Juni 2016

Illusionen in der Wissenschaft

  • 21.06.2016, 22:34
Dem Verhältnis der Wissenschaft zu Bildern und Comics widmet sich „Unflattening“ – eine Doktorarbeit über Comics in der Philosophie, verfasst in Form eines Comics.

Dem Verhältnis der Wissenschaft zu Bildern und Comics widmet sich „Unflattening“ – eine Doktorarbeit über Comics in der Philosophie, verfasst in Form eines Comics.

In der Philosophie wird Wissen und Information vornehmlich über Wort und Text weitergegeben. Es gibt ein lange gehegtes, ja traditionelles Misstrauen gegenüber anderen Medien, vor allem gegenüber Bildern und ihren Mischformen.

Für dieses schlechte Verhältnis der Philosophie zum Bild als Informationsmedium wird oft Plato zur Verantwortung gezogen.

SCHATTEN AN DER WAND. Für ihn zeigt sich die Wirklichkeit nur durch Schatten in der Höhle, in der wir Menschen uns metaphorisch befinden. Nur durch das Denken in Form eines inneren Dialogs könne die Wirklichkeit erkannt werden. Obwohl Plato auch dem geschriebenen Wort als billigem Ersatz für Erinnerung und wahres dialektisches Verstehen misstrauisch gegenüberstand, billigte er es als notwendiges Übel, ganz im Gegensatz zu Bildern und optischen Wahrnehmungen, die für ihn nichts anderes waren als trügerische Illusionen, Schatten von Schatten.

Die Philosophen des Rationalismus im 17. Jahrhundert übernahmen Platos Misstrauen gegenüber Bildern und Sinneswahrnehmungen und versuchten, die Welt zu verstehen, indem sie Phänomene isoliert von diesen trügerischen Wahrnehmungen betrachteten. Dieser Ansatz führte zunächst zu großen Entdeckungen, bestärkte jedoch auch das darauffolgende Aufteilen und Abstecken der Wissenschaften in Teilgebiete. In manchen dieser Teildisziplinen scheint es dieser Tage vor allem darum zu gehen, die für die jeweilige Disziplin reklamierten Methoden und Ideen zu verfeinern und Beobachtetes als „richtig“ zu klassifizieren.

In der Physik etwa, dem Teilgebiet der Wissenschaft, in dem ich mich Expertin nennen darf, scheint es zur Zeit nur noch darum zu gehen die „theory of everything“ zu finden, in der endlich alle Kräfte, alle Phänomene mit einer Kraft, einer Formel beschrieben werden können. Überraschenderweise sind wir mit diesem Ansatz noch nicht so weit gekommen.

SEEING DOUBLE. Viele tausend Jahre nach Plato legt Nick Sousanis in seiner Dissertation „Unflattening“ dar, wie Bilder und Comics neue Perspektiven des Denkens und Verstehens eröffnen. Verfasst in Form eines Comics kann „Unflattening“ auch als Abhandlung über unsere Wahrnehmung verstanden werden. Der Sehprozess, zeichnet und schreibt Sousanis, involviert beide Augen – also zwei Perspektiven – gleichermaßen: „Our stereoscopic vision is the creation and integration of two views. Seeing, much like walking on two feet, is a constant negotiation between two distinct sources.”

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Unseren Augen gleich, ermöglichen uns Comics, aus Text wie Bild bestehend, zwei verschiedene Sichtweisen ineinanderfließen zu lassen. Denn Text ist, seiner Natur gemäß, sequentiell und linear, eine diskrete Abfolge von Wörtern. Ein Bild andererseits präsentiert alles Gezeigte auf einmal, es gibt weder Anfangs- noch Endpunkt. Wie Michael Baxandall schreibt, gibt es keine direkte Entsprechung von Text und Bild. Jede textliche Beschreibung eines Bildes presst dieses in ihre textliche, also lineare und hierarchische Form. Das bedeutet, dass Erkenntnisse und Wahrnehmungen, die sich nicht textlich ausdrücken lassen, weil sie außerhalb dieses sequentiellen Paradigmas stehen, ausgeklammert werden. In Comics aber verschmelzen der textlich sequenzielle und der bildlich simultane Charakter und bilden so eine neue Form des Verstehens, in der nun auch das zuvor Außenstehende einen Platz findet.

Kritische Stimmen mögen an dieser Stelle anmerken, dass zum Beispiel in den empirischen Wissenschaften die Verwendung von Abbildungen gängige Praxis ist, also die Comic-Idee ohnehin schon Praxis sei. Nun stimmt es zwar, dass man beim Durchschauen einer Publikation aus den Naturwissenschaften auf viele Diagramme und Graphen stößt. Es ergibt sich jedoch nicht der dialektische Text-Bild-Zusammenhang, den Sousanis meint. In einem klassischen Graphen wird eine Größe als Funktion der anderen dargestellt, zum Beispiel die Anziehungskraft zweier massiver Körper als Funktion ihres Abstandes oder das Wahlverhalten einer Bevölkerungsgruppe als Funktion ihres Alters.

Wie aus diesen Beispielen ersichtlich, besitzen Graphen ein sehr hohes Abstraktionsniveau. Graphen beantworten eine spezielle und isolierte Frage. So werden sie sogar zum Gegenspieler von Bildern, die alles Beobachtete ungeordnet und simultan preisgeben. Zudem haben Graphen in unserer heutigen Gesellschaft, ganz im Gegensatz zu Bildern, eine extreme Überzeugungskraft. Ihr reduktionistischer Charakter strahlt eine Objektivität aus, der man sich schwer entziehen kann, aber häufiger sollte.

GRAPH 4.3 ZEIGT GAR NICHTS. In den Geisteswissenschaften hingegen, und zwar vor allem in der Philosophie, wird auf Bilder jeder Art verzichtet. Es gibt zwar Philosophiecomics, diese sind allerdings entweder für Kinder oder als Infotainment gedacht. Seriöse akademische Diskussionen werden selbst in Philosophieschulen, die dem Rationalismus kritisch gegenüberstehen, ausschließlich mit Wörtern geführt. Zu sehr riechen Comics nach Anti-Intellektualismus und Reduktionismus.

Nun, wenn es um simple Graphen oder Comics zum Notfallverhalten in Flugzeugen geht, mag der Reduktionismusvorwurf, wie oben besprochen, berechtigt sein. Doch die Textversion des Flugzeugnotfallverhalten- Comics ist auch kein literarisches Meisterwerk. Die Verwendung von Comics in der Wissenschaft steckt noch in den Kinderschuhen. Doch Versuche wie Sousanis Doktorarbeit zeigen, dass das Medium mehr als geeignet ist, komplexe Themen zu bearbeiten und neue Sichtweisen, und zwar solche die einer rein textlichen Darstellung verschlossen bleiben, zu eröffnen.

Carina Karner studiert Physik im Doktorat und baut Computermodelle für die Kristallisation von Kolloiden – Schatten von Schatten.

Der Wunsch nach Sex als Scheidungsgrund

  • 21.06.2016, 22:03
Frauen vor den Gerichten der Frühen Neuzeit.

Frauen vor den Gerichten der Frühen Neuzeit.

„Let’s talk about sex, baby“: Der Wunsch nach erfüllter Sexualität ist nicht nur ein Phänomen des 21. Jahrhunderts, auch in der Neuzeit drehte sich so einiges um das Erfüllen der sexuellen Bedürfnisse – auch bei Frauen, wie uns Fallbeispiele zeigen.

FRAUENBILD. Wenn wir an Frauen im Mittelalter oder in der Neuzeit denken, haben wir sofort das Bild der frommen, dem Mann unterworfenen Frau vor Augen, deren primäre Aufgabe die Zeugung von Nachwuchs war. Ohne Zweifel war das 16. Jahrhundert von Emanzipation weit entfernt, so passiv und rechtlos, wie wir denken, waren Frauen aber nicht. Besonders wohlhabende Frauen konnten ihren sozialen Status ausnutzen, um sich mehr Macht und Vorteile in der Ehe zu verschaffen. Aber auch weniger wohlhabende klagten ihre Rechte vor dem Konzistorium ein, auch ihr Recht auf Sexualität.

Durch die Revolution von Martin Luther veränderte sich, die katholische Kirche grundlegend, besonders aber auch die Sichtweise auf Sexualität. Laut der Historikerin Claudia Jarzebowski („Sexualität“ in der Enzyklopädie der Neuzeit) war für Luther Sexualität Teil der menschlichen Natur und konnte nicht unterdrückt werden, womit man auch das Nichteinhalten des Zölibats protestantischer Geistlicher rechtfertigt konnte. Man sprach beiden Geschlechtern, auch der Frau, ein Recht auf Sexualität zu, wobei die Frau als ein ihren Trieben ausgesetztes Wesen gesehen wurde, deren Anziehung Männer oft zum Opfer fielen.

