Juni 2016

Dwarf Fortress trifft Firefly

  • 18.06.2016, 15:15
Der vom Kultspiel Dwarf Fortress inspirierte Builder Rimworld überträgt Spieler*innen die Aufsicht über eine kleine Weltraumkolonie in einer atmosphärischen Sci-Fi-Western-Welt.

Der vom Kultspiel Dwarf Fortress inspirierte Builder Rimworld überträgt Spieler*innen die Aufsicht über eine kleine Weltraumkolonie in einer atmosphärischen Sci-Fi-Western-Welt. Es gilt, eine Gruppe Gestrandeter dabei zu unterstützen, in einer feindlichen Umgebung eine florierende Kolonie aufzubauen. Aus wenigen Anfangsmaterialien müssen die Bewohner*innen eine Basis errichten, Nahrungsmittel beschaffen und sich gegen wilde Tiere und feindliche Nachbar*innen verteidigen. Die an die Fernsehserie Firefly angelehnte Ästhetik von Rimworld kann mit wechselnden Wetterbedingungen und einem Tag-Nacht-Wechsel aufwarten, die sich auf das Spielgeschehen auswirken. Ein Gewitter kann schon einmal einen Kurzschluss auslösen und die Stromversorgung lahmlegen, und in heißen Umgebungen macht die Hitze den Kolonist*innen zu schaffen. Verschiedene Tiere können gejagt oder gezähmt werden.

Aber nicht nur die Umgebung ist detailliert simuliert, jeder Charakter weist ein individuelles Set von Eigenschaften auf. Darunter fallen nicht nur die verschiedenen Talente und Fähigkeiten, sondern auch Charakterzüge, Krankheiten und Verletzungen. So kann eine Bewohnerin beispielsweise eine talentierte Technikerin sein, aber durch eine Rückenverletzung in ihrer Beweglichkeit eingeschränkt werden. Obwohl sich das Spiel erst in einer späten Alpha befindet, gibt es bereits eine aktive Modding-Community. Das kleine kanadische Ludeon Studio weiß um die Wichtigkeit von Mod-Unterstützung, die einem Projekt dieser Art Leben einhaucht.

Rimworld ist eine Sandbox, die der Kreativität und Fantasie der Spieler*innen bedarf. Mithilfe der Mods ist es möglich, das Spiel schwieriger zu machen, neue Gegenstände und Akteur*innen in die Welt einzuführen und sogar neue Spielmechaniken zu implementieren. Jede neue Alpha integriert neue Features in das schon jetzt abwechslungsreiche Spiel. Bei der gerade erschienenen Alpha 13 wurde etwa die Simulation der sozialen Beziehungen unter den Kolonist*innen vertieft, ein Permadeath-Modus eingeführt, der das Laden eines früheren Spielstands verunmöglicht, und eine Vielzahl neuer Tiere und Insekten bevölkern die detaillierte Welt, in der sich ein Besuch für Freund*innen des Genres auf jeden Fall lohnt.

Ludeon Studio: Rimworld
Einzelspieler*innen,
Windows, Mac und Linux ab 30 Dollar

Simon Sailer studierte Philosophie an der Uni Wien sowie Art & Science an der Universität für angewandte Kunst.

50 Cats, 1 App

  • 18.06.2016, 15:06
Das Spiel Neko Atsume, was übersetzt in etwa Hinterhofkatze heißt, gibt es schon längere Zeit für den japanischen Markt und wurde vor einiger Zeit auch auf Englisch veröffentlicht.

Das Spiel Neko Atsume, was übersetzt in etwa Hinterhofkatze heißt, gibt es schon längere Zeit für den japanischen Markt und wurde vor einiger Zeit auch auf Englisch veröffentlicht. Auf den ersten Blick ist es das langweiligste Spiel der Welt: Man sieht auf dem Screen einen wirklich schlecht gezeichneten Hinterhof, wie mit Paint erstellt, und hat nur eine Möglichkeit, das Spiel zu beginnen: Essen und Spielzeug für Katzen kaufen, die dadurch angelockt werden. Danach heißt es: Warten. Auch mich hat das Spieldesign zuerst sehr unterfordert. Ich dachte einen halben Tag lang, dass ich vielleicht das falsche Spiel runtergeladen hatte und nicht jenes, von dem all meine Freund*innen so schwärmen. Doch dann – endlich – kam nach dem dritten oder vierten Mal Schließen und Öffnen der App die erste Katze und spielte mit einem Wollknäuel. Es ist sehr schwer nachzuvollziehen, aber mein Herz hat einen kleinen Sprung gemacht. „Snowball“ spielte so verzückt mit der Wolle, lehnte sich nach links und nach rechts, sah so unglaublich putzig dabei aus und hatte noch dazu den Namen von Lisa Simpsons Katze. Ich war bis über beide Ohren verliebt.

