In die Erdbeeren gehen

  • 16.06.2020, 20:36
Ohne migrantische Arbeitskräfte wäre die österreichische Landwirtschaft aufgeschmissen. Das wurde während der Pandemie schmerzlich klar, als plötzlich Tausende fehlten. So unverzichtbar sie sind, so misslich ist jedoch ihre Lage.

Etwa 15 bis 20 000 migrantische Erntehelfer_innen arbeiten in Österreich, um die Lebensmittelversorgung zu ermöglichen. Bei Erntehilfe handelt es sich um schwere körperliche Arbeit mit langen Arbeitstagen und -wochen. Die Saisonarbeiter_innen sind unterbezahlt, gesellschaftlich isoliert und genießen kaum rechtlichen Schutz. Vor einigen Jahren wurde deshalb von der Gewerkschaft Pro-Ge, NGOs und linken Aktivist_innen die sogenannte „Sezonieri-Plattform“ für die Rechte von Erntehelfer_innen gegründet. Olja Alvir sprach für progress mit Bernhard Höfler, Gewerkschaftssekretär bei ÖGB-ProGe, über die problematische Geschichte der Erntehilfe und ihren Weg in eine gerechtere Zukunft.

progress: Von der migrantischen Erntehilfe hören wir jetzt wegen der Corona-Reisebeschränkungen viel. Doch schon in den 1990ern arbeiteten viele etwa aus Jugoslawien Geflüchtete als Erntehelfer_innen. Ich kann mich noch erinnern, dass man vom „in die Erdbeeren gehen“ sprach. Es hieß: „Wenn du nichts Besseres findest, kannst du immer noch in die Erdbeeren gehen.“

Bernhard Höfler: Richtig. In den 90ern, mit dem Zerfall Jugoslawiens, kamen viele Menschen nach Österreich, die anfangs als Erntehelfer_innen arbeiteten. Für das Logo unserer Plattform haben wir bewusst die Erdbeere gewählt, als kleinen Hinweis auf diese Assoziationen in der Community. Man sagt das teilweise immer noch so oder ähnlich. Obwohl die Erntehilfe auch Spargel, Marille, und noch so viel mehr umfasst.

Es gibt da historische Kontinuitäten. Seit wann verlässt sich die österreichische Landwirtschaft so stark auf migrantische Arbeitskräfte? Und warum?

Das ist ein Ergebnis der letzten 40 Jahre. Diese Entwicklungen hängen mit dem Wohlstand zusammen: Je höher dieser in Österreich wurde, desto weniger Menschen waren bereit, für wenig Geld am Feld zu arbeiten. Aus welchen Ländern die Erntehelfer_innen kamen, hat sich dann entsprechend im Laufe der Zeit gewandelt. Am Anfang kamen viele aus Polen und der Türkei, dann Jugoslawien und Ungarn. Später Rumänien und Bulgarien. Mit der Zeit stieg auch in diesen Regionen der Wohlstand, weshalb auf andere, ärmere Regionen ausgewichen wurde – ein Dominoeffekt sozusagen. Heute werden die Sezonieri aus dem immer weiter entfernten Osten rekrutiert. Mittlerweile arbeiten Menschen aus der Ukraine und Weißrussland in Österreich am Feld.

Das System ist also angewiesen auf die Armut in den jeweiligen Herkunftsländern der Sezonieri.

Genau, und es ist ein unglaublich fragiles landwirtschaftliches Modell. Wie eine Glasvase. Wenn ein Teil splittert, dann droht das ganze Konstrukt zu zerbrechen. Während der Corona-Krise konnte man das sehr gut beobachten.

„Erntehilfe“ klingt sehr freundlich und positiv, fast einladend. Was ist das eigentlich für eine Arbeit?

Das Wort suggeriert so etwas wie freundliche Unterstützung. Die Realität ist anders. Ich habe das bereits einmal als modernen Menschenhandel bezeichnet. Die Erntehelfer_innen kommen über Personalvermittlungsfirmen zu ihrem Job. Das sind Firmen, die in den Herkunftsländern ihre Büros haben und in wirtschaftlich devastierte Regionen gehen, um dort Menschen für die Erntehilfe zu rekrutieren. Sie liefern die Erntehelfer_innen direkt an die Landwirte, welche die Arbeiter_innen online bei der Recruitingfirma angefragt haben.

