etwas über Afrika!“ Räuspern, husten, unangenehme Stille. „Weiß jemand etwas darüber?“ Alle Augen fallen auf mich. Naja, ich könnte schon von meinem nigerianischen Lieblingsessen erzählen oder davon, wie lustig ich Nollywood-Filme finde. Aber so, wie meine Mitschüler*innen mich ansehen, erwarten sie keine positiven Erzählungen darüber.

Wie Rassismus in Schulbüchern zu schlechteren Bildungschancen für BIPOCs führt. Die Lehrerin fährt fort und wir hören uns eine Stunde an, wie arm und dreckig Afrika ist – natürlich wird hier auch angenommen, dass Afrika ein Land ist, ein Einheitsbrei mit nur einer Sprache, einer Kultur und einer Lebensrealität.

Ich und alle meine Mitschüler*innen werden also schon im jungen Alter mit diesen falschen, vorurteilsbehafteten und rassistischen Narrativen gefüttert. Klar, dass dann niemand an moderne und belebte Städte wenn man sich „Afrika“ vorstellt.

Ich sage immer, wenn wir schon in der Schule oder im Kindergarten ansetzen und dort lernen würden, was es bedeutet, anti-rassistisch zu sein, hätten wir dieses Problem später im Leben nicht mehr. Die meisten Menschen in Österreich gehen zu einem Zeitpunkt ihres Lebens in die Schule, was dort gelehrt und gelernt wird, setzt sich in unseren Köpfen fest. Wir wachsen alle in einem rassistischen System auf, das die Welt aus einem eurozentrischen Blickwinkel betrachtet und andere Teile oder Menschen der Welt nicht nur ausschließt, sondern aktiv als minderwertig und folglich schlechter darstellt. BIPOCs weltweit leiden natürlich an diesem Missbrauch von Macht; in österreichischen Schulen äußert sich das dann leider nicht nur als unangenehme Stille im Klassenraum, wenn wir über Afrika sprechen, sondern auch in beleidigenden Kommentaren, rassistischen Übergriffen und schlechterer Benotung. Aus einer Studie der Universität Mannheim geht hervor, dass Lehrpersonen dasselbe Diktat schlechter benoten, wenn Murat statt Max auf dem Zettel steht. Real bedeutet das, dass Murat folglich schlechtere Chancen hat, den gleichen Bildungsweg einzuschlagen wie Max.

An der Hochschule wird alles besser, oder? Wir sind nun in der Uni angelangt. Schauen wir uns einmal an, wer noch dabei ist. Und wie viele Maxis und Murats haben es geschafft?

Studierende mit Migrationsbiografie haben oft höhere Bildungsziele als ihre Mitstudierenden und absolvieren das deutsche Schulsystem erfolgreich, trotzdem haben sie ein höheres Risiko, ihr Studium abzubrechen, als ihre Kolleg*innen. Wir greifen hier auf eine Studie des Sachverständigenrats deutscher Stiftungen für Integration und Migration zurück. In Österreich sind solche Statistiken viel schwieriger aufzufinden, weil sie teilweise auch nicht erhoben werden, aber das ist ein anderes Thema. Das Problem der vermeintlich unsichtbaren Hürde für Studierende mit Migrationsbiografie können wir schon früh im Studium erkennen. Zum Ende des dritten und fünften Semesters haben Bachelorstudierende mit Migrationsbiografie deutlich weniger Kurse absolviert als ihre Mitstudierenden ohne Migrationsbiografie. Außerdem erzielen sie durchschnittlich schlechtere Prüfungsergebnisse, das zeigt sich in Untersuchungen aus den Disziplinen Jura, Medizin und Wirtschaftswissenschaften.

Schauen wir nach Österreich: Die Universität Wien schmückt sich mit dem Motto Wirkt. Seit 1365. Aber wogegen oder in welcher Hinsicht? Für eine anti-rassistische Hochschule? Gegen Bildungsungleichheiten und für einen sicheren akademischen Raum für alle, die ihn besuchen wollen?

pDu kannst durch dein Studium gehen und nur Texte und Literatur von weißen cis Männern über 55 gelesen haben. Die Fragen, die sich mir daraufhin stellen, sind womit ich mich genau beschäftigt habe, welches Wissen ich mir angeeignet habe, welche Ideen und Theorien ich auswendig gelernt habe und vor allem welche nicht. Wer wurde ausgelassen, welche Perspektive wurde nicht mitgedacht und wie legitimiert ist mein Wissen in meiner Disziplin, wenn es auf Primärtexten von nur einer Gruppe Menschen basiert? Genau genommen von der Gruppe von Menschen, die auch alles andere beherrschen in dieser post-kolonialen, patriarchalen Welt.

„Die Menschheit ist in ihrer größten Vollkommenheit in der Rasse der Weißen. Die gelben Indianer haben schon ein geringeres Talent. Die [N*Wort] sind weit tiefer, und am tiefsten steht ein Teil der amerikanischen Völkerschaften.“ (Immanuel Kant: Physische Geographie, Bd. II, Königsberg 1802, S. 315.)

Bald feiert der Autor dieses Zitats seinen 300. Geburtstag. Schon jetzt sind diverse Kulturinstitutionen mit der Vorbereitung dieses Events beschäftigt. Immanuel Kant wird so sehr gefeiert, dass nicht mal die TU-Wien-Party Anfang Oktober 2021 mithalten könnte. Trotz rassistischer Denkkonzepte, die dem obigen Zitat zu Grunde liegen, gilt Kant auch in einer #blacklivesmatter-Welt als Held.

Akademie und Hochschulbildung hat den Anspruch, zu hinterfragen und sich zu wandeln, zu verändern. Für mein akademisches Verständnis bedeutet das also: Wenn wir über Marxismus, Feminismus, Postkolonialismus oder Kulturwisssenschaften sprechen, dann geht das auch mit Ngugi Wa’Thiongo, Chimamanda Ngozi Adichie, Simon Gikandi und Joyce Nyairo & James Ogude und nicht nur mit Friedrichs, Julias, Herberts oder Immanuel Kants.

Einen anti-rassistischen Stein ins Rollen bringen Wie können wir also einen Gegenpol zu den verfestigten Strukturen schaffen, in denen unsere Hochschulen stecken? Im Sommersemester 2021 habe ich mich via Instagram das erste Mal öffentlich über das Thema Hochschule und Rassismus geäußert. Nicht nur der Lehrende, der in seinen Lehrveranstaltungen das N-Wort verwendet, hat mich dazu gebracht, sondern auch die fehlende Solidarität meiner Mitstudierenden, als ich ihn bat, dies zu unterlassen. Woran ich jedoch wirklich gemerkt hatte, dass es Zeit war, dieses Thema zu beleuchten, waren die Reaktionen auf meine Kritik:

„Mir ist jetzt erst aufgefallen, dass das in meinem Studiengang auch voll das Problem ist.“ Jemand anderes schrieb mir: „Du hast Recht, aber wenn ein Prof halt diese Sprache verwendet, dann wird das schon okay sein, dachte ich...bis jetzt“, weitere Personen meinten, „Ich werde in Zukunft mehr darauf achten!“.

Natürlich freut es mich, wenn meine Inhalte Menschen erreichen und berühren, aber dass das N-Wort nicht mehr ausgesprochen verwendet werden sollte, ist uns allen eigentlich schon seit Jahren klar, oder?

Am Uni-Institut hat meine Kritik auf jeden Fall einen anti-rassistischen Stein ins Rollen gebracht. Daraufhin hat sich nämlich die Arbeitsgruppe gegen Rassismus gebildet, die versucht, innerhalb der Afrikawissenschaften anti-rassistischer zu wirken. Eine Art der Bestrebung, die sich andere Institute und Hochschulen als Ganzes gerne abschauen können und sollten – Mitwirkende sollen dabei natürlich vor allem BIPOCs sein. Vor allem im akademischen Raum müssen sich BIPOCs sehr viel mehr anstrengen, um die gleichen Wertschätzung zu erleben wie weiße Studierende, obwohl ihnen zusätzliche Steine in den Weg gelegt werden, wie wir bei Murat gesehen haben. Umso wichtiger ist eine Vernetzung unter Studierenden und BIPOCs an Hochschulen im Allgemeinen. Eine zweite Maßnahme, die sinnvoll ist, um Räume zu öffnen und über Themen zu sprechen, die sonst keinen Platz finden. Um sich gegenseitig zu empowern und Ideen auszutauschen. Um zu begreifen, wie viele andere Menschen mit ähnlichen Erfahrungen es noch gibt und wie man sich vernetzen kann.

Damit die genannten Maßnahmen zur Gewohnheit und fehlende Solidarität zur Vergangenheit werden, braucht es uns alle. Es braucht strukturelle Veränderungen an den Hochschulen von der Basis bis zur Spitze. Denn es braucht Mut, um zu sagen, dass wir rassistische Hochschulen haben, und noch mehr Mut, um dagegen anzukämpfen.

Literatur:

Ungleiche Bildungschancen Fakten zur Benachteiligung von jungen Menschen mit Migrationshintergrund im deutschen Bildungssystem, unter: https://www.stiftung-mercator.de/content/uploads/ 2020/12/Kurz_und_Buendig_Bildung.pdf

Roig, Emilia (2021): Why We Matter. Unter: //bit. ly/3r2oBs8

Arbeitsgruppe gegen Rassismus des Instituts der Afrikawissenschaften an der Universität Wien: https://afrika.univie.ac.at/ueber-uns/ag-gegenrassismus/

Universität Mannheim (2018): Max versus Murat: schlechtere Noten im Diktat für Grundschulkinder mit türkischem Hintergrund, unter: https://www. uni-mannheim.de/newsroom/presse/pressemitteilungen/ 2018/juli/max-versus-murat-schlechterenoten- im-diktat-fuer-grundschulkinder-mit-tuerkischem- hintergrund/

Die Poesie der Landschaft

  • 29.03.2022, 20:56

Eine Ausstellung in Eisenstadt, ein Land-Art Projekt im Burgenland und warum Baukultur in Österreich mehr Aufmerksamkeit verdient.

Die Sonne hat sich doch noch durchgekämpft an diesem Novembertag und eröffnet ein einzigartiges Zusammenspiel der kargen Landschaft mit Farben, Lichtern, schroffen Gesteinsformationen, Flora und Fauna. Wir stehen am Rande des Leithagebirges, das Niederösterreich vom Burgenland trennt. Hier beginnt die Eurasische Steppe, ein über weite Teile zusammenhängender Natur- und Kulturraum, der sich bis in die östlichsten Regionen Chinas, Russlands und der Mongolei erstreckt. Man blickt in die Weite der Pusztaebene und beginnt zu träumen. Region und Natur waren hier immer schon vom Menschen beeinflusst. Weinbau, Viehzucht und der Steinbruch prägen die Landschaft bis heute noch. In der kleinen burgenländischen Gemeinde Breitenbrunn wurde bis in die 1930er-Jahre der Kalksandstein des Leithagebirges abgebaut, der seine Verwendung bei Bauten wie dem Stephansdom, der Staatsoper oder dem Wiener Rathaus fand. Genau hier befindet sich auch ein Projekt der viel beachteten und schwierig zu definierenden Kunstströmung „Land Art“: „Die Grube“ von Peter Noever, dem ehemaligen Direktor des Museums für angewandte Kunst in Wien (MAK). Vor allem international wurde das Projekt breit rezipiert, zuhause in Österreich kennt es fast niemand. Eine Ausstellung in der Architekturgalerie RaumBurgenland in Eisenstadt versucht das jetzt zu ändern.

