Die Sache mit der Psyche

  • 18.03.2021, 16:16

Die Sache mit der Psyche

Die Corona-Krise drückt auf die Seele. Junge Menschen sind besonders gefährdet. Es ist höchste Zeit zu handeln.

Florenz im 14. Jahrhundert: In Italien wütet die Pest und rafft die Bevölkerung dahin, Leichengestank hängt in den Straßen, Institutionen funktionieren nicht mehr, die Gesellschaft bricht auseinander. Sieben junge Frauen und drei Männer entfliehen dem Tumult und ziehen sich auf einen Landsitz zurück. Dort erzählen sie einander ihre Geschichten, genießen köstliche Speisen und Wein, tanzen, um ihre Sorgen zu vergessen. Was der italienische Schriftsteller Giovanni Boccaccio in seinem Meisterwerk, dem Decamerone, beschreibt, erfahren wir rund 700 Jahre später am eigenen Leib: Anstatt der Pest ist es nun das neuartige Coronavirus SARS-CoV-2, das Menschenleben auf der ganzen Welt fordert und alle Bereiche des öffentlichen und privaten Lebens beherrscht. Von Tanz und Genuss ist wenig übrig. Wir befinden uns inmitten einer Krise, deren Auswirkungen weder vor dem Gesundheits- und Bildungswesen, noch vor dem Arbeitsmarkt und dem wirtschaftlichen System Halt machen. Noch etwas ist längst nicht mehr zu übersehen: Corona macht Angst. Und einsam. Expert*innen warnen, dass jetzt eine dritte Welle anrollt – und zwar die der psychischen Erkrankungen.

Quälende Unsicherheit. 

Der international bekannte Psychiater der Harvard Medical School, Viktor Patel, ist alarmiert. Auf der Online-Konferenz der Europäischen Gesellschaft für klinische Mikrobiologie und Infektionskrankheiten warnt er vor einem „weltweiten Tsunami schwerer psychischer Leiden“ infolge der Isolation und Angst. Eine Studie der Donau-Universität Krems bestätigt, dass auch die österreichische Bevölkerung psychisch stärker belastet ist als vor der Pandemie. Besonders besorgniserregend: Die depressiven Symptome haben auch nach Ende des ersten Lockdowns weiterbestanden. Insbesondere jene Menschen, die im Lockdown verstärkt Stress und Einsamkeit durchlebt hatten, waren danach prädestiniert für Depressionen und Co. Doch während zu Beginn der Krise befürchtet wurde, dass hauptsächlich ältere Menschen aufgrund ihres hohen Infektionsrisikos und des damit einhergehenden höheren Isolationsfaktors unter der seelischen Belastung leiden würden, zeigte sich rasch ein anderes Bild: Es sind auch junge Erwachsene zwischen 20 und 30, denen die Ausnahmesituation auf die Psyche schlägt. Die Fakultät für Psychologie der Universität Wien startete während des ersten Herunterfahrens des Alltages im April eine siebentägige Tagebuchstudie. 800 Teilnehmer*innen in Österreich und Italien machten dabei fünfmal am Tag via Smartphone-App Angaben zu ihrem Wohlbefinden und Stressniveau. Mit dem Ergebnis, dass Ängste und Unsicherheiten den Jungen besonders zu schaffen machen. Aber warum?

Abnabelung auf dem Prüfstand.

Unser soziales Leben liegt seit Monaten auf Eis. Bitter ist das für jede und jeden, aber gerade unsere Generation wird in einer heiklen Phase erwischt – nämlich jener der Identitätsbildung. Das Entwickeln eigener Interessen und Routinen, das Gestalten von Eigenzeit, spannende Übergangsphasen in neue Lebensabschnitte – vieles ist gerade nicht möglich und nicht alles kann in „besseren Zeiten“ nachgeholt werden. „Es gehört im jungen Erwachsenenalter dazu, sich gegen das Establishment aufzulehnen, andere Meinungen infrage zu stellen, um sich die eigene zu bilden. Da wiegen alternativlose Regeln und Maßnahmen umso schwerer“, betont Dr. Mag. Birgit Hladschik-Kermer, MME, Leiterin der Abteilung für Medizinische Psychologie an der MedUni Wien. Auch die notwendige Distanz zu Mitmenschen ist ein hartes Pflaster für die Psyche: „Gerade für junge Menschen ist der Kontakt mit Gleichaltrigen ein wichtiger Baustein der emotionalen und kognitiven Entwicklung“, sagt Hladschik-Kermer. Das Wegfallen dieses Bausteins sei vor allem dann problematisch, wenn man wenig Kontakt zur Familie hat oder wenn ein stabiles soziales Netz fehlt – zum Beispiel, weil man erst kürzlich von zuhause ausgezogen, Jobeinsteiger_in oder single ist. Funktionierende soziale Ressourcen aufzubauen wäre jetzt wichtiger denn je, meint die Expertin. Einfach sei das aber nicht, denn: „Zurzeit haben viele junge Menschen mit massiven Schuldgefühlen zu kämpfen. Medial wird ihnen oft der schwarze Peter zugeschoben, sie werden für die starke Ausbreitung des Virus verantwortlich gemacht. Diese Stigmatisierung ist falsch – was natürlich nicht bedeutet, dass man in Zeiten wie diesen Partys veranstalten soll. Es bräuchte aber spezifische Unterstützungsangebote für alle Altersgruppen und das Aufzeigen von Perspektiven.“ 