Es läuft dann so: Der Erntehelfer aus beispielsweise Cluj, Rumänien, steigt dort in einen Bus ein und muss seinen Pass abgeben. Den bekommt er erst wieder, wenn die Saison beendet ist. Dann arbeitet er monatelang zehn bis zwölf Stunden am Tag in gebückter Haltung für 6,50 bis 7€ netto, sechs bis sieben Tage Woche. Das sind 50 bis 60 Wochenstunden. Manchmal werden sogar die Anfahrtskosten vom ersten Lohn abgezogen. Und es herrscht ein irrsinniger Druck, denn es muss auch eine gewisse Stückzahl verarbeitet werden, die der Handel verlangt. Die Erntehelfer_innen leben währenddessen teilweise vor Ort in Gruppenunterkünften unter mehr als fragwürdigen Bedingungen.

Im Frühling gab es in Österreich aufgrund der Corona-Pandemie so viele Arbeitslose wie zuletzt nach dem zweiten Weltkrieg. Gleichzeitig werden für die Erntehilfe tausende Menschen aus dem Ausland eingeflogen beziehungsweise eingeschleust; mitunter auch bei für die Reisenden gesundheitsgefährdenden Bedingungen …

In Österreich dürfen Menschen, die Arbeitslosengeld beziehen, AMS-Angebote außerhalb ihrer Berufssparte ablehnen, ohne dass ihnen das Arbeitslosengeld gestrichen wird. Wenn man das geändert hätte und Menschen de facto gezwungen hätte, gewisse Jobs anzunehmen – das hätte eine fatale negative Sogwirkung auf das Sozialsystem und andere solidarische gesellschaftliche Strukturen gehabt. Arbeitslose hätten am Feld weniger bekommen als durch den AMS-Bezug und unterm Schnitt verloren. Das hätte individuelle Armutsspiralen ausgelöst und den Weg für einen weiteren Abbau des Sozialsystems geebnet.

Deshalb bin ich dagegen, den Berufsschutz abzuschaffen und Arbeitslose oder Geflüchtete de facto zur Arbeit am Feld oder anderen schlecht bezahlten Arbeiten zu zwingen. Man macht damit die Büchse der Pandora auf. Da muss man politisch extrem vorsichtig sein. Das würde nur verschiedene verletzliche Bevölkerungsgruppen gegeneinander ausspielen.

Trotzdem erscheint es befremdlich und auch gefährlich – zuallererst für die Erntehelfer_innen selbst – dass sie mitten in einer Pandemie zusammengepfercht quer durch Europa reisen, damit wir Spargel knabbern können.

Es gab ja auch Versuche, österreichische Arbeitskräfte über eine Online-Kampagne zu rekrutieren. Ich habe das abschätzig als landwirtschaftliche „Datingplattform“ bezeichnet, weil mir von Anfang an klar war, dass das ohne attraktive Rahmenbedingungen nicht funktionieren wird. Es ist ein Wohlstandsproblem: Die Realität der harten Arbeit wird verkannt. Nur ein Bruchteil jener, die sich freiwillig gemeldet haben, haben auch wirklich produktiv als Erntehelfer_innen gearbeitet. Man hätte allerdings als Motivation Steuerfreigrenzen einschieben, attraktivere Löhne oder Arbeitsbedingungen anbieten können – es gäbe genug Möglichkeiten. Doch das wurde nicht getan. Das ist dann der Kontext, in dem dann die ausländischen Erntehelfer_innen geholt wurden. So hat man von beiden Problemen die schlechtmöglichsten Aspekte kombiniert. Die Österreicher_innen sind weiterhin arbeitslos und die Migrant_innen arbeiten hart und unterbezahlt unter gesundheitsgefährdenden Umständen. Eine richtige österreichische Lösung eben.

Kommen wir zurück zu den migrantischen Arbeitskräften. Es kommt immer wieder zu Fällen, wo Erntehelfer_innen nicht ordnungsgemäß für ihre Arbeit entlohnt werden. Wie kann das sein? „Arbeiter_innenrechte, aber nur für unsere Leut‘“, oder wie?

In dem Machtdreieck zwischen Bäuer_innen, Handel und Erntehelfer_innen sitzen die letzteren immer am kürzesten Ast und zahlen drauf. Die Sezonieri-Plattform wurde genau deshalb ins Leben gerufen. Die Erntehelfer_innen sind in einem ausbeuterischen System gefangen. Sie werden über ihre Rechte kaum informiert, zusätzlich haben nicht wenige auch noch Berührungsängste mit der ihnen gegenüber unfreundlich eingestellten Bürokratie, auch Sprachbarrieren kommen dazu.