Zwischen Ost und West

Noever hat das Areal rund um den aufgelassenen Steinbruch in Breitenbrunn in den 1960er Jahren erworben. „Die Grube“ wurde also auf Privatgrund realisiert, was es mitunter schwierig macht, das Projekt selbst zu besichtigen und womöglich auch zum geringen Bekanntheitsgrad beiträgt – bei aller Offenheit, die der Gestalter Besucher_innen bei jeder Gelegenheit entgegenbringt. Andererseits konnte Peter Noever so seine eigenen Vorstellungen und Ideen ganz ohne Auftraggeber oder Bauherren verwirklichen. „Die Grube“ ist Noevers Auseinandersetzung mit der traditionellen burgenländischen Architektur, die an der Schnittstelle zwischen zwei Weltkulturen steht und seinen Versuch darstellt, die von Menschenhand (mit-)geformte Natur unmittelbar und sinnlich begreifbar zu machen. Die Natur wird hier aber nicht, wie in der Landschafts- oder Gartenkunst üblich, modelliert oder in Szene gesetzt. Die bloße Darstellung der beiden Pole Natur und (Bau-)Kultur sowie deren Dialog reichen aus, um Wirkung zu erzeugen. Ausgangspunkt der Landschaftsintervention ist ein 200 Jahre alter Weinkeller, wie sie häufig in der Region zu finden sind. Man steigt hinab in ein 30 Meter langes unterirdisches Gewölbe mit charakteristischem Raumklima, dessen nördliches Ende allerdings zu einem kreisrunden Erdtrichter, „der Grube“, hin freigelegt wurde. „Es gibt beim Prinzip Keller immer die Gewissheit von einem dead end. Man steigt aus dem Hellen kommend in den Keller und dann wird es immer dunkler. Alle Sicherheit ist dahin. Mein Keller ist das genaue Gegenteil dieses Prinzips“, so Noever. Durch die Freilegung und Verschiebung der Kellerabschlusswand nach innen befindet man sich nun in einem überwölbten, intimen Platz mit speziellem Mikroklima, windgeschützt, mit Tischen und Bänken möbliert, und blickt auf den Graskegel unter freiem Himmel, der das Zentrum der Arbeit darstellt. „Wir hatten viele Räusche hier“, lässt Noever an anderer Stelle durchblicken. Man ist geneigt zu denken, dass es dafür wohl keinen geeigneteren und gemütlicheren Ort gibt.

Zurückgeben statt abbauen

In einer weiteren Bauphase wurde von dem Erdtrichter weg, in einer Achse mit dem Weinkeller, ein 65 Meter langer Gang ausgehoben, der an beiden Seiten von zwei langgezogenen Mauern begrenzt ist und aus der eigentlichen Grube hinaus auf das Areal des ehemaligen Steinbruchs führt. Hier stößt man auf weitere bauliche Interventionen wie bspw. die Sitzgruben des Universalkünstlers Walter Pichler, in denen man die klimatischen Bedingungen Pannoniens auf Augenhöhe mit den Bodenlebewesen erfahren kann. Auch 36 Betonkuben findet man auf dem Grundstück – sie sind Ausdruck von Noevers Wunsch, dem Steinbruch auch etwas zurückzugeben und nicht nur abzubauen. Bauliches und Natur fließen hier gewissermaßen ineinander – aus einigen Betonwürfel wachsen Bäume. Als 37. Kubus wird die spartanische Wohneinheit, die mit dem Weinkeller verbunden ist, bezeichnet. Hat man das Gelände des Steinbruchs, in dem die Spuren der Abbautätigkeit noch deutlich sichtbar sind, durchschritten, so stellt dieser Kubus den Endpunkt des Rundgangs dar. Hier werden zugleich Elemente der vernakulären Architektur und traditioneller Bauweisen im Burgenland aufgegriffen. Der Kubus ist straßenseitig fensterlos, also nach außen hin abgeschirmt, ähnlich dem Typus der burgenländischen Streckhäuser. Nur das Betreten einer Treppe ohne Handlauf auf der inneren Seite des Wohnkubus erlaubt einen Blick auf den Neusiedlersee. Die Fassade ist, wie für die Region typisch, gekalkt. Ein Vorgang, der zwei- bis dreimal im Jahr wiederholt werden muss. Im Gegensatz zu Kunststofffassaden sind Kalkfassaden jedoch atmungsfähig. Sie haben zudem nicht nur die Eigenschaft, Sonnenstrahlen auf eine bestimmte Art und Weise zu reflektieren, sodass ein besonderes Schauspiel von Materialität und Licht entsteht, sondern auch den Vorteil, dass sie durch ihr hohes Rückstrahlungsvermögen der Erwärmung von Außenwänden an heißen Sommertagen entgegenwirken. Auch aus hygienischen Gründen ist eine weiß gekalkte Oberfläche günstig.

Anonyme Architektur

Es ist dieses Wissen um lokale Materialien und organische Strukturen, das in den letzten Jahren verloren ging und gerade jetzt im Angesicht der Klimakrise von Bedeutung ist. Es sind die Aspekte der „Anonymen Architektur“ oder auch der „Architektur ohne Architekten“, die speziell im Burgenland Analogien zur Mediterranen Architektur aufweist, in deren Tradition auch „die Grube“ steht. Der Begriff „Anonyme Architektur“, dem schon Bernard Rudofsky oder Roland Rainer nachgespürt haben, wird verstanden als Abgrenzung zu einer akademischen „top-down“ Architektur ohne Bezug zu lokalen Traditionen und Charakteristika. Während der Architekturdiskurs in den 1960er-Jahren durch diesen Begriff geprägt war und immer mehr Architekt_innen begannen, statt exzeptioneller Bauwerke unprätentiöse Gebäude zu planen, die den örtlichen Kontext und lokale Identitäten berücksichtigten, gab es in den folgenden Jahrzehnten eine gegensätzliche Entwicklung. Wie in so vielen Gegenden in Österreich lösten sich ab den 1970er-Jahren auch im Burgenland viele neu gebaute Häuser von alten Strukturen, Traditionen und Morphologien los. Die Folgen davon sehen wir bis heute: Stilistische Beliebigkeit, zerstörte Ortsstrukturen und zersiedelte Gemeinden resultierend in hohem Bodenverbrauch. Ein fatales Missverständnis, wenn „Anonyme Architektur“ mit austauschbarer Architektur verwechselt wird.

Ein Widerspruch

Gerade dieser Kontext macht Peter Noevers Projekt so relevant, weil es dadurch einen Standpunkt markiert. „Die Grube“ ist einerseits ein Ort, der nur durch seine ästhetische Qualität funktioniert, gleichzeitig aber mit Bedeutung aufgeladen ist, da er wie ein Gegenpol zur gedankenlosen Landschaftsverwertung wirkt. Das Projekt ist auch ein Plädoyer für mehr Fantasie in der Gestaltung, für Mut, Freude und experimentelle Hinwendung zur Radikalität. „Es reicht nicht, 1000 Bäume zu versprechen, man muss Gestaltung versprechen“, so die Landschaftsarchitektin Maria Auböck unlängst in einem Radiointerview. „Das Problem der Versäumnisse der letzten Jahre ist, dass wir durch den Klimawandel jetzt unter großen Druck gekommen sind, sodass viele Planungsentscheidungen plakativ wirken“, führt sie weiter aus und spielt damit auf Gesetze in der Stadtplanung an, die auf einen Mindestflächenanteil an Fassadenbegrünung abzielen. „Das geht aber nicht ohne eine Fassadengestaltung“, erklärt Auböck. Auch in dieser Hinsicht ist „die Grube“ ein Gegenentwurf. Noever, der es im Übrigen als unsinnig empfindet, Natur „zu bauen“ (z.B. Bäume mit großem Energieaufwand auf Dächer zu setzen), sieht viel Scheitern in der Architektur darin begründet, dass man in relativ kurzer Zeit eine Vielzahl von Entscheidungen treffen und Probleme lösen muss. Hat man jedoch den Luxus, einen Ort über Jahrzehnte hinweg zu gestalten, entsteht eine andere Dynamik. „Die Grube“ ist ein Ort der Beruhigung. Das macht den Kontrast zur der aktuellen Planungspraxis im öffentlichen Raum sichtbar. „Im öffentlichen Raum sind so viele Verordnungen und Gesetze einzuhalten, dass man das Gefühl hat, es handelt sich um eine Sicherheitsplanung und nicht um eine Fantasieplanung“, sagt Maria Auböck. In einer Zeit, in der Architektur nicht zwingend von Menschen, sondern auch von Algorithmen gemacht werden kann, gehen subtile Elemente und der Blick für den Bestand verloren, auf Kosten der lokalen Baukultur.

Ein Schritt zurück, um vorwärtszukommen

Müssen wir also baukulturell mehrere zeitliche Schritte zurückgehen, um den Problemen der Zukunft adäquat begegnen zu können? Dass dies nicht zwingend mit einer rückwärtsgewandten Denkweise verknüpft sein muss, zeigt das geografisch am anderen Ende von Österreich liegende Beispiel Bregenzerwald. Dort hat sich in den letzten Jahrzehnten eine Kultur entwickelt, die die lokalen und regionalen Aspekte des Holzbaus in der gebauten Umwelt wieder aufgegriffen haben. Dadurch konnte nicht nur was die Planungs- und Bauleistung betrifft internationale Vorbildwirkung erzielt werden, sondern auch ein starker Wirtschaftsfaktor in der Region geschaffen werden. Jedoch besteht hierzulande generell eine geringe Wertschätzung für baukulturelles Erbe, wie der kürzlich erschienene „Vierte Baukultur Report“ des Bundesministeriums für Kunst und Kultur feststellt. Die Autor_innen sehen in der Steigerung der gesellschaftlichen Bedeutung von Baukultur ein zentrales Instrument zur Erreichung ökologischer Ziele, insbesondere einen verbesserten Bodenschutz und eine Reduktion der CO2- Emissionen. Deshalb wird in dem Report die Einrichtung einer Agentur für Baukultur vorgeschlagen, bei der als Tätigkeitsfelder neben Forschungsförderung und Qualitätsentwicklung auch Beratung und Kooperationen mit Städten und Gemeinden sowie die inhaltliche und finanzielle Förderung von Projekten definiert werden. Dass Sensibilität für Bestehendes bereichernd sein kann, zeigt die Ausstellung in Eisenstadt, die auch Vorhaben im Zusammenhang mit dem Land-Art-Projekt präsentiert, die zwar geplant waren, aber noch ihrer Realisierung harren. Ein Ausflug, der sich lohnt.

