Menschenunwürdig ist es, wie internierte Migrant_innen die Pandemie durchleben müssen

  • 25.06.2020, 17:14

Auf der Straße ist die Ansteckungsgefahr zehn Prozent, zu Hause ist die Gefahr zu verhungern hundert Prozent“, sagt Helena Maleno Garzón, spanische Migrationsforscherin und Flüchtlingshelferin von Caminando Fronteras/Walking Borders mit Sitz in Tanger (Marokko).

Maleno Garzón berichtet im Gespräch über die Situation der Migrant_innen in Marokko, Algerien und den spanischen Auffang- und Abschiebelagern in den Nordafrika-Enklaven Ceuta und Melilla, „wo die Zustände, unter denen sie leben, schlichtweg ungesund und menschenunwürdig sind.“ Wie mehrere hundert NGOs und migrantische Kollektive fordert auch sie eine Legalisierung aller ohne regulären Aufenthaltsstatus in Spanien lebenden Menschen.

progress: Die Flüchtlingslager in den spanischen Enklaven Ceuta und Melilla sind restlos überbelegt, in Melilla leben über 1600 Menschen im für 800 ausgelegten Centro de Estancia Temporal de Inmigrantes, kurz CETI. Amnesty International und auch der spanische Volksanwalt übten bereits vor der COVID-19-Pandemie massive Kritik an den Zuständen ...

Maleno Garzón: Was sich in den CETI von Ceuta und Melilla zeigt ist, dass in einer Pandemie die vulnerabelsten sozialen Gruppen schier Unglaubliches ertragen müssen. Die Lager sind überbelegt, wenn es regnet, füllen sich Zimmer mit dem Abwasser voller Fäkalien. Es zeigt weiter, dass nicht alle Gruppen der Gesellschaft die Krise unter denselben Konditionen durchleben. Die Menschen, die in den CETI leben, werden ohnehin ihrer sozialen und universellen Rechte beraubt, mit der Ausgangssperre und dem Alarmzustand werden ihre Menschenrechte weiter verletzt. Dabei geht es nicht nur um die Bewegungsfreiheit, die wir alle in gewissem Maße einbüßen. Die Migrant_innen in den CETI verlieren ihr Recht auf Gesundheit, denn die Zustände, in denen sie leben, sind schlichtweg ungesund. Menschenunwürdig ist es, wie internierte Migrant_innen die Pandemie durchleben müssen.

progress: Seit August 2019 sitzen im CETI Melilla auch knapp 700 Tunesier_innen fest, darunter über 50 Frauen und 20 Kinder. Ihnen droht nach wie vor die Abschiebung, über die Spanien mit Tunesien aktuell verhandelt.

Maleno Garzón: Zusätzlich zu all dem, was die Virus-Pandemie für die Psyche bedeutet, und der Situation im Lager, drängt sich eine permanente Angst auf, abgeschoben zu werden. Der Innenminister Fernando Grande-Marlaska (Anm. vom sozialdemokratischen PSOE) verkündete inmitten der Pandemie, rund 600 bis 700 Tunesier_innen abschieben zu wollen, obwohl keine Flüge (Anm. einige wenige FRONTEX-Deportationsflüge finden aus EU-Staaten statt) stattfinden und keine Fährverbindungen existieren und die Grenzen allesamt geschlossen sind. Zugleich ermutigt Grande-Marlaska die spanische Gesellschaft zu Solidarität und Durchhaltevermögen. Das ist eine enorme Verantwortungslosigkeit, die einen immensen Schaden anrichtet und Leid verursacht. 

progress: Wiederholt begaben sich Internierte in den Hungerstreik, so auch vor kurzem wieder.

