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Sinn und Unsinn von Praktika

  • 13.07.2012, 18:18

Der offizielle Sinn eines Praktikums während der Studienzeit ist relativ naheliegend: Berufserfahrungen zu sammeln. Doch wird dieses Ziel auch wirklich erreicht und vor allem: Ist dieses Ziel genug, um den oft steinigen Weg zu rechtfertigen? – Ein Kommentar.

Der offizielle Sinn eines Praktikums während der Studienzeit ist relativ naheliegend: Berufserfahrungen zu sammeln. Doch wird dieses Ziel auch wirklich erreicht und vor allem: Ist dieses Ziel genug, um den oft steinigen Weg zu rechtfertigen? – Ein Kommentar.

Viele PraktikantInnen werden als billige Arbeitskräfte missbraucht und nur allzu oft lernen sie dabei nicht einmal sonderlich viel über den eigentlichen Job, sondern bekommen Aufgaben zugeteilt, die sonst niemand machen möchte. Gerade im sozialen Bereich dürfen sie nicht einmal mit einer Entlohnung für ihre Dienste rechnen, und wenn, dann ist es meist eher angebracht, diese kleine Summe als Entschädigung zu bezeichnen denn als tatsächlichen Lohn. Aber auch hier bestätigen natürlich Ausnahmen die Regel: Einige wenige glückliche PraktikantInnen können gleich mit dem Einstiegsgehalt von regulären MitarbeiterInnen in einem Betrieb anfangen. Da dies aber eben leider nur die Ausnahme ist, stellt sich die Frage: Warum sollte ich tun, was von mir verlangt wird, wenn ich dies absolut nicht will und ich noch nicht einmal dafür entlohnt werde? In einigen Studienrichtungen sind Praktika ja verpflichtend. Gerade hier und wiederum gerade im Sozialbereich ist die Wahrscheinlichkeit, dafür bezahlt zu werden, sehr gering. Dafür ist allerdings ein anderer Ansporn gegeben: Du wirst für das, was du tust, bewertet und diese Bewertung fließt in den Studienerfolg ein. Wenn ich jedoch aus eigenem Antrieb ein Praktikum mache und mir dieses dann nicht zusagt, ich das Gefühl habe, bloß ausgebeutet zu werden – was hält mich davon ab, alles sofort wieder hinzuschmeißen, wenn ich dafür weder sinnbringende Erfahrung, noch verwendbare Kontakte, noch Geld bekomme? Ich würde sagen, nichts. Also, fades Praktikum ade, ich wende mich lieber einem anderen zu, das mir Spaß macht. Und vielleicht gibt’s als i-Tüpfelchen sogar noch ein bisschen Bares oben drauf. Studierende haben’s ja schließlich nicht unbedingt so dick.

Der richtige Zeitpunkt. Ob es überhaupt notwendig ist, während des Studiums Berufserfahrung zu sammeln, ist eine andere Frage. Eigentlich sollte ein Studium an sich schon genug Vorbereitung auf das Berufsleben bieten, vor allem die Bachelorstudiengänge, die sich ja genau damit so sehr zu rühmen versuchen. Ich halte es allerdings sehr wohl für sinnvoll, sich das wirkliche Leben außerhalb der Uni oder FH einmal anzusehen, bevor sie eineN sozusagen ins kalte Wasser schmeißen. Klug wäre es wahrscheinlich auch, dies nach einer nicht allzu hohen Semesteranzahl zu tun. Wenig ist zermürbender als mit einem Studienabschluss in der Tasche in einem Beruf zu landen, von dem du dann herausfinden musst, dass er nicht das Richtige für dich ist. Außerdem kann es natürlich auch bereits während der Ausbildung nicht schaden, sich gewisse Bänder zu knüpfen.

Kontakte knüpfen. Im Zuge eines Berufspraktikums erschließt sich die Möglichkeit, nicht nur einen Arbeitsbereich und die wirkliche Arbeitswelt kennen zu lernen, sondern auch gleich einige Pfade auszutreten, deren Betreten nach dem Studium dadurch erleichtert wird. Und wenn du nach dem Studienabschluss schon weißt, welches Arbeitsklima und welche KollegInnen dich im Beruf erwarten, dann ist die wirkliche Welt doch gleich um einiges weniger anonym und beängstigend. Selbst wenn ich in einem Praktikum herausfinden sollte, dass ich diese Arbeitsstelle sicher nie wieder betreten möchte, so bin ich zumindest um diese Erfahrung reicher geworden und weiß, wo ich mich später nicht mehr bewerben muss. Auch die umgekehrte Variante des Kontakte-Knüpfens ist sicherlich nützlich: In einem Betrieb, in dem ich schon gearbeitet habe, muss ich nicht mehr lange getestet und eingeschult werden, sondern ich kann direkt dort eingesetzt werden, wo ich gut bin. Dies ist sowohl ein Argument für den Betrieb, mich zu nehmen, da die dortigen MitarbeiterInnen sich dadurch natürlich Arbeit sparen und auch für mich selbst vorteilhaft, weil ich schon weiß, was ich hier machen kann und möchte.

Endstation Mundtot

  • 13.07.2012, 18:18

Die Regierung feilt an einem Terrorismuspräventionsgesetz, das eine lebendige Protestkultur gefährden könnte. Schuld daran sind vor allem unpräzise Formulierungen.

Die Regierung feilt an einem Terrorismuspräventionsgesetz, das eine lebendige Protestkultur gefährden könnte. Schuld daran sind vor allem unpräzise Formulierungen.

„Der Glaube an eine größere und bessere Zukunft ist einer der mächtigsten Feinde gegenwärtiger Freiheit.“ (Aldous Huxley)

Angst zu haben, das kennen wir. Mal sind es Banalitäten des Lebens, wie eine bevorstehende Prüfung, ein Zahnarztbesuch oder das Leben in  einer fremden Stadt. Mal geht es tiefer, wird existenzieller, wenn einem die Angst vor dem Tod die Nächte zum Tag macht. Angst besteht meist vor etwas Unbestimmtem, etwas, das vor uns liegt oder vor uns liegen könnte.
Seit 9/11 hat man mehr denn je Angst vor Terrorismus. Seit dem TierschützerInnenprozess Angst vor dem Mafiaparagraphen. Und nachdem vier AktivistInnen, die Mistkübel angezündet haben, nun die Anklage nach dem Terrorismusparagraphen droht, muss sich nun gänzlich vor dem Staat gefürchtet werden. Plant die politische Elite gegenwärtig unter dem Deckmantel Terrorismus die Zivilgesellschaft mundtot zu machen?

Terrorcamp. Am 26. April stellte Innenministerin Maria Fekter gemeinsam mit dem Leiter des Bundesamts für Verfassungsschutz und Terrorismusbekämpfung Peter Gridling den neuen Verfassungsschutzbericht 2010 vor. Sie plauderten ein wenig über die Zunahme linksextremer Delikte, die Teilnahme von etwa 20 ÖsterreicherInnen an ausländischen Terrorcamps und den Rückgang von Strafrechtshandlungen von militanten Tierrechtsgruppen auf ganze drei Fälle.
Alles in allem wurde festgestellt, dass keine größere Bedrohungen der Sicherheit Österreichs bestehe. Damit das so bleibt, verwies Fekter stolz auf das im April im Ministerrat durchgewinkte Terrorismuspräventionsgesetz: „Radikalisierung und Extremismus haben keinen Platz in unserem Land. Daher ist das Terrorismuspräventionsgesetz ein unverzichtbarer Baustein für die Grundwerte unseres Rechtsstaates.“
Was zur Vollendung dieses Terrorismuspräventionsgesetzes noch fehlt, sind die Paragraphen 278e (Ausbildung für terroristische Zwecke), 278f (Anleitung zur Begehung einer terroristischen Straftat) und 282a (Aufforderung zu terroristischen Straftaten und Gutheißung terroristischer Straftaten), über die in einem Justizausschuss im November wohl noch heftig debattiert werden wird.
Schon im Jänner hagelte es Kritik aus der Zivilgesellschaft, nicht nur in Bezug auf die oben genannten Paragraphen, sondern auch hinsichtlich der Paragraphen 278a (Bildung einer kriminellen Organisation), 278b (Bildung einer terroristischen Vereinigung), 278c (Terroristische Straftaten), 278d (Terrorfinanzierung), die bereits in Kraft getreten sind.
Die Mehrheit jener, die sich in den Stellungnahmen auf der Parlamentsseite äußerten, forderte eine komplette Abschaffung der Entwürfe. Das Gesetz sei „absurd“, bestenfalls in der „Müllverbrennungsanlage“ aufgehoben, hier würde man unter dem Deckmantel der Terrorismusbekämpfung BürgerInnenrechte, ja sogar Meinungs- und Pressefreiheit untergraben. Sämtliche JuristInnen sprechen von zu unpräzisen Formulierungen und einer völlig überzogenen Erweiterung des Strafrechts.
Auffallend war der Verweis der PolitikerInnen, internationale Abkommen einhalten zu müssen. Seit 9/11 hat sich in der westlichen Welt ein regelrechter Sicherheitswahn entwickelt. Rahmenbeschlüsse wie der europäische Haftbefehl, die davor jahrelang auf Eis gelegt waren, wurden in nur wenigen Monaten durchgepeitscht. Plötzlich waren polizeiliche und justizielle Sonderbefugnisse – Stichwort Überwachung und Lauschangriff – zum Wohle der „braven BürgerInnen“ besser argumentierbar. Nach und nach verschoben sich die Verdachtslogik der Nachrichtendienste und die Beweislogik der Justiz.