Die Ausstellung "out ̅of the blue" – Art and Architecture Out There“ ist noch bis 20. Mai 2022 im ArchitekturRaumBurgenland zu sehen.

Sebastian Hafner studiert Raumforschung an der Universität Wien und arbeitet in einem Architekturbüro.

“Wahrheit” im pandemischen Zeitalter

  • 19.05.2022, 11:52
Über die Stärken und Schwächen der Wissenschaft, die in der Corona-Pandemie offenbar wurde und wie gerade Konflikte dazu beitragen, Vertrauen zurückzugewinnen.

Seit dem Aufkommen von Fridays for Future, spätestens aber seit der globalen Corona-Pandemie, die seit dem Jahr 2020 andauert, ist Diskurs über Wissenschaft aus der öffentlichen Debatte nicht mehr wegzudenken. Kaum mehr ein Talkformat im Fernsehen, dass ohne prominente Forscher_innen auskommt, eine schier endlose Auswahl an wissenschaftlichen Podcasts und Politiker_innen, die sich das Rampenlicht bei Pressekonferenzen mit Virolog*innen teilen. Gleichzeitig sind aber nach Jahrzehnten eines wissenschaftsfreundlichen Klimas, zumindest in Europa, Brüche erkennbar. Wissenschaftliche Faktizität wird offen und laut angezweifelt, Forscher*innen bedroht und eingeschüchtert. So manche_r sieht das postfaktische Zeitalter angebrochen. Coronaleugner_innen-Demos in ganz Europa, Verschwörungstheorien und die Popularität von Politiker_innen wie Donald Trump oder Viktor Orban werden als Beleg dafür gesehen. Offenbart sich eine Krise der Wissenschaft? Was steckt hinter Verschwörung und Verleugnung? 

Am Beginn solcher Reflexe steht eine kognitive Dissonanz. Wissenschaftliche Fakten und unser eigenes Handeln sind nicht immer kongruent. Gerade während der Corona-Pandemie wurde das sichtbar. Als Beispiel: Wir Menschen sind soziale Wesen und haben das Bedürfnis nach sozialen Kontakten, Freund_innen zu umarmen etc. Genau das war aber in Zeiten von hohen Inzidenzen epidemiologisch nicht ratsam. In Bezug auf die Klimakriese verhält es sich ähnlich. Obwohl wir wissen, welche Belastungen Fleischkonsum oder Flugreisen für die Umwelt hat, können sich die meisten nur schwer von diesen Gewohnheiten lösen. Es entsteht also ein unangenehmer Gefühlszustand, ein innerer Konflikt, der für uns Menschen unerträglich ist. Den Konflikt können wir nur lösen, indem wir entweder unser Verhalten ändern oder unsere Einstellungen. Letzteres heißt Probleme zu leugnen, sie auszublenden oder sie kleinzureden: „Corona ist nicht gefährlicher als eine Grippe“ oder „Der Klimawandel ist natürlich und nicht menschengemacht“ heißt es dann. 

Im Echoraum

Wir Menschen sind als soziale Wesen noch dazu ständig auf der Suche nach Bestätigung. Deswegen tendieren wir dazu, nach Informationen zu suchen, die unseren eigenen Überzeugungen, Wertvorstellungen und Meinungen entsprechen. Big Data führt uns zielgenau in die auf unsere Einstellung zugeschnittene Bubbel. Genau das kann Wissenschaft nicht. Wissenschaft liefert keine Bestätigung, sondern stellt Behauptungen auf, die bis zum nachvollziehbaren Widerspruch Gültigkeit haben. Um diesen Prozess des Erkenntnisgewinns zu organisieren, wurden Praktiken, Mechanismen, Strukturen und Institutionen geschaffen, die sich an gesellschaftlich ausverhandelten Werten wie Überprüfbarkeit, Transparenz, Redlichkeit oder Verlässlichkeit orientieren. Was aber, wenn ein Teil der Gesellschaft die Strukturen, innerhalb derer Wissensproduktion stattfindet ablehnt? Wie umgehen mit einem Milieu, das den wissenschaftlichen Betrieb als „Herrschaftsform“ ansieht und alles ablehnt was eine Autorität sein möchte? Wie konnte es dazu kommen und was, wenn dieses Milieu nicht homogen ist, sondern sich quer durch alle sozialen Schichten und Bildungsniveaus erstreckt?  Bei den Demonstrationen von Coronaleugner_innen und Impfgegner_innen wurde dieses breite gesellschaftliche Spektrum, vom rechtsradikalen bis hin zum öko-alternativen Milieu, sichtbar. Für diese Gruppe ist die Pandemie maximal noch Initialzündung, um ihrer Wut Ausdruck zu verleihen.  

Die Kritik frisst ihre Kinder

Mit der Kritischen Theorie der Frankfurter Schule gab es in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts einen wissenschaftstheoretischen Ansatz, welcher der Wissenschaft die Kritik an der Gesellschaft als Hauptaufgabe zuweist. Damit wurde auch ein Instrument der Kritik an bürgerlicher Wissenschaft und ihrer Begriffe von Objektivität entwickelt: Kritische Theorie als ein weiterer Selbstregulierungsmechanismus des Wissenschaftsbetrieb. Als die Kritische Theorie von der 68er-Bewegung erneut aufgegriffen und rezipiert wurde, wurde sie auch auf einer breiteren, gesellschaftlichen Ebene relevant. Eine vernünftige, aufgeklärte Gesellschaft aus mündigen Menschen war das Ziel. Notwendig dafür waren das Hinterfragen von Ideologien und die Aufdeckung von Herrschafts- und Unterdrückungsmechanismen der bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaft: Wer sagt und macht was aus welchem Interesse? Die Dekonstruktion gesellschaftlicher, politischer und kultureller Praxis war die Folge. 

Kritische Theorie, Ideologiekritik, Science Studies, all das führte zu der Erkenntnis, dass es so etwas wie einen unvermittelten, unvoreingenommenen Zugang zur Wahrheit nicht gibt. Erkenntnisse sind nie rein objektiv, sondern gehen aus einem historisch-sozialen Kontext hervor. Wir Menschen sind immer Gefangene der Sprache und sprechen immer von einem bestimmten Standpunkt aus. Wissenschaftliche Wahrheit ist demnach sozial konstruiert. Paradoxerweise wird genau dieses Argument nun vom Milieu der Verschwörungstheoretiker*innen aufgegriffen. Sie verwehren sich gegen alles was eine Autorität darstellt, also auch gegen eine unkritische Wissenschaftsgläubigkeit, welche die Gesellschaft in ihren Augen kontrollieren und disziplinieren möchte. 

Raus aus den Kritikschleifen? 

Der Philosoph und Soziologe Bruno Latour warf schon 2004 in seinem Aufsatz „Why has Critique run out of Steam?” die Frage auf, ob Gefahr heute nicht mehr von ideologischen Argumenten drohe, sondern vielmehr von einem „exzessivem Misstrauen“ gegenüber Tatsachen, die zu Unrecht für ideologische Argumente gehalten werden. Müssen wir also nun „das Schwert der Kritik gegen die Kritik selbst richten?“ Müssen wir, nachdem wir jahrelang versucht haben die wirklichen Befangenheiten aufzudecken, die sich hinter der Anwendung von objektiven Aussagen stecken, die unbestreitbaren Fakten aufdecken, die sich hinter der Anwendung von Vorurteilen verstecken? 

Konkret geht Latour hier auf die Debatte über die Erderhitzung ein. Reaktionäre Kräfte, Extremisten und Industrien haben in der Vergangenheit auch hier das Argument der sozialen Konstruktion von Fakten über die Klimakatastrophe bemüht, „um mühsam gewonnene Beweise zu zerstören, die unser Leben retten könnten“. So etwa der republikanische Stratege Frank Luntz, der seiner Partei geraten hat, den überwiegenden wissenschaftlichen Konsens zum menschengemachten Klimawandel in Frage zu stellen und das Fehlen von letztgültiger wissenschaftlicher Sicherheit hervorzuheben. Auch während der Covid-19 Pandemie können wir dieses Argumentationsmuster beobachten. Dazu kommt, dass wissenschaftliche Evidenz und deren Leugnung medial als gleichberechtigt dargestellt werden – eben als Meinung und als Gegenmeinung. „False Balance“ ist der medienwissenschaftliche Fachausdruck hierfür. Werden Fakten so einfach nur ein weiteres Narrativ, dass man glauben kann, oder eben nicht? 

Verschwörungstheorie als Wissenschaftskritik? 

Die prinzipielle Unterstellung von verborgenen Interessen und Agenden stellt bei oberflächlicher Betrachtung sowohl für die Ideologiekritik als auch für Verschwörungstheorien einen Ausgangspunkt dar: Es gilt anerkanntes Wissen zu hinterfragen. Der entscheidende Unterschied dabei ist jedoch, dass Verschwörungstheorien keine wissenschaftlichen Analysen von komplexen Zusammenhängen darstellen, sondern viel mehr Erzählungen sind, die hintersinnige aber doch recht simple Antworten auf die Unübersichtlichkeit der Welt bieten. Die Q-Anon Verschwörungstheorie basiert im Grunde auf einem kollektiven Schreibexperiment, dass rassistische und antisemitische Positionen spielerisch hervorbringt. Schuldige sind hier schnell gefunden: Hillary Clinton, George Soros, Bill Gates oder der Deep State.

Immer wieder konnte auch gezeigt werden, dass Verschwörungstheorien nicht über unmittelbare Indoktrination funktionieren, sondern über „suggestive Fährten“ entstehen, die dazu ermutigen, klassischen Vorurteilen entsprechende Ergebnisse „selbstständig“ aufzuspüren.  Diese Erzählungen bieten emotionale Entlastung, da man so den Befunden der Wissenschaft nicht mehr hilflos ausgeliefert ist. Das ermöglicht auch den Wechsel „vom passiven Opferstatus in das wesentlich attraktivere Selbstbild des aktiven Rebellentums“ wie Thomas Edlinger in seinem Aufsatz „Die Verkehrung der Widerstände – Zero Covid. Querfront-Demos und das neue dunkle Zeitalter“ schreibt. Die Pose des Rebellentums kann dabei auch ganz oben eingenommen werden – man denkt hierzulande an Herbert Kickls Auftritte bei Coronaleugner*innen-Demos oder an Donald Trump. 