Maleno Garzón: In Melilla haben Internierte Ende April einen Hungerstreik begonnen, sieben von ihnen haben sich bisher auch die eigenen Lippen zugenäht. Wenn sie nun mit ihrem durch die Nahrungsverweigerung geschwächten Immunsystem mit dem Coronavirus angesteckt werden, kann man sich die Auswirkungen der Infektion nur zu gut vorstellen. Es ist eine schreckliche Situation. In Europa und in den spanischen Nordafrikaenklaven werden Menschen entrechtet, nur weil sie eben in so genannter ‚irregulärer Situation‘ leben. Dazu zählen auch die Migrant_innen, die unser Gemüse bei Almería in Südspanien ernten und in notdürftigen Behausungen leben, damit wir auch in der Quarantäne frische Ware bekommen. Wir Europäer_innen sind Privilegierte in der Pandemie-Krise, das sollte uns klar sein.

progress: Spaniens Innenministerium hat mittlerweile die am Festland in den CIE-Lagern (Centro de Internamiento de Extranjeros) untergebrachten Migrant_innen entlassen. Für die CETI zeichnet sich jedoch noch keine Lösung ab ...

Maleno Garzón: Was die Situation in den restlos überfüllten CETI-Abschiebelagern in Ceuta und Melilla betrifft, muss Grande-Marlaska eine Lösung finden. Und die muss eine menschenwürdige, weitaus bessere Unterbringung beinhalten. Sprich, er muss die Internierten in ganz Spanien, und damit meine ich das Festland, verteilen. Dabei darf man nicht vergessen, dass der Fährverkehr nach Ceuta noch eingestellt ist, was die Bewegungsfreiheit in der Enklave zusätzlich limitiert. Die Unterbringung kann in Wohnungen sein oder in den ohnehin leerstehenden Hotels, wie es etwa in Almería gelöst wurde. Hier haben Hoteliers dem Roten Kreuz ihre Zimmer zur Verfügung gestellt, sodass Migrant_innen, die in Lagern und Heimen untergebracht waren, wo es COVID-19-Fälle gab, nach negativen Tests dort Unterkunft fanden. Solidarität ist gefragt. Wenn Grande-Marlaska die CETI schließen lässt, braucht es auch Einsatz und eine Anstrengung im Sinne der Menschlichkeit. 

progress: Migrantische Kollektive, NGOs im Flüchtlings- und Menschenrechts-Aktivismus fordern eine Legalisierung aller, die ohne regulären Aufenthaltsstatus in Spanien leben. Doch die Politik sträubt sich bisher, dies umzusetzen.

Maleno Garzón: Eine Regulierung des Aufenthaltsstatus von Migrant_innen in Spanien, wie es etwa Italien nun umsetzt, oder auch Portugal (Anm. für all jene in laufenden Regulierungsverfahren), und wie es alle NGOs und Organisationen in der Geflüchteten- und Migrant_innenhilfe mit der Kampagne „Regularización ya!“ (Anm. span. „Legalisierung sofort!“) fordern, ist hier noch fern. Das Angebot der Regierung lehnen wir geschlossen ab, da es rein utilitaristisch ist: Es geht einzig und alleine um Arbeitskraft und betrifft primär Erntehelfer_innen, Kranken- und Altenpfleger_innen. Die Regierung wollte nur eine bestimmte Zahl an Migrant_innen legalisieren, und nur für die Dauer des Alarmzustands. Mit Regularización ya! wird eine generelle Legalisierung aller gefordert, dazu gehören auch Opfer des Menschenhandels, all jene, die für unfreiwillige Prostitution in Spanien missbraucht werden. Für diese Personen ist eine Legalisierung ihres Aufenthalts essentiell, um aus den kriminellen Netzwerken herauszukommen und ihrer Ausbeutung ein Ende zu setzen. Viele migrantische Prostituierte wurden von Bordellbesitzer_innen und Zuhälter_innen mit der Ausgangssperre einfach auf die Straße gesetzt, und stehen ohne sozialen Rückhalt vor dem Nichts. Sie sind unsichtbare Gefangene. Der Staat sieht sie nicht und der Kapitalismus, der sie ausbeutet, auch nicht.

progress: Wie ist die Lage für all jene Migrant_innen und Geflüchteten, die von der Pandemie auf dem Weg nach Europa überrascht wurden und nun festsitzen, etwa in Marokko?