Online Durchsuchungen. Sämtliche Antiterrorgesetze und Rahmenbeschlüsse zur Prävention von Terrorismus zeichneten den Weg vor, dass bereits der bloße Verdacht der Begehung einer terroristischen Tat genügt, um eine Person strafrechtlich zu verurteilen. „Österreichs Kampf gegen den Terrorismus ist im internationalen Vergleich noch recht zögerlich. Onlinedurchsuchungen, die in Deutschland bereits angewendet werden, sind bei uns noch nicht genehmigt. Auch ist es im Moment unvorstellbar, Personen, die als TerroristInnen verdächtigt werden, zu inhaftieren – wie es in Großbritannien der Fall ist", sagt Ingeborg Zerbes vom Institut für Strafrecht und Kriminologie der Universität Wien.
Kann man nun aufatmen, weil Österreich nicht die Speerspitze der Terrorismusgesetzgebung ist? Nein – sind sich unter anderen der Österreichische Rechtsanwaltskammertag, das Ludwig Boltzmann Institut für Menschenrechte oder Amnesty International (Österreich) einig. Der Hund liegt nämlich im Detail begraben: In der Formulierung der Gesetze, die äußerst unpräzise und weit gefasst ist. Hier ein kleiner Auszug:

§ 282a. (1) Wer in einem Druckwerk, im Rundfunk oder in einem anderen Medium oder sonst öffentlich auf eine Weise, dass es vielen Menschen zugänglich wird […].
(2) Ebenso ist zu bestrafen, wer auf die im Abs. 1 bezeichnete Weise eine terroristische Straftat (§ 278c Abs. 1 Z 1 bis 9 oder 10) in einer Art gutheißt, die geeignet ist, das allgemeine Rechtsempfinden zu empören oder zur Begehung einer solchen Handlung aufzureizen.

Allein dieser Gesetzestext wirft dutzende Fragen auf: Ist es strafbar, wenn man die Vorgehensweise der Attentäter auf das World Trade Center detailliert in einem stark frequentierten Blog zu beschreiben? Was geschieht, wenn das Stauffenberg-Attentat gutgeheißen wird? Wie weit darf gegangen werden, um das Rechtsempfinden zu empören? Gerhard Benn-Ibler vom Österreichischen Rechtsanwaltskammertag äußert sich dazu mit den Worten: „Diese Straftaten zu potentiell terroristischen zu machen, verlässt endgültig den Bereich des Vertretbaren.“

Unibrennt-Bewegung. Je nach Auslegung könnte auch die jüngste Audimax-Besetzung Elemente einer terroristischen Straftat erfüllen. Konkret heißt es im Paragraph 273c, dass folgendes unter eine terroristische Straftat fällt: Wenn die Tat dazu geeignet ist, „eine schwere oder längere Zeit anhaltende Störung des öffentlichen Lebens […] herbeizuführen“. Nun ist die Unibrennt-Bewegung logischerweise darauf ausgerichtet, durch eine langhaltende Besetzung das öffentliche Leben zu stören, um die Behörden zum Handeln zu zwingen.
Das wohl aktuellste Beispiel dafür, wie das neue Terrorismuspräventionsgesetz missbraucht werden könnte, ist die mögliche Anklage nach Paragraph 278b (Bildung einer terroristischen Vereinigung) der vier Wiener Studierenden, die. in der Nacht von 26. auf 27. Juni zwei Mistkübel vor der Filiale des Arbeitsmarkservice in der Wiener Redergasse im fünften Bezirk angezündet haben sollen. Im Moment wird wegen verbrecherischem Komplott, Brandstiftung und Sachbeschädigung gegen sie ermittelt und geprüft, ob der Paragraph 278b auf sie anwendbar ist.
Würden die vier, die auch an der Unibrennt-Bewegung mitwirkten, nach dem Paragraph 278b angeklagt werden, so könnte auch die studentische Protestbewegung ins Visier der Behörden geraten.
Es scheint nicht gut zu stehen um die politische Kultur in diesem Land. Anstatt die Zivilgesellschaft zu schützen, werden ihre Freiheiten beschnitten. Anstatt sie zum Reden und Handeln zu ermuntern, wird Angst geschürt. Angst vor dem Staat zu haben ist fatal für eine Demokratie.

Kurzmeldungen

  • 13.07.2012, 18:18

Rücktritt auf den Malediven

Der erste demokratisch gewählte Präsident der Malediven, Mohamed Nasheed, wurde von Oppositionsprotesten zum Rücktritt gezwungen. „Ich will nicht durch Gewalt an der Macht bleiben“, so Nasheed. Im Jahr 2008 löste er nach 30 Jahren M. A. Gayoom ab, unter dessen Herrschaft Nasheed als politischer Gefangener inhaftiert war. Nun übernimmt Vizepräsident M. Waheed die Amtsgeschäfte, der Gerüchten zufolge an Drohungen gegen Nasheed beteiligt war. Ein Sprecher von Gayooms Partei sichert ihm die Unterstützung der Opposition zu.

Budgetloch in Libyen

Nach der blutigen Revolution kämpft die libysche Regierung nun mit Schulden von zehn Milliarden Dollar. Die Öleinnahmen, die sich auf vier Milliarden belaufen, reichen nicht einmal aus, um die BeamtInnengehälter in der Höhe von 22 Milliarden Dollar zu decken. Nur ein Bruchteil der eingefrorenen 150 Milliarden wurde dem Staat bisher repatriiert. Die Wiederaufnahme der Ölförderung sei der Schlüssel für die wirtschaftliche Erholung Libyens. Seit November 2011 baut die OMV diese langsam wieder aus. Vor dem Bürgerkrieg stammten zehn Prozent der konzernweiten Fördermengen aus Libyen; bis Ende 2011 waren es nur 3,5 Prozent.

Wien: Gesundheitsgefährdung im Sexspielzeug

Viele Dildos und andere Sexspielzeuge wie Vibratoren und Analplugs enthalten hohe Mengen an krebserregenden Weichmachern. Johann Maier (SPÖ) richtet eine dementsprechende Anfrage an das Bundesministerium, um Gefahren besser abschätzen zu können und dementsprechende Gesetzesänderungen in Gang zu setzen. Weichmacher, die sich als höchst gesundheitsgefährdend erwiesen haben,    werden vor allem in Kunststoffprodukten eingesetzt. Für Babyartikel und Kinderspielzeug erteilte die EU-Kommission bereits ein Anwendungsverbot dieser Substanzen. Eine derartige Regelung fehlt für „Erwachsenenspielzeuge“ noch gänzlich.

Westbahn. Fehlentwicklung Hilfsausdruck.

  • 13.07.2012, 18:18

Was Wolf Haas vielleicht über die Westbahn sagen würde. Ein Kommentar.

Was Wolf Haas vielleicht über die Westbahn sagen würde. Ein Kommentar.

Es ist schon wieder was passiert. Die Westbahnstrecke haben’s privatisiert, also eigentlich teilprivatisiert. Das mit der Westbahn GmbH ist ja eigentlich eine ganz eine eindeutige G’schicht, weil das nämlich eine Liberalisierung des öffentlichen Verkehrs ist, sprich nicht mehr so öffentliche Dienstleistung. Da gibt’s so einige Leute, die das mit den Privatisierungen normal überhaupt nicht gut finden. Die Westbahn finden’s aber dann doch gar nicht so schlimm. Widerspruch Hilfsausdruck.