Die Bedeutung von Zukunftsperspektiven ist nicht zu unterschätzen: Sie geben dem Leben eine Richtung und helfen dabei, auch Durststrecken durchzustehen. Wichtig dabei ist jedoch, dass der zeitliche Rahmen abgesteckt ist und man weiß, wie lange ein Zustand noch andauert.  Wir denken zum Beispiel an die Abreißkalender, die wir früher vor den Ferien oder vor der Matura gebastelt haben – eine optische Hilfe für die Seele. Dass aktuell aber das zeitliche Ziel fehlt, ab dem wir unsere sozialen Bedürfnisse wieder befriedigen und unseren Hobbys nachgehen können, ist einer von vielen Stressfaktoren. „Über uns schwebt eine Wolke aus Unsicherheit“, sagt Hladschik-Kermer. „Dieser Zustand ist nicht nur unangenehm, er führt auch zu einer Aktivierung des vegetativen Nervensystems. Dadurch kommen möglicherweise auch Ängste an die Oberfläche, die bereits vor der Pandemie bestanden haben, die man aber im normalen Alltag und mit einem strukturierten Tagesablauf gut bewältigen konnte.“ Hinzu komme in vielen Fällen die fehlende Erfahrung im Umgang mit Krisen. „Ältere Menschen haben in ihrem Leben meist schon einige Krisen durchgemacht und sich dadurch Bewältigungsstrategien angeeignet, die sie jetzt anwenden können. Junge Erwachsene verfügen meist noch nicht über diese Krisenresistenz“, so die Psychologin. 

Zukunftsängste?

Social Distancing zieht sich nicht nur durch das Privatleben sondern bleibt uns vorerst auch im Studium nicht erspart. Wenngleich sich durch den Fernunterricht auch bestimmte Vorteile ergeben, haben Studierende dennoch viele Herausforderungen zu bewältigen. „Distance Learning erfordert sehr viel Selbstdisziplin und Organisation. Gleichzeitig bekommen Studierende ein unterschiedlich hohes Maß an Qualität geboten. Lehrkräfte wiederum sind gefordert, digitale Mittel kreativ zu nutzen, Feedback zu geben und den Studierenden Unterstützung anzubieten. Die Situation ist für beide Seiten nicht einfach und oftmals überfordernd“, gibt Hladschik-Kermer zu denken. Die Novelle des Studienrechts, mit der künftig Mindestleistungen für Studienanfänger_innen festgeschrieben werden (wer nicht in den ersten zwei Jahren seines Bachelorstudiums 24 ECTS-Punkte sammelt, verliert die Studienzulassung) ist da nur die Spitze des Eisbergs.

Auch der Ausblick auf eine baldige Impfung offenbart nicht unbedingt rosige Aussichten. Es wird eine ganze Weile dauern, das Wirtschaftssystem wieder anzukurbeln. Vielfach wird die Befürchtung geäußert, dass es die Jungen sein werden, die in den kommenden Jahren finanzielle Wogen glätten müssen. Das sorgt für Unsicherheit auf dem Arbeitsmarkt und wirft Fragen auf: „Werde ich nach dem Studium einen Job finden? Bekomme ich einen Praktikumsplatz? Kann ich es mir überhaupt leisten, eine Familie zu gründen?“ 

Belastung ist keine Schwäche.

Wie geht man mit all diesen Unsicherheiten am besten um? „Indem man auf jeden Fall das Gespräch mit jemandem sucht, dem man vertraut“, sagt Hladschik-Kermer. Sind persönliche Gespräche aufgrund der Maßnahmen nicht möglich, empfiehlt die Expertin Videocalls, da man sich dem*der Gesprächspartner*in dabei verbundener fühlt als beim Telefongespräch. Darüber hinaus gibt es auch verschiedene kostenlose anonyme Angebote, an die man sich jederzeit wenden kann. „Was uns im Augenblick besonders fehlt sind die schönen Dinge, die man gerne macht und mit denen man sich belohnen kann – zum Beispiel sich zum Essengehen verabreden oder einmal über das Wochenende wegzufahren. Nichtsdestotrotz sollte man auch jetzt versuchen, sich ab und an etwas Gutes zu tun, auf das man sich freuen kann“, rät die Psychologin. Das können ganz banale Dinge wie ein Spaziergang, ein virtuelles Mittagessen mit Freund*innen oder Sport sein. „Routinen vermitteln Sicherheit in einer unsicheren Zeit. Wer sich einen Tagesplan erstellt, bringt Struktur in den Alltag. Auch körperliche Aktivität tut jetzt gut – sie hält gesund und hebt die Laune“, sagt Hladschik-Kermer. Zusätzlich rät sie zum regelmäßigen Nachrichten-Fasten, denn uns wurde zwar die Kontrolle über einige grundlegende Bereiche genommen, aber wir können uns die Kontrolle darüber zurückholen, wann wir uns über die Geschehnisse informieren. Denn auch wenn wir tausendmal am Tag einen Liveticker verfolgen, können wir die aktuelle Situation nicht ändern und werden in den meisten Fällen nur zusätzlich in Panik versetzt. Eine Sache, betont Hladschik-Kermer, sei jetzt besonders entscheidend: „In Zeiten wie diesen psychisch belastet zu sein, ist keine Schwäche – im Gegenteil! Es ist ganz normal, während einer Pandemie nicht immer gut gelaunt, positiv und produktiv zu sein.“ Deshalb: Seid nicht zu streng mit euch selbst. Bessere Zeiten werden kommen!

Michaela Neubauer hat Publizistik- und Kommunikationswissenschaft studiert und arbeitet hauptberuflich als Redakteurin.

 

AutorInnen: Michaela Neubauer