Warum Angst haben vor dem arabischen revolutionären Geist?

  • 13.07.2012, 18:18

Die Reaktion der westlichen Liberalen auf die Aufstände in Ägypten und Tunesien ist oft scheinheilig und zynisch.

Die Reaktion der westlichen Liberalen auf die Aufstände in Ägypten und Tunesien ist oft scheinheilig und zynisch.

Was einem bei den Aufständen in Tunesien und Ägypten unweigerlich ins Auge springt, ist die auffällige Abwesenheit von muslimischem Fundamentalismus. In bester säkularer demokratischer Tradition rebellierten die Menschen ganz einfach gegen ein repressives Regime, gegen Korruption und Armut und forderten Freiheit und eine Verbesserung ihrer wirtschaftlichen Lage. Die zynische Weisheit westlicher Liberaler, der zufolge in arabischen Ländern nur ein begrenzter Kreis liberaler Eliten wirklich ein Gefühl für Demokratie hat, während die große Mehrheit nur mittels religiösem Fundamentalismus oder Nationalismus mobilisiert werden kann, hat sich als falsch herausgestellt. Die große Frage ist: Was wird als nächstes passieren? Wer wird als der politische Gewinner hervorgehen?
Als in Tunis eine neue provisorische Regierung ernannt wurde, wurden die Islamisten und die radikalere Linke ausgeschlossen. Die Reaktion selbstgefälliger Liberaler war: Gut, das ist ja im Prinzip dasselbe, zwei totalitäre Extreme – aber sind die Dinge wirklich so einfach? Besteht auf lange Sicht die wirkliche Gegnerschaft nicht genau zwischen den Islamisten und der Linken? Auch wenn sie momentan gegen das Regime vereint sind, wenn erst der Sieg naht, zerbricht ihre Einheit, sie treten in einen tödlichen Kampf, oft grausamer als der gegen den gemeinsamen Feind.

Taliban als Klassenkämpfer. Sahen wir nicht genau so einen Kampf nach den letzten Wahlen im Iran? Wofür die hunderttausenden Anhänger Mousavis eintraten, war genau der allgemeine Traum, der die Revolution von Khomeini getragen hatte: Freiheit und Gerechtigkeit. Auch wenn dieser Traum utopisch ist, führte er doch zu einer atemberaubenden Explosion politischer und sozialer Kreativität, organisatorischen Experimenten und Debatten zwischen Studenten und normalen Menschen. Diese genuine Öffnung, die noch nie dagewesene Kräfte für soziale Transformation entfesselte, ein Moment, in dem alles möglich schien, wurde dann allmählich durch die Übernahme der politischen Kontrolle durch das islamistische Establishment erstickt.
Auch im Fall ganz eindeutig fundamentalistischer Bewegungen sollte man die soziale Komponente tunlichst nicht vergessen. Die Taliban werden immer als fundamentalistische islamistische Gruppe dargestellt, die ihre Herrschaft mit Terror durchsetzt. Als sie aber im Frühling 2009 im Swat-Tal in Pakistan das Regiment an sich rissen, berichtete die New York Times, dass sie „einen Aufstand organisiert hatten, der die tiefen Risse zwischen einer kleinen Gruppe von reichen Großgrundbesitzern und deren landlosen Bauern ausgenützt hatte.“ Wenn die Taliban durch ein „Ausnützen“ des Elends der Bauern „die Alarmglocken wegen des Risikos für ein größtenteils noch feudales Pakistan zum Läuten bringen“, wie es die New York Times ausdrückte, was hielt dann die liberalen Demokraten in Pakistan und den USA davon ab, dieses Elend auf ähnliche Weise „auszunützen“ und zu versuchen, den landlosen Bauern zu helfen? Ist es deshalb, weil die feudalen Kräfte die natürlichen Verbündeten der liberalen Demokratie sind?