Öffentlich vs. privat. Du wirst’s nicht glauben, aber da gibt’s einen Unterschied zwischen den öffentlichen und den privaten Dings, also Unternehmen. Die einen nämlich, die haben da quasi eine Aufgabe. Bestmögliche Qualität, billige Preise, viele Arbeitsplätze, gute Arbeitsbedingungen – sprich öffentlicher Auftrag. Die anderen, also die Privaten, die sind dann eher die mit dem Profit. Du hast vielleicht schon mal von der englischen Bahn gehört, auch Privatisierung, aber in den 80ern. Da hat’s sogar Tote gegeben, weil Profit im Vordergrund und nicht das mit der Sicherheit. Vielleicht heißt’s dann in ein paar Jahren nicht mehr happy-beppi mit den blau-grünen Zügen, sondern Arbeitsplätze gekürzt, Lohndumping, Einsparung von Nebenstrecken.

Das mit der Konkurrenz. Da meinst du vielleicht, Nebenstrecken einsparen ist eher die Sache von der ÖBB und gar nicht die von der Westbahn. Aber Vorsicht: Die Westbahn fahrt nämlich nur auf den Strecken, die auch wirklich rentabel sind, quasi Geld scheffeln. Die ÖBB kann sich das nicht aussuchen. Die muss alles machen. Mariazell, Mittersill, Mooskeuschen. Nicht nur Salzburg und Wien. Weil die Lisa aus Hintertupfing muss trotzdem in die Schule und die Huber in die Arbeit. Aber Geld kostet das, das glaubst du nicht. Auf der Westbahnstrecke, da hat die ÖBB Geld machen und damit auch die Nebenstrecken finanzieren können. Dann kommen die Privaten und bum, ist die Westbahnstrecke wegen der Konkurrenz nicht mehr so rentabel für die ÖBB. Die Nebenstrecken sind dann auch nicht mehr finanzierbar, weil weniger Geld, und die Arbeitsplätze auch nicht immer. Lisa und die Huber nicht mehr so glücklich.

Jetzt aber ÖBB. Du glaubst jetzt vielleicht, lustig, ich bin ÖBB-Fan. Stimmt gar nicht immer, weil die ÖBB mit der bestmöglichen Qualität und den billigen Preisen auch oft so ein Dings ist. Aber Fan vom öffentlichen Verkehr bin ich. Weil die öffentlichen Dienstleistungen, die sollten halt auch öffentlich sein, nicht privat. Verkehr genauso wie Bildung, Gesundheit und solche G’schichten. Fazit: Den öffentlichen Verkehr und damit die ÖBB verbessern und nicht aushungern. Nichts mit Profitgier, Kürzungen und dem Mythos von der Konkurrenz, die eh niemandem was bringt. Hausverstand Hilfsausdruck.

 

Lektüre für Lila Pudel

  • 13.07.2012, 18:18

Über memmige Männer, Strickjacken und zeitungsübergreifende Geschlechterklischees: Eine Bestandsaufnahme über „Feminismus“ in deutschen Medien von an.schläge-Redakteurin Lea Susemichel.

Über memmige Männer, Strickjacken und zeitungsübergreifende Geschlechterklischees: Eine Bestandsaufnahme über „Feminismus“ in deutschen Medien von an.schläge-Redakteurin Lea Susemichel.

Im Feuilleton der konservativen FAZ wird erklärt, was mit „hegemonialer Männlichkeit“ gemeint ist. Braucht es da überhaupt noch feministische Medien? Feministische Fragen werden schließlich tatsächlich längst auch in etablierten Medien verhandelt. Das war in der Gründungsphase vieler Zeitschriften der Zweiten Frauenbewegung in den 1970ern noch anders (von den Organen der ersten Frauenbewegung gar nicht zu reden): Wer damals frauenpolitische Forderungen stellen und verbreiten wollte, musste fast notgedrungen etwas Eigenes gründen, anderswo kamen sie einfach nicht vor.
Doch auch wenn sie heute vorkommen: Schaut man sich zum Beispiel jene Diskussion, in deren Rahmen in der FAZ über Geschlechterkonstruktion nachgedacht werden durfte, genauer an, wird sehr schnell klar, dass man dem medialen Main- und Malestream weiterhin tunlichst nicht das Feld in Sachen Feminismus überlassen sollte.

Das deutsche Feuilleton und der Macho. Im konkreten Fall ging es um die sogenannte „Schmerzensmänner“-Debatte. Deren Anfang machte Nina Pauer mit einem Zeit-Artikel dieses Titels über identitätsirritierte junge Männer in Strickjacken, die aufgrund vielfältiger Anforderungen nicht mehr wissen, wie und wer sie sein sollen, und die deshalb eigentlich nicht mehr zu gebrauchen sind. Es folgten Repliken unter anderem in der taz, in der Süddeutschen und im Spiegel, und nur vereinzelt wird darin der naheliegende Einwand formuliert, dass ein verändertes männliches Rollenverständnis doch wohl eigentlich ein Grund zur Freude sei. Und dass die Alternative doch nicht ernsthaft sein könne, sich den Macho zurückzuwünschen.
Doch der allgemeine Tenor der Diskussionsbeiträge ist ein ganz anderer: Solche Typen wollen wir nicht, ist man sich einig, der Feminismus mit seinem Männer-Umerziehungsprogramm habe mal wieder übers Ziel hinausgeschossen, die jungen Frauen würden es nun ja selbst merken und wieder nach starken Schultern schreien. Dieses zeitungsübergreifende Resümee klingt vertraut, denn zu ähnlichen Schlussfolgerungen kommt die Presse immer wieder gerne anlässlich der seltenen Gelegenheiten, bei denen sie sich ausnahmsweise eingehender mit dem Geschlechterverhältnis befasst. Dass sich auch linke Medien wie die Jungle World dieser Einschätzung anschließen und im Rahmen der Debatte ganz besonders hämisch über die memmige „Metrosexualität“ dieser neuen Männer ätzen (Magnus Klaue: „Weicher werden“), macht klar, wie dünn gesät konsequent feministische Positionen im medialen Spektrum weiterhin sind, selbst in Alternativmedien.
Das Jammern über verweichlichte Männer ist dabei so alt wie die Angst vor männlichem Autoritäts- und Machtverlust. Und es wird gegenwärtig auch besonders gerne von aggressiv antifeministischen Männerrechtlern betrieben, die vom neuen Mann als „Lila Pudel“ sprechen. Von „Softies“ spricht man spöttisch schon seit den 1980ern, einer Zeit, in der bereits das Tragen eines Strickpullis für dieses Label vollauf genügte. Wenn heute nun Strickjacken das zeitgemäße Erkennungsmerkmal des scheinbar in seinem Rollenverhalten tief verunsicherten Mannes sind, dann geht das leider ebenso wenig wie damals notwendigerweise mit einer gewandelten Gesinnung ihres Trägers einher. Er hat weder verlässlich Queer Theorie gelesen, noch ist er zwingend Vater in Kinderkarenz oder teilt sich die Hausarbeit fifty-fifty mit seiner Partnerin. Und selbst wenn er überraschenderweise all dies doch erfüllt – er stellt beileibe nicht die männliche Mehrheit.

Eine Vorliebe für Strickmode macht noch keinen Feministen. Und ein Feminist in Strickjacke macht noch keine gleichberechtigte Gesellschaft. Auf solch simple Zusammenhänge hinzuweisen, bleibt nun also nach wie vor feministischen Medien überlassen. Wie sie auch die einzigen sind, die argumentieren, dass eine grundlegende Änderung des Geschlechterverhältnisses letztlich unweigerlich mit einer Infragestellung von Identität einhergehen müsse, und memmige Männer demnach ein höchst begrüßenswertes und positives Phänomen darstellen würden. Anders als alle anderen, freuen wir uns also aufrichtig über echte neue Weicheier.
Feministischer Journalismus muss zudem unermüdlich darauf hinweisen, dass zum Thema Männer weiterhin Wichtigeres festgehalten werden muss: Wie gering ihre Wandlungsbereitschaft im Privaten und wie groß ihr Beharrungsvermögen im Beruflichen ist, beispielsweise. Wie unerträglich schleppend deshalb Veränderungen passieren. Wie verbreitet Sexismus und Frauenverachtung weiterhin sind. Wie viel Männergewalt es immer noch gibt. Und wie himmelschreiend ungerecht die globale Macht- und Ressourcenverteilung ist.
Die Kernaufgabe feministischer Medien besteht also weiterhin schlicht und ergreifend darin, Gerechtigkeit und Gleichberechtigung zu fordern. Denn es gibt sie noch nicht.
In diesem Punkt geben uns inzwischen glücklicherweise auch viele Mainstreammedien prinzipiell Recht. Denn ungeachtet aller Kritik an medialen Debatten wie dieser jüngsten Neuauflage der alten Softie-Schelte: Im Unterschied zu den Anfängen emanzipatorischer Medienproduktion hat sich die Situation in den letzten Jahrzehnten selbstverständlich deutlich verändert. Über die Diskriminierung von Frauen berichtet heute jedes Medium zumindest dann und wann, und noch dem kleinsten Lokalblatt sind Vokabeln wie Lohnschere und gläserne Decke inzwischen durchaus geläufig. Doch dass es diese Begriffe selbst in die Politikressorts der konservativen Presse oder der Boulevardmedien geschafft haben – das ist letztlich der Erfolg eines zähen feministischen (Medien-)Aktivismus, dessen langfristiger Einfluss nicht zu unterschätzen ist. Diese Gegenöffentlichkeit beteiligt sich kontinuierlich an gesellschaftlichen Diskursen und nutzt dafür unterschiedlichste mediale Mittel: handkopierte DIY-Zines ebenso wie Fernseh- und Radiosendungen, klassische Magazine oder die, vor allem im letzten Jahrzehnt entstandenen, unzähligen Blogs und Websites.