Maleno Garzón: Migrant_innen und Geflüchtete, die auf dem Weg nach Europa waren, als die Pandemie ausbrach, sind weitere Opfer der aktuellen Krise. Es gab in Algerien und in Marokko Razzien der Polizei und des Militärs und es wurden Massendeportationen durchgeführt. Bei Nador an der algerisch-marokkanischen Grenze gab es Abschiebungen in beide Richtungen, obwohl die Grenze seit 1994 geschlossen ist. Weiter im Süden, bei El Aioún (Anm. Hauptstadt der von Marokko völkerrechtswidrig besetzten Westsahara) wurden hunderte Migrant_innen aus Subsahara-Afrika in ein gefängnisgleiches Lager gebracht. Es gab Meutereien und Zusammenstöße mit der Polizei. In Marokko, wo die Migrant_innen ohnehin auf engstem Raum zusammenleben, sei es in Camps oder Wohnungen, braucht man ein Dokument des Innenministeriums, um das Haus verlassen zu dürfen, sei es nur, um einkaufen zu gehen. Wer offiziell gar nicht existiert, keine Identität hat, die der Staat bestätigt, kann nicht auf die Straße. Migrant_innen leben dabei meist von Tag zu Tag und Gelegenheitsjobs, die nun mit der Ausgangssperre wegfallen. Sogar das Betteln um Almosen in der Öffentlichkeit ist aktuell unmöglich. Sie leben am Limit, sie können ihre Familien und Kinder nicht ernähren. Die tagtägliche Entscheidung fällt zwischen Hungern oder einer Verhaftung und eine COVID-19-Infektion riskieren. Wo dazu kommt, dass undokumentierte Personen kein Recht auf Gesundheitsversorgung haben. Auf der Straße ist die Ansteckungsgefahr zehn Prozent, die Gefahr, zu Hause zu verhungern, ist hundert Prozent. Der Mensch muss nun mal essen. Hier helfen NGOs, es wird auch seitens des Staates und der Departements Essen verteilt, aber um das zu bekommen, braucht man offiziell auch einen Pass und einen Wohnsitz. Wo es viel Solidarität gibt, das ist mehr unter dem Kollektiv der Migrant_innen an sich. Die Menschen, die in Slums leben, die Straßenhändler_innen, haben sich schon lange organisiert, um einander in schweren Zeiten beizustehen. Das ist der einzige Rückhalt in Zeiten politisch-polizeilicher Verfolgung oder eben der Pandemie. 

progress: Stechen nach wie vor Flüchtlingsboote in See, um nach Europa zu gelangen?

Maleno Garzón: Auch aktuell setzen Flüchtlingsboote aus Marokko und vor allem aus Algerien nach Spanien über. 116 Menschen kamen am ersten Maiwochenende an der spanischen Küste, der Küste Andalusiens, an. Sie starten von Oran aus. Im Atlantik starten Flüchtlingsboote von der Westsahara und Mauretanien in Richtung der Kanarischen Inseln, diese Route ist nun nach fast eine Dekade wieder stark frequentiert und eine der gefährlichsten überhaupt. Grund dafür ist das Abschotten der Mittelmeerrouten zwischen der Türkei und Griechenland, aber auch der Routen von Libyen und Tunesien nach Italien.

(Interview: Jan Marot, Granada)

Zur Person:
Helena Maleno Garzón (* 1970, in El Ejido, Almería, Spaien) ist Menschenrechts- und Flüchtlingsaktivistin, Migrationsforscherin und Frauenrechtlerin bei Caminando Fronteras/Walking Borders im marokkanischen Tanger. Maleno Garzón wurde 2005 mit Migrant_innen in der südmarokkanisch-algerischen Sahara ihrem Schicksal überlassen, und überlebte nur knapp die Deportation. 2015 entging sie in Tanger nur knapp einem Mordversuch, weil sie Migrantinnen vor einem rassistischen Mob schützte. 2017-19 wurde ihr u.a. wegen Menschenhandels in Marokko der Prozess gemacht, weil sie auf Flüchtlingsboote in Not die Küstenwache des Maghreb-Königreichs und Spaniens verständigte. Malenos Einsatz für Migrant_innen wurde mit zahlreichen Menschenrechtspreisen gewürdigt. Am 19. Mai 2020 erscheint ihr autobiografisches Buch „Mujer de Frontera“ (Ediciones Peninsula, vorerst nur auf Spanisch).

Webtipps:
Helena Maleno Garzón auf Twitter: @HelenaMaleno
https://caminandofronteras.wordpress.com/

AutorInnen: Jan Marot