Die Kunst der Konspiration

Problematisch in der Bewertung von Informationen ist, dass es auch tatsächliche Verschwörungen gibt. Die Existenz von Schattennetzwerken, geheimen Absprachen und mafiösen Verbindungen ist politische Realität. Der US-amerikanische Künstler Mark Lombardi hat mit seinen Soziogrammen komplexe Machtstrukturen, politische Skandale und Netzwerke ästhetisch aufbereitet. Dabei handelt es sich keineswegs um Verschwörungstheorien, sondern um akribisch recherchierte, belegbare Sachverhalte. In Lombardis Bildern wurden etwa die ökonomischen Verstrickungen der Familien Bush und Bin-Laden schon vor dem 11.September 2001 dargestellt. Mit voranschreitender Bekanntheit seiner Werke wurde Lombardi bis zu seinem Selbstmord im Jahr 2000 vom FBI überwacht. 

Lombardis Werke machen aber eines deutlich: Im Unterschied zur imaginierten Verschwörungstheorie sind reale Verschwörungen in ihren Zielen und in den einbezogenen Akteursgruppen begrenzt. Sie lassen sich im Gegensatz zur „Weltverschwörung“ nachweisen, darstellen, belegen und benennen. 

Die Verteidigung der Wissenschaft 

Die Covid-19 Pandemie hat auch gezeigt, dass eine wissenschaftliche Debatte keine politische Debatte ersetzt. Fakten sprechen nicht für sich allein. Die Vorstellung von harten, objektiven Fakten schränkt den Blick auf den eigentlichen Prozess der Wissenschaftsproduktion ein. Die Geschichte aller Wissenschaften war immer auch eine Geschichte von Irrtümern. Genau dieses Verständnis wäre ein Schlüssel, um die Position der Wissenschaft in der Öffentlichkeit zu verteidigen. Es reicht in der öffentlichen Debatte nicht aus, bloß auf die Wissenschaftlichkeit von Fakten zu bestehen, oder auf den von gegenseitiger Überprüfung und Kritik strukturierten Forschungsprozess. Die transparente Darstellung von Wissenschaft als unsicheren, kontroversen „Trial-and-Error Prozess“ als „Science in Action“, wie es Bruno Latour fordert, ist eine Möglichkeit, Vertrauen zurückzugewinnen, auch wenn damit das Risiko einhergeht, dass Konflikte und Irrtümer explizit werden.

Keine Gerechtigkeit für Frauen

  • 01.01.2023, 15:56
Nicht funktionierende staatliche Schutzmaßnahmen, schwangere Teenager und eine Botschaft: Straflosigkeit. Gewalt an Frauen in Ecuador.

CW: Schilderung von Gewalt

Geraldina Guerra erzählt uns von einem Kampf, den die Zivilgesellschaft führt. Gegen komplizierte bürokratische Prozesse. Gegen ein System, das eigentlich beschützen sollte. Und gegen machistische und frauenfeindliche Stereotypen in der Gesellschaft. Sie ist Frauenrechtsaktivistin und Präsidentin der Stiftung ALDEA (Asociación Latinoamericana para el Desarrollo Alternativo). Wir treffen sie im Garten ihres Hauses in Mindo, nahe der Hauptstadt Quito. Inmitten von Vogelgezwitscher und Bananenbäumen erzählt Guerra von der Problematik der Gewalt an Frauen im Land: „Die Gewalt ist die andere Pandemie. Die Pandemie im Schatten. Sie bringt mehr Frauen um als der Krebs oder Verkehrsunfälle. Sie durchdringt leise das Leben und die Körper der Frauen.“

65 von 100 Frauen. Etwa 65 von 100 Frauen in Ecuador sind Gewaltopfer. Diese kann verschiedene Formen haben, zum Beispiel physisch, psychisch oder auch ökonomisch. Ein besonders großes Problem ist die sexualisierte Gewalt an Frauen, Kindern und Jugendlichen: „Vier von zehn ecuadorianischen Frauen sind Opfer sexualisierter Gewalt. In den Fällen von Sexualgewalt an Minderjährigen passieren 60% im eigenen Haushalt. Das heißt, es sind die eigenen Eltern, Onkel, Geschwister oder Großeltern, die Gewalt ausüben.“ Oft nimmt die geschlechtsspezifische Gewalt ihre schlimmste Form an: Alle 28 Stunden stirbt eine Frau durch einen Femizid.

An Gesetzen und Protokollen zum Schutz vor Gewalt mangelt es in Ecuador nicht. Schwierig ist eher die Umsetzung, denn bei der Staatsanwaltschaft und anderen zuständigen Stellen herrscht Personalmangel: „Du hast manchmal eine einzige Person, um die Gewaltfälle zu bearbeiten, aber gleichzeitig auch Diebstähle und alle möglichen Sachen, die in diesem Bezirk passieren.“ Dadurch bleiben Fälle jahrelang liegen und die Täter werden spät oder gar nicht zur Verantwortung gezogen: „Es gibt keine Gerechtigkeit für die Frauen. Die Message ist dann: Es ist egal, dass ein Vater seine siebenjährige Tochter vergewaltigt hat. Fatal. Was man mit der Gewalt machen muss, ist, eine handfeste Botschaft senden. Von Sanktionen, von Gefängnis. Von Bestrafung. Und das ist, was nicht passiert.“

Keine Schulung. Polizist_innen seien außerdem nicht genug geschult im Umgang mit Gewalt und die Frauen selbst würden oft ihre Rechte nicht kennen. Viele wissen nicht, dass sie sich im Ernstfall an eines von elf Frauenhäusern wenden können. Doch selbst dieses Angebot erscheint wenig: In Österreich gibt es 29 Frauenhäuser – bei halb so vielen Einwohner_innen wie in Ecuador.

Wir fahren nach Puerto Francisco de Orellana ins Amazonasgebiet. Palmen und Bananenbäume säumen die Straße, Schäfchenwolken stehen am blauen Himmel, es ist heiß. Hier befindet sich das Frauenhaus „Casa Paula“, welches seit über 20 Jahren eine Anlaufstelle für Gewaltopfer der Amazonasregion bietet. 

Inez Ramirez Maldonado hat das Haus gegründet und leitet es bis heute. Sie ist um die 50 und hat die langen schwarzen Haare zu einem Zopf geflochten. Neben ihr arbeiten hier im Haus eine Anwältin, eine klinische Kinderpsychologin, zwei Sozialarbeiterinnen, eine Lehrerin, zwei Pädagoginnen und die Administratorin. Die Frauen, Jugendlichen und ihre Kinder bekommen hier Unterkunft, Essen, Kleidung und gesundheitliche Versorgung. Das ist oft notwendig, so Maldonado: „Wenn die Frauen kommen, kommen sie mit dem, was sie am Leibe haben. Sie kommen zerschnitten, geschlagen, vergewaltigt, schwanger, manchmal mit einer Vielzahl an Krankheiten. Viele sind knapp einem Femizid entgangen. Sie wurden fast umgebracht. Wir möchten ihnen zumindest eine Grundausstattung geben, damit sie sich wohl fühlen hier im Haus.“ Das ist nicht billig. Eigentlich bekommen Frauenhäuser eine Teilförderung vom ecuadorianischen Staat. Casa Paula hat diese heuer aus bürokratischen Gründen nicht bekommen, das versprochene Geld von der Gemeinde ist auch noch nicht angekommen. So ist das Haus auf NGOs und Spendengelder angewiesen – die meisten davon aus Europa. Trotz der stetigen Geldnot hilft das Team des Frauenhauses, wo es kann. Jugendlichen Gewaltopfern wird ein Schulplatz gesucht und finanziert, damit sie ihre Ausbildung beenden und sich ein eigenes Leben aufbauen können. Doch das funktioniert nicht immer: Manche werden per Gerichtsentscheid zurück in ihre Familien geschickt und müssen dort wieder mit dem Täter zusammenleben. „Eine fatale Entscheidung“, so Guerra.

Casa Paula. Maldonado wohnt mit ihrer Tochter, ihrem Mann und fünf Hunden nicht weit vom Frauenhaus entfernt. Ihre Familie beschreibt sie als ihre größte Stütze, gerade in der schwierigen Zeit um die Gründung des Frauenhauses. Auf dem schwarzen Sofa im Wohnzimmer sitzend, erinnert sie sich zurück: „Es gab einige Männer hier, die mit allen Mitteln verhindern wollten, dass ein Frauenhaus entsteht. Sie haben sogar die Bauarbeiter_innen geschlagen das ganze Baumaterial auf die Straße geschmissen. Ich habe dann alle Frauen organisiert und wir haben in einem großen Aufmarsch den Baugrund besetzt. 15 Tage haben wir dort geschlafen, bis sie mit der Basis für das Haus fertig waren.“ Der Widerstand hat sich schließlich gelohnt und für Maldonado ist das Frauenhaus damals wie heute ein Herzensprojekt: „Ich würde sagen, es war ein Lebensziel von mir, dass diese Organisation aufrechterhalten und gepflegt wird. Dass sie diese Betreuung anbieten kann. Denn wir retten Leben, indem wir einer sehr vulnerablen Gruppe Betreuung und Schutz bieten. Einer Gruppe, die nicht mehr hat als Casa Paula.“

Spenden an Casa Paula: paypal.me/AylluHuarmicunaF

 

Zur Autorin: Julia Wendy studiert Internationale Entwicklung an der Universität Wien. Sie hat 2021/22 ein Jahr in Mindo, Ecuador, verbracht.

 

 

Die faule Lüge

  • 01.01.2023, 15:57
Über die Scham, faul zu sein, und den Druck, durchgehend zu leisten: Was ist Faulheit und welchen Platz hat diese in unserer Leistungsgesellschaft?

 

CW: Schilderung von Rassismus 

"Warum kann ich das nicht einfach alles machen?", habe ich oft mich selbst und meine Therapeutin gefragt. Warum fällt es mir so schwer zu studieren, zu arbeiten, politisch aktiv zu sein, mich um den Haushalt zu kümmern, Menschen auf WhatsApp zurückzuschreiben, auf Emails zu antworten und dann auch noch jeden Abend meine Zähne zu putzen? Warum bin ich die Einzige, die das nicht schafft? Woher weißt du, dass du die Einzige bist?, fragt dann meine Therapeutin. Weil niemand sonst darüber spricht. Sprichst du darüber? Nein. Warum nicht? Weil ich mich schäme. Weil ich denke, dass ich faul bin, dass ich kaputt bin, und mich dafür schäme, nicht einfach leisten zu können.

