“Wahrheit” im pandemischen Zeitalter

  • 19.05.2022, 11:52
Über die Stärken und Schwächen der Wissenschaft, die in der Corona-Pandemie offenbar wurde und wie gerade Konflikte dazu beitragen, Vertrauen zurückzugewinnen.

Seit dem Aufkommen von Fridays for Future, spätestens aber seit der globalen Corona-Pandemie, die seit dem Jahr 2020 andauert, ist Diskurs über Wissenschaft aus der öffentlichen Debatte nicht mehr wegzudenken. Kaum mehr ein Talkformat im Fernsehen, dass ohne prominente Forscher_innen auskommt, eine schier endlose Auswahl an wissenschaftlichen Podcasts und Politiker_innen, die sich das Rampenlicht bei Pressekonferenzen mit Virolog*innen teilen. Gleichzeitig sind aber nach Jahrzehnten eines wissenschaftsfreundlichen Klimas, zumindest in Europa, Brüche erkennbar. Wissenschaftliche Faktizität wird offen und laut angezweifelt, Forscher*innen bedroht und eingeschüchtert. So manche_r sieht das postfaktische Zeitalter angebrochen. Coronaleugner_innen-Demos in ganz Europa, Verschwörungstheorien und die Popularität von Politiker_innen wie Donald Trump oder Viktor Orban werden als Beleg dafür gesehen. Offenbart sich eine Krise der Wissenschaft? Was steckt hinter Verschwörung und Verleugnung? 

Am Beginn solcher Reflexe steht eine kognitive Dissonanz. Wissenschaftliche Fakten und unser eigenes Handeln sind nicht immer kongruent. Gerade während der Corona-Pandemie wurde das sichtbar. Als Beispiel: Wir Menschen sind soziale Wesen und haben das Bedürfnis nach sozialen Kontakten, Freund_innen zu umarmen etc. Genau das war aber in Zeiten von hohen Inzidenzen epidemiologisch nicht ratsam. In Bezug auf die Klimakriese verhält es sich ähnlich. Obwohl wir wissen, welche Belastungen Fleischkonsum oder Flugreisen für die Umwelt hat, können sich die meisten nur schwer von diesen Gewohnheiten lösen. Es entsteht also ein unangenehmer Gefühlszustand, ein innerer Konflikt, der für uns Menschen unerträglich ist. Den Konflikt können wir nur lösen, indem wir entweder unser Verhalten ändern oder unsere Einstellungen. Letzteres heißt Probleme zu leugnen, sie auszublenden oder sie kleinzureden: „Corona ist nicht gefährlicher als eine Grippe“ oder „Der Klimawandel ist natürlich und nicht menschengemacht“ heißt es dann. 

Im Echoraum

Wir Menschen sind als soziale Wesen noch dazu ständig auf der Suche nach Bestätigung. Deswegen tendieren wir dazu, nach Informationen zu suchen, die unseren eigenen Überzeugungen, Wertvorstellungen und Meinungen entsprechen. Big Data führt uns zielgenau in die auf unsere Einstellung zugeschnittene Bubbel. Genau das kann Wissenschaft nicht. Wissenschaft liefert keine Bestätigung, sondern stellt Behauptungen auf, die bis zum nachvollziehbaren Widerspruch Gültigkeit haben. Um diesen Prozess des Erkenntnisgewinns zu organisieren, wurden Praktiken, Mechanismen, Strukturen und Institutionen geschaffen, die sich an gesellschaftlich ausverhandelten Werten wie Überprüfbarkeit, Transparenz, Redlichkeit oder Verlässlichkeit orientieren. Was aber, wenn ein Teil der Gesellschaft die Strukturen, innerhalb derer Wissensproduktion stattfindet ablehnt? Wie umgehen mit einem Milieu, das den wissenschaftlichen Betrieb als „Herrschaftsform“ ansieht und alles ablehnt was eine Autorität sein möchte? Wie konnte es dazu kommen und was, wenn dieses Milieu nicht homogen ist, sondern sich quer durch alle sozialen Schichten und Bildungsniveaus erstreckt?  Bei den Demonstrationen von Coronaleugner_innen und Impfgegner_innen wurde dieses breite gesellschaftliche Spektrum, vom rechtsradikalen bis hin zum öko-alternativen Milieu, sichtbar. Für diese Gruppe ist die Pandemie maximal noch Initialzündung, um ihrer Wut Ausdruck zu verleihen.  