Und so kamen nach und nach immer mehr Katzen und spielten mit den Dingen, die ich im Shop erstand. Nach dem Spielen hinterließen sie mir Silber- oder gar Goldfische zum Dank, von denen ich dann wieder Futter und neue Spielsachen kaufen konnte. So geht es seitdem tagein tagaus. Das Ziel des Spiels ist es, ähnlich einem Panini-Album, alle Katzen der Nachbarschaft zu Gast gehabt zu haben und von ihnen ein Foto zu machen. Bedauerlicherweise kann man mit den Katzen nicht interagieren. Zu Beginn versuchte ich, die Katzen durch Anklicken zu streicheln, landete jedoch nur immer wieder auf den Profilseiten der Katzen. Besonders meine Cousine (4) findet das Fehlen dieser Funktion extrem frustrierend. Dennoch erklärte sie mir, dass man in einem Hinterhof eben vorsichtig mit Katzen umgehen müsse, denn meistens würden sie lieber wegrennen als sich streicheln zu lassen. Und dass man mit Katzen sehr viel Geduld brauche. Sie hat das Spiel schneller verstanden als ich.

Neko Atsume
Gratis, für Android und iOS

Katja Krüger-Schöller studiert Gender Studies an der Uni Wien.

Dünne Dialoge

  • 18.06.2016, 13:54
OMG, eine Graphic Novel aus dem deutschsprachigen Raum zu Transition!

OMG eine Graphic Novel aus dem deutschsprachigen Raum zu Transition! Die deutsche Illustratorin Sarah Barczyk erhielt 2014 das Egmont-Comic-Stipendium und zeichnete die Geschichte von Kai, der trans ist. Ganz ohne Probleme kommt die Geschichte aber nicht aus: Kais Eltern sind vorerst uneinsichtig und dann verliert er auch noch eine Freundin. Trotz Kais Unbeirrtheit, sind es die Momente des Zweifels, die den Charakter erst persönlich machen: der ersten Besuch beim Therapeuten („Aber was, wenn er sagt, ich sei psychisch krank“), der eigenen dicken Körper („Warum sind die ganzen Transmänner immer sportlich oder schlank?“), die Wahl der passenden Umkleide („Mh. Umkleide…Oje, da hab ich noch gar nicht dran gedacht.“).

Leider ist das aber schon alles, was den_die Leser_in am Charakter fesselt. Die abgehackten Dialoge wirken eher wie schlechte Übersetzungen, denn wie authentische Gespräche. Auch inhaltlich stellt sich bald heraus, dass ein kritischer Ansatz mit Geschlecht umzugehen keine Rolle in „Nenn mich Kai“ spielt. Was für Kai zählt, ist so gut wie möglich als „echter“ Kerl durchzugehen. Da gehört auch das richtige Bro-Verhalten in Männergruppen und Mackertum (gegenüber Frauen_) dazu. Und wer weiß besser wie das funktioniert als Kais Freund, der Cis-Mann Marko. Er zeigt Kai wie Mann-Sein geht: „Du gehst viel zu feminin. So geht das! Schön O-Beine machen und locker schwingen!“ Ähm, ok?

Im Vordergrund der Graphic Novel steht das Bedürfnis einen programmatisch-geraden Weg darzustellen dessen Anfang in Barczyks Zeichnungen symbolisch platt im Flowerfresh-Deo-noch-sanfter liegt und mit einem 48-Men-Power-Deo endet. So klar wie die Geschlechterrollen in „Nenn mich Kai“ verteilt sind, so geradlinig ist auch Barczyks Zeichenstil in Schwarz-Weiß: Für Schattierungen, Grautöne und das Dunkel der Tiefen bleibt wenig bis kein Platz. Im Missy Magazin-Interview erklärt Barczyk ihre Zielgruppe seien eher unwissende Cis-Personen, wie sie bis vor Kurzem selbst eine war. Was als eine noble Idee daherkommt, ist in der Ausführung leider nur ein oberflächlicher Cis-Blick auf Transition und Geschlechterstereotypen geworden. Das Stipendium zu dem Thema wäre bei einer Trans-Person wohl besser aufgehoben gewesen.

Marlene Brüggemann studiert Philosophie an der Universität Wien.

 

Sarah Barczyk: Nenn mich Kai
Egmont Graphic Novel
80 Seiten
15,50 Euro

Marlene Brüggemann studiert Philosophie an der Universität Wien.

Haarige Welten

  • 16.06.2016, 20:23
Die tschechischen Spieleentwickler_ innen Amanita Designs haben sich, was die Gestaltung des Computerspiels Samorost 3 angeht, viel angetan.

Die tschechischen Spieleentwickler_ innen Amanita Designs haben sich, was die Gestaltung des Computerspiels Samorost 3 angeht, viel angetan. Die eigenwillige Computerspielkreation legt ihren Schwerpunkt nicht auf die spieltechnische Herausforderung, sondern konzentriert sich auf das ästhetische Empfinden der Spieler_innen. Gefordert sind vor allem Augen und Ohren. Als weißer Gnom in einem reinweißen Ganzkörperanzug mit Zipfelmütze bewegt eins sich v ia Point-and-Click durch neun haarige, hölzerne, steinige oder bewaldete Welten: Planeten und Asteroiden, die von magischen Klängen bewohnt sind. Mittels einer Flöte interagiert der Gnom mit seiner Umwelt.

Die perfekte Gestaltung der Welten stellt auch die Herausforderung von Samorost 3 dar. Vom Bau eines primitiven Raumschiffs bis hin zur Vernichtung des Endgegners; die Struktur der Welten gibt selten einen Hinweis darauf, wo die Lösung der Rätsel liegt. Die vorherrschende Methode, um in Samorost 3 voranzukommen, ist Trial-and-Error. Selbst nachdem ein Rätsel gelöst wurde, ist nicht immer ganz klar, wie es dazu kam. Die Extra-Achievements lassen ebenfalls zu wünschen übrig: Meist lassen sie sich nur durch zufälliges Anklicken von irgendwelchen Gegenständen oder Tieren freischalten. Da Samorost 3 vollkommen auf die sprachliche Ebene verzichtet, sind die meisten Probleme im besten Fall bildlich dargestellt. Sonst zieht sich ein roter Faden durch das Spiel: Die Findung des Problems ist Teil des Rätsels. Deeep!

Das ist jedoch auch das große Manko von Samorost 3. Trotz der wunderschönen Welten wird die Spielfreude durch ein langsames Tempo und unnachvollziehbare, teilweise sogar frustrierende Spielerfahrung getrübt. Ungeduldige Spieler_innen werden, obwohl Samorost 3 ein kurzes Spiel ist, nicht ohne einen Blick in die Komplettlösung auskommen. Die Stärke von Samorost 3 liegt in der Wirkung von lebendigen Bildern, die von seltsamen Klarinettentönen begleitet werden. Anders als in herkömmlichen Spielen, stellt die Vernichtung des Endgegners, eines Mönchs mit schwarzer Rüsselnase, nicht den Höhepunkt dar, sondern ist ein Moment des Zurücklehnens. Wem das reicht, hat mit Samorost 3 eine Freude. An alle anderen: meh!

Amanita Designs: Samorost 3
Einzelspieler_in für Mac und Windows
19,99 Euro

Marlene Brüggemann studiert Philosophie an der Universität Wien.

Achterbahn, Autodrom, Praterdome

  • 16.06.2016, 20:15
Die Geschichte des Wiener Praters ist zunächst eine Geschichte der Stadt selbst.

Die Geschichte des Wiener Praters ist zunächst eine Geschichte der Stadt selbst. Seit 250 Jahren ist dieser besondere Ort der Öffentlichkeit frei zugänglich. Zum Jahrestag widmet ihm das Wien Museum eine sorgfältig kuratierte Ausstellung, der man ruhigen Gewissens einen sommerlichen Regentag opfern kann. Ab 7. April 1766 gestattete Joseph II. das Betreten des Prater-Waldes mitsamt seiner Alleen, Wiesen und Plätze. War das Gebiet bislang adeligen Jagdgesellschaften vorbehalten, sollten sich dort nun alle Bürger*innen aufhalten dürfen, um „spazieren zu gehen, zu reiten, und zu fahren“ oder „sich daselbst mit Ballonschlagen, Keglscheibn, und andern erlaubten Unterhaltungen eigenen Gefallens zu divertieren“.

In den folgenden Jahrzehnten etablierte sich der Prater schnell als bedeutender kultureller Umschlagplatz. Gastronomie, Sexarbeit und Feuerwerk lockten jede Woche tausende Menschen aller sozialen Klassen an und bildeten die Grundlage für den „Wurstelprater“, wie der Vergnügungspark im Nordwesten Wiens später genannt werden sollte. Am Beispiel Prater zeigt sich deutlich, dass Unterhaltung von Politik schwer zu trennen ist. Er war nicht nur Schauplatz kriegerischer Auseinandersetzungen, der Revolution von 1848 und der Weltausstellung 1873 – ein patriotisches Spektakel, wofür das Gelände umfassend bebaut wurde –, die Schaubuden dieser Zeit waren zudem geprägt von gängigen kolonialistischen und rassistischen Vorstellungen sowie der Zurschaustellung von Menschen, deren Körper nicht der gesellschaftlichen Norm entsprachen. Das Wien Museum versucht sich in seiner Jubiläumsausstellung an einer kritischen Aufarbeitung, schafft es aber nicht ganz, einen übergeordneten Bogen zu spannen und Kontinuitäten darzustellen. So findet sich dann auch wenig über die Zeit des Faschismus, was angesichts der Fülle an Material zu anderen Zeitabschnitten verwundert.

Dennoch vermittelt die Ausstellung ein vielschichtiges Bild des vielleicht schönsten Ortes in Wien, der wie kein anderer Extreme in sich vereint. Einst Treffpunkt der Elite, wurde der Prater im Laufe der Zeit immer mehr zu einem Platz für die Ausgestoßenen. Menschen an den Rand der Gesellschaft zu drängen, das heißt, ihnen auf der Straße oder im Park wieder zu begegnen.

„In den Prater! Wiener Vergnügungen seit 1766“
Kuratorin: Ursula Storch
Wien Museum Karlsplatz
Bis 21. August 2016

David Ring studiert Soziologie an der Universität Wien.

Messerscharfe Nippel

  • 16.06.2016, 20:11
1978, Kunsthalle Düsseldorf: Eine hochschwangere Braut im weißen Kleid mit Schleier, Schnullermaske und Schnullerhaube sammelt Spenden für die Reliquie des Heiligen Erectus.

1978, Kunsthalle Düsseldorf: Eine hochschwangere Braut im weißen Kleid mit Schleier, Schnullermaske und Schnullerhaube sammelt Spenden für die Reliquie des Heiligen Erectus. Der Klingelbeutel hat die Form eines Riesenkondoms. Wird das Geld verweigert, ertönt Babygeschrei, das erst durch eine Spende wieder zum Verstummen gebracht werden kann. Auch in Wien lässt sich die gruselige Braut im selben Jahr blicken – hier allerdings im Rollstuhl, in der Galerie Modern Art. Die Düsseldorfer Aktion führte dazu, dass die Künstlerin, Renate Bertlmann, von den folgenden Stationen der Ausstellung in Eindhoven und Paris wieder ausgeladen wurde. Die Videodokumentation der Wiener Performance ist nun in der Vertikalen Galerie der Sammlung VERBUND zu sehen.

Anhand von zahlreichen Werken aus den 1970er- und ’80er Jahren wird Bertlmanns konsequent-ambivalente Auseinandersetzung mit Materialien, Formen und Themen hier wohltuend un-didaktisch präsentiert. In ihren Zeichnungen, Fotografien, Objekten und Installationen ragen Messerspitzen aus Nippeln, enden Fingerkuppen in Schnullern, hängen Latex-Nabelschnüre an einer Wäscheleine, und Kondome – inszeniert als Brüste – liebkosen einander. AMO ERGO SUM – Ich liebe, also bin ich – lautet Bertlmanns Motto seit den 1970er-Jahren, das nun auch Titel der Einzelschau der 1943 in Wien geborenen Künstlerin ist. Der Untertitel, „Ein subversives Politprogramm“, scheint sarkastisch auf ihren Austragungsort anzuspielen – ist doch die Firmenspitze des Stromunternehmens ausschließlich mit Männern besetzt. Dass sich ausgerechnet die Sammlung VERBUND der Aufarbeitung der „feministischen Avantgarde“ verschrieben hat, ist ebenso bemerkenswert wie ironisch. Und in diesem Fall äußerst treffend – teilt Renate Bertlmann doch ihr Gesamtwerk in die drei Bereiche Pornografie – Ironie – Utopie. Gleichzeitig verdeutlicht eben diese Diskrepanz, dass Bertlmanns Arbeiten drei Jahrzehnte nach Produktion immer noch aktuell sind. Nichtsdestotrotz weht durch die acht Stöcke der Vertikalen Galerie ein leichter Wind der Vergangenheit – ein Blick in das gegenwärtige Schaffen der Künstlerin wäre wünschenswert gewesen.

„Renate Bertlmann. AMO ERGO SUM. Ein subversives Politprogramm“
Kuratorin: Gabriele Schor
Vertikale Galerie in der VERBUND Zentrale, Wien
Bis 30. Juni 2016

Flora Schausberger studiert Critical Studies an der Akademie der bildenden Künste Wien.

Geschichte ist Geschichte?

  • 16.06.2016, 20:04
Momentan beherbergt das Volkskunde Museum eine Ausstellung über einen Teil der österreichischen Geschichte, der etwa so bekannt ist wie das Museum selbst

Momentan beherbergt das Volkskunde Museum eine Ausstellung über einen Teil der österreichischen Geschichte, der etwa so bekannt ist wie das Museum selbst: Es geht um das Leben jener Schwarzer ÖsterreicherInnen, die in der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg als Kinder von afroamerikanischen Besatzungssoldaten und österreichischen Frauen zur Welt kamen. Die meisten von ihnen wissen bis heute wenig über ihre Eltern, da sie früh von ihnen getrennt, nach Amerika geschickt oder in Heimen untergebracht wurden. Ihre Geschichten werden in einem minimalistischen Ausstellungsdesign gezeigt, das den Blick auf das Wesentliche zulässt. In Videos wird von ihrem Leben erzählt, teils von den Personen selbst, teils von SchauspielerInnen. Dabei geht es zentral um Themen wie Zugehörigkeitsgefühl und Rassismus. Die persönlichen Erzählungen machen greifbar, wie alleine diese Kinder mit Problemen gelassen wurden, die bis heute bestehen. Gerade das zeigt die Notwendigkeit, Rassismus kontinuierlich zu thematisieren. Bereits durch dessen Thematisierung wird eine Basis geschaffen, die es erlaubt, sich reflexiv damit auseinanderzusetzen. Immer wieder macht sich im Alltag eine große Verlegenheit bemerkbar, Schwarz- und weiß-Sein offen anzusprechen.

Eine Tabuisierung erzeugt jedoch Angst und macht das Problem erst recht unlösbar. Die persönlichen Geschichten von Schwarzen ÖsterreicherInnen zu zeigen, schafft einen gelungenen Zugang, klingen diese doch – abgesehen von rassistischen Erfahrungen – genauso wie die Geschichte einer jeden anderen österreichischen Person. Die Biographien sind verschieden und ganz normal, man findet sich in Erzählungen wieder. Damit wird deutlich, dass Unterschiede nur in unseren Köpfen bestehen und von da aus bedeutsam werden. Geschilderte Erfahrungen mit Rassismus stoßen bei mir auf bloße Verwunderung und machen mich ärgerlich – damit haben die Kuratoren wohl etwas Entscheidendes geschafft: das Thema emotional spürbar zu machen. Und wenn es ihnen gelingt, den einen oder die andere nachdenklich zu machen, können wenigstens diese Menschen etwas verändern. Die Ausstellung regt zu einem offenen Diskurs an, der mir im Hinblick auf die Thematik am Wichtigsten erscheint.

„SchwarzÖsterreich. Die Kinder afroamerikanischer Besatzungssoldaten“
Kuratoren: Tal Adler, Philipp Rohrbach und Nico Wahl
Volkskundemuseum
Bis 21. August 2016

Laura Porak studiert Soziologie und Volkswirtschaftslehre.

„Die Angst konnte sich nicht in mein Leben schleichen.“

  • 16.06.2016, 19:59
Der Hamburger Unternehmer und ehemalige Piraten-Politiker Claudius Holler wurde durch ein YouTube-Video bekannt, in dem er um Hilfe bat: Diagnose Hodenkrebs, ohne Krankenversicherung, aber mit Schulden. Wir haben bei einem seiner Vorträge zum Thema „Unversichert“ in Berlin mit ihm gesprochen.

Der Hamburger Unternehmer und ehemalige Piraten-Politiker Claudius Holler wurde durch ein YouTube-Video bekannt, in dem er um Hilfe bat: Diagnose Hodenkrebs, ohne Krankenversicherung, aber mit Schulden. Wir haben bei einem seiner Vorträge zum Thema „Unversichert“ in Berlin mit ihm gesprochen.

progress: Du hast eine krasse Zeit hinter dir.
Claudius Holler: Ich habe mich knapp eineinhalb Jahre durch ein tiefes Tal gemüht, um kurz vorm Anstieg noch mal richtig auf die Nase zu bekommen. Mein Leben war zuletzt wirklich kräftezehrend und entmutigend, schließlich schien es jedoch wieder bergauf zu gehen. Dann drängelte sich auf einmal der Krebs in mein Leben.

Was war vorher los?
Mein Bruder und ich haben 2010 aus unserer Werbeagentur heraus ein eigenes Produkt herausgebracht: 1337Mate. Das wurde mehr und mehr zu unserem Hauptprojekt, weil uns die Arbeit daran endlich wieder erfüllte und Spaß machte. Es lief gut und immer besser. Alles sprach dafür, dass wir langfristig davon leben und dabei sozial wirtschaften könnten. Leider ging völlig unerwartet mitten in der Produktion unser beauftragter Abfüllbetrieb insolvent. Wir reden, vorsichtig geschätzt, von einer sechsstelligen Summe, die wir dabei verloren haben. Geholfen hat uns da niemand, als Start-up stehst du bei sowas oft ganz allein im Regen.

Du hast dich entschieden, deine wirtschaftlichen Probleme und deine Erkrankung öffentlich zu machen. Warum?
Ich fühlte mich hoffnungslos ausgeliefert und sah meine eh schon ramponierte Existenz zerschellen. Krankheiten im Allgemeinen, Krebs im Besonderen, kommen zeitlich immer ungelegen. Ich war zudem auch noch unversichert. Natürlich war allein die Diagnose schon ein krasser Schock, auf Krebs ist kein Mensch vorbereitet. Die Aufnahme des Videos war eine Kurzschlussreaktion. Ich war mir nicht sicher, ob ich das wirklich veröffentlichen würde. Am nächsten Tag ging ich all-in, ich hatte eh nichts mehr zu verlieren.

Welche konkreten Folgen hatte die Videoaktion für dich?
Die spürbarste Folge war eine komplette Woche im Paralleluniversum. Ich konnte das Ganze nur von außen betrachten, obwohl ich ja Protagonist war. Klar, ich kenne mich ein bisschen in diesem Internet aus und bin ein wenig vernetzt. Das, was direkt nach der Veröffentlichung passierte, hat mich aber komplett überrollt. Tausende kommunizierten mit mir, bedachten mich mit lieben Worten, Genesungswünschen und ließen mich an ihren Geschichten teilhaben. Dazu kam ein multimediales Echo über alle Kanäle hinweg. Am ersten Tag ohne Kamerateam um mich herum war ich erstmal verwirrt. Ganz ehrlich, das war bis zur Operation die bestmögliche Ablenkung. Die Angst konnte sich nicht in mein Leben schleichen.

Wie kommt es, dass in einem Land mit einem sehr guten Gesundheitssystem Leute einfach durch das Raster fallen?
Irgendwann bemerkte die Bundesregierung, dass hunderttausende Menschen ohne Versicherungsschutz sind und suchte nach Abhilfe. Die Lösung durfte aber nichts kosten. Die Versicherungspflicht nahm den Staat dann aus der Verantwortung, jetzt konnte ja keine Person mehr unversichert sein, denn es war verboten. Leider wurde ignoriert, dass Menschen nicht deswegen unversichert sind, weil sie das so lässig finden oder sich bereichern wollen, sondern weil es ihnen schlicht am Geld dafür fehlt. Hast du wenig Geld, ist dein Beitrag im Verhältnis dazu unanständig hoch, weil die prozentualen Beiträge nach unten hin gedeckelt sind. Die politische Lösung hat also vornehmlich eine Schuldenfalle aufgestellt, bei der schnell fünfstellige Summen aufgehäuft werden und zwar bei denen, die eh schon knapp bei Kasse sind.

Also ein kalkulierter Systemfehler?
Dass der kalkuliert ist, will ich nicht mal unterstellen. Aber es ist dreist, dass mit Hilfe der Ich-AG eine politisch gewollte Form der Selbstständigkeit zur Schönung von Arbeitslosenstatistiken dient, die Risiken aber gänzlich auf ein wachsendes Selbstständigen- Prekariat abgewälzt werden. Auch der Trend zum erzwungenen Subunternehmertum, weil Arbeitgeber_innen Festanstellungen umgehen wollen, verstärkt diese Entwicklung. Die nötige Absicherung für schlechte Zeiten und Gesundheitskosten, die sich am realen Einkommen bemessen, fehlen leider. Auch dass Menschen ohne Papiere in der Not keinerlei Hilfe bekämen, ist beschämend für ein so reiches Land wie Deutschland. Mittlerweile gibt es spendenfinanzierte Kliniken, wie die Praxis ohne Grenzen, die explizit für die Versorgung dieser Gruppe gegründet wurden. Die zeigen sich erstaunt, wie viele ihrer Patient_innen Selbstständige sind.

Kommst du mit den vielen traurigen Geschichten klar, die du nun sicher hörst?
Das tue ich, aber mich erschreckt, wie wenig ich ein Einzelschicksal bin. Es ist unwürdig für dieses reiche Land, wie viele Menschen keine ausreichende Krankenversicherung, aber horrende Schulden ans Gesundheitssystem haben. Die Krankheitsgeschichten, einige wesentlich dramatischer als meine, sind derart gebündelt natürlich hart, andererseits war da auch ganz viel Mut und Stärke herauszulesen. Ich kenne mittlerweile über fünfzig Menschen, die auch keine zwei Hoden mehr haben, sogar aus meinem Bekanntenkreis, die bisher nie davon erzählt hatten.

Du konntest dir von den Spenden eine Hodenoperation „leisten“. Hast du jetzt auch genug für die Nachsorge und eine Versicherung?
Ja. Also ich weiß noch nicht, was in diesem Sommer auf mich zukommt. Ein Lymphknoten in der Bauchgegend ist noch kritisch zu beobachten und könnte mit Pech noch mindestens eine Operation oder sogar eine Chemotherapie nach sich ziehen. In jedem Fall bin ich jetzt wieder versichert und wäre dafür gewappnet.

Wie fühlt es sich an, wenn deine Eier plötzlich Schlagzeilen schreiben?
Ich twitterte irgendwann irritiert „Liebes 13-jähriges Ich, das da zwischen deinen Beinen wirst du dereinst vor tausenden Menschen kommunizieren. Und das ist voll okay“. Dann wissen halt fünf Prozent der Menschen in Deutschland von deiner Weichteil- Flickschusterei. Auch das ist okay. Die Reaktionen geben mir recht. Es sind ja weniger meine Eier, um die es geht, sondern das Thema, welches sie transportieren, und das fristete bisher ein tabuisiertes Schattendasein.

Die ganze Welt ist voller Phallussymbole. Und trotzdem werden weder Schwänze in Filmen gezeigt, geschweige denn Schwanzprobleme benannt. Warum?
Wir sind auch und gerade in unserer übersexualisierten Welt maximal verklemmt. Der weltgrößte Macker wird mit seinem Wurmfortsatz hadern. Die ganzen Phallussymbole sind nur billige Proxies, die derbe Männlichkeit simulieren sollen. Verletzlichkeit und Fehlbarkeit zwischen den Beinen sind mit solchen Ängsten verbunden, dass Hege und Pflege vernachlässigt werden. Ein echter Mann schleppt sich nicht zum Arzt und lässt sich erst recht nicht zwischen die Beine fassen. Ich versuche gezwungenermaßen, mich davon frei zu machen.

Ist der kranke Schwanz ein unmännlicher Schwanz?
Erschreckend, oder? Nicht umsonst haben wir ein umfassendes Beleidigungsarchiv, das auf das männliche Geschlechtsorgan und dessen ausbleibende Superkräfte abzielt. Dabei gibt es bei vielen gesundheitlichen Herausforderungen funktionierende Lösungen. Es darf nur nicht darüber geredet werden.

Glaubst du, junge Menschen wissen ausreichend Bescheid über Gesundheitsvorsorge? Für Mädchen ist es ja normal, schon früh in der Gynäkologie vorbeizuschauen, in Teenager- Zeitschriften gibt es Tipps, wie „das erste Mal Frauenarzt“ vorbereitet werden kann, für Jungs gibt es sowas nicht.
Ich habe seit meinem Film mit vielen Männern darüber gesprochen, wie oft sie in ihrem Leben die Urologie besucht haben. Abgesehen von Menschen mit diesbezüglichen Krankheiten, gingen die Antworten von „noch nie“ bis maximal dreimal. Ich glaube, der Sexualkundeunterricht an unseren Schulen, die Aufklärung zu Hause, aber auch das Gesundheitswesen an sich klammern das Thema Anatomie, Funktionalität, Vorsorge und Pflege zu sehr aus. Diese Tabuisierung spiegelt sich unter anderem in erschreckenden Unterhaltungen wider, die ich nach meinem Schritt in die Öffentlichkeit geführt habe. Ich habe einige Personen massiv überreden müssen, mit den von ihnen selbst diagnostizierten – teilweise schmerzhaften – Auffälligkeiten unbedingt in ärztliche Behandlung zu gehen. Die waren voller Angst und verschleppten es teilweise schon mehrere Jahre.

Viele Transgender- oder intergeschlechtliche Menschen bekommen keine adäquate Gesundheitsversorgung. Wenn eine Frau mit einem Penis Probleme hat, wird sie nicht richtig behandelt oder ist sogar Diskriminierung oder Gewalt ausgesetzt.
Hier kommt zur Problematik fehlender Versicherung noch hinzu, dass wir gesellschaftlich immer noch nicht in der Realität angekommen sind. Binäre Geschlechtszuweisung ist auch oder gerade im Gesundheitssystem keine Ausnahme. Ich durfte per Zufall in einem Krankenhaus behandelt werden, das diese binäre Sicht offensichtlich nicht teilt. Ich lernte in meiner Aufenthaltszeit mehrere Transgender-Menschen kennen, die dort (im Rahmen einer Angleichung) zu ihrem Körper fanden.

Nicht alle haben dein Netzwerk und deinen Mut. Was rätst du Menschen in ähnlichen Lagen?
Wir können nicht jeden Einzelfall mit Solidaritäts-Flashmobs auffangen. Das muss gesamtgesellschaftlich und politisch gelöst werden. Ich bin sehr dankbar, dass ich die Chance hatte, diesem Missstand ein wenig Aufmerksamkeit zu verschaffen. Vieles von meinem Wissen hätte ich mir schon vorher gewünscht. Dass die gesetzliche Grundversorgung zum Beispiel die Behandlung von Krebserkrankungen nicht zwingend einschließt, weil sie nicht akut lebensbedrohlich sind, ist blanker Hohn. Das möchte ich valide aufarbeiten und zusammentragen, so dass Wege aus dieser Zwickmühle heraus sichtbar werden.

Bei deinem Vortrag gibst du unversicherten Menschen den Tipp, zur Behandlung nach Dänemark zu fahren.
Mir selbst waren viele Informationen, auch mangels Auffindbarkeit, nicht bekannt. So können auch Selbstständige über Hartz IV aufstocken und es gibt Wege, die Krankenversicherungsrate abzumildern. Ich bereite gerade die Gründung einer gemeinnützigen GmbH vor, die sich dem Thema „Unversichert“ annimmt. Dort will ich Informationen zusammentragen, wie Betroffene offiziell oder über legale Grauzonen aus ihrer misslichen Lage kommen können. Das werden Hilfestellungen gegenüber Ämtern und Krankenkassen sein, aber auch eine Möglichkeit, politische Forderungen zu platzieren.

Auf Twitter hat jemand geschrieben, dass du wahrscheinlich mehr Reichweite hast als alle staatlichen Gesundheits- und Präventionsprogramme zusammen.
Meine eigene Bekanntheit ist – vor allem gemessen an der Reichweite von #hollerkaputt – recht überschaubar. Sehr populäre Twitter-Accounts teilten meine Geschichte. YouTube selbst war da ein kleiner Hebel, der schnell von den klassischen Medien überholt wurde. Ich komme ja aus der Werbung und darf deswegen auch Plattitüden raushauen: Content is King. Die Themen „Unversichert“ und „Krebs“ waren kritisch und emotional genug, ihre Reichweite selbst zu generieren. Ich habe die Aufmerksamkeit schnell genutzt, um mein Einzelschicksal zurückzunehmen und als Testimonial zu agieren. So etwas fehlt trockenen Kampagnen oft: Authentizität beim Thema.

Das klingt abgeklärt. Wie geht es dir, wenn du offline bist?
Krebs ist ein Arschloch. Dieses Arschloch bestimmt jetzt erstmal hart mein Leben. Ich muss mich damit arrangieren, es ertragen und mich dagegen wehren. Das schlaucht und in manchen Momenten schleichen sich Angst und Trauer heran. Aber dann überrascht mich der Frühling, aus den Boxen rollt der Bass und zur Not ploppt auch mal ein Bier auf. Ich will mich nicht noch weiter runterziehen lassen. Ich bin mir aber sicher, dass da noch ein paar Momente auftauchen werden, in denen ich mich klein, schwach und tieftraurig fühle.

Anne Pohl arbeitet für einen Abgeordneten in Berlin. Daneben ist sie freiberufliche Marketing- und Event-Beraterin und gründet non-kommerzielle Projekte wie herzteile.org.

Beyoncé – „Lemonade“

  • 21.06.2016, 19:30

Marie Luise: Beyoncés neues Album, zu dem es einen abendfüllenden Begleitfilm gibt, handelt von Wut. Unter anderem lassen sich Anspielungen auf Jay Zs außereheliche Affären herauslesen. Worum es aber viel stärker geht, ist eine hochpolitische Wut. Das Video zu „Formation“ wurde am Vorabend der Super Bowl in den U.S.-amerikanischen Medien heiß diskutiert. Es geht um rassistische Polizeigewalt und zeigt Beyoncé, wie sie auf einem Streifenwagen sitzt, der langsam untergeht. Die Polizei zeigte sich weitgehend empört, viele Polizist*innen weigerten sich, bei Beyoncés Konzerten den Security Service zu übernehmen. Weiße Republikaner*innen gaben öffentlich kund, dass eine Musikerin, die sich so polizeikritisch äußert, keinen Platz bei der Super Bowl haben sollte. In ihrer Performance auf dem Mega-Event bezog sich die Künstlerin dann mittels Kleidung auf die Black Panthers und durch die Choreographie (die Tänzerinnen waren in Form eines X aufgestellt) auf den Schwarzen Bürgerrechtskämpfer Malcolm X. In ihrem neuen Album thematisiert Beyoncé darüber hinaus Themen wie Feminismus und #Blacklivesmatter. In einer Szene zitiert sie Pipilotti Rists Videoperformance „Ever is over all“, in der die Künstlerin mit einem Stock die Fensterscheiben parkender Autos zerschlägt. Ein großartig notwendiges Gesamtkunstwerk!

Katja: Beyoncés neues Album hat mich kalt erwischt. Es kam so plötzlich und so heftig wie selten etwas in der Musikbranche. Nach ihrem Video zu „Formation“ konnte doch unmöglich etwas nachgeschoben werden, das noch krasser einschlägt? Doch. Es klingt absolut unglaubwürdig, dass ein Konzeptalbum über Ehebruch das politischste Statement des Jahres hervorbringt, aber „Lemonade“ ist genau das. Bei Beyoncé ist das Politische privat und das Private politisch, mit Leib und Seele. Wäre es ein Album ohne dazugehörigen einstündigen Film gewesen, wäre die ganze Sache ein bisschen fad geworden, aber deswegen heißt es ja „eine Vision haben“. Als Musikerin und Künstlerin hat sich Beyoncé etwas dabei gedacht, beides gemeinsam über HBO zu zeigen und dann online zu stellen. Schließlich spielt die ökonomische Komponente der sinkenden Plattenverkäufe eine gigantische Rolle in allen Entscheidungen der Frau, die sich „black Bill Gates in the making“ auf die Fahnen schreibt. Für mich ist dies ein absoluter Meilenstein der Musikgeschichte, der besser ausgedacht, realisiert und perfektioniert gar nicht sein könnte.

Marie Luise Lehner studiert Sprachkunst an der Universität für angewandte Kunst Wien.
Katja Krüger-Schöller studiert Gender Studies an der Uni Wien.

Sia – „This is acting“

  • 21.06.2016, 19:10

Marie Luise: Die Hit-Produzentin und Sängerin Sia komponiert nicht nur für sich selbst, sondern auch für viele andere große Stars. Aus ihrer Feder stammen unter anderem „Pretty Hurts“, das Beyoncé, und „Diamonds“, das Rihanna singt. Sia wurde in letzter Zeit aber auch an vielen Türen abgewiesen. Songs, die eigentlich für andere geschrieben worden sind, holt Sia jetzt aus dem Papierkorb und macht daraus ein Album. Sie selbst sagt, dass die Platte „This is acting“ heißt, weil sie für die Songs in andere Rollen schlüpft. Für sich hätte sie solche Songs nie geschrieben, sagt sie. Zur schon erschienenen Single „Alive“, die auf diesem Album vertreten sein wird, gibt es ein Video, in dem das kleine Mädchen mit Pagenkopfperücke, wie wir es schon aus anderen Videos kennen, zu sehen ist und in einer leeren Lagerhalle Karate macht. Für diesen Song hat Sia mit FKA Twigs zusammengearbeitet. So heterogen wie die Sänger*innen, für die Sia geschrieben hat, ist auch das neue Album. Entstanden ist eine wilde Mischung, in der ab und zu „das ist für Rihanna“ oder „das ist für Beyoncé“ herauszuhören ist. Sia selbst sagt gegenüber dem Rolling Stone, frühere Erfolge wie „Titanum“ und „Wild ones“ fände sie „incredibly, incredibly cheesy“. Persönlich kann ich auch mit dem glattpolierten Hochglanzpop von Sia nicht so viel anfangen. Umso länger ich Sia allerdings zuhöre, um so mehr freunde ich mich mit dem Schauspielen an. Ist da nicht irgendwo ein Augenzwinkern zwischen uns, jetzt wo wir beide wissen, dass wir nur so tun als ob?

Katja: Sia ist die derzeit interessanteste Künstlerin auf dem Markt des Mainstreampops. Ihre Performances und Videos mit Maddie Ziegler – der 14-jähigen Tänzerin – sind jetzt schon legendär. Sia ist keine 08/15-Singer- Songwriterin, die an der Gitarre oder am Klavier sitzt und uns von ihrem Leben erzählt. Alles an ihr schreit POP – oder schreit der Pop aus ihr? Das Markenzeichen ihrer Songs ist eine bombastische Fragilität. Thematisch wendet sie sich gerne mental healthissues zu und hat mit „Elastic Heart“ eine beeindruckende Depressionshymne geschaffen.

Ein Popstar möchte sie aber nicht sein, deshalb schreibt sie auch lieber Songs für andere stimmgewaltige Sänger*innen. Dass manches Material abgelehnt wird, kann passieren, dafür gibt es B-Seiten-Alben wie dieses hier. Wer jetzt aber glaubt, dass hier mindere Qualität geboten wird, irrt. Ein Jahrtausendsong wie „Chandelier“ ist auf dem Album nicht zu finden, zugegeben. Jeder halbfertige Song von Sia ist jedoch besser als 90 Prozent aller Sounds, die sonst auf CD gepresst werden.

Marie Luise Lehner studiert Sprachkunst an der Universität für angewandte Kunst Wien.
Katja Krüger-Schöller studiert Gender Studies an der Uni Wien.

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