Produktivität hatte in meiner Welt immer höchstes Gebot: schnell und effektiv arbeiten, Geld verdienen, am besten alles gleichzeitig machen. Die anderen schaffen es ja auch. "Die anderen, die alles schaffen" waren sogenannte Productivity Influencer auf Instagram und YouTube, die ihr Geld damit machen, darüber zu reden, wie unheimlich produktiv sie durch Methode X und Y geworden seien. Dabei beginnt die Geschichte viel früher: Schon als Volksschulkind wusste ich, dass meine Leistung das ist, was schlussendlich zählt. Wer nicht leistet, versagt. Ist ja schließlich auch das Einzige, das benotet wird - nicht der Weg dorthin, oder die Mühe, die ich mir gemacht habe. Das zieht sich durch’s Gymnasium und wurde mir dann auch später im Studium von der Regierung so bestätigt; siehe UG-Novelle. Du schaffst keine Mindestanzahl an ECTS pro Semester? Was für ein_e Versager_in.

Forderungen wie “Leistung muss sich wieder lohnen”[1] tauchen immer wieder im politischen Diskurs auf und wirken wie ein perverses Verlangen, Leute in nützlich und nutzlos, wertvoll und wertlos einzuteilen. Leistung wird durch und durch romantisiert - zum Beispiel als Hustle Culture oder “THAT girl”-Ästhetik. Auch das Studierendenleben wird glorifiziert: möglichst lang in der Bib zu bleiben, um 4:30 Uhr aufstehen, um zu lernen, 12h lange “Study with me”-Livestreams auf YouTube. Die Kehrseite, Überanstrengung bis hin zum Burnout, wird dabei ignoriert.

Wer nicht leistet ist faul? Oft scheint mir, als gäbe es bei diesem Thema nur schwarz oder weiß. Entweder bringt man Leistung, arbeitet 40h oder mehr, erfüllt alles, was gesellschaftlich  in diesem Lebensabschnitt erwartet wird - oder man ist faul. Ich unterrichte Deutsch für Menschen, die gerade erst nach Österreich gekommen sind, Menschen, die ausgewandert sind, aber auch Menschen mit Fluchterfahrungen. Manchmal höre ich dann: "Flüchtlinge sind faul. Sie sollen sich anstrengen, Deutsch zu lernen, sind ja schon seit Jahren hier." Ja, ich unterrichte auch Leute, die schon lange hier sind und kaum sprechen. Keine_r davon ist faul. Es sind Männer, die im Unterricht ganz still werden und merklich mit den Gedanken woanders sind; bei ihrer Familie, im Krieg, bei der Angst, nicht in Österreich bleiben zu dürfen. Das sind Stress und Trauma. Die Mutter, die seit elf Jahren in Österreich ist, aber ihre Hausübung nicht macht, weil keine Zeit dafür ist; neben ihrem Job als Putzkraft muss sie täglich zwei Mahlzeiten auf den Tisch bringen, den Haushalt machen und sich um ihre fünf Kinder kümmern. Sie fragt mich oft, wie sie das alles schaffen soll - ich wünschte, ich könnte es ihr sagen. Dann höre ich, wie wieder mal irgendein_e Politiker_in über die "faulen Flüchtlinge" schimpft, als würde die Person wissen, worüber sie spricht.

"Faul" ist ein Adjektiv, das ich eigentlich nur falsch verwendet höre. Meistens dann, wenn die Person nicht die ganze Situation kennt. Es ist so einfach, Leute als faul abzustempeln. Viel einfacher als Mitgefühl zu zeigen und versuchen zu verstehen.

Was ist Faulheit eigentlich? Faulheit ist laut dem Duden die Unlust, sich bei etwas zu betätigen.[2] “Faulheit” zählt auch als eine der sieben christlichen Todsünden, was uns zeigt, wie tief diese Angst vor der Faulheit in der westlichen Kultur verankert ist. Demnach ist in den vorher genannten Fällen nicht von Faulheit zu sprechen. In keinem der Beispiele waren die Personen unwillig, etwas zu tun.

Wirkliche Faulheit wäre also, gewollt weniger zu tun. Ich denke dabei an die Leute, die ich bei meinen unterschiedlichen Erfahrungen in der Arbeitswelt kennenlernen durfte. Leute in der Gastro, die ihre Leistung ihrem Gehalt anpassen. Wenn dieses unterirdisch gering ist, warum sollten sie sich schinden, wenn sie dafür nichts bekommen? Faulheit, die per Definition bewusst ist, kann auch eine aktive Rebellion gegen die Leistungsgesellschaft sein. Vielleicht ist sie gerade deshalb auch eine Todsünde - weil sie das System hinterfragt.

Faulheit ist ein Konstrukt, das versucht, uns ein schlechtes Gewissen zu machen, wann immer wir nichts “Nützliches” machen, nicht als produktiv gelten. Der Begriff “Produktivität” kommt eigentlich aus der Wirtschaft. Er beschreibt die Relation von Input und Output von Wirtschaftssystemen, wie Privathaushalten oder Unternehmen. Was gemeinhin als “Produktivität” bezeichnet wird, ist die “Arbeitsproduktivität” - die durchschnittliche Arbeitsleistung einer_s Mitarbeitenden innerhalb eines bestimmten Zeitraums. Den Wert eine_rs Arbeitenden an der Produktivität zu messen, erfasst jedoch nie das ganze Bild. Menschen sind komplexe Wesen, und ihr Wert hängt nicht von ihrem Output ab.

Zeitverschwendung ist wichtig. Dinge, die gemeinhin als produktiv eingestuft werden, sind meistens damit verbunden, wie lukrativ sie sind. Side-Hustles sind lukrativ, Fantasybücher zu lesen ist es nicht. Pausen sind es nicht. Dabei ist es genau das, was wir brauchen, um uns zu erholen. Erholung ist keine Zeitverschwendung.

Auf Instagram scrollen, Netflix schauen, malen, mit Freund_innen telefonieren - all diese Dinge fühlen sich für mich wie guilty pleasures an, weil sie mir nichts “bringen”, im wirtschaftlichen Sinne. In einer idealen Welt wäre mir das aber egal - dann würde ich ohne Schuldgefühel tun, was mich glücklich macht. Kann denn etwas Zeitverschwendung sein, wenn es mir Freude bereitet? Menschen können nicht nur leisten. Menschen sind nicht dafür gemacht, durchgehend produktiv zu sein - wir brauchen Pausen und Auszeiten, um am Ende des Tages noch die Kraft zu haben, den Geschirrspüler auszuräumen und Zähne zu putzen. Man muss manchmal den Kopf ausschalten, um später wieder denken zu können.

Eine Art der Zeitverschwendung ist die Prokrastination. Meine Freund_innen höre ich oft über sich selbst schimpfen, weil sie “schon wieder prokrastinieren”, sie sind frustriert, nennen sich faul - Schuld und Scham drehen sich im Kreis. Dabei hat Prokrastination meistens einen Grund.[3] Es gibt Barrieren, warum wir gewisse Dinge nicht einfach so erledigen können. Es ist wichtig, diese Barrieren zu erkennen und zu benennen und sie nicht einfach als Faulheit abzustempeln. Dazu müssen wir mehr Nachsicht und Mitgefühl mit uns selbst haben, weil sie sonst niemand mit uns hat. Diese Barrieren sind ohne Schuldzuweisungen anzugehen, sondern mit Neugierde.

Prokrastination beispielsweise rührt oftmals aus der Angst, nicht gut genug zu sein. Oder sie ist ein Zeichen von Überforderung - nicht zu wissen, wo man anfangen soll. Ablenkung ist dann einfacher: schnelles Dopamin durch Instagram Reels zum Beispiel.

Universitäten sind keine Ausnahme. Der Drang nach Produktivität zieht sich durch jeden Teil unseres Lebens. Um dieses Problem langfristig zu lösen, müssen wir gegen die kaptitalistischen Denkweisen und das System selbst gehen. Wir können mit dem anfangen, was uns am nächsten ist: die Universitäten.

Das akademische Umfeld in Österreich bietet wenig Spielraum für die unterschiedlichen Kontexte, in denen wir uns als Studierende zurecht finden müssen. Seien es Arbeit, Pflegeverpflichtungen, Stress, Anxiety, Traumata - um nur einige zu nennen. Kaum jemand ist nicht betroffen und jede_r Studierende ist vor individuelle Herausforderungen gestellt. All diese Umstände können als Barrieren fungieren, die uns davon abhalten, im Studium aufzublühen. Das sollte aber Platz haben. Das heißt nicht, dass Noten geschenkt werden sollten - bereits einfache Anpassungen wie eine “No questions asked 48h Verlängerung” für Abgaben können bereits viel bewirken.

Ein Appell an Universitäten: Habt Empathie gegenüber euren Studierenden. Ein erfolgreiches Studium sollte nicht davon abhängen, wie frei von Altlasten eure Studierenden sind. Professor_innen sind oft Leute, denen die akademische Arbeit immer leicht gefallen ist. Diese gilt es zu überzeugen: Nur weil ihr in diesem System aufblühen konntet, heißt das nicht, dass eure Studierenden das genauso können. Wer jetzt davon anfängt, dass jene, denen das Studieren schwer fällt, nicht dafür gemacht seien, sollte kurz über dieses Statement nachdenken. Dürfen Leute mit Trauma nicht studieren? Sollte Menschen mit einer mentaler Krankheit der Abschluss verwehrt werden? Ich rede nicht davon, das Studieren inhaltlich “einfacher” zu machen. Ich rede davon, das Studieren so zu strukturieren, dass es für diese Personen machbar wird. "If a student is struggling, they probably aren't choosing to", schreibt Sozialpsycholog_in Devon Price.[4]

Das ist kein individuelles Problem, sondern hat System. Es ist Hustle-Culture und Late Capitalism, aber das hilft nicht viel im Moment. Was ist jetzt zu tun? Wenn wir uns für unsere eigene “Faulheit” verurteilen, dann handelt es sich dabei nicht um Faulheit, sondern um ein Hindernis, bei dem wir Unterstützung brauchen. Das kann sich als Prokrastination äußern und ist nicht zu verurteilen. Es ist wichtig, uns selbst Pausen zu erlauben, unsere Umstände zu erkennen und uns nicht schlecht dafür zu fühlen. Aktiv “Zeit zu verschwenden”, um unserem Gehirn eine Pause zu lassen. Leistungsdruck kritisch zu betrachten und zu hinterfragen, was als produktiv eingestuft wird und was nicht. Aktiv faul zu sein. Forderungen an Universitäten und Institutionen einzubringen.

Es hat lange gebraucht, bis ich aufgehört habe, mich dafür zu schämen, keine Maschine zu sein;meinen Selbstwert nicht von meiner Leistung abhängig zu machen und mir ein Recht auf Menschlichkeit einzugestehen, wie u.a. mal eine Pause zu brauchen oder nicht durchgehend leistungsfähig zu sein. Crazy, ich weiß. Mein Appell an Empathie geht nicht nur an Universitäten: Es gibt noch genug Leute, die an Faulheit glauben und diesen Begriff falsch verwenden. Merksatz: Wenn wir eine Person als "faul" einstufen würden, sehen wir höchstwahrscheinlich nicht das ganze Bild. Und anstatt diese Person dann in die praktischen Schubladen “nützlich” und “nutzlos” einzuteilen, könnten wir diesen Moment nutzen, um Empathie zu zeigen.