Die Notwendigkeit feministischer Medien. Und trotz widrigster Bedingungen hat sich diese feministische Medienlandschaft im Laufe der Zeit immer weiter professionalisiert und ausdifferenziert. Die Kritik, die sie formuliert, ist fundamental. Feministischer Journalismus belässt es idealerweise nicht alleine bei der Forderung nach einer Neuverteilung von Macht, Arbeit und Geld zwischen den Geschlechtern. Er stellt gesellschaftliche Grundstrukturen infrage und beschränkt sich bei der Analyse von Ungleichheit auch keineswegs auf das Geschlechterverhältnis.
Was auch die Eingangsfrage erneut unmissverständlich beantwortet: Es braucht diese Medien unbedingt weiterhin. Denn im Unterschied zu einer bloß punktuellen Berichterstattung über gesellschaftspolitische „Frauenthemen“ wird Feminismus darin als ressort- und themenübergreifende Querschnittsmaterie behandelt. Das heißt, ausnahmslos alles wird immer auch aus einer feministischen Perspektive beleuchtet, egal, ob es um die Finanzkrise, die Arabischen Revolutionen, um Occupy oder Lana Del Rey geht. Denn alles ist immer auch von frauenpolitischer Relevanz. Manchmal eben sogar ein neuer Strickmoden-Trend.

Lea Susemichel ist Redakteurin der an.schläge. Das feministische Magazin und Mitherausgeberin von Feministische Medien. Öffentlichkeiten jenseits des Malestream (Helmer Verlag 2008).

Aufhören, uns die Schuld zu geben

  • 13.07.2012, 18:18

Die israelische Soziologin Eva Illouz appelliert in ihrem letzten Werk „Warum Liebe wehtut“ daran, uns selbst weniger zur Verantwortung zu ziehen, wenn es mit unseren Beziehungen nicht klappt.

Die israelische Soziologin Eva Illouz appelliert in ihrem letzten Werk „Warum Liebe wehtut“ daran, uns selbst weniger zur Verantwortung zu ziehen, wenn es mit unseren Beziehungen nicht klappt.

Laut Illouz sollen wir unser Versagen in Liebesbeziehungen in einem gesellschaftlichen Kontext betrachten. Damit wäre uns nicht nur viel Druck genommen, sondern auch der Gang zum/r Therapeuten/in bliebe uns erspart. Ein PROGRESS-Interview über Kapitalismus, männliche Dominanz und Leidenschaft.

PROGRESS: In Ihrem Buch schreiben Sie, dass die Soziologie bezüglich Beziehungsproblematiken den Platz der Psychologie einnehmen sollte. Wir sollten anfangen, gescheiterte Beziehungen im gesamtgesellschaftlichen Kontext zu betrachten und gleichzeitig aufhören, die Fehler beim Scheitern in Liebesangelegenheiten bei uns selbst zu suchen. Ist das als eine Kritik der sogenannten Therapy Culture zu verstehen?

Eva Illouz: Ja, es ist gänzlich als eine Kritik der Therapiekultur zu verstehen. Diese lässt uns kollektiv so viel an der Verbesserung unserer Selbst arbeiten, um gesellschaftliche Prozesse zu korrigieren. Die Psychologie ist zur privilegierten Allianz des Neoliberalismus geworden: Sie lässt uns dieses nagende Gefühl mitschleppen, dass etwas mit uns falsch wäre. Das soll dann mit unserer Familiengeschichte zu tun haben, oder mit unrealistischen Erwartungen, oder damit, dass wir es nicht geschafft haben, uns den richtigen Typen zu angeln. Ich will sagen: „Genug!“ Bezie- hungen sind schwierig, aber nicht, weil wir individuell mangelhaft sind, sondern wegen der sozialen Organisation des Kapitalismus, die es uns einfach schwer macht, unsere PartnerInnenwahl und unsere romantischen Gefühle zu organisieren.

Ist „Warum Liebe wehtut“ so gesehen ein Selbsthilfebuch?

Ja und nein. Nein, weil ich ja die „Selbsthilfekultur“ vehement kritisiere, wie ich schon dargestellt habe. Außerdem will ich ja niemandem vorschreiben, wie man leben soll. Ich besitze weder die Weisheit dazu, noch ein besonderes Wissen über die Liebe. Aber es ist insofern ein Selbsthilfebuch, dass es dabei helfen kann, sich weniger unfähig in Beziehungen zu fühlen.

Sie schreiben, es bedürfe wieder eines ethischen Rahmens, in dem wir unsere Beziehungen aufbauen und gestalten können. Sollten wir nicht zuallererst damit aufhören, in starren, binären Geschlechterkategorien zu denken, bevor wir uns mit Verhaltensregeln befassen?

Klar, Stereotype zu verändern, ist nichts anderes als ein zutiefst moralischer Imperativ.

Würden Sie Ihr Werk als feministisch bezeichnen?

Ach, wer würde sich heute nicht als FeministIn bezeichnen? Sogar Hausfrauen sind heute nicht mehr der Meinung, dass sie nicht befugt wären, wählen zu gehen, oder ein eigenes Konto zu besitzen, oder die Scheidung einzureichen. Mein Werk ist jedenfalls in einem moralischen Verständnis als feministisch zu bezeichnen, da es die Ursachen von Problemen zwischen Frauen und Männern in den Überresten einer patriarchalen Machtstruktur verortet, jedoch ohne der zentralen Rolle, die Familien früher noch im Patriarchat besaßen. In der Vergangenheit waren Männer aufgrund ihres sozialen und ökonomischen Status genauso abhängig von ihren Familien wie Frauen. Vielleicht waren sie sogar abhängiger als Frauen, in einer bestimmten Art und Weise. Heute aber brauchen Männer keine Familien mehr für ihren sozio-ökonomischen Status. Frauen hingegen sind viel abhängiger von der Familie: Sie wollen Mütter werden und brauchen einen Versorger während ihrer Mutterschaft. Das ist wohl einer der wichtigsten Gründe für die bestehende Asymmetrie zwischen Frauen und Männern und zugleich die Wurzel von dem, was ich als „emotionale Dominanz“ von Männern über Frauen bezeichne.

In „Warum Liebe wehtut“ meinen sie, dass charakteristisch für moderne Liebesbeziehungen eine zwischenmenschliche Beliebigkeit ausgelöst durch eine massive Ausweitung des Marktes an potenziellen PartnerInnen wäre. Gleichzeitig scheinen sich aber vor allem junge Menschen nach Stabilität und Sicherheit zu sehnen und sich für traditionelle Familienmodelle zu entscheiden. Werden unsere Beziehungen wieder konservativer?

Ich denke, es handelt sich eher um eine Pluralität von Modellen, die miteinander in Konkurrenz stehen und sich teils auch überschneiden. Die Sehnsucht nach konservativen Familienmodellen geht mit einer emanzipierten Sexualität und auch mit der gesteigerten Toleranz für einen sexuellen Pluralismus einher. Zugleich aber hat das auch mit einem höheren Grad an Unsicherheit und Ungewissheit zu tun. Wir bewegen uns so gesehen nicht zurück zu alten und gut bekannten Formen. Vielmehr handelt es sich dabei um alte Formen mit neuen Ressourcen.

In Interviews präsentieren Sie sich selbst als Fan der Leidenschaft. Was genau verstehen Sie unter diesem Begriff und kann Leidenschaft dazu dienen, herrschaftliche Ordnungen innerhalb von Beziehungen zu unterwandern?

Leidenschaft ist die Bereitschaft, die eigene Souveränität für jemanden anderen aufzugeben. Es ist eine Form der Emotionalität, die weniger reflexiv und weniger beschäftigt mit dem eigenen Wohlergehen ist. Das stellt ja in aktuellen Modellen offensichtlich die Norm dar: Gleichheit und Gegenseitigkeit werden ständig aufgerechnet und evaluiert. Ich denke, Gleichheit sollte niemals als ein regulierendes Ideal von Beziehungen in Vergessenheit geraten, aber wenn wir diese Gleichheit erreichen, sollten wir wieder Spaß an Leidenschaft haben und weniger ängstlich dabei sein.