MEDIZIN UND HYGIENE. Einen anderen Blickwinkel auf Sexualität in der Neuzeit liefern Mediziner im Zuge des Hygienediskurses ab dem 18. Jahrhundert. Diese beschäftigten sich nicht nur mit Geschlechtskrankheiten, sondern unterschieden auch zwischen gesunder und ungesunder Sexualität. Was war also laut Medizinern des 18. Jahrhunderts ungesunder Geschlechtsverkehr? Laut Philip Sarasin (Reizbare Maschinen. Eine Geschichte des Körpers. 1765–1914) waren all jene sexuellen Handlungen, die außerhalb einer Ehe stattfanden, exzessiv oder dienten der Selbstbefriedigung. Die schier unersättliche Lust der Frauen solle laut den Hygienikern also gedämpft werden durch regelmäßigen Sex in der Ehe. Den Orgasmus der Frau sah man jedoch nicht als Voraussetzung für eine gelungene Zeugung von Nachkommen.

Betrachten wir also die protestantische Reformation als Meilenstein im Hinblick auf die Wahrnehmung auch weiblicher Sexualität, so bleibt trotzdem eine Sache essenziell: Der einzige Ort, an dem man Sex für legitim hielt, war die Ehe, sowohl was das kirchliche Credo betraf, als auch jenes der Hygieniker. Die Verweigerung der ehelichen Pflichten, zu denen Geschlechtsverkehr ganz zentral zählte, wurde bei Männern mit körperlichen Problemen in Verbindung gebracht, während man bei Frauen eher dazu geneigt war, die Ursache im Nichtfunktionieren der Ehe selbst zu suchen. Sexualität und vor allem das Nichtgewähren von Geschlechtsverkehr seitens des Ehepartners / der Ehepartnerin wurde daher oft zum Gegenstand von Gerichtsurteilen. Laut Alexandra Lutz wurden sowohl die Untreue des Ehepartners / der Ehepartnerin als auch die nichtvollzogene Ehe eingeklagt.

Nicht selten waren es auch Frauen, die vor dem Kirchengericht ihren Wunsch nach sexueller Befriedigung einklagten, wie auch im, von Alexandra Lutz (Ehepaare vor Gericht) präsentierten Fall von Maria Gosau 1715. Diese beklagt dass „sie auch Fleisch und Blut an sich habe, und so viele Jahre ohne Mann nicht leben könne“, weshalb sie, nachdem ihr Mann sie verlassen hatte, das Gericht bat, erneut heiraten zu dürfen, ohne jeglichen Erfolg.

NEBENKLAGE. In einem anderen Fall, gefunden im Diözesanarchiv Wien, zwischen Stuhlpfarrer Rosalia und ihrem Mann Peter 1779 bringt die Ehefrau vor, ihr Mann erfülle schon seit 2 Jahren seine ehelichen Pflichten nicht mehr. Außerdem würde er sie wie eine Dienstmagd behandeln und habe sie aus dem Haus geworfen. Deutlich wird durch Fälle wie diesen auch, dass das Einklagen von Sexualität nie als Hauptklagegrund verwendet wird, sondern in den meisten Fällen als eine Art Nebenklagepunkt. Spannend ist auch, dass dieser Grund nahezu nie für eine Scheidung reicht, vermutlich weil die sexuelle Befriedigung der Frau weniger bedeutend war als das Fortführen einer, wenn auch nicht glücklichen, Ehe.

Zusammenfassend kann man also festhalten, dass die Frauen auch in der Neuzeit theoretisch ein Recht auf ihre Sexualität hatten, das ihnen von verschiedenen Instanzen aus unterschiedlichen Gründen zugeschrieben wurde. In der Praxis wurde die Klage nach sexueller Befriedigung seitens der Frau nie als Hauptklagepunkt in derartigen Eheverfahren verwendet. Das Fehlen eines erfüllten Sexuallebens war nie Grund genug, dass ein Ehepaar hätte geschieden werden können.

Julia Roschitz studiert Italienisch und Geschichte an der Universität Wien.

Der notstandslegitimierte Notstand

  • 21.06.2016, 21:53
Wie Angst für rassistische Asylgesetzgebung genutzt wird.

Wie Angst für rassistische Asylgesetzgebung genutzt wird.

Am 27. April 2016 beschloss der österreichische Nationalrat erneut eine Verschärfung des Asylrechts, wie das auch schon in den letzten Jahren in regelmäßigen Abständen passiert ist. Die aktuelle Novelle bedeutet eine De-facto-Abschaffung des allgemeinen Rechts auf Asyl. So wird es für viele verunmöglicht, ihre Familie nach Österreich nachzuholen, wodurch noch mehr Flüchtende auf gefährliche Migrationsrouten gedrängt werden. Nicht minder problematisch ist die Regelung zu „Asyl auf Zeit“, die den Asylstatus auf drei Jahre beschränkt und danach eine neuerliche Prüfung sämtlicher Asylgründe vorsieht: Dies hebelt aktiv die Teilhabe von Geflüchteten an der Gesellschaft aus und erschwert zahlreichen Menschen eine langfristige Lebensplanung, etwa beim Versuch, eine Wohnung oder einen Job zu bekommen.

AKTUELLE DISKURSE. Diese Verschärfungen wirken sich auf unterschiedliche Aspekte des Lebens Geflüchteter und von Migrant*innen aus, dennoch zielen sie alle auf eines ab: Abschottung. Diese Abschottung aber geschieht – wie jeder andere soziale Prozess – nicht in einem „luftleeren“ Raum, sondern bildet vielmehr konkrete gesellschaftliche Machtverhältnisse ab. Sieht man den Staat als Verdichtung eines materiellen Kräfteverhältnisses, eröffnet das den Blick darauf, dass Gesetze nicht von der vermeintlich privaten Ebene des sozialen Lebens zu trennen sind und gesellschaftliche Kräfteverhältnisse eben dieses Lebens strukturiert und reproduziert.

Hier setzen aktuelle Diskurse über den Notstand an. Dieser sei, so heißt es, unumgänglich: Österreich sehe sich mit einer unbewältigbaren Menge an Geflüchteten konfrontiert. Refugees werden nicht mehr als individuelle Menschen mit eigenen Schicksalen wahrgenommen, sondern als entmenschlichte Masse – was sich auch auf der sprachlichen Ebene manifestiert, etwa durch die Verwendung einer Rhetorik, die ansonsten der Beschreibung von Naturkatastrophen dient.

TRAISKIRCHEN: DIE ÜBERFORDERUNG. Dass diese Bilder der Überforderung relativ wenig mit der Realität zu tun haben, zeigt sich besonders deutlich am Beispiel Traiskirchen. Wenn wir uns an den letzten Sommer erinnern, beherrschten vor allem die katastrophalen Zustände im Erstaufnahmezentrum die mediale Berichterstattung. Politik und Verwaltung schienen nicht in der Lage zu sein, auch nur ein Mindestmaß an Versorgung sicherzustellen. Die Grundversorgung, was Essen oder Hygiene betraf, war mangelhaft, Geflüchtete mussten sich zeitweise stundenlang anstellen, um Essen oder Kleidung zu bekommen. Wurden diese Probleme angesprochen, wurde auf ihre Unlösbarkeit verwiesen: Es wären schlichtweg zu viele Menschen in Traiskirchen, hieß es vonseiten des Innenministeriums. Dass es kein Problem wäre, in einem der reichsten Länder der Welt 4000 Menschen adäquat zu versorgen, wenn der politische Wille dazu vorhanden ist, erklärt sich eigentlich von selbst. Wenig später – als vermehrt Menschen in Österreich ankamen und in den Folgemonaten blieben – gab es plötzlich Unterkünfte.

Wie Traiskirchen in den Jahren zuvor, sind auch diese Unterkünfte in der Regel nicht sonderlich lebenswert, aber: Sie sind vorhanden, obwohl es zuvor jahrelang hieß, es wäre nicht möglich, Plätze bereitzustellen und Traiskirchen zu entlasten. Hier zeigt sich auf der diskursiven Ebene ein kontinuierliches Verschieben dessen, was möglich ist oder nicht, sowie die ständige Anpassung der Auslegung von „Überforderung“: Es ist nicht die angeblich zu hohe Anzahl Geflüchteter, die Österreichs Behörden überlastet, sondern die politische Weigerung, jemals auch nur ein wenig mehr als das Mindestmaß an notwendigen Ressourcen bereitzustellen. Vor allem im Hinblick auf die unzähligen leerstehenden Wohnungen ist das Argument, es gäbe nicht genug Platz für alle, absurd.