 

Eluisa Kainz ist 22 Jahre alt und studiert Business & Economics an der Wirtschaftsuniversität Wien.

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Laura Wiesböck: „Leistung muss sich wieder lohnen“, Momentum Institut 10.09.2019, https://www.momentum-institut.at/news/leistung-muss-sich-wieder-lohnen

https://www.duden.de/rechtschreibung/Faulheit

Olubusayo Asikhia: "Academic Procrastination in Mathematics: Causes, Dangers and Implications of Counselling for Effective Learning", in: International Education Studies 3(3), Juli 2010, https://files.eric.ed.gov/fulltext/EJ1066019.pdf

Devon Price: “Laziness does not exist”, Medium 23.03.2018,https://humanparts.medium.com/laziness-does-not-exist-3af27e312d01

 

 

Barbie und die Revolution

  • 22.03.2024, 10:32
Von der (Un)Möglichkeit zur Kritik. Eine Bestandsaufnahme zum Wechselverhältnis von Kultur, Kritik und Ökonomie.

In der symbolischen Ökonomie spielen Kultur und Ökonomie einander zu – kulturelle Symbole und Artefakte werden ökonomisiert, und ursprünglich als ökonomisch wahrgenommene Produkte werden nunmehr als kulturelle identifiziert.

Die Kultur (…) verwandelt sich in eine Ware“ (Musner, 2009, S. 39). Es scheinen sich im Zuge der Reflexion gegenwärtiger Wirtschaftsverhältnisse neuartige Lesarten von Kultur festzuschreiben. Der idealistisch überhöhte Satz von Mark Twain: „Kultur ist das was übrigbleibt, wenn der letzte Dollar ausgegeben ist“, kann so nicht mehr stehengelassen werden. Dass kulturelle Werte, bzw. eine wertvolle Kultur auf das engste mit ökonomischen Prozessen verstrickt sind, scheint beinahe schon selbstverständlich, wobei selten die weitreichenden Implikationen einer solchen Wahlverwandtschaft erkannt werden.

Die deutsche Kulturstaatsministerin Monika Grütters dazu: „Kultur ist eben nicht das Ergebnis des Wirtschaftswachstums, sondern sie ist dessen Voraussetzung“ (Grütters, 2014). Die Verschränkung wurde also erkannt. Doch was heißt es, wenn Kultur, Wert und Wirtschaft in Relation zueinanderstehen?

Kulturalisierung. Der Soziologe Andreas Reckwitz fasst diesen Wandel der Kulturverhältnisse unter dem Begriff der Kulturalisierung. Vereinfacht gesagt, meint Kulturalisierung schlichtweg eine Art Ausdehnung der Kultur, und zwar nicht im kulturwissenschaftlichen, auf Prozessen der Bedeutungskonstruktion und Sinnstiftung fußenden, sondern in einem engen Sinn: „Kultur als Sphäre der Valorisierungsdynamik dehnt sich in der Spätmoderne aus, weil immer mehr Dinge – jenseits der Frage nach Nutzen, Interessen und Funktion – in das kulturelle Spiel von Aufwertung und Abwertung hineingesogen werden“ (Reck-witz, 2020, S. 35). Bereits hier lässt sich erahnen, dass dem Immateriellen, dem Kognitiven eine zentrale Funktion innerhalb der gegenwärtigen Gesellschaft zukommt. Wie kommt es zur anfangs erwähnten symbolischen Ökonomie und worauf basiert sie?

Neuer Kapitalismus. Der klassische industrielle Kapitalismus, durchlebt eine Reihe von Krisen, welche ihn zwar regelmäßig zu schwanken bringen, ihn jedoch nie ernsthaft in Frage stellen. In den 1970er Jahren geschieht nun etwas vollends Neues: er scheint zu erodieren (vgl. ebd. S. 158). Die Gründe hierfür interessieren in diesem Kontext nicht weiter. Weitaus wichtiger ist die Charakterisierung der Welt, die darauffolgt. Zwei Dinge sind interessant. Erstens der qualitative Wandel des Kapitalismus, welchen Luc Boltanski und Ève Chiapello unter dem Signum des „neuen Geist des Kapitalismus“ (Boltanski/Chiapello, 2018) zufassen versuchen. Die beiden Autor_innen verweisen auf eine grundsätzliche Umstrukturierung der vormals starren, auf Fließbandarbeit und Massenproduktion basierenden Industrie. Diese neue Form des Kapitalismus setzt nunmehr, am prominentesten aus den Parolen der 68er Generation gespeist, auf eine Form von Arbeit, die auf flachen Hierarchien, Flexibilität, subjektiver Erfüllung und Entgrenzung fußt. Zweitens nimmt hier eine neue Subjektform ihren Ausgang. Im Rahmen der „Selbstverwirklichungsrevolution“ (Reckwitz, 2020) wird mit den Werten der „nivellierten Mittel-standsgesellschaft“ (Schelsky, 1953), welche weitgehend auf soziale Akzeptanz, durchschnittlichen Konsum bzw. die Durchschnittlichkeit im Allgemeinen setzt, gebrochen. Einzug finden „Leitwerte der Lebensqualität, der Entfaltung des Selbst, des Lebensgenusses, der Verwirklichung von Möglichkeiten des Erlebens, der Suche nach Erfahrungen des Außergewöhnlichen, eines ästhetischen und teilweise auch eines ethisch bewussten Lebensstils“ (Reckwitz, 2020,S. 151). System und Subjekt entsprechen einander funktional. Besonders augenfällig wird dies im Kontext der Waren und Konsumgüter, welche nun ebenso immer drastischer immaterielle Werte verkörpern. Die Nützlichkeit tritt in den Hintergrund und gibt der Form freien Lauf. Das Bedürfnis nach Massengütern, sprich Gütern, welche einen gewissen durchschnittlichen Lebensstandard versprechen (bspw. Nützlichkeitsgüter, wie Waschmaschinen, Kühlschränke, etc.) kann grundsätzlich gestillt werden, was eine Problematik im Kontext der kapitalistischen Steigerungslogik darstellt. Im Gegenzug dazu können kognitiv-kulturelle Waren in einer Endlosschleife produziert und konsumiert werden. Der Wunsch nach subjektiver Zufriedenheit kann nur auf Zeit befriedigt werden (Ansätze einer solchen Lesart finden sich bspw. bei Fourastié, 1954).

Kognitiv-kultureller Wert. Ein Beispiel: Der neue Nike-Schuh ist nicht oder nur marginal „besser“ als der Schuh jeder anderen Marke. Jedoch erzielt er auf dem Markt höhere Preise als vergleichbare Produkte. Die Herstellung, zumeist in Billiglohnländern situiert, kann hier keine zufriedenstellende Begründung liefern. Viel eher bezieht der Schuh seinen Wert aus anderen Quellen. Er hat einen kognitiv-kulturellen Wert. Kognitiv in dem Sinne, als dass ein hohes Maß an Wissensarbeit in ihm steckt (Design, Copyright) (hierzu: Drucker, 1972). Kulturell wertvoll ist der Nike-Schuh als Idee und durch das Gefühl, welches er hervorruft. Jedoch werden nicht nur ökonomische Güter kulturalisiert. Wechselseitig vollzieht sich ebenso eine Ökonomisierung vormals nichtökonomischer Sphären.

Radikalisierte Ökonomisierung. Diese kann in verschiedensten Aspekten nachvollzogen werden, besonders spannend gestaltet es sich im Kontext der Kritik. Bereits im Rahmen der 68er Bewegung und der Krise des Industriekapitalismus kann eine Inwertsetzung der Kritik wahrgenommen werden. Das Wirtschaftssystem schafft es die Kritik an sich selbst anzuwenden, sie zu integrieren und zum substanziellen Bestandteil seiner selbst zu machen (hierzu: Boltanski/Chiapello, 2018, S. 211f).

Kritik wird nun wie vieles andere zur konsumierbaren Ware. Ein Beispiel aus der etwas jüngeren Vergangenheit: Der im Sommer 2023 erschienene Barbie-Film mit Ryan Gosling und Margot Robbie in den Hauptrollen übt Kritik an patriarchalen Strukturen und wird zum Boxoffice Erfolg. Feministische Thematiken werden zum Alltagsgespräch, vergeschlechtlichte Hierarchien diskutiert, klassische Geschlechterbilder dekonstruiert. Der Film schafft es jedoch, Kritik an patriarchalen Strukturen vor aller Augen zur Ware innerhalb eines noch immer auf der Ungleichheit der Geschlechter fußenden Systems zu machen. Der Preis für Kinotickets ist hier nicht die zentrale Problematik: Es geht viel eher darum, dass die ideologische Aufladung des Films, die Zuschreibung moralisch „richtige“ Werte zu vermitteln, schlichtweg den kulturellen Wert des Films steigert, ohne die Substanz des Systems, welches maßgeblich dazu beiträgt, die Disziplinarstrukturen hervorzubringen, im Kern anzugreifen.

Kein Richtiges im Falschen. Theodor W. Adorno mag recht gehabt haben, als er den Satz: „Es gibt kein richtiges Leben im Falschen“ (Adorno, 1980) formulierte. Es gibt eben auch keine richtige Kritik im Falschen. Solange die Kritik Teil des Systems ist, bzw. innerhalb des Systems zu einem bloßen Produkt verkommt, führt sie sich selbst ad absurdum und belässt das sie äußernde Subjekt in blauäugiger Selbstzufriedenheit. Doch was geschieht mit Ansätzen, welche das System im Ganzen thematisieren? Auf Amazon findet sich eine ungekürzte Ausgabe des „Kapitals“ von Karl Marx für unter acht Euro. Byung-Chul Han hierzu: „Der Kapitalismus vollendet sich in dem Moment, in dem er den Kommunismus als Ware verkauft. Der Kommunismus als Ware, das ist das Ende der Revolution“ (Han, 2022,S. 32).

Das System denkt die Kritik an sich selbst bereits mit, wandelt sie zur Ware und bietet sie auf dem Markt feil. Die Kritiker_innen werden zu Konsument_innen, kritisiert wird nur noch die Qualität verschiedener Kritikwaren. Sie werden im Prozess der Kulturalisierung qua Valorisierung auf- und abgewertet, werden wichtig oder unwichtig, ihr Ziel treffen sie nicht.

Sebastian Kunig studiert Europäische Ethnologie an der Universität Wien.