ZUR PERSON: Eva Illouz wurde 1961 in Marokko geboren. Sie lebte und studierte in Paris und in Pennsylvania. Illouz lehrt derzeit Soziologie und Anthropologie an der Hebräischen Universität Jerusalem. Ihr Forschungsschwerpunkt ist das Verhältnis von Massenmedien, Kapitalismus und Emotionen. Damit beschäftigt sie sich auch in ihren zahlreichen Publikationen der vergangenen Jahre. „Warum Liebe wehtut“ ist ihr aktuelles Werk und erschien 2011 im Suhrkamp Verlag.

Warum Angst haben vor dem arabischen revolutionären Geist?

  • 13.07.2012, 18:18

Die Reaktion der westlichen Liberalen auf die Aufstände in Ägypten und Tunesien ist oft scheinheilig und zynisch.

Die Reaktion der westlichen Liberalen auf die Aufstände in Ägypten und Tunesien ist oft scheinheilig und zynisch.

Was einem bei den Aufständen in Tunesien und Ägypten unweigerlich ins Auge springt, ist die auffällige Abwesenheit von muslimischem Fundamentalismus. In bester säkularer demokratischer Tradition rebellierten die Menschen ganz einfach gegen ein repressives Regime, gegen Korruption und Armut und forderten Freiheit und eine Verbesserung ihrer wirtschaftlichen Lage. Die zynische Weisheit westlicher Liberaler, der zufolge in arabischen Ländern nur ein begrenzter Kreis liberaler Eliten wirklich ein Gefühl für Demokratie hat, während die große Mehrheit nur mittels religiösem Fundamentalismus oder Nationalismus mobilisiert werden kann, hat sich als falsch herausgestellt. Die große Frage ist: Was wird als nächstes passieren? Wer wird als der politische Gewinner hervorgehen?
Als in Tunis eine neue provisorische Regierung ernannt wurde, wurden die Islamisten und die radikalere Linke ausgeschlossen. Die Reaktion selbstgefälliger Liberaler war: Gut, das ist ja im Prinzip dasselbe, zwei totalitäre Extreme – aber sind die Dinge wirklich so einfach? Besteht auf lange Sicht die wirkliche Gegnerschaft nicht genau zwischen den Islamisten und der Linken? Auch wenn sie momentan gegen das Regime vereint sind, wenn erst der Sieg naht, zerbricht ihre Einheit, sie treten in einen tödlichen Kampf, oft grausamer als der gegen den gemeinsamen Feind.

Taliban als Klassenkämpfer. Sahen wir nicht genau so einen Kampf nach den letzten Wahlen im Iran? Wofür die hunderttausenden Anhänger Mousavis eintraten, war genau der allgemeine Traum, der die Revolution von Khomeini getragen hatte: Freiheit und Gerechtigkeit. Auch wenn dieser Traum utopisch ist, führte er doch zu einer atemberaubenden Explosion politischer und sozialer Kreativität, organisatorischen Experimenten und Debatten zwischen Studenten und normalen Menschen. Diese genuine Öffnung, die noch nie dagewesene Kräfte für soziale Transformation entfesselte, ein Moment, in dem alles möglich schien, wurde dann allmählich durch die Übernahme der politischen Kontrolle durch das islamistische Establishment erstickt.
Auch im Fall ganz eindeutig fundamentalistischer Bewegungen sollte man die soziale Komponente tunlichst nicht vergessen. Die Taliban werden immer als fundamentalistische islamistische Gruppe dargestellt, die ihre Herrschaft mit Terror durchsetzt. Als sie aber im Frühling 2009 im Swat-Tal in Pakistan das Regiment an sich rissen, berichtete die New York Times, dass sie „einen Aufstand organisiert hatten, der die tiefen Risse zwischen einer kleinen Gruppe von reichen Großgrundbesitzern und deren landlosen Bauern ausgenützt hatte.“ Wenn die Taliban durch ein „Ausnützen“ des Elends der Bauern „die Alarmglocken wegen des Risikos für ein größtenteils noch feudales Pakistan zum Läuten bringen“, wie es die New York Times ausdrückte, was hielt dann die liberalen Demokraten in Pakistan und den USA davon ab, dieses Elend auf ähnliche Weise „auszunützen“ und zu versuchen, den landlosen Bauern zu helfen? Ist es deshalb, weil die feudalen Kräfte die natürlichen Verbündeten der liberalen Demokratie sind?

Opportunist Tony Blair. Daraus muss man unweigerlich den Schluss ziehen, dass in muslimischen Ländern das Anwachsen des radikalen Islamismus immer die andere Seite des Verschwindens der säkularen Linken war. Wenn Afghanistan als das Paradebeispiel eines islamischen fundamentalistischen Landes dargestellt wird, wer erinnert sich noch daran, dass es vor 40 Jahren ein Land mit einer starken säkularen Tradition war, einschließlich einer mächtigen kommunistischen Partei, die dort unabhängig von der Sowjetunion an die Macht gekommen war? Wohin ist diese säkulare Tradition verschwunden?
Man muss die derzeitigen Ereignisse in Tunesien und Ägypten (und Jemen und ... vielleicht, hoffentlich, sogar Saudi-Arabien) unbedingt vor diesem Hintergrund betrachten. Wenn die Situation schließlich so stabilisiert wird, dass das alte Regime mit ein paar liberalen kosmetischen Operationen überlebt, wird dies zu einem unüberwindlichen fundamentalistischen Rückschlag führen. Damit das wichtigste liberale Erbe überlebt, brauchen die Liberalen die brüderliche Hilfe der radikalen Linken. Zurück zu Ägypten: Die schändlichste und eine gefährlich opportunistische Reaktion war die von Tony Blair, wie sie auf CNN berichtet wurde: Veränderung ist notwendig, aber es sollte eine stabile Veränderung sein. Eine stabile Veränderung in Ägypten kann heute nur bedeuten, dass ein Kompromiss mit den Kräften Mubaraks geschlossen wird, indem der Kreis der herrschenden Elite etwas erweitert wird. Deshalb ist über einen friedlichen Übergang zu reden eine Unverschämtheit: Durch die Erdrückung der Opposition hat Mubarak das selbst unmöglich gemacht. Nachdem Mubarak die Armee gegen die Protestierenden schickte, wurden die Möglichkeiten klar. Entweder ein kosmetischer Wechsel mit einigen Veränderungen, aber so, dass alles beim Alten bleibt, oder ein wirklicher Bruch.

Mubarak nach Den Haag. Das ist also die Stunde der Wahrheit: Man kann nicht, wie in Algerien vor zehn Jahren, sagen, dass wirklich freie Wahlen zuzulassen gleichbedeutend sei mit einer Machtübergabe an die muslimischen Fundamentalisten. Eine weitere Sorge der Liberalen ist das Fehlen einer organisierten politischen Kraft, die die Macht übernimmt, sollte Mubarak zurücktreten. Natürlich gibt es keine, dafür hat Mubarak gesorgt, indem er jegliche Opposition zu einem marginalen Ornament machte, so dass das Ergebnis wie der berühmte Roman von Agatha Christie lautet, And Then There Were None [Und dann gab’s keines mehr]. Das Argument für Mubarak – entweder er oder Chaos – ist ein Argument gegen ihn.
Die Scheinheiligkeit der westlichen Liberalen ist atemberaubend: In der Öffentlichkeit unterstützten sie die Demokratie und nun, da die Menschen für säkulare Freiheit und Gerechtigkeit gegen die Tyrannen aufstehen, nicht für Religion, sind alle zutiefst besorgt. Warum Besorgnis und nicht Freude darüber, dass die Freiheit eine Chance erhält? Heute mehr denn je passt Mao Tse Tungs altes Motto: „Unterm Himmel herrscht großes Chaos – die Lage ist ausgezeichnet.“ Wo soll Mubarak also hingehen? Die Antwort ist klar: nach Den Haag. Wenn es einen Staatsführer gibt, der dort hingehört, dann er.

Der Autor ist ein aus Slowenien stammender Philosoph, Kulturkritiker und nichtpraktizierender lacanianischer Psychoanalytiker.
Orginalartikel: "Why fear the Arab revolutionary spirit?"
Übersetzt von Eva-Maria Bach.

Thomas Bernhard schtirbt.