Opportunist Tony Blair. Daraus muss man unweigerlich den Schluss ziehen, dass in muslimischen Ländern das Anwachsen des radikalen Islamismus immer die andere Seite des Verschwindens der säkularen Linken war. Wenn Afghanistan als das Paradebeispiel eines islamischen fundamentalistischen Landes dargestellt wird, wer erinnert sich noch daran, dass es vor 40 Jahren ein Land mit einer starken säkularen Tradition war, einschließlich einer mächtigen kommunistischen Partei, die dort unabhängig von der Sowjetunion an die Macht gekommen war? Wohin ist diese säkulare Tradition verschwunden?
Man muss die derzeitigen Ereignisse in Tunesien und Ägypten (und Jemen und ... vielleicht, hoffentlich, sogar Saudi-Arabien) unbedingt vor diesem Hintergrund betrachten. Wenn die Situation schließlich so stabilisiert wird, dass das alte Regime mit ein paar liberalen kosmetischen Operationen überlebt, wird dies zu einem unüberwindlichen fundamentalistischen Rückschlag führen. Damit das wichtigste liberale Erbe überlebt, brauchen die Liberalen die brüderliche Hilfe der radikalen Linken. Zurück zu Ägypten: Die schändlichste und eine gefährlich opportunistische Reaktion war die von Tony Blair, wie sie auf CNN berichtet wurde: Veränderung ist notwendig, aber es sollte eine stabile Veränderung sein. Eine stabile Veränderung in Ägypten kann heute nur bedeuten, dass ein Kompromiss mit den Kräften Mubaraks geschlossen wird, indem der Kreis der herrschenden Elite etwas erweitert wird. Deshalb ist über einen friedlichen Übergang zu reden eine Unverschämtheit: Durch die Erdrückung der Opposition hat Mubarak das selbst unmöglich gemacht. Nachdem Mubarak die Armee gegen die Protestierenden schickte, wurden die Möglichkeiten klar. Entweder ein kosmetischer Wechsel mit einigen Veränderungen, aber so, dass alles beim Alten bleibt, oder ein wirklicher Bruch.

Mubarak nach Den Haag. Das ist also die Stunde der Wahrheit: Man kann nicht, wie in Algerien vor zehn Jahren, sagen, dass wirklich freie Wahlen zuzulassen gleichbedeutend sei mit einer Machtübergabe an die muslimischen Fundamentalisten. Eine weitere Sorge der Liberalen ist das Fehlen einer organisierten politischen Kraft, die die Macht übernimmt, sollte Mubarak zurücktreten. Natürlich gibt es keine, dafür hat Mubarak gesorgt, indem er jegliche Opposition zu einem marginalen Ornament machte, so dass das Ergebnis wie der berühmte Roman von Agatha Christie lautet, And Then There Were None [Und dann gab’s keines mehr]. Das Argument für Mubarak – entweder er oder Chaos – ist ein Argument gegen ihn.
Die Scheinheiligkeit der westlichen Liberalen ist atemberaubend: In der Öffentlichkeit unterstützten sie die Demokratie und nun, da die Menschen für säkulare Freiheit und Gerechtigkeit gegen die Tyrannen aufstehen, nicht für Religion, sind alle zutiefst besorgt. Warum Besorgnis und nicht Freude darüber, dass die Freiheit eine Chance erhält? Heute mehr denn je passt Mao Tse Tungs altes Motto: „Unterm Himmel herrscht großes Chaos – die Lage ist ausgezeichnet.“ Wo soll Mubarak also hingehen? Die Antwort ist klar: nach Den Haag. Wenn es einen Staatsführer gibt, der dort hingehört, dann er.

Der Autor ist ein aus Slowenien stammender Philosoph, Kulturkritiker und nichtpraktizierender lacanianischer Psychoanalytiker.
Orginalartikel: "Why fear the Arab revolutionary spirit?"
Übersetzt von Eva-Maria Bach.

AutorInnen: Slavoj Zizek