 

Foto © Maria Letizia Ristori

Adorno, Theodor W. (1980): Minima Moralia. Reflexionen aus dem beschädigten Leben (Gesammelte Schriften). Frankfurt am Main (Erstausgabe 1951).
Boltanski, Luc; Chiapello, Ève (2018): Der neue Geist des Kapitalismus. Köln. (frz. Orig. 1999).
Drucker, Peter (1972): Die Zukunft bewältigen. Aufgaben und Chancen im Zeitalter der Ungewißheit. München (amerik. Orig. 1969).
Fourastié, Jean (1954): Die große Hoffnung des 20. Jahrhunderts. Köln (frz. Orig. 1949).
Grütters, Monika (2014): Kultur ist mehr als alles andere ein Wert an sich, breg-de/aktuelles/kultur-istmehr-als-alles-andere-ein-wert-an-sich-782452 (letzter Zugriff: 13.12.2023).
Han, Byung-Chul (2022): Kapitalismus und Todestrieb. Essays und Gespräche. In: fröhliche Wissenschaft 155. 3. Auflage. Berlin.
Musner, Lutz (2009): Der Geschmack von Wien. Kultur und Habitus einer Stadt, Frankfurt am Main.
Reckwitz, Andreas (2020): Das Ende der Illusionen. Politik, Ökonomie und Kultur in der Spätmoderne. 4. Auflage, Berlin

Das Klima braucht auch kleine Siege

  • 22.03.2024, 11:32
Neue Perspektiven auf alte Diskurse

Im Klimadiskurs verhärten sich wieder die Fronten. Besonders offensichtlich zeigt sich diese Entwicklung gerade auf Social Media. Die COP28, deren Gastgeber ein Ölmagnat ist, trägt einen großen Teil dazu bei. Eine Klimakonferenz auszurichten, die als Vorsitz den Vorsteher des sechstgrößten Ölkonzerns der Welt hat, hätte in vielen satirischen Redaktionen wohl als zu unrealistisch und nicht subversiv genug gegolten – der Realität war das aber leider egal. Wie jedes Jahr, wenn die internationale Klimapolitik auf der großen Bühne steht, kommt die Diskussion um sie nicht ohne recycelte Argumente und Falschinformationen aus.

Diskussionsvergiftung. Im Diskurs rund um dieses Thema werden nicht nur viele Gehässigkeiten ausgetauscht, sondern auch alte Argumente wiederbelebt, um Standpunkte zu begründen. Eines der beliebtesten Argumente, besonders von Konservativen, ist das des freeridings (auf Deutsch: Trittbrettfahren). Es sei doch egal, wenn wir auch Kohle abbauen, die Menge ist im globalen Vergleich quasi egal. Allein China und die USA stoßen so viel mehr CO2 aus, da kann Deutschland nicht mithalten – und Österreich schon gar nicht. Wenn „wir“ im globalen Vergleich so insignifikant sind, warum sollten wir uns dann zurückhalten? Hier werden andere Länder des freeridings bezichtigt – sie können sich so verhalten, wie sie wollen, während wir den Preis bezahlen. Diese Art von Argumentation löst in vielen Gegner_innen der Fossilen starke oppositionelle Reaktionen aus. Dieses Argument ist zwar faktisch korrekt – einen einzigen Kohleabbau zu stoppen, wirkt mit Blick auf die Gesamtsituation des Klimas wie ein Tropfen auf dem heißen Stein. Jedoch hat dieses Argument eine unsichtbare anti-humanitäre Dimension. Um das Ganze jedoch besser zu verstehen, sind ein paar Konzepte unerlässlich: Die Folgen des Klimawandels, wenn die Länder und Volkswirtschaften der Welt mit business as usual fortfahren; die Moralität hinter dem genannten Argument; und was Klimapolitik kann und soll. Hier also nochmal kurz die Fakten, mit welchen Folgen zu rechnen ist, wenn die Entwicklung der Welt auf dem aktuellen Pfad bleibt und ein realistisches Zielszenario, das weniger Folgen mit sich trägt.

Mit fossiler Energie gegen die Wand. Das Szenario, welches am nächsten an die derzeitigen sozioökonomischen Entwicklungen herankommt, ist dunkel: Der CO2-Ausstoß bleibt quasi bis zum Ende des Jahrhunderts gleich. Das ist der ungefähre Pfad, den die Nationen der Welt im Paris Agreement festgelegt haben. In diesem Zeitraum erwärmt sich die Erde um ungefähr 2,7 - 3,2 Grad Celsius. Was wie ein netter Sommerurlaub klingt, hat jedoch enorme Konsequenzen. Regionale und transnationale Konflikte, Ressourcenknappheit und größere Ungleichheit sind nur ein paar der Folgen, welche die Forschenden für wahrscheinlich erklären. Dazu kommen lauwarme politische Maßnahmen und omnipräsente Gefahren durch Umweltschäden.

Ein weniger gefährliches Szenario orientiert sich an einer globalen Erwärmung von zwei Grad. Dies scheint zwar nicht mehr realistisch, ist aber durch entschlossene Politik noch möglich. In dieser Welt mehren sich zwar Extremwetterereignisse und der Meeresspiegel steigt um bis zu 60 Zentimeter, allerdings könnten schwerwiegendere Folgen vermieden und der globale Lebensstandard erhöht werden. Das wohl wichtigste Detail, das man oftmals in diesen technischen Diskussionen rund um den Klimawandel vergisst, ist das mit jedem zehntel Grad weniger Erderwärmung weniger Menschen, ob schon geboren oder noch nicht, sterben. Dieses humanistische Ziel des Klimaschutz- es darf nicht aus den Augen verloren werden – womit wir wieder beim Argument des freeridings wären.

Anti-Klimaschutz, Anti-Menschen. Bei den Unzulänglichkeiten seiner eigenen Regierung auf andere zu verweisen, ist naheliegend. Erst recht dann, wenn die Datenlage darauf hindeutet, dass das eigene Land nicht so „schuldig“ ist wie andere. Doch offenbart sich in dieser Struktur ein dunkles Sentiment. Da vom menschengemachten Klimawandel intensivierte Extremwetterereignisse direkt zum Verlust von Menschenleben führen, ist dieses Argument, dass man nichts machen könne, wenn andere schlimmer sind, nicht zu beachten. Im Gegensatz zu dem, was dieses Argument nämlich behauptet, sind kleine Lösungen etwas Gutes. Die Gefahr der Klimakrise steigt mit jedem zehntel Grad. Je höher die Erderwärmung ausfällt, desto mehr Menschenleben wird diese Krise kosten. Das bedeutet wiederum, dass alle Maßnahmen, die, ohne selbst Menschenleben zu kosten, die Klimakrise eindämmen, Menschenleben retten. Jeder noch so kleine Protest hilft. Von Großdemos wie Fridays for Future bis hin zu lokalen Protesten der indigenen Bevölkerung, um einen winzigen Teil des heimischen Ökosystems zu retten – es geht nicht um die Größe, da jedes Umdenken der Politik im Klimabereich Leben rettet. Gerade deswegen ist das scheinbar gute Argument des Trittbrettfahrens im Kern so abtrünnig. Anstatt mitzuhelfen, die Löcher im eigenen Boot zu stopfen, wird auf diejenigen hingewiesen, die es nicht tun. Dazu wird dann noch empfohlen, sich genau so zu verhalten, wohlwissend, dass diese Rhetorik Leben vernichtet.

Was Menschen, die solche Argumente verwenden davor schützt, sich kritisch mit ihrer Argumentation auseinanderzusetzen ist, dass diese Tode medial unsichtbar gemacht werden. Die Länder, die am meisten unter den Folgen der Klimakrise leiden, sind weit weg. Wenn Einwohner_innen des globalen Südens die Auswirkungen der Klimakatastrophe erfahren, ist es einfach, auch abseits von rassistischen Ressentiments, wegzuschauen.

Doch wegzuschauen ist fatal: stattdessen gilt es, utopische Zukunftsvisionen zu erlauben. Zu diesem Prozess gehören keine „aber die Anderen“-Argumente, sondern eine „Ja, und“-Haltung. Diese Haltung funktioniert auf zwei Ebenen.

Ja, und? & Ja, und! Das Offensichtliche zuerst: Die „Ja, und?”-Haltung ist eine der Akzeptanz. Die Akzeptanz, dass es Dinge gibt, die außerhalb der Kontrolle der einzelnen Person liegt. Kinder auf den FFF-Demos in Österreich haben keinen Einfluss auf Umweltpolitik der Volksrepublik Chinas. Indigene Völk- er, die ihren Lebensraum beschützen wollen, haben keinen Einfluss auf die Investitionsentscheidungen amerikanischer Ölfirmen. Man sollte sich dessen bewusstwerden und sich darauf verlassen, dass kleine Proteste, an denen man teilhat, größere inspirieren und somit über Zeit die großen Staatsregierungen zum Umdenken bringen – hoffentlich schnell genug. Die andere Seite, die „ja, und!“ Haltung ist ein wenig komplexer.

Offenheit ist hier das Gebot der Stunde. Um kleine Siege zu erlangen, braucht es Alles, womit wir gewinnen können. Das bedeutet einen Mix aus den uns zur Verfügung stehenden Optionen verwenden, um die schlimmsten Effekte der Klimakrise zu verhindern. Ausbau von öffentlichen Verkehrsmitteln sowie Radwegen? Ja! Und so weiter. Das sind bei weitem nicht alle Vorschläge, die die Klimaforschung hervorgebracht hat, sie reichen aber um das Prinzip zu illustrieren. Bei allen diesen Vorschlägen wird man Widerstand erfahren, mal stärker, mal schwächer. Davon darf man sich nicht demoralisieren lassen. Kleine Siege sind unfassbar wichtig.

Was Klimapolitik kann und soll. Klimapolitik ist so herausfordernd wie unübersichtlich. Viele Aspekte müssen mit den verschiedensten Interessensgruppen abgestimmt werden, um etwas zu erreichen. Klimapolitik, zumindest in ihrem jetzigen Stadium, kann kleine Siege und symbolische Gesten am besten. Doch das ist keineswegs schlecht. Natürlich, auch ich wünsche mir mehr und effektiveren Klimaschutz – aber weniger ist besser als nichts. Dazu lassen sich kleine Siege in wichtigen Wahlkreisen schnell in eine „green spiral“ umwandeln. Das bedeutet, dass Trittbrettfahren von der globalen Politik nicht beachtet wird, sondern die Interessen der Wähler_innen am wichtigsten sind – ist den Wählenden Klimaschutz wichtig, wird das Klima geschützt. Was nicht zu vergessen ist, ist das Framing: Kleine Siege sind nun mal klein, das heißt es bleibt immer Luft nach oben.

Man kann - und soll - sich, trotz vielen guten Maßnahmen, immer für mehr und besseren Klimaschutz einsetzen. Klimapolitik kann nicht antidemokratisch über die Bedürfnisse vieler Interessensgruppen hinwegentscheiden, auch wenn es manchmal danach aussieht. Die Wichtigkeit, kleine Projekte umzusetzen, die dazu beitragen größere zu legitimieren darf nicht unterschätzt werden. Klimaschutz ist selten nutzlos oder falsch. Auch wenn sich andere schlechter verhalten, darf man nicht in der Machtlosigkeit verfallen, sondern muss besonders stark um den Planeten kämpfen!