  • 13.07.2012, 18:18

„Hier in Österreich blockieren ein paar machtgierige und größenwahnsinnige alte Männer alles um sie herum und es ist erstaunlich, wie lange sich vor allem die jungen Menschen in diesem stinkenden Staatskessel das gefallen lassen. Als gäbe es keine Jugend!“

Rezension

„Hier in Österreich blockieren ein paar machtgierige und größenwahnsinnige alte Männer alles um sie herum und es ist erstaunlich, wie lange sich vor allem die jungen Menschen in diesem stinkenden Staatskessel das gefallen lassen. Als gäbe es keine Jugend!“
Die Rede ist nicht von heute, sondern von 1981. Und es spricht kein alt gewordener Staatskünstler, kein mild gewordener Revolutionär und auch kein wild gewordener Reformer, sondern ein früh Gestorbener, dessen Tod, so scheint es, vielen auf keinen Fall zu früh kam.
Heuer wäre Thomas Bernhard achtzig Jahre alt geworden, sein runder Geburtstag wird merklich gewürdigt. Auch heute noch ist der „Alles-und-alle-Beschimpfer“ eine Attraktion unter Verständigen, ein Säulenheiliger unter Unverständigen und ganz sicher eine nationale Schande unter ewig Unverstandenen.
Angesichts solcher virtueller Geburtstage (gerade in einem Land wie Österreich, in dem das Gedenken ja eine Tugend und das Denken eine Untugend ist) kommen allerdings immer wieder Fragen auf: Etwa ob denn der „frühe“ Tod nicht auch erst das Gedenken hervorgerufen hat, ob denn ein „später“ Abgang den Betreffenden nicht in die Vergessenheit hätte sterben lassen. Solche Fragen sind müßig; hingegen die Frage, ob Bernhard heute noch Aktualität besitzt, ob man ihn heute noch nicht revidiert hat, kann in Hinblick auf diese Kommemoration durchaus gestellt werden. Und tatsächlich, viele heute noch überraschend gültige Ausrufe finden sich in einer vom Suhrkamp Verlag erstmals in dieser Form präsentierten Überdenkschrift. Es wird einem grausig, wenn man Bernhard beschwören hört, „ob Diktatur oder Demokratie – für den Einzelnen ist im Grunde alles gleich schauerlich. Zumindest bei näherer Betrachtung.“

Der Wahrheit auf der Spur sammelt Selbstinszenierung und Selbstoffenbarung, und Selbstaufbahrung des gewaltigen Autors. In der heutigen Zeit hat der Sumpf eben ein anderes Schlaglicht, er ist nicht mehr rot wie bei ihm, sondern schwarz wie bei uns. Die nun vorliegende Sammlung von Thomas Bernhards Öffentlichkeitsauftritten erklärt in eleganter Kohärenz seinen Kampf gegen den Staat und das ästhetische, mehr noch, das kulturelle Unverständnis seiner spießbürgerlichen Beamten. Natürlich verliert der brave „Skandalautor“ auch das eine oder andere Wort zuviel, weiß gleich einem verwöhnten Kind (einem Fratz!) nicht, wann Schluss sein soll. Wenn auch zugegebenermaßen die Beschreibung Kreiskys als „kleinbürgerlicher Salonsozialist“ im unverdienten Ruhestand sicher eine gewollt zu starke Polemik ist, man liest auch bei Bernhard ebenjene angeklagte Kleinbürgerlichkeit heraus; weltmännische Kritik von einem Mann mit Hang zum Biedermeierversteckspiel ist wohl nicht sehr glaubwürdig.

Jedoch genau die harsche Kritik an Kreisky und später dann auch an Vranitzky erlaubt die Frage, ob er heute wohl noch gut gewesen wäre, das heißt, ob er denn nicht wirklich besser damals an einem zu schwach schlagenden Herzen als heute an einem zu stark (zu)schlagenden Hirn gestorben ist. Wenn Bernhard schon unter diesen beiden zu leiden hatte, wie hätte er wohl mit Pröll und Faymann leben können. Wie hätte er als antikatholisches ÖVP-Mitglied und Naziallergiker die blau-schwarzen Jahre überdauert?
Nichtsdestotrotz möchte man Bernhard einfach als einen Mann mit gesunden Emotionen sehen, denn wo Liebe ist, da ist auch Hass. Er liebe Österreich, weil er nicht anders könne, sagte er. Bloß ist es hart für einen ernsten Menschen, in einem Land zu leben, in dem „man alles Ernsthafte zum Kabarett macht“. Denn, „jeder Ernst wandert auf die Witzseite, und so ertragen die Österreicher den Ernst nur als Witz“. Und was in anderen Ländern eben ein Rücktrittsgrund ist oder Richtern eine Verurteilung wert, das ist in Österreich ein Witz, nach wie vor.

Klassenkampf reloaded

  • 13.07.2012, 18:18

In Nordafrika stürzen die Regime, in London herrscht Ausnahmezustand, in den USA bringen DemonstrantInnen eine Stadt unter ihre Kontrolle. Drei Schauplätze, ein Kampf: Der Mittelstand ringt um die Macht.

In Nordafrika stürzen die Regime, in London herrscht Ausnahmezustand, in den USA bringen DemonstrantInnen eine Stadt unter ihre Kontrolle. Drei Schauplätze, ein Kampf: Der Mittelstand ringt um die Macht.

Wer hätte das zu Jahresbeginn gedacht? 2011 wird in die Chroniken der Menschheitsgeschichte eingehen als großes Revolutionsjahr, vergleichbar mit epochalen Daten wie 1848, als Europas BürgerInnen gegen die Restauration auf die Barrikaden stiegen.
Die Revolutionen in Tunesien und Ägypten sind Ereignisse von weltbewegender Dimension, weil sie eine neue Ära verheißen für den gesamten arabischen Raum, dem eine Schlüsselrolle in der Weltpolitik zukommt. Was die Umwälzungen in Ägypten, der traditionellen Vormacht der arabischen Staaten, noch auslösen werden, kann niemand wissen. Sicher ist: Für jede arabische Regierung wird es in Zukunft viel schwieriger werden, als Statthalterin westlicher Interessen aufzutreten und Politik gegen das eigene Volk zu machen. PolitikerInnen aus der EU und den USA mögen sich im Nachhinein noch so sehr auf die Seite der RevolutionärInnen stellen und sich echauffieren, Mubarak und Ben Ali seien Bastarde gewesen. Die NordafrikanerInnen werden nicht vergessen: Sie waren „unsere“ Bastarde, Mafiabosse im Dienst des Westens.

Pharaonen und Mafiabosse. Ihre Gangster-Regime sind gefallen, weil sie den jungen Menschen keine Chancen, keine glaubhaften Versprechen mehr anbieten konnten. Es waren nicht die verarmten Massen und die alten Seilschaften der Muslimbrüder, die die Diktatoren verjagten. Das Rückgrat des Aufstands bildete eine junge Generation von IngenieurInnen, IT-Fachleuten, FreiberuflerInnen, Fußballfans und auch Nachwuchsmitgliedern der Muslimbrüder, die damit gegen die Linie der Führungsgarde der Islamisten handelten. Gemeinsam war ihnen allen die Angst, durch die globale Finanzkrise aus der Mittelschicht in die Armut gestoßen zu werden.
Rechte ApologetInnen predigen, die Umwälzungen in Nordafrika seien ein Beweis für den Siegeszug der neoliberalen Demokratie. Aber die MarktschreierInnen sollten sich mal anhören, an wen die protestierende Masse am Tahrir-Platz in Kairo ihre Solidaritätsadressen richtet. Sie unterstützen die protestierenden StudentInnen in London und die linken ParlamentsbesetzerInnen in Wisconsin in den USA. Die einen wie die anderen betrachten sich als Verbündete im Kampf gegen eine neoliberale Politik, die schließlich der Grund war, warum die Pharaonen vulgo Mafiabosse in Ägypten und Tunesien vom Thron kippten.

Schlägertrupps gegen DissidentInnen. In unseren Tagen zeigt sich der subversive Weltgeist als Globalisierungsgewinnler. Mit Argusaugen mussten die Herrschenden der Welt sehen: Nicht nur Geld und Kapital jagen per Mausklick um den Erdball, sondern auch Aufstand und Umsturz eilen per Breitband und Satellit um die immer flacher werdende Welt. Wenn in Tunesien und Ägypten die Diktatoren stürzen, müssen die verbleibenden Autokraten in Europa, Asien und Afrika vor dem Funkenschlag der Revolution zittern. Sogar die mächtigen Bonzen im Politbüro der Kommunistischen Partei Chinas zeigen dann Nerven, versetzen den Geheimdienst in höchste Alarmbereitschaft und hetzen zivile Schlägertrupps auf DissidentInnen.
Auch im Westen spürt man den Wind of Change. In London gingen hunderttausend Studierende auf die Straße, um gegen die Bildungspolitik der konservativen Regierung zu protestieren. Die Stadt befand sich über eine Woche in einer Art Ausnahmezustand. Polizeihubschrauber patrouillierten über den Dächern der Finanzmetropole, Panzerfahrzeuge und hochgerüstete Robocops, ausgestattet mit ungesicherten Automatikwaffen, bewachten die Regierungsviertel und riegelten die City ab.
In Griechenland, dessen Hauptstadt Athen die höchste Porsche-Cayenne-Dichte aller europäischen Metropolen haben soll, ist es in den vergangenen Wochen einmal mehr zu schweren Ausschreitungen gekommen. Kleine Geschäftslokale wurden geplündert und danach ausgebrannt, es gab Dutzende Verletzte. Unseren Medien waren die anarchischen Tumulte – wenn überhaupt – nur noch eine Randnotiz wert, so sehr haben wir uns schon gewöhnt an das hellenische Chaos, das frustrierte Jugendliche anrichten. 