Die Kritik frisst ihre Kinder

Mit der Kritischen Theorie der Frankfurter Schule gab es in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts einen wissenschaftstheoretischen Ansatz, welcher der Wissenschaft die Kritik an der Gesellschaft als Hauptaufgabe zuweist. Damit wurde auch ein Instrument der Kritik an bürgerlicher Wissenschaft und ihrer Begriffe von Objektivität entwickelt: Kritische Theorie als ein weiterer Selbstregulierungsmechanismus des Wissenschaftsbetrieb. Als die Kritische Theorie von der 68er-Bewegung erneut aufgegriffen und rezipiert wurde, wurde sie auch auf einer breiteren, gesellschaftlichen Ebene relevant. Eine vernünftige, aufgeklärte Gesellschaft aus mündigen Menschen war das Ziel. Notwendig dafür waren das Hinterfragen von Ideologien und die Aufdeckung von Herrschafts- und Unterdrückungsmechanismen der bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaft: Wer sagt und macht was aus welchem Interesse? Die Dekonstruktion gesellschaftlicher, politischer und kultureller Praxis war die Folge. 

Kritische Theorie, Ideologiekritik, Science Studies, all das führte zu der Erkenntnis, dass es so etwas wie einen unvermittelten, unvoreingenommenen Zugang zur Wahrheit nicht gibt. Erkenntnisse sind nie rein objektiv, sondern gehen aus einem historisch-sozialen Kontext hervor. Wir Menschen sind immer Gefangene der Sprache und sprechen immer von einem bestimmten Standpunkt aus. Wissenschaftliche Wahrheit ist demnach sozial konstruiert. Paradoxerweise wird genau dieses Argument nun vom Milieu der Verschwörungstheoretiker*innen aufgegriffen. Sie verwehren sich gegen alles was eine Autorität darstellt, also auch gegen eine unkritische Wissenschaftsgläubigkeit, welche die Gesellschaft in ihren Augen kontrollieren und disziplinieren möchte. 

Raus aus den Kritikschleifen? 

Der Philosoph und Soziologe Bruno Latour warf schon 2004 in seinem Aufsatz „Why has Critique run out of Steam?” die Frage auf, ob Gefahr heute nicht mehr von ideologischen Argumenten drohe, sondern vielmehr von einem „exzessivem Misstrauen“ gegenüber Tatsachen, die zu Unrecht für ideologische Argumente gehalten werden. Müssen wir also nun „das Schwert der Kritik gegen die Kritik selbst richten?“ Müssen wir, nachdem wir jahrelang versucht haben die wirklichen Befangenheiten aufzudecken, die sich hinter der Anwendung von objektiven Aussagen stecken, die unbestreitbaren Fakten aufdecken, die sich hinter der Anwendung von Vorurteilen verstecken? 

Konkret geht Latour hier auf die Debatte über die Erderhitzung ein. Reaktionäre Kräfte, Extremisten und Industrien haben in der Vergangenheit auch hier das Argument der sozialen Konstruktion von Fakten über die Klimakatastrophe bemüht, „um mühsam gewonnene Beweise zu zerstören, die unser Leben retten könnten“. So etwa der republikanische Stratege Frank Luntz, der seiner Partei geraten hat, den überwiegenden wissenschaftlichen Konsens zum menschengemachten Klimawandel in Frage zu stellen und das Fehlen von letztgültiger wissenschaftlicher Sicherheit hervorzuheben. Auch während der Covid-19 Pandemie können wir dieses Argumentationsmuster beobachten. Dazu kommt, dass wissenschaftliche Evidenz und deren Leugnung medial als gleichberechtigt dargestellt werden – eben als Meinung und als Gegenmeinung. „False Balance“ ist der medienwissenschaftliche Fachausdruck hierfür. Werden Fakten so einfach nur ein weiteres Narrativ, dass man glauben kann, oder eben nicht? 

Verschwörungstheorie als Wissenschaftskritik? 