 

 

Konstantin Philipp studiert Politikwissenschaft an
der Universität Wien und Economic Policy an der
Utrecht University

 

 

Foto © Vanessa Hundertpfund

Studium „all inclusive“?

  • 03.05.2024, 09:57
Weiterhin bestehende Barrieren und eine enge Leistungsdefinition. Wie utopisch ist inklusive Bildung an den österreichischen Universitäten?
INFO: Die Definition von Behinderung richtet sich in diesem Artikel nach der UN-Behindertenrechtskonvention. Weiters wird zwischen Beeinträchtigungen – zum Beispiel Erkrankungen, Gehörlosigkeit, etc. – und Behinderungen unterschieden. Behinderungen entstehen im Sinne der UN-Behindertenrechtskonvention erst durch die Wechselwirkungen zwischen dieser Beeinträchtigung und den Barrieren in der Umwelt bzw. Gesellschaft. Man spricht hier auch von „behindert werden“.

 

An den neoliberal geprägten Universitäten geht es vor allem um Effizienz, schnelle Abschlüsse und rasche Vermittelbarkeit am Arbeitsmarkt. Es gibt Zugangsprüfungen, Mindeststudienzeiten, eine Mindeststudienleistung mit Sperrfrist und Meilensteine, die durchaus das Potential zu Hürden haben (z.B. die Studieneingangsphase). Insgesamt ist das System Studium an einem Durchschnitt ausgerichtet, der sich in sehr engen Grenzen bewegt, was Zeit, Energie und andere Ressourcen betrifft. 

Demgegenüber steht nun aber die von Österreich ratifizierte UN-Behindertenrechtskonvention. Diese fordert ein diskriminierungsfreies und inklusives Studieren für alle. Inklusion bedeutet in diesem Kontext mehr, als nur Menschen mit Behinderungen „in die ausgrenzende Gesellschaft“ einzuschließen, wie die Sozialforscherinnen Marianne Hirschberg und Swantje Köbsell betonen. Sie unterscheidet sich damit klar von integrativen Bildungskonzepten. 

Dass Verbesserungen für Studierende mit Behinderungen angestrebt werden, zeigt sich unter anderem an den mit dem Diversitas-Preis ausgezeichneten Projekten, aber auch generell an einem verstärkten Fokus auf das Thema. Gleichstellung und Diversitätsmanagement werden als „wesentliche Bestandteile der gesellschaftlichen Verantwortung der Universitäten“ gesehen, wie das Bildungsministerium schreibt.

Dennoch wurden im Zuge meiner Interviews für die Dissertation weiterhin bestehende bauliche Barrieren genannt. Darunter fällt unter anderem, dass Aufzüge nicht in alle Stockwerke fuhren, Rampen zu steil oder Türbeschriftungen zu klein waren. Ebenso braucht es ein vermehrtes Anbieten von Schriftdolmetschung, eine zugänglichere Laborumgebung und einen Abbau technischer Barrieren.

Für Studierende mit Behinderungen gibt es bei Bedarf überdies sogenannte Nachteilsausgleiche, wie die Prüfungszeitverlängerung, die sehr wesentlich und wichtig sind – gleichzeitig führen diese aber nicht dazu, dass sich das System verändert. Es wird von einem individuellen Problem, einem „Nachteil“, ausgegangen, den die Person geltend machen muss, um durch unterstützende Maßnahmen in das System, das als weitgehend neutral betrachtet wird, eingepasst zu werden. Also eher Integration als Inklusion.

Dass Studierende ihren „Nachteil“ geltend machen müssen, bedeutet, dass sie sich erklären und ihre Nachteilsausgleiche selbst aushandeln müssen. Nur eine Diagnose zu nennen, schafft kein vollumfängliches Verständnis für die erlebten Behinderungen im Studienalltag. Und da kommt es natürlich stark auf das Gegenüber an. Ist das Gegenüber verständnisvoll und offen oder denkt vielleicht, ich will mich vor etwas drücken? Hat die Person, die Kompetenz und die Ressourcen, um die Unterstützung erfolgreich umzusetzen? Kann ich meine Bedürfnisse überhaupt so kommunizieren, dass ich die Unterstützung bekomme, die ich brauche? Weiß ich überhaupt was ich brauche? Auch ein wichtiger Punkt, vor allem, wenn keine Vorerfahrung besteht. Und natürlich – Bedürfnisse können sich im Zeitlauf auch ändern, Hilfsmittel können aufhören zu funktionieren oder die bauliche Barrierefreiheit ist nicht mehr gegeben, weil man in einem anderen Gebäude studiert oder gerade eine Baustelle vor Ort ist. 

An den österreichischen Unis gibt es eigene Anlaufstellen mit Behindertenbeauftragten, die erfahrungsgemäß sehr engagiert sind und eben sowohl die Kompetenz, als auch die nötigen Mittel zur Umsetzung von Unterstützungsmaßnahmen haben. Aber selbst im besten Fall ist der Zugang zu Nachteilsausgleichen oder Maßnahmen zur Erhöhung der Barrierefreiheit damit verbunden, dass man seine Behinderungen bekannt gibt – was nicht alle Studierenden wollen. Die sich teils leider immer noch bewahrheitende Befürchtung ist, dass man dadurch Nachteile erlebt, anders behandelt wird oder verletzende Aussagen hören muss. Gerade Studierende mit psychischen Erkrankungen sind hiervon betroffen, was sich ebenfalls im Zusatzbericht der Studierendensozialerhebung gezeigt hat. Manche beschließen auch, nur einen Teil der Behinderungen preiszugeben, um in die enge Leistungsdefinition zu passen.

Überdies wurde aufgezeigt, wie viel Mehraufwand es mit sich bringen kann, durch diese individualisierende Sichtweise für sich selbst zugänglichere Studienbedingungen zu schaffen. Hinzu kommen bürokratische Angelegenheiten, die außerhalb der universitären Sphäre liegen und die etwa die Beantragung des Behindertenpasses, von Attesten, Pflegegeld, Transport- oder Assistenzleistungen betreffen. 

Eine interviewte Person hat sehr schön auf den Punkt gebracht, was vielfach implizit oder explizit geäußert wurde:

„Ich will ja auch nicht, dass da jetzt immer ganz speziell für mich Lösungen gefunden werden. Da bin ich auch irgendwie müde. Ich hätte gerne, dass es von Haus aus geht. Dass es auch darauf ausgerichtet ist, dass Menschen mit Einschränkungen das machen.“

Insgesamt ergeben sich einige Ansatzpunkte, um im Sinne der UN-Behindertenrechtskonvention die Barrierefreiheit für alle von vornherein zu erhöhen. Das beginnt bereits vor der Lehrveranstaltung – bei der Gestaltung zugänglicher Curricula, Unterrichtsmaterialien und Universitätsgebäude. Darüber hinaus wurden die Lehrenden als wesentliche Ansprechpersonen von Studierenden genannt, weshalb spezielle Trainings zu inklusivem Unterrichten hilfreich sein können. Barrierefreiheit sollte hier weiter gedacht werden, denn auch die Hörsaalgröße, die Belichtung, die Akustik, die didaktischen Methoden, Zeit, Zeitpunkt und Zeitrahmen haben einen Einfluss auf die Lernenden. Hinzu kommen noch unvorhergesehene Studienunterbrechungen und die Frage, wie damit umgegangen wird. Ferner ist die Studienorganisation wesentlich, dazu zählen zum Beispiel Anmeldeverfahren, die Prüfungsdichte oder die Regelung der Anwesenheitspflicht. In diesem Kontext ist die Online-Lehre, die während der Pandemie relativ flächendeckend ermöglicht wurde, besonders hervorzustreichen.  Obgleich es auch hier verschiedenste Barrieren geben kann, ist es mir dennoch ein Anliegen, mich für eine Beibehaltung – und kontinuierliche Optimierung – der geschaffenen Strukturen einzusetzen. Und zwar nicht als reines Entweder/Oder, sondern als wertfreie Ergänzung. Für all jene, die aus gesundheitlichen Gründen phasenweise oder eventuell für die Dauer des restlichen Studiums nicht in Präsenz teilnehmen können.

Mein Wunsch, der in naher Zukunft hoffentlich KEINE Utopie mehr ist, besteht darin, dass sich der Blickwinkel auf Studierende mit Behinderungen verschiebt. Beeinträchtigungen sollen nicht mehr als individuelles Defizit betrachtet werden, sondern die strukturellen Behinderungen sollen überdacht werden. Nimmt man die UN-Behindertenrechtskonvention als Richtschnur, sollte das Ziel sein, eine Kultur und ein Lernumfeld zu schaffen, das die Diversität von allen Lernenden versteht und fördert. Dazu gehört, die Zugänglichkeit in allen Belangen von vornherein größtmöglich zu erhöhen. Was nicht nur den Studierenden mit Behinderungen zugute kommen würde – eine Rampe beim Haupteingang hilft darüber hinaus jenen, die beispielsweise mit Kinderwägen unterwegs sind oder größere Ausrüstung transportieren müssen. Und auch wenn es in einigen Fällen weiterhin sehr wichtig sein würde, individuelle Lösungen zu finden, würde die Notwendigkeit der Offenlegung von Beeinträchtigungen zum Großteil obsolet werden, da Studierende frei wählen könnten und somit die Chance geringer wäre, dass sie überhaupt „behindert werden“. Denn eines zeigen Sheryl E. Burgstahler und Rebecca C. Corey: dass Nachteilsausgleiche jenen helfen, die sie brauchen und an der Leistung der anderen wenig verändern. Gleiches lässt sich für die generelle und in einem breiten Sinne gedachte Zugänglichkeit der einzelnen Studiengänge sowie der Universitäten feststellen.

Michaela Joch beschäftigt sich in ihrer Doktorarbeit (WU WIEN) mit der universitären Zugänglichkeit.

 

Literatur:

Hirschberg, M. & Köbsell, S. (2016) Grundbegriffe und Grundlagen: Disability Studies, Diversity und Inklusion. In I. Hedderich et al. (Hrsg.), Handbuch Inklusion und Sonderpädagogik (S. 555-568). Verlag Julius Klinkhard.
Burgstahler, S. E. & Corey, R. C. (2010) Universal Design in Higher Education: From Principles to Practice (1. Aufl.). Harvard Education Press.
 

Weiterführende Information:

UN-Behindertenrechtskonvention https://www.sozialministerium.at/
Studierendensozialerhebung https://www.ihs.ac.at/
Ansprechpersonen an den Universitäten https://www.uniability.org/
 

Foto © M. Letizia Ristoni

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