Streiken verboten. Im Vergleich dazu sind die Ereignisse, die sich derweil auf der anderen Seite des Atlantiks zutragen, weit ungewohnter. Im US-Bundesstaat Wisconsin führten die radikalen Sparpläne des republikanischen Gouverneurs Scott Walker zu Protesten von hunderttausend Menschen, die das Zentrum von Madison, der Hauptstadt Wisconsins, zeitweise unter ihre Kontrolle brachten. Tausende BürgerInnen belagerten das State Capitol und verbarrikadierten die Zufahrtsstraßen. Es war eine der größten Widerstandsbewegungen in den USA seit den Demonstrationen gegen den Vietnamkrieg.
Was in den großen Medien anfänglich als Provinzposse abgetan wurde, offenbarte sich alsbald als Eskalation des Machtkampfs zwischen den zwei Amerikas – den sich immer fremder werdenden linksliberalen und reaktionären Teilen des Landes.
Anlass für den Konflikt war, dass die republikanische Partei das horrende Budgetloch auf Kosten der Mittelschicht und der sozial Schwachen stopfen will, während den MillionärInnen und MilliardärInnen Steuersenkungen winken.

Endstation Taka-Tuka-Land. Im US-Bundesstaat Ohio wurde jüngst ein Gesetz gebilligt, das es BeamtInnen unmöglich macht, Lohnforderungen mit Hilfe von Gewerkschaften durchzusetzen. Streiks werden künftig ein strafwürdiges Vergehen sein. Angestellten soll sogar untersagt werden, bei Lohnverhandlungen Abgeordnete zur Unterstützung einzuschalten. Und auch die republikanische Mehrheit im Senat in Wisconsin beschloss am 9. März trotz allen Widerstands, die Gewerkschaften radikal zu entmachten. „In 30 Minuten haben 18 Republikaner 50 Jahre Arbeitnehmerrechte in Wisconsin abgeschafft“, fasste der demokratische Senator Mark Miller die Niederlage zusammen. Um die Bedeutung der globalen Unruhen richtig einzuschätzen, sollten wir nicht vergessen, dass uns hoch angesehene PolitologInnen noch vor wenigen Jahren glauben machen wollten, der Zug der Geschichte sei angekommen in seinem Endbahnhof, dem Taka-Tuka-Land der neoliberalen Marktwirtschaft. Eingetreten ist aber das Gegenteil: Die Geschichte bricht sich gleich einem Hochgeschwindigkeitszug mit voller Wucht ihre Bahn, und niemand kann mehr wissen, wer die WeichenstellerInnen sind, die die Zukunft steuern werden.
 
Es herrscht Klassenkampf. Gemeinsam ist fast allen sozialen Kämpfen der Gegenwart, dass sie keine Klassenkämpfe mehr sind im Sinne von Proletariat gegen Bürgertum. Es sind Konflikte der Angehörigen des Mittelstands, die ihren Status zu verlieren drohen oder sich diesen erkämpfen wollen. Egal ob China, Indien, Europa oder die USA: Die besitzende Elite braucht die Mittelschicht nicht mehr als politischeTrägerin des Staates. Nur als gut qualifizierte, aber unpolitische Angestellte sind ihre Mitglieder dem Kapital von Nutzen.
Dass aber auch die Auseinandersetzungen zwischen den Superreichen und dem Mittelstand eine Art von Klassenkampf darstellen, darauf machte ausgerechnet der US-Milliardär Warren Buffet aufmerksam. Das Gebaren der US-Finanzbranche im Visier stellte er lakonisch fest: „Es herrscht Klassenkampf, meine Klasse gewinnt.“ Und setzte nach: „Aber das sollte sie nicht.“

Sicher, sauber, unerwünscht

  • 13.07.2012, 18:18

Immer wieder werden Rufe nach einem Drogenkonsumraum in Wien laut. Die positiven Auswirkungen einer solchen Einrichtung zeichnen sich in Deutschland und der Schweiz deutlich ab. Trotzdem stehen die Chancen für die Realisierung eines derartigen Projekts in Wien schlecht.

Immer wieder werden Rufe nach einem Drogenkonsumraum in Wien laut. Die positiven Auswirkungen einer solchen Einrichtung zeichnen sich in Deutschland und der Schweiz deutlich ab. Trotzdem stehen die Chancen für die Realisierung eines derartigen Projekts in Wien schlecht.

Die Lifttür geht auf und vor Matthias und Jo klebt eine Kackwurst in einer Lache Urin am Kellerboden. Wer macht sowas, fragen sich die beiden. Wenige Schritte weiter steht ein schwarzer Rucksack, daneben ein Paar Lederschuhe. Auf einem Prospekt liegen ordentlich aufgelegt zwei Spritzen und ein paar blutige Taschentücher.

Es ist nicht das erste Mal, dass in diesem Haus in der Millergasse nahe dem Westbahnhof einE SuchtkrankeR übernachtet hat. Immer wieder passiert das in Wien; zuletzt berichtete der Falter von einem ähnlichen Fall in der Novaragasse im zweiten Bezirk. Auch Hamid* kennt diese Situation – aber aus einer anderen Perspektive: Früher hat er selbst oft in Kellern übernachtet, in Telefonzellen gespritzt: „Wo hätte ich hingehen sollen? Ich war Tag und Nacht unterwegs und wollte meinen Schmerzen entkommen.“ Die Frauen und Männer aus der Straßendrogenszene suchen einen ruhigen Ort, um sich einen Schuss zu setzen. Oft bleiben gebrauchte Spritzen und Kanülen oder sogar Fäkalien in Kellern, Telefonzellen oder öffentlichen Toiletten zurück. So ein Fund kann mehr als unangenehm sein: Wer sich mit einer Spritze sticht, kann sich noch ein paar Stunden nach ihrem Gebrauch mit HIV infizieren – mit Hepatitis C sogar bis zu drei Tage lang.

Mit einem Konsumraum könnte diese Situation verbessert werden: Dort können Suchtkranke unter medizinischer Aufsicht Drogen nehmen und das Spritzbesteck sicher entsorgen. Sie bieten KonsumentInnen menschenwürdige und hygienische Bedingungen für ihren Drogenkonsum und schützen Unbeteiligte vor Infektionen. SozialarbeiterInnen und Krankenpflegepersonal sind ständig vor Ort, um im Notfall eingreifen zu können. Dadurch sinkt die Zahl der Drogentoten, Infektionen mit HIV und Hepatitis gehen zurück und es wird weniger im öffentlichen Raum konsumiert. In Deutschland und der Schweiz gibt es Konsumräume bereits seit Jahrzehnten, in Österreich hingegen fehlt ein solches Angebot.

Lokalaugenschein Berlin. An den Wänden stehen sechs kleine Tische, davor jeweils ein Sessel. Über jedem Platz hängt ein Spiegel. Ein gelber Mistkübel, Feuerzeug und Schere gehören ebenfalls zur Ausstattung eines jeden Tisches. Die Wände sind aus Hygienegründen zur Hälfte gefliest, der Rest ist in einem freundlichen Orange gestrichen. Ein wenig erinnert der Raum in der Reichenberger Straße in Berlin-Kreuzberg an einen Friseursalon. Sein Verwendungszweck ist ein anderer: Es handelt sich um einen Drogenkonsumraum. Derzeit gibt es in Berlin zwei solche Räume sowie ein Drogenkonsummobil, das an unterschiedlichen Orten der Stadt Halt macht.

Das Suchthilfezentrum SKA mit Konsumraum gibt es in Kreuzberg seit Jänner. Die Einrichtung liegt ungefähr 15 Gehminuten vom Kottbusser Tor, einem zentralen Treffpunkt der Berliner Drogenszene, entfernt. Hier können DrogenkonsumentInnen nicht nur unter hygienischen Bedingungen konsumieren, sondern auch Spritzen tauschen, sich medizinisch behandeln und juristisch beraten lassen. Außerdem können sie ihre Wäsche waschen, duschen, essen oder einfach nur Zeit im Aufenthaltsraum verbringen.