Die prinzipielle Unterstellung von verborgenen Interessen und Agenden stellt bei oberflächlicher Betrachtung sowohl für die Ideologiekritik als auch für Verschwörungstheorien einen Ausgangspunkt dar: Es gilt anerkanntes Wissen zu hinterfragen. Der entscheidende Unterschied dabei ist jedoch, dass Verschwörungstheorien keine wissenschaftlichen Analysen von komplexen Zusammenhängen darstellen, sondern viel mehr Erzählungen sind, die hintersinnige aber doch recht simple Antworten auf die Unübersichtlichkeit der Welt bieten. Die Q-Anon Verschwörungstheorie basiert im Grunde auf einem kollektiven Schreibexperiment, dass rassistische und antisemitische Positionen spielerisch hervorbringt. Schuldige sind hier schnell gefunden: Hillary Clinton, George Soros, Bill Gates oder der Deep State.

Immer wieder konnte auch gezeigt werden, dass Verschwörungstheorien nicht über unmittelbare Indoktrination funktionieren, sondern über „suggestive Fährten“ entstehen, die dazu ermutigen, klassischen Vorurteilen entsprechende Ergebnisse „selbstständig“ aufzuspüren.  Diese Erzählungen bieten emotionale Entlastung, da man so den Befunden der Wissenschaft nicht mehr hilflos ausgeliefert ist. Das ermöglicht auch den Wechsel „vom passiven Opferstatus in das wesentlich attraktivere Selbstbild des aktiven Rebellentums“ wie Thomas Edlinger in seinem Aufsatz „Die Verkehrung der Widerstände – Zero Covid. Querfront-Demos und das neue dunkle Zeitalter“ schreibt. Die Pose des Rebellentums kann dabei auch ganz oben eingenommen werden – man denkt hierzulande an Herbert Kickls Auftritte bei Coronaleugner*innen-Demos oder an Donald Trump. 

Die Kunst der Konspiration

Problematisch in der Bewertung von Informationen ist, dass es auch tatsächliche Verschwörungen gibt. Die Existenz von Schattennetzwerken, geheimen Absprachen und mafiösen Verbindungen ist politische Realität. Der US-amerikanische Künstler Mark Lombardi hat mit seinen Soziogrammen komplexe Machtstrukturen, politische Skandale und Netzwerke ästhetisch aufbereitet. Dabei handelt es sich keineswegs um Verschwörungstheorien, sondern um akribisch recherchierte, belegbare Sachverhalte. In Lombardis Bildern wurden etwa die ökonomischen Verstrickungen der Familien Bush und Bin-Laden schon vor dem 11.September 2001 dargestellt. Mit voranschreitender Bekanntheit seiner Werke wurde Lombardi bis zu seinem Selbstmord im Jahr 2000 vom FBI überwacht. 

Lombardis Werke machen aber eines deutlich: Im Unterschied zur imaginierten Verschwörungstheorie sind reale Verschwörungen in ihren Zielen und in den einbezogenen Akteursgruppen begrenzt. Sie lassen sich im Gegensatz zur „Weltverschwörung“ nachweisen, darstellen, belegen und benennen. 

Die Verteidigung der Wissenschaft 

Die Covid-19 Pandemie hat auch gezeigt, dass eine wissenschaftliche Debatte keine politische Debatte ersetzt. Fakten sprechen nicht für sich allein. Die Vorstellung von harten, objektiven Fakten schränkt den Blick auf den eigentlichen Prozess der Wissenschaftsproduktion ein. Die Geschichte aller Wissenschaften war immer auch eine Geschichte von Irrtümern. Genau dieses Verständnis wäre ein Schlüssel, um die Position der Wissenschaft in der Öffentlichkeit zu verteidigen. Es reicht in der öffentlichen Debatte nicht aus, bloß auf die Wissenschaftlichkeit von Fakten zu bestehen, oder auf den von gegenseitiger Überprüfung und Kritik strukturierten Forschungsprozess. Die transparente Darstellung von Wissenschaft als unsicheren, kontroversen „Trial-and-Error Prozess“ als „Science in Action“, wie es Bruno Latour fordert, ist eine Möglichkeit, Vertrauen zurückzugewinnen, auch wenn damit das Risiko einhergeht, dass Konflikte und Irrtümer explizit werden.

AutorInnen: Sebastian Hafner