Was tut Sezonieri konkret, um Abhilfe zu schaffen?

In den ersten paar Jahren bestand unsere Arbeit daraus, den Betroffenen die Angst zu nehmen. Viele Erntehelfer_innen trauten sich nicht, Missstände anzuklagen, weil sie fürchteten, ihren Job zu verlieren. Am Anfang bearbeiteten wir daher alle Beschwerden und Anliegen anonymisiert. Wir haben im Namen der Betroffenen Beschwerden eingereicht und medial Druck ausgeübt. Die Sezonieri-Plattform hat so bereits viele Skandale aufgedeckt und Menschen zu ihrem Recht und zu zurückgehaltenen Löhnen verholfen. Mittlerweile engagieren sich auch viele selbst bei uns. Doch wir beraten und helfen nicht nur individuell Betroffenen, sondern wir nützen die Plattform auch, um auf generelle Probleme in der Landwirtschaft hinzuweisen.

Zum Beispiel?

Österreich könnte, was Lebensmittel angeht, Selbstversorgerin sein. Was davon abhält, ist einzig die in wenigen Handelskonzernen konzentrierte Macht.

Wir sprechen jetzt von Konzernen wie Spar oder der Rewe Group, welcher Geschäfte wie Billa, Merkur und Penny gehören. Sie kontrollieren den Großteil des Einzelhandels in Österreich.

Genau. Diese Konzerne diktieren den Bäuer_innen die Preise. Die Bäuer_innen müssen die Preise der großen Konzerne annehmen, auch wenn sie für sie zu niedrig sind. Denn sonst sagen die Handelsketten einfach: Pech, dann nehmen wir eben noch billigeres Gemüse aus dem Ausland.

Was ja auch von ökologischer Seite her katastrophal ist, weil es mehr Transportemissionen bedeutet.

Es ist eine Wahnsinnsspirale! Jahrzehntelang rief man: „Der freie Mark regelt alles!“ Die Stimmen, die diese Maxime kritisierten, hatten angeblich keine Ahnung von Wirtschaft. Aber heute sieht man insbesondere in diesem Bereich: Der freie Markt hat komplett versagt. Der Handel diktiert Preise, welche aber nicht wirtschaftlich sind. Die Bäuer_innen machen somit schlechtes Geschäft, und die Verluste werden an die Schwächsten weitergegeben: die Erntehelfer_innen.

Wie ließe sich aus dieser Wahnsinnsspirale ausbrechen?

Meiner Meinung nach müssten Grundnahrungsmittel aus dem Preisspekulationsbereich herausgenommen werden. Es sollten Mindestpreise eingeführt werden, die Bäuer_innen das Überleben sichern und die Gewinnmargen des Handels eingrenzen. So etwas Ähnliches gab es bereits vor nicht allzu langer Zeit mit dem Milchpreis. Wenn man es will, dann kann man es.

Wie sieht die Zukunft für die Sezonieri-Plattform aus, welche nun im Rahmen der Corona-Krise mehr Aufmerksamkeit bekommen hat?

Egal von welcher Seite man sich dem Problem nähert – aus der Sicht der Arbeiter_innenrechte, der ökologischen Nachhaltigkeit oder aus der Sorge für die heimischen Bäuer_innen: Die Lösung ist, die Übermacht der Großkonzerne zu zerschlagen und mehr Rechtssicherheit zu schaffen. Dafür setzen wir uns ein. Aktuell sind ja Landwirtschaft und Tourismus in einem Ministerium vereint. Was da für Möglichkeiten bestehen, für Synergien entstehen könnten! Das muss man sich mal auf der Zunge zergehen lassen. Wenn die jetzige Ministerin den Handel, die Landwirtschaft und den Tourismus – den nächsten großen Player in diesem Bereich – an einen Tisch bekommt und eine gemeinsame Lösung sucht, wäre schon so viel getan. Zum Beispiel: Wenn nur 20% des österreichischen Gemüses an den Tourismus gingen, gäbe es in diesem Bereich eine de facto Vollauslastung. Diese Umsatzsicherheit würde sich, gemeinsam mit rechtlichem und medialem Druck, dann auch in besseren Arbeitsbedingungen für die Erntehelfer_innen widerspiegeln. Und das ist nur eine Idee. Es ist alles möglich, wenn der politische Wille dazu besteht.

AutorInnen: Olja Alvir