Zielgruppe von Konsumräumen ist vor allem die offene Straßenszene, der in Berlin etwa 800 Leute angehören. Viele KlientInnen sind arbeitslos, haben keine fixe Unterkunft und kein soziales Netz, das ihnen Rückhalt bietet. Meist sind die Drogen Selbstmedikation, um Probleme zu vergessen. In Einrichtungen wie in der Reichenberger Straße gibt es kein „du musst clean werden“, um das Angebot nutzen zu dürfen. Durch eine „akzeptierende“ Form der Drogenarbeit soll eine soziale und medizinische Grundversorgung gesichert werden, um später mit den KlientInnen ein Betreuungsverhältnis aufbauen zu können.

Zunächst muss die Hilfe aber angenommen werden. Einen Monat nach der Eröffnung in der Reichenberger Straße nehmen vorerst nur wenige das Angebot in Anspruch. „Wir wissen aus Erfahrung, dass Projekte wie dieses eine lange Anlaufzeit haben. Es muss sich erst herumsprechen, dass und wo es uns gibt“, sagt Sozialarbeiter Dennis Andrzejewski von der SKA. Die Abkürzung steht für Streetwork, Koordination und Akzeptanz. Letztere wird solchen Einrichtungen nicht immer entgegengebracht.

Die NachbarInnenschaft. Früher befand sich das Suchthilfezentrum in unmittelbarer Nähe zum Kottbusser Tor, bis im Jahr 2009 der Mietvertrag nicht mehr verlängert wurde und die Einrichtung einer Spielautomatenhölle weichen musste. Zweieinhalb Jahre hat die Suche nach einer neuen Unterkunft gedauert. Der Kontakt zu den KonsumentInnen ist dabei weitgehend abgebrochen: Ohne fixen Raum erreichte die SKA 96 Prozent weniger KlientInnen. Als man die Reichenberger Straße ins Auge fasste, wurde dort eine BürgerInneninitiative gegen den Drogenkonsumraum gestartet. Nach einer ersten, gut besuchten Informationsveranstaltung zum Thema seien nur noch wenige der kritischen Geister zu einem weiteren offenen Abend gekommen, so Andrzejewski. „Eine Drogenhilfeeinrichtung macht Probleme sichtbar, aber zieht sie nicht an“, aber aus Sicht des Sozialarbeiters besteht viel Unwissenheit: Die Leute hätten Angst, dass der Konsumraum DealerInnen und Suchtkranke anziehe und Kinder zum Drogenkonsum verführe. Laut einer Evaluation des zweiten Konsumraums in Berlin, der Birkenstube, trifft das nicht zu: Bei derartigen Einrichtungen gibt es keine Szeneverlagerung vor den Raum und auch die Kriminalität im Grätzel steigt nicht. Trotzdem haben einige AnrainerInnen weiterhin Probleme mit dem Projekt. „Letzte Woche hat jemand den Aufsteller vorm Eingang umgetreten“, erzählt Andrzejewski.

Zurück nach Wien. Diese ablehnende Haltung gibt es auch in Wien. Der Ganslwirt ist die wohl bekannteste Drogenberatungsstelle der Stadt. Wie in Berlin gibt es dort eine multiprofessionelle Betreuung: Von der Grundversorgung über Spritzentausch und rechtliche Beratung bis hin zur Substitutionstherapie – nur konsumieren dürfen die KlientInnen nicht. Bedarf wäre aber durchaus da: Die Wiener Straßenszene besteht aus 300–500 Menschen, täglich werden im Ganslwirt und seiner Nebenstelle, dem TaBe-NO 7.000 Spritzen getauscht. Obwohl es im Vergleich zu der Anzahl der getauschten Spritzen relativ wenig Beschwerden gibt, scheint die Gesellschaft die Sucht nach illegalen Drogen noch nicht als Krankheit akzeptiert zu haben: KonsumentInnen werden als „Junkies“ oder „Giftler“ stigmatisiert und wie Kriminelle behandelt. „Bei Sucht handelt es sich um eine chronische Krankheit. Sie ist behandelbar, aber nicht immer heilbar und die KonsumentInnen sind nicht selbst schuld“, erklärt Christine Tschütscher, Geschäftsführerin des Vereins Dialog, der größten ambulanten Suchthilfeeinrichtung in Österreich. Der Weg aus der Sucht ist ein langwieriger Prozess: „Abstinent zu werden, ist dabei nicht der erste Schritt. Die Person und ihre Lebenssituation muss zuerst stabil sein“, so Tschütscher. Um Entzugserscheinungen zu verhindern und die KonsumentInnen aus der Beschaffungskriminalität zu holen, werden Substitutionstherapien verschrieben. So wird auch das Risiko eingedämmt, dass die Ware verschmutzt ist oder eine Infektion stattfindet. „Substituierte KlientInnen können ein ganz normales Leben führen. Eine/r ihrer KollegInnen könnte substituiert sein, Sie würden es nicht merken.“ Etwa 7.700 Menschen werden im Moment in Wien substituiert. In Berlin sind es „nur“ 4.000. Und das, obwohl in beiden Städten 10.000–12.000 Opiatabhängige leben. „Deutschland hat trotz massiver Opiat-Probleme erst zehn Jahre nach Österreich mit der Substitution begonnen und anfangs auch nur die Schwerstkranken behandelt“, erklärt die Wiener Drogenkoordination.

Was fehlt. Eines kann ein Substitut nicht ersetzen: Den Kick, den nur die Nadel bringt. Einige brauchen Jahre, um loszukommen. Andere schaffen es nie. Die Initiative Drogenkonsumraum ist überzeugt davon, dass ein Konsumraum in Wien diesen Menschen helfen würde. Ihre Mitglieder kennen die Probleme der Szene aus erster Hand: SozialarbeiterInnen, StreetworkerInnen, Angehörige und KonsumentInnen, darunter auch Hamid. Seit mittlerweile drei Jahren macht er eine Substitutionstherapie, lebt mit seiner Frau und seinem Sohn: „Drei Jahre und vier Monate ist er alt“, erzählt er stolz. Damals, als er noch an der Nadel hing, hätte er lieber einen Konsumraum genutzt, als die Häuser fremder Leute.Ein solches Angebot wird es in Wien trotzdem noch länger nicht geben. „Das Problem ist zu klein, als dass es einen Schulterschluss der Interessensgruppen gibt“, erklärt Alexander David, Drogenbeauftragter der Stadt Wien. Die Politik müsste zustimmen und die Justiz den Konsumraum gesetzeskonform machen. Außerdem müsste die Polizei ein eigenes Konzept entwerfen, wie mit Suchtkranken im Areal um den Konsumraum umgegangen wird und die Medien müssten diesen Prozess mittragen. Kurzum: Es müsste einen gesellschaftlichen Konsens geben. Der fehlt bisher in Wien: „Am Platzspitz in Zürich lungerten täglich rund 2.000 KonsumentInnen herum, da konnte niemand mehr wegsehen. Am Karlsplatz waren es an warmen Tagen ungefähr 200. Die Konsumräume in der Schweiz und in Deutschland sind aus einer Notoperation am verpfuschten Patienten entstanden, durch jahrelange verfehlte Drogenpolitik. Das gab es in Wien nie“, so David. Die Szene am Karlsplatz, die gibt es auch nicht mehr. Man habe sie aufgelöst, um eine ganz bestimmte Form von offenem Drogenhandel zu unterbinden. Die „Kinder vom Karlsplatz“ seien durch den Ganslwirt und TaBeNo aufgefangen worden.

Die Initiative Drogenkonsumraum teilt diese Meinung nicht: „Wir haben Rückmeldungen von StreetworkerInnen, dass viele Betreuungsverhältnisse zerbrochen sind. Die Szene wurde aus diesem öffentlichen, touristischen Umfeld vertrieben. Die Konsequenzen müssen die KonsumentInnen tragen.“ Auch seien nicht alle Konsumräume aus einer „Notoperation“ heraus entstanden: „Für Zürich mag das stimmen, aber in Ländern wie Kanada und Australien sind die Räume später entstanden und unter anderen Voraussetzungen.“ In einem sind sich David und die Initiative aber einig: Die gesellschaftliche Akzeptanz fehlt – in der öffentlichen Meinung sind KonsumentInnen immer noch kriminell und nicht chronisch krank. „Aber wer, wenn nicht der Drogenbeauftragte sollte Verantwortung übernehmen, diese Meinung zu kippen?“, heißt es seitens der Initiative.

* (Name geändert)

Link: Initiative Drogenkonsumraum Wien: http://i-dk.org

 

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