EINE FRAGE DER VERTEILUNG. Hier zeigt sich, wie Diskurse der Überforderung konkrete ökonomische Interessen stützen: Anstatt über eine andere Verteilung von Ressourcen zu sprechen, wird – parallel zu rassistischen Diskursen über „undankbare Fremde“, die sich nicht mit unzumutbaren Massenunterkünften zufriedengeben – stetig ein neues Bild der Überforderung produziert. Dass diese Überlastung allerdings nicht einem tatsächlichen Mangel an Ressourcen, sondern bloß dem Unwillen, diese bereitzustellen beziehungsweise umzuverteilen, geschuldet ist, wird nicht angesprochen. Es gibt also nicht grundsätzlich zu wenig Wohnungen, Kindergartenplätze und Schulen, sondern es sind politische Entscheidungen, wie viele Wohnungen gebaut und wie viele Betreuungsplätze angeboten werden. Im öffentlichen Bewusstsein manifestiert sich nur das Problem, nicht aber seine Ursachen und naheliegende Lösungsansätze.

Durch das Nicht-Bereitstellen von grundlegenden Ressourcen hat sich Österreich selbst einen vermeidlichen Notstand konstruiert, auf den dann mit weiteren repressiven Gesetzgebungen reagiert wurde, wie etwa mit der Verschärfung des Asylrechts. Wenn es in Mainstreammedien heißt, der österreichische Staat und die handelnden Politiker_innen wären letzten Herbst überfordert gewesen, und dies der Grund sei, weshalb die Zivilgesellschaft die Versorgung von Refugees übernehmen musste, ist das eine grobe Verzerrung der Tatsachen. ausgeblendet wird, dass ein als überfordernd dargestellter Sachverhalt das Umsetzen neuer Verschärfungen erleichtert und gleichzeitig die Auslagerung staatlicher Aufgaben auf unbezahlte Helfer_innen vorantreibt. Diese „Privatisierung“ staatlicher Aufgaben kann auch zu Überforderung der Helfer_innen führen, nicht zuletzt, wenn ihre Bemühungen Hilfe zu leisten, durch staatliche Repression erschwert werden. So schließt sich der Kreis im Überforderungskarussell und der Notstand erscheint zwar nicht als ideale, aber zwangsläufig notwendige Lösung plötzlich akzeptabel.

Gruppe: Freedom not Frontex
Kontakt: freedomnotfrontex.net

Geschichtsrevisionismus auf Jugoslawisch

  • 21.06.2016, 21:17
Die Rechte wird nicht nur in Österreich offensiver, auch in Serbien und Kroatien kommt es zu einer stärkeren Mobilisierung. Dies zeigt sich mitunter an vermehrten Übergriffen gegen Linke und Homosexuelle. Eine Analyse nationalistisch-religiöser Hegemonie in zwei Ländern des ehemaligen Jugoslawiens.

Die Rechte wird nicht nur in Österreich offensiver, auch in Serbien und Kroatien kommt es zu einer stärkeren Mobilisierung. Dies zeigt sich mitunter an vermehrten Übergriffen gegen Linke und Homosexuelle. Eine Analyse nationalistisch-religiöser Hegemonie in zwei Ländern des ehemaligen Jugoslawiens.

Am 31. März 2016 drangen sieben bewaffnete Männer in die Zadruga Oktobar, ein linkes Kulturzentrum in Belgrad, ein, verwüsteten das Lokal und verletzten Antifaschist*innen. Immer wieder liest man von gewaltvollen Übergriffen durch Rechtsextreme in den Ländern des ehemaligen Jugoslawiens: Ein weiteres, Beispiel hierfür ist die erste Pride Parade in Split, die 2011 abgebrochen werden musste, als rund 10.000 Menschen – mitunter bewaffnet – auf etwa 300 Teilnehmer*innen losgingen. Doch davon hört und liest man in Österreich kaum – und das, obwohl auch in Wien immer wieder rechtsextreme Botschaften aus dem Raum des ehemaligen Jugoslawiens im öffentlichen Raum sichtbar sind. Ustascha-Symbole beispielsweise, also Verweise auf jene faschistischen Brigaden, die im Zweiten Weltkrieg mit dem NS-Regime kooperiert hatten, sind in österreichischen Städten keine Seltenheit.

SERBIEN. Was aber alle Staaten des ehemaligen Jugoslawiens gemein haben ist, dass eine rechte Hegemonie zu beobachten ist." Rechte Kräfte haben es geschafft, „eine politische und ideologische Vormachstellung einzunehmen, die sich nicht zuletzt am bedeutenden Einfluss der Kirchen zeigt“, so Luka Matić, Doktorand am Institut für Philosophie der Universität Zagreb, der sich mit (neo-)faschistischen Bewegungen in Kroatien und Serbien auseinandersetzt. Die Situation in Serbien unterscheidet sich jedoch etwas von jener in Kroatien: Rechtsextreme Gruppierungen scheinen organisierter zu sein und offener mit staatlichen Behörden – vor allem der Polizei – zu kooperieren. „Das zeigt sich nicht zuletzt daran, dass der Angriff auf das Kulturzentrum Zadruga Oktobar von einer neofaschistischen und relativ neuen Gruppierung ausging, die sich aus Personen zusammensetzt, die in kämpferischen Konflikten zwischen Russland und der Ukraine aktiv waren“.

„Wir gehen davon aus, dass dieser Angriff eine Reaktion auf eine antifaschistische Gegendemonstration zu einem nationalistischen Marsch war – wobei wir uns hierbei nicht sicher sein können“, deuten Antifaschist*innen aus Belgrad, die aus Sicherheitsgründen nicht genannt werden wollen, die Attacke. Parallel dazu hat die rechtsextreme Partei Dveri – übersetzt bedeutet das „Die Türen“, ein Verweis auf die christlich-orthodoxe Kirche – bei den kürzlich stattgefundenen Wahlen den Einzug ins Parlament geschafft. Bei Dveri handelt es sich nicht bloß um eine Partei, sondern um eine rechtsextreme Plattform, die seit knapp einem Jahrzehnt bestens mit anderen nationalistischen Kräften vernetzt ist. Der Rechtsruck in Serbien wird auch auf einer anderen Ebene deutlich: Es kommt vermehrt zur Rehabilitation von Kriegsverbrechern durch serbische Gerichte. So wurde beispielsweise Dragoljub „Draža“ Mihailović, dessen Truppen an Kriegsverbrechen gegen Muslim*innen beteiligt waren, rehabilitiert und auch Milan Nedić, ein Kollaborateur mit dem NS-Regime und serbischer Nationalist, soll rehabilitiert werden.

KROATIEN. Auch in Kroatien ist eine enge Verflechtung rechtsextremer Positionen mit der Vormachtstellung der Kirche zu beobachten. Während es in Serbien die orthodoxe Kirche ist, ist es in Kroatien die katholische Kirche, die gesellschaftspolitisch eine wichtige Rolle spielt. Was immer wieder in Angriffen gegen LGBTQI-Personen gipfelt, ist das Ergebnis einer religiösnationalistischen Hegemonie. Das zeigt sich unter anderem in der Popularität der Band Thompson, im Speziellen ihres Frontmanns Marko Perković. Perković selbst ist bekannt dafür, immer wieder öffentlich Ante Pavelić, den kroatischen faschistischen Diktator und Führer der Ustascha-Bewegung, zu huldigen; auch besang er des Öfteren – und zwar nicht gerade kritisch – die beiden kroatischen Konzentrationslager Jasenovac und Stara Gradiška, in denen zehntausende Menschen ermordet wurden.

Die kroatische rechtsextreme Szene setzt sich aus vielfältigen Subszenen zusammen. Zum einen sind Veteranenorganisationen, die eine geschichtsrevisionistische Ideologie vertreten und kroatische Kriegsverbrechen leugnen, dominierend, zum anderen gibt es lose Verbindungen zu Fangemeinden verschiedener Fußballclubs und den Jugendorganisationen verschiedener rechter Parteien. Seit einigen Jahren kommt es innerhalb dieser Szene zu Verschiebungen, deren Resultat Parallelen zur Identitären Bewegung Österreichs aufweisen: Die NGO Urbana Desnica – „Urbane Rechte“ – aus dem Raum Split, also jener Region, in der es 2011 zu massiven Gewaltakten während der Pride Parade kam, wird immer größer. Diese Gruppe ist auch auf Facebook sehr aktiv und versucht, dem Rechtsextremismus eine moderne Fassade zu verleihen: Mit Hashtags, Memes und jugendlichem Slang wird Hetze gegen Antifaschist*innen, Homosexuelle und all jene, die nicht in das Bild eines katholisch-nationalistischen Kroatiens passen, betrieben. Der Generationenkonflikt innerhalb verschiedener rechtsextremer Gruppierungen wurde im Rahmen der Mobilisierung von U ime obitelji („Im Namen der Familie“), die ein Referendum gegen gleichgeschlechtliche Ehen initiierte, etwas aufgelöst.

RECHTE HEGEMONIE BRECHEN. „Es sind nicht bloß militante Gruppierungen, welche die rechtsextreme Szene ausmachen: In Kroatien gibt es viele lokale Fernsehsender, die von verschiedenen privaten Organisationen betrieben werden und größtenteils rechte Propaganda betreiben: etwa Hetze gegen Linke und Personen, die das Recht auf Abtreibung verteidigen“, so Mira L., Geschichtelehrerin aus Zagreb. Sowohl in Serbien als auch in Kroatien sind es nicht bloß rechtsextreme Gruppierungen, sondern auch die Vormachtstellung der ihnen zugrunde liegenden Ideologien, die Repression gegen Linke ermöglichT. „Wenn es in Kroatien relativ wenig Übergriffe gegen Linke gibt, liegt das vor allem daran, dass es der Linken nicht mehr möglich ist, offensiv und breit öffentlich aufzutreten“, heißt es von Mitgliedern verschiedener antifaschistischer Organisationen. Was also bleibt, ist zunächst die notwendige Offenlegung rechtsextremer Ideologien und die Hoffnung auf linke Organisation und Gegenhegemonie, die sich gegen Geschichtsrevisionismus und Nationalismus stellt. Diese Bewegungen müssen unterstützt werden – das bedeutet „fremden“ Nationalismus auch in Österreich, wo Thompson-Konzerte massenhaft besucht werden und nicht-österreichische Nationalismen selten thematisiert werden, anzusprechen.

Nora Zism hat Politikwissenschaft an der Universität Wien studiert.

Volksgemeinschaft statt Klassenkampf

  • 21.06.2016, 20:38
In Ungarn grassiert der Antisemitismus. Auch in der Orbán’schen Wirtschaftspolitik spielt er eine Rolle.

In Ungarn grassiert der Antisemitismus. Auch in der Orbán’schen Wirtschaftspolitik spielt er eine Rolle.

Die Wirtschaftspolitik der ungarischen Regierungspartei Fidesz folgt weder neoliberalen Strategien wie der Verschlankung des Staates und der Kürzung der Sozialleistungen, noch betreibt sie sozialdemokratische, etwa keynesianistische Beschäftigungspolitik. So manche BeobachterInnen der ungarischen Politik stehen daher vor einem Rätsel: Warum erlässt ein Politiker, der vor nicht allzu langer Zeit noch (wirtschafts-) liberale Positionen vertrat, plötzlich Gesetze, wie etwa das Notenbankgesetz von 2011, welches der Exekutive die Kontrolle über den Leitzins gibt? Und warum geht Orbán nicht den neo-klassischen Weg der Budgetkonsolidierung durch Steuersenkungen und Sozialkürzungen, sondern einen Weg, der sogar bei der linken Zeitschrift Der Freitag Anklang fand?

RECHTER ANTIKAPITALISMUS. Die Antworten finden sich in der Analyse dessen, was Holger Marcks in Bezug auf Fidesz und Jobbik „Antikapitalismus von rechts“ nennt. Dieser Antikapitalismus zeichnet sich dadurch aus, dass er nicht im Sinne etwa von Marx auf die Abschaffung von gesellschaftlichen Verhältnissen wie Kapital und Staat abzielt, sondern sich vielmehr auf der Grundlage des Kapitals gegen bestimmte Aspekte der kapitalistischen Produktionsweise richtet. Dabei werden die gesellschaftlichen Verhältnisse, die nach Marx nur als Ganzes kritisierbar sind, in vermeintlich „gute“ und „schlechte“ Seiten getrennt. Diese Trennung der ökonomischen Vorgänge folgt dabei dem gleichen Muster wie schon im Nationalsozialismus, in dem das produktive, konkret erscheinende Kapital als „schaffend“ und als „deutsch“ das abstrakte, in Geld erscheinende Finanzkapital hingegen als „raffend“ und „jüdisch“ imaginiert wurde. Die Gründe für diese Spaltung liegen in den kapitalistischen ökonomischen Formen selbst.

Wie Moishe Postone in seinem Essay „Nationalsozialismus und Antisemitismus“ zeigt, ist der „Antikapitalismus von rechts“ vor allem eine unkritische Ablehnung des Kapitals, die den aus dem Warenfetisch entspringenden Verblendungsmechanismen aufsitzt, die Marx im ersten Kapitel des „Kapitals“ untersucht. Aus dem Doppelcharakter der Ware, als sinnlich-übersinnliches Ding zu besitzen, das Gebrauchswert und Wert, also sowohl Träger von konkreten Eigenschaften als auch Träger und Ausdruck von abstrakten menschlichen Beziehungen zu sein, entspringt das falsche Bewusstsein über den Kapitalismus. Die von Menschen gemachten Verhältnisse, die sich hinter Ware, Geld und Kapital verbergen, erscheinen als Eigenschaften von Sachen. Der Kapitalismus erscheint nicht mehr als historisch-gesellschaftliches Verhältnis, sondern, so Postone, als eine „zweite Natur“, die sich wie die Ware in Konkretes und Abstraktes spaltet. Diese bereits im Fetischcharakter der Ware angelegte Naturalisierung der ökonomischen Formen setzt sich fort: Das Konkrete wird als Industriekapital, Technik und Staat als direkter Nachfolger von natürlichen und organischen Verhältnissen begriffen, während das abstrakte Finanzkapital als parasitär erscheint; die Einheit der industriellen Wertproduktion mit dem zinstragenden Kapital wird im fetischistischen Bewusstsein zerrissen und der Kapitalismus nur noch mit seinen abstrakten Seiten identifiziert.

Im völkischen Antisemitismus potenziert sich dieser Fetischismus gleichsam zum Biologismus. Das produktive Kapital wird der magyarischen „Volksgemeinschaft“ gleich als natürlich und positiv angenommen, während die negativen, abstrakten Aspekte der Ökonomie als Auswüchse einer Verschwörung von außen imaginiert werden. Die Art und Weise, wie die Völkischen in Ungarn über jene sprechen, die sie für kapitalismusimmanente Krisenphänomene verantwortlich halten – sei es das „Groß- und Finanzkapital“, die EU oder der Internationale Währungsfonds (IWF) –, gibt Aufschluss darüber, dass sie im Zweifel genau wissen, wer eigentlich dahinter steckt: eine oftmals mit antisemitischem Vokabular beschriebene Verschwörung.

VERSCHWÖRUNGSTHEORETIKER ORBÁN. Nicht zufällig nennt Orbán seine Wirtschaftspolitik eine Hinwendung „vom spekulativen zum produzierenden Kapitalismus“. Sobald Orbán auf die einzelnen AkteurInnen der spekulativen Wirtschaft zu sprechen kommt, die er von den nationalen, produktiven und als positiv erachteten trennen will, tauchen antisemitische Konnotationen und Anspielungen auf. So spricht Orbán etwa von einem „wirtschaftlichen Befreiungskampf“ gegen das spekulative Geschäft der Banken sowie gegen den IWF, aus dessen „Würgegriff“ man sich befreien müsse – als käme die Krise des Kapitals von außen, statt aus den eigenen Tendenzen des Kapitals.

Der Kampf gegen die Banken schlug sich in konkreten gesetzlichen Maßnahmen nieder. Als Maßnahme zur Konsolidierung des Staatshaushaltes angekündigt, beschloss Fidesz kurz nach der Übernahme der Regierungsgeschäfte Sondersteuern für Banken, die vor allem ausländische Banken traf, sowie ein Notenbankgesetz, das der Exekutive die Kontrolle über den Leitzins verlieh. Anlässlich der negativen Reaktionen vonseiten der EU und des IWF sprach die Regierung von einer „Verschwörung“ der „internationalen Linken“, die Ungarn mit „Finanz- und Spekulationsangriffen“ in die Mangel genommen hätte. Schließlich nahm Orbán die meisten Regelungen des Notenbankgesetzes zurück, drohte aber mit einem „Wirtschaftskrieg“ gegen jene, die das Leben der Ungarn „wie eine Krake zuschnüren“. Die antisemitischen Zuschreibungen an IWF und EU sind greifbar.

KALMIERUNG DES KLASSENKONFLIKTS. Die Verlagerung des konstitutiven Krisencharakters kapitalistischer Ökonomie nach außen wird von der vermeintlichen Befriedung gesellschaftlicher Widersprüche begleitet. Statt den Konflikt zwischen Kapital und Arbeit durch Institutionen wie Industriellenvereinigungen und Gewerkschaften auszutragen, wird er in Ungarn zunehmend verdrängt und externalisiert. Das zeigt sich auch in der Zusammenlegung der Ministerien für Wirtschaft, Arbeit und Finanzen zu einem „Ministerium für Volkswirtschaft“. Nicht zufällig strebt Orbán demnach eine Ökonomie an, die nicht auf dem „arbeitslosen Einkommen“ der Banken beruht, sondern „auf Arbeit“, wie es der Pfeilkreuzler Ferenc Rajniss schon 1937 in einem Vortrag über die „Judenfrage“ vor dem antisemitischen Turul-Verband einforderte. Dabei geht es Orbán jedoch keineswegs um die Verbesserung der Lebenssituation der Arbeitenden, sondern um eine umfassende Neuausrichtung der Wirtschaftspolitik gegen die als „jüdisch“ imaginierten Seiten des Kapitalismus.

Lucilio Zwerk studiert Politikwissenschaft an der Universität Wien.

„Insgesamt bin ich nicht allzu optimistisch“

  • 21.06.2016, 20:22
Moishe Postone ist Professor an der Universität von Chicago. Von 1972 bis 1982 lebte Postone in Frankfurt. In dieser Zeit entstand auch sein im deutschsprachigen Raum bekanntester Text „Nationalsozialismus und Antisemitismus“. Im Moment ist er für ein Forschungsprojekt in Wien.

Moishe Postone ist Professor an der Universität von Chicago. Von 1972 bis 1982 lebte Postone in Frankfurt. In dieser Zeit entstand auch sein im deutschsprachigen Raum bekanntester Text „Nationalsozialismus und Antisemitismus“. Im Moment ist er für ein Forschungsprojekt in Wien.

progress: In Ihrem Buch „Zeit, Arbeit und gesellschaftliche Herrschaft“ grenzen Sie die kritische Theorie von Marx stark vom Marxismus der II. und III. Internationale ab. Letzteres fassen Sie unter dem Namen traditioneller Marxismus zusammen. Können Sie das ein wenig ausführen und die Unterschiede erklären?
Moishe Postone: Die Kategorie „traditioneller Marxismus“ ist eine Bezeichnung, die sehr viele Ansätze einschließt. Der gemeinsame Nenner ist eine Kritik am Kapitalismus, die sich ausschließlich gegen die Distributionsweise, das Privateigentum und den Markt richtet. Der Standpunkt der Kritik ist die Arbeit. In einer postkapitalistischen Gesellschaft sollen die Arbeiter_innen den Reichtum, den sie produziert haben, innerhalb einer Planwirtschaft zurückbekommen. Zwar nicht als Einzelne, aber gesellschaftlich. Diese Analyse des „traditionellen Marxismus“ ist auf der einen Seite historisch inadäquat geworden und auf der anderen Seite ging schon die Kritik von Karl Marx in eine andere Richtung. Bei ihm ist es eine Kritik der Arbeit im Kapitalismus, statt einer Kritik vom Standpunkt der Arbeit aus. Ich habe versucht herauszuarbeiten, wie der spezifisch kapitalistische Charakter der Arbeit im Kapitalismus einer sehr komplexen Dynamik unterliegt. Diese Dynamik unterscheidet den Kapitalismus von allen vorhergehenden Gesellschaften. Marx liefert mit seiner Analyse ein Instrumentarium, um diese widersprüchliche Dynamik zu begreifen.

Und diese Widersprüche im Kapitalismus sind dann auch jene, die zu Widersprüchen gegen den Kapitalismus führen?
Ja, und fast alle die sich mit Marx beschäftigt haben, reden von der Widersprüchlichkeit des Kapitalismus. Größtenteils wird dieser Widerspruch aber als einer zwischen Privateigentum und Markt auf der einen und Arbeit auf der anderen Seite verstanden. Ich halte dem entgegen: Nein, es ist ein Widerspruch zwischen dem Zustand, wie Arbeit heute organisiert wird und einer möglichen zukünftigen Organisation der Arbeit. Ein Widerspruch zwischen dem Bestehenden und dem in ihm enthaltenen Potential, welches aber durch das Bestehende selbst nicht verwirklicht werden kann und deshalb auf die Möglichkeit der Aufhebung des Kapitalismus verweist. Es ist eine Kritik an der auf Arbeit basierenden Gesellschaft.

Warum haben die Marxist_innen am Ende des 19. Jahrhunderts und am Anfang des 20. Jahrhunderts Marx so gelesen?  Wer den Autor der Kritik der politischen Ökonomie aufmerksam liest, stößt auf viele Stellen, in denen er diese Kritik an der kapitalistischen Arbeit sehr explizit ausführt. Wie kam es also dazu?
Einmal ist es eine Rezeptionsgeschichte. Die Leute haben eigentlich nicht Marx gelesen, außer vielleicht das Kommunistische Manifest. Hauptsächlich haben sie Friedrich Engels gelesen. Was Marxismus genannt wird, sollte Engelsismus heißen. Es ist aber nicht nur eine Rezeptionsgeschichte. Die Arbeiterklasse wuchs zu dieser Zeit rasant an. Es war vor diesem Hintergrund sehr leicht vorstellbar, die Gesellschaft in Form der Kapitalistenklasse einfach zu enthaupten und damit eine befreite Gesellschaft zu erringen. Vor 50 Jahren kam diese Entwicklung aber an ihr Ende. Die Linke der 1960er verstand das nicht ganz. Zum einen vollzog sich damals etwas, was André Gorz den Abschied vom Proletariat nannte. Zum anderen gab es in Deutschland K-Gruppen, die den Gang in die Fabriken propagierten. Sie waren in historischen und politischen Belangen sehr verwirrt. Nicht, weil sie in die Fabriken gingen, sondern weil sie das Zentrum der Weltrevolution in China oder gar Albanien sahen. Die meisten hatten keine Ahnung was Albanien für ein Land war. Enver Hodscha war nicht nur kein netter Typ, in Albanien gab es fast keine Motorisierung. Und dieses Land sollte die Sperrspitze der Weltrevolution repräsentieren? Hier wurde Kritik zur reinen Glaubenssache.
Wenn man die Bewegung in den 1960er Jahren betrachtet, dann ist diese Form der Dogmatisierung jedoch nicht die Richtung, in die diese amorphe Bewegung gegangen ist. Es kam damals zu einer großen Verschiebung. Im Großen und Ganzen wurde die Stelle des Proletariats von den antikolonialen Kämpfen eingenommen. Es gibt einen Unterschied, ob man antikoloniale Bewegungen unterstützt, weil sie als vollwertige Menschen anerkannt werden wollen, oder ob man denkt, dies sei der Keim einer postkapitalistischen Gesellschaft. Das hatte verheerende Folgen. Am stärksten wurde dies im Nahen Osten sichtbar. Jahrelang sympathisierten Antiimperialisten mit Polizeistaaten im Nahen Osten. Solange sie keine langen Gewänder trugen und nicht allzu religiös waren, galten sie den europäischen Antiimperialisten als progressiv. Aber das waren sie nicht, auch wenn sie damals von der Sowjetunion unterstützt wurden. Die teils berechtigte, teils völlig unberechtigte totale Fokussierung auf Israel hat viele Linke blind für diese Probleme gemacht. Man bemerkt das noch heute im Fall von Syrien: Die Linke hat dazu nicht viel zu sagen. Dabei hat das Regime unter Assad vermutlich schon über 300,000 Syrer_innen ermordet. Zudem kam in den 1960er Jahren die Identitätspolitik auf. Sie begann als Kritik an einem abstrakten Universalismus, der Differenz nicht berücksichtigte, engte sich aber schnell zu einem Partikularismus ein. Was es auf keinen Fall gab, war eine Rettung der proletarisch zentrierten Politik. Dazu gab es nur Lippenbekenntnisse und viele marschierten mit roten Fahnen, aber das war alles.

Wenn man Autoren der 1960-70er Jahr liest, fällt vereinzelt auf, dass es doch auch welche gab, die beim Arbeitsbegriff vom traditionellen Marxismus sehr abwichen. Wie weit verbreitet war das damals?
Es war nicht sehr verbreitet. Das kann jetzt auch Lokalpatriotismus sein, aber ich würde behaupteten, es wurde vor allem in Frankfurt vertreten. Seit den späten 1930er Jahren hatten Autoren wie Theodor W. Adorno oder Max Horkheimer Abschied von der Verherrlichung der Arbeit genommen. Gut, ich finde die Kritik der Frankfurter Schule einseitig und problematisch. Sie drehten die Bewertung der Arbeit einfach nur um. Das sehe ich kritisch, aber diese Tradition hat viele Linke in Frankfurt gegen den Marxismus-Leninismus geimpft. Die ML-Gruppen waren wohl auch deshalb in Frankfurt schwächer als in vielen anderen deutschen Städten.

Wie verhält es sich denn mit der Marx-Rezeption außerhalb des deutschsprachigen Raumes, gibt es da neben ihnen auch andere Autoren, die diese Kritik an der kapitalistischen Arbeit vertreten?
Ja, aber sie sind höchstwahrscheinlich nicht so bekannt. Patrick Murray, Christopher Arthur, Marcel Stoetzler, es gibt sie schon. Unabhängig davon gibt es eine starke Marx-Welle in den USA und Großbritannien, aber dort wird Marx anders gelesen. Der angelsächsische Marxismus war schon immer auf die Ökonomie zentriert, er war immer mehr eine kritische politische Ökonomie statt einer Kritik der politischen Ökonomie. Es fehlt eine gewisse Reichhaltigkeit der deutschsprachigen Diskussion. Wenn die Linken in Großbritannien versuchten, sich Theorie anzueignen, blickten sie nach Frankreich und lasen Louis Althusser, Ètienne Balibar und dann später Michel Foucault. Jene Kritik aber, die mit dem Werk von Georg Lukàcs beginnt und in der kritischen Theorie fortgesetzt wird, die eine Gesellschafts- und Kulturkritik formuliert, wird in den USA nur von einer kleinen Gruppe von Akademiker_innen und ihren Student_innen vertreten. Dennoch, Marx ist in den USA und Großbritannien viel weiter verbreitet als in Deutschland oder Österreich.

Spielen sie bei dieser kleinen Gruppen von Akademiker_innen und Student_innen auf die Gruppe Platypus an?
Ich meinte das viel allgemeiner. Die Gruppe Platypus, die kaum für alle Gruppen steht, die die kritische Theorie rezipieren, ist leider sehr zwiespältig. Ich kannte die Gründungsmitglieder sehr gut. Manche haben meine Seminare belegt und sind aus Chicago. Sie präsentieren sich als Gruppe, die sich sehr ernsthaft mit Theorie beschäftigt, sehr viel ernsthafter, als viele andere. Andererseits versuchen die Führungskader etwas zu tun, was nicht machbar ist. Sie wollen meine Arbeit, die von Adorno und von Lenin verbinden. Mein Buch ist sehr bewusst gegen den Leninismus geschrieben. Es war ein Versuch auf einer sehr grundlegenden Ebene gegen den Leninismus vorzugehen.

Sie beschreiben eine Dynamik, die unabhängig von spezifischen Regierungen überall auf der Welt ähnlich abläuft. Wie kann man erklären, dass der Wohlfahrtsstaat heute nicht mehr finanziert werden kann oder warum die Sowjetunion und der Wohlfahrtsstaat zur gleichen Zeit untergingen?
Es gibt sehr viele Theorien über die Gründe der Krise in den frühen 1970er Jahren. Keine davon überzeugt mich vollkommen. Wenn die amerikanische Presse versucht das Phänomen Trump zu erklären, reden sie über die Misere der ehemaligen industriellen Arbeiterklasse in den USA. Ihr Durchschnittslohn ist seit 1973 gleich geblieben. In Deutschland stieg er dagegen noch eine gewisse Zeit an. Deutschland blieb in manchen Bereichen länger ein Wohlfahrtsstaat. Es gab aber auch in Deutschland gegenläufige Tendenzen. In den 1960er Jahren nahm die Zahl der Student_innen stark zu. Um dies zu finanzieren, wurde der Sozialstaat ab den frühen 1970er zurückgeschraubt. Ich glaube es gibt einen Zusammenhang zwischen den Grenzen einer auf proletarischer Arbeit basierenden Gesellschaft, den Grenzen des Keynesianismus und der ökonomischen und ökologische Krise.

Der Kapitalismus hat die Tendenz, immer weniger Arbeit für die Produktion seines Reichtums zu gebrauchen. Dies bedeutet gleichzeitig eine Abnahme der Zahl von Arbeiter_innen. Damit wird eine wichtige Einkommensquelle des Wohlfahrtsstaates beschnitten. Kann man sich das so irgendwie vorstellen?
Ja, aber ich möchte dies noch wertkritisch ausarbeiten. Dort bin ich noch nicht. Die Krise von 2008 ist wirkliche ein Nachbeben der Krise von 1973.

In der Linken ist im Moment eine gewisse Re-Traditionalisierung zu beobachten. Man liest wieder Lenin oder Luxemburg. Oder man bezieht sich auf den Wohlfahrtsstaat der 1970er Jahre. Beide wollen eine neue linke Partei gründen, wie erfolgsversprechend ist das?
Dramatisierend gesagt, es ist ein widersprüchliches Problem. Es gab früher einen Zusammenhang von Arbeitskämpfen und Veränderung. Progressive Leute müssten in der heutigen Situation zwei Sachen versuchen, die in zwei verschiedene Richtungen gehen. Die Arbeiter_innen vor den Auswirkungen des Kapitalismus schützen, denn ihre Situation wird Zusehens erbärmlich und den Kapitalismus mit dem Ziel seiner Überwindung kritisieren.

Kommen wir zum Antisemitismus, zu dem Sie in der Vergangenheit viel geforscht haben. Wie funktioniert der Antisemitismus in der bürgerlichen Gesellschaft und warum wird er unter bestimmten Verhältnissen virulent?
Der Antisemitismus ist eine Fetisch-Form, die den seit mindestens einem Jahrtausend existierenden christlichen Antijudaismus zur Voraussetzung hat. Aber beide Phänomene sind nicht dasselbe. Der Antisemitismus ist eine bestimmte antikapitalistische Ideologie, die zwischen der konkreten Dimension des Kapitals (Industrie, Maschinen) und der abstrakten (Geld, Börse, Banken) trennt. Dabei wird in dieser Ideologie die konkrete Seite des Kapitals als gesund und gut erachtet. Die abstrakte Seite dagegen als zersetzend und global. Diese Trennung drückt sich konkret in einer ideologischen Sicht auf den Kapitalismus aus, die sowohl die industriellen Kapitalist_innen, als auch die Arbeiter_innen als Produzent_ innen sieht und alleinig die Bankiers als Schmarotzer_ innen identifiziert.

Das ist die Basis der antisemitischen Ideologie. Wie kommt es dazu, die abstrakte Seite des Kapitals als jüdisch zu imaginieren?
In Ländern wie Österreich oder Deutschland gab es nicht nur eine lange Tradition des christlichen Antisemitismus: Die Jüd_innen erlangten ihre Rechte in der bürgerlichen Gesellschaft genau in dem Moment, in dem auch die kapitalistische Industrialisierung expandierte. Jüd_innen wurden plötzlich sichtbar und zwar besonders in Berufen, die mit dieser Entwicklung aufkamen, während traditionellere Berufe bedroht waren. Antisemitismus ist jedoch nicht nur eine Form des Rassismus. Ich könnte auch auf andere Dimensionen des Problems aufmerksam machen, wie den Unterschied zwischen Gesellschaften, die durch staatliche Intervention modernisiert wurden, wie in Zentraleuropa und zum Teil auch in Frankreich, und Gesellschaften mit einer älteren liberal-kapitalistischen Geschichte. Nein, der Antisemitismus ist eine Weltanschauung. Diese Ideologie will die Welt erklären und deshalb ist sie so weit verbreitet. Der Rassismus funktioniert dagegen anders. Ich will das nicht hierarchisch verstanden wissen. Das eine ist nicht bekämpfenswerter als das andere. Der Antisemitismus ist zudem ein Krisenphänomen. Schauen wir dazu in den Nahen Osten. Es gibt mehrere Gründe, warum der Antisemitismus dort heute so verbreitet ist. Da wäre die Nazi-Propaganda während des Zweiten Weltkriegs. Aber das erklärt natürlich nicht alles. Ein zweiter Faktor ist die Sowjetunion: 1967 hatte Israel die mit der Sowjetunion verbündeten arabischen Staaten geschlagen. Nach der Niederlage ihrer Verbündeten startete die Sowjetunion eine Propaganda, die dem Stürmer entstammen hätte können. Der Zionismus wurde mit dem Faschismus gleichgesetzt. Dann ist da der ökonomische Abstieg dieser Weltregion auf ein Niveau vergleichbar mit dem Afrikas südlich der Sahara. Der Abstieg der arabischen Welt beginnend in den 1980er Jahren und der gleichzeitige Aufschwung anderer Weltteile, die früher als Dritte Welt galten, haben viele Menschen im Nahen Osten empfänglich für Verschwörungstheorien gemacht. Diese Verschwörungstheorien hatten sie zur Hand.

In Europa ist geographisch eine Spaltung der radikalen Rechten zu beobachten. In Westeuropa sind es vor allem Rechtspopulist_innen die einen Ethnopluralismus vertreten, der Muslime und den Islam nicht in Europa will. In Osteuropa sind viele dieser Parteien sehr traditionell völkisch und antisemitisch. Woran liegt das?
Die Staaten in Osteuropa definieren sich seit ihrer Entstehung ethno-nationalistisch. Einzig die tschechische Republik ist da eine partielle Ausnahme. Schon die Unabhängigkeitsbewegungen gegen die Habsburger waren ethno-nationalistisch. Nach der Unabhängigkeit der einzelnen Staaten von Österreich-Ungarn bestanden viele ethnische Konflikte weiter. Die einzige säkulare Tradition in diesen Staaten war der Kommunismus. Der heutige reaktionäre Charakter vieler dieser Staaten und ihrer Bevölkerung ist ein Zeichen für das Scheitern des sowjetischen Modells. Aktuell sind die osteuropäischen Staaten in ernsthaften ökonomischen Schwierigkeiten. In Ungarn spricht Viktor Orban von einer weltweiten Verschwörung gegen Ungarn, er verbindet dies alles mit dem Namen eines Mannes: George Soros. Es ist kein Zufall das Soros jüdisch ist. (Mehr zu dem Thema in diesem Artikel) Im Westen war der Ethno-Nationalismus nicht so stark, weil die Nationen sich früher als bürgerliche Staaten konstituierten. Es gab auch immer eine Spannung zwischen dem ethnischen Charakter der Nation und ihrem formal politischen Anspruch. Im Westen will man wohl zumindest den Anschein erwecken, ein wenig kosmopolitisch zu sein. Im Fall von Österreich bin ich mir da aber nicht so sicher. Insgesamt bin nicht allzu optimistisch. Wenn man sich die Zwischenkriegszeit ansieht, kippten zwar zuerst die osteuropäischen Staaten nach rechts, doch diese Tendenz verschob sich danach Richtung Westen. AfD oder Pegida sind klar ethno-nationalistische Bewegungen mit starken antisemitischen Tendenzen. Sie geben sich öffentlich nicht so, aber sie sind es.

Es wird immer wieder gesagt, die Schwäche der Linken sei die Stärke der FPÖ. Die SPÖ würde ihre Werte eben gar nicht mehr vertreten.
Und was wäre sozialdemokratische Politik?

Ein Wohlfahrtsstaat der 1970er Jahre, Keynes.
Ja aber wenn das nicht geht? Es ist ein Dilemma. Egal ob SPÖ oder SPD, sie sind immer weniger und weniger Arbeiter_innenparteien. Aber das hängt mit den strukturellen Veränderungen zusammen. Der Untergang einer Klasse ist nie schön. Die Linke war sich darüber im Falle des Kleinbürgertums sehr bewusst. Aber sie stehen diesem Umstand im Falle der industriellen Arbeiter_innenklasse ein wenig hilflos gegenüber. Genau das passiert gerade: Es ist eine Krise der industriellen Arbeiter_innenklasse.

Und was wird mit dieser Klasse passieren?
Viele werden sehr arm und wütend werden. In den USA führt das auch zu einer Militarisierung der Gesellschaft. Es gibt immer mehr Menschen, die arbeitslos oder halb-angestellt sind. Das nennt man die Gig-Economy. Angelehnt ist das Wort an den Jazz-Musiker, der eine kurze Anstellung nach der anderen hat. Du kannst Taxi-Fahrer am Morgen, Putzfrau am Nachmittag und ein Nachwächter in der Nacht sein und trotzdem reicht es kaum zum Leben. Man muss immer flexibel sein und dies wird als Freiheit verkauft. Ich glaube wir sind in einer großen Krise und die Rechte wird davon profitieren. Die Rechte hat kein Programm, aber sie kann Wut kanalisieren. Die Linke will das nicht und versucht rational zu bleiben.

Aber es gibt linke Politiker, die das doch schaffen?
Bernie Sanders kann die Wut auch gut kanalisieren. Es gibt viele Arbeiter_innen, zumindest wenn man den Medien glauben kann, die nicht sicher sind, ob sie Donald Trump oder Sanders wählen sollen. Aber Sanders Lösungen sind auch nur linker Populismus. Dieser ist natürlich nicht reaktionär wie rechter Populismus. Aber es wird nicht funktionieren. Es sind nicht die Freihandelsverträge, die allein für den Rückgang der Beschäftigung verantwortlich sind. Ein Beispiel: Letztens las ich einen interessanten Artikel über die Tomaten-Ernte in Kalifornien. 1952 wurden 2,5 Millionen Tonnen Tomaten geerntet, dafür wurden 45.000 Arbeiter_innen beschäftigt. Dann entwickelten Forscher an der Universität von Kalifornien in Davis eine viereckige Tomate, die von Maschinen einfach geerntet werden konnten. Heute werden 12 Millionen Tonnen Tomaten geerntet und dafür werden 2.000 Arbeiter_innen beschäftigt. Das passierte nicht weil die Tomatenindustrie in ein anderes Land verlegt worden wäre. Diese Entwicklung der Wissenschaft und der Maschinen im beengenden kapitalistischen Rahmen ist der Hauptgrund dafür, dass es immer weniger Jobs gibt. Natürlich kann man die Handelsverträge kritisieren, auch diese neoliberale Phantasie, dass mehr Freihandel mehr Beschäftigung bedeutet. Aber wer behauptet, die strukturellen Veränderungen in den USA seien hauptsächlich durch die Handelsverträge entstanden, liegt einfach falsch. Das ist eine Verkürzung.

Michael Fischer studiert Deutsch und Geschichte auf Lehramt an der Universität Wien.

Grasgrüne Hoffnungsschimmer

  • 21.06.2016, 19:48
In Granadas Nordbezirk Almanjáyar bringen zahllose Indoor-Cannabisplantagen die Stromnetze an ihre Belastungsgrenzen. Und deren Blüten den krisengeplagten BewohnerInnen ein illegales Einkommen. Ein Lokalaugenschein.

In Granadas Nordbezirk Almanjáyar bringen zahllose Indoor-Cannabisplantagen die Stromnetze an ihre Belastungsgrenzen. Und deren Blüten den krisengeplagten BewohnerInnen ein illegales Einkommen. Ein Lokalaugenschein.

Wer den Duft kennt, weiß was hier wuchert. In jedem Straßenzug zwischen den tristen, oft verwaisten 1970er-Wohnblöcken der Satellitensiedlung am äußersten Stadtrand der andalusischen Provinzhauptstadt Granada riecht es fein süßlich nach Cannabis. Nicht nur an diesem tiefgrauen, regnerischen Maitag, der zum Alltag in Almanjáyar passt.

Ein Schuss aus einem Druckluftgewehr ertönt. Die getroffene Katze miaut schmerzerfüllt. Gelächter. An der Ecke spielen Kinder und Jugendliche, die eigentlich in der Schule sein sollten, mit Airsoft-Pump-Guns. Streunerjagen ist ein willkommener Zeitvertreib. Außenstehende sind hier nicht gern gesehen, denn neben dem Cannabis gehören auch der Verkauf von Kokain und Sexarbeit zu der hier alles dominierenden Schattenwirtschaft.

Der Cannabisanbau stieg über die vergangenen Jahre immens an, vor allem mit der in Granada nichtendenwollenden Krise. „Er prägt den Alltag der von Massenarbeitslosigkeit und Perspektivlosigkeit geplagten Bewohner_innen“, weiß José Lombardo. Der gelernte Installateur hält sich mit Gelegenheitsjobs und zeitweise als Aushilfs-Pizzakoch finanziell über Wasser. Seit mehr als zehn Jahren lebt er hier. Wie er progress erklärt, will er „auch am Boom um die Cannabisplantagen, die leerstehende Wohnungen, Keller, Garagen, ja selbst Industrieflächen füllen, teilhaben“. Jedoch legal: „Guano-Dünger, Kokosmatten, Samen, alles was man für den Anbau braucht“, will er zu seinem Geschäft machen. Und sich eine Ausbildung als Schädlingsbekämpfer leisten.

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SIE KAUFEN ALLES. „Kontrolliert wird der Anbau und Handel von hier vor Dekaden an den Stadtrand umgesiedelten Roma-Familienclans“, sagt Lombardo. „Kund_innen kommen aus Holland, Tschechien, Deutschland. Erst vor wenigen Wochen hat man zwei Franzosen festgenommen, die 34 Kilo im Auto transportierten“, sagt er.

„Sie kaufen alles“, weiß sein Jugendfreund Juan Heredía*, der anonym bleiben will. Heredía ist „Kleinstbauer“. Er hat eine potente Grow- Lampe und 16 Pflanzen, wie er sagt. Dank eines Sozialtarifs ist seine Stromrechnung gering. „30 Euro im Monat.“ Seine größte Sorge ist, dass man ihm seine Ernte stiehlt. „Wo das Geld quasi an ‚Bäumen‘ wächst, gibt es Neider_innen.“ „Warum nach Marokko fahren, um Kif oder Haschisch zu kaufen? Und es über eine EU-Außengrenze schmuggeln, wenn man in Granada für 1000 Euro das Kilo Indoor-Cannabis kaufen kann?“, erklärt sich die Policía Nacional die Plantagenschattenwirtschaft.

Angebot bestimmt die Nachfrage und vice versa. So habe es sich längst bis nach Mitteleuropa durchgesprochen, dass man hier „Qualität für einen Euro das Gramm bekommt“. Sofern man ausreichend große Mengen abnimmt. Die Polizei kommt kaum mit der Beschlagnahme von Pflanzen nach. Fast 12.000 Stauden wurden im Vorjahr vernichtet. Das ist Rekord in Spanien und stellt fast ein Viertel der landesweit konfiszierten Cannabispflanzen dar. Periodische Razzien tun dem Anbau jedoch kein Ende.

Die stetigen Routinekontrollen bei der Ausfahrt aus dem Stadtteil nerven Lombardo indes: „Zwei, drei Mal die Woche wird mein Auto komplett durchsucht.“ Was er mittlerweile mit einberechne, wenn er ins Zentrum fährt.

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STROMAUSFALL. Die „Maria“ hat für die lokale Ökonomie sowie in den angrenzenden Bezirken La Paz, Rey Badis aber auch Cartuja sukzessive an Bedeutung gewonnen. Insbesondere, weil knapp 80 Prozent, ein Großteil der jungen SpanierInnen, bereits lange Zeit erwerbslos sind. Immerhin verdient man als Tagelöhner_ in im Gras-Gewächshaus mehr als bei der harten Olivenernte. 50 bis 80 Euro, die bei einem gesetzlichen monatlichen Mindestlohn von knapp 650 Euro locken. „Wer mehr als 200 Pflanzen hat, braucht Hilfe, um die Blüten vom Blattwerk zu befreien“, weiß Lombardo: „Das muss schnell gehen. Zeit ist Geld. Kund_innen stehen Schlange.“

Der Indoor-Plantagenanbau führt jedoch auch zu Problemen. Angezapfte Stromleitungen strapazieren die Netze über die Grenzen der Belastbarkeit. Stromausfälle sind die Regel. Zwei Trafostationen waren mit dem Strombedarf restlos überfordert. „Sie haben sie durchgeheizt“, sagt Lombardo, schüttelt den Kopf und lacht: „Das Licht ging flächendeckend aus.“ Mittlerweile begleiten stets Angestellte des Stromgiganten Endesa die PolizistInnen bei Razzien. Mehrfach haben Anwohner_innen, die nichts mit dem Grasanbau am Hut haben, protestiert. Endesa gab an, dass der Stromverbrauch in Almanjáyar den von Juncaril, dem größten Industriegebiet bei Granada, übertreffe. Dieser Fakt macht die Dimensionen begreifbar

Im Zuge der „Operation Urko“ nahm die Polizei zum Jahreswechsel 2015 19 Plantagen in Wohnungen, Garagen und Kellern aus. Alleine in dieser Aktion – einer von vielen – wurden stattliche 2.200 Pflanzen beschlagnahmt, außerdem 5,7 Kilogramm getrockneter, verkaufsfertiger Cannabisblüten in Topqualität. 212 Halogen-Hochleistungsanbaulampen, Verteilerstecker, Zeitschaltuhren, Ventilatoren, Klimaanlagen, Pumpen und Co. zeugten vom Grad der Professionalität.

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LAXES STRAFRECHT. Erst Monate nach der Razzia wurden sieben Männer ausgeforscht und festgenommen. Von Seiten der Ermittler_innen wird nicht nur das Stillschweigen der Anwohner_innen, sondern mehr noch das „zu laxe Strafrecht“ lamentiert. Wer unbescholten als Plantagenbesitzer_ in entlarvt wird, „kann zwar nicht auf die Eigenbedarfs-Strategie bauen“, scherzt Lombardo. Aber man komme schlimmstenfalls mit einer bedingten Haftstrafe davon.

Jemi Sánchez, Sozialarbeiterin, langjährige sozialistische Bezirksrätin für Almanjáyar und nun Neo-Stadträtin, weiß: „Die Bewohner_innen werden hier im Stich gelassen. Es ist nicht sicher hier, dreckig, und es gibt keine Arbeit.“ Sie fordert im progress-Gespräch Lösungen ein, für fast 30.000 Menschen, die in den Nordbezirken leben. Höchste Zeit wäre es. Womöglich klappt es nun unter Francisco Cuenca Rodríguez vom sozialistischen PSOE, der seinem in Korruptionsskandale verwickelten Vorgänger als Bürgermeister nachfolgt. Ein weiterer Hoffnungsschimmer. Auf eine Wende abseits grasgrüner Geschäfte.

* Name der Redaktion bekannt

Jan Marot studierte Publizistik- und Kommunikationswissenschaft in Wien und Zürich und arbeitet seit 2007 als freischaffender Auslandsjournalist.

Existenzieller Deutschkurs – dreimal so teuer

  • 18.06.2016, 15:36
Österreich will internationale Hochschulen, präsentiert sich als offen und zugänglich für alle. Leider liegt zwischen Idee und Realität eine Welt voller Hürden und Beschränkungen.

Existenzieller Deutschkurs – dreimal so teuer Österreich will internationale Hochschulen, präsentiert sich als offen und zugänglich für alle. Leider liegt zwischen Idee und Realität eine Welt voller Hürden und Beschränkungen.

Die Problematiken, mit denen Drittstaatsangehörige konfrontiert sind, die in Österreich studieren wollen, geraten kaum in den Blick öffentlicher Debatten. Selten werden Betroffene gefragt, welche bürokratischen Hürden sie zu überwinden haben, um hier studieren zu können. Täglich sind wir als Referat für ausländische Studierende der Bundesvertretung der ÖH mit dieser Problematik konfrontiert und versuchen künftige und gegenwärtige Studierende dabei zu unterstützen, ein Studium in Österreich zu beginnen, oder ein bereits begonnenes Studium abzuschließen.

BÜROKRATIE. Der Weg durch die Bürokratie ist lang und entsprechend aufwändig. Zunächst erfolgt die Anmeldung auf einer österreichischen Universität mit Reifeprüfungszeugnis und Studienplatznachweis. Im Falle eines positiven Zulassungsbescheids (die zuständigen Stellen benötigen etwa 12 Wochen für die Bearbeitung) müssen die angehenden Studierenden einen Antrag auf einen Aufenthaltstitel stellen. Den Antrag für Studierende stellt man, sofern man visumfrei nach Österreich anreisen darf, in der MA 35, wenn nicht, muss der erste Antrag in einer österreichischen Botschaft gestellt werden. Zu erwähnen ist, dass es in manchen Ländern keine österreichische Botschaft gibt und Betroffene daher in benachbarte Länder einreisen müssen, um einen Antrag auf ein Visum für Österreich zu stellen. Auch in den Behörden der Herkunftsländer beträgt die Wartezeit einige Wochen. Erst wenn von der Botschaft ein sogenanntes „Visum D“ ausgestellt wird, ist die Einreise nach Österreich und die persönliche Inskription an der Universität möglich. Man kann sich vorstellen, dass das alles enorm viel Geld und Zeit kostet, zumal dieser steile bürokratische Weg nicht mit der Ankunft in Österreich endet. Nachdem man bereits im Herkunftsland von einem Magistrat ins andere gegangen ist, die erforderlichen Dokumente besorgt hat, übersetzen, abstempeln und beglaubigen ließ, setzen sich diese Strapazen in Österreich in ähnlicher Weise fort. Anträge für die Verlängerung von Visa und ständige Besuche in der MA 35 stehen auf der Tagesordnung. Unsicherheiten entstehen häufig durch die vielen unterschiedlichen Nachweise, die Drittstaatsangehörige erbringen müssen, um an einer österreichischen Hochschule studieren zu dürfen. Auf Unverständnis trifft beispielsweise der sogenannte Studienplatznachweis; eine Bestätigung dafür, dass die betreffende Person, die ein Studium in Österreich anstrebt, das gewünschte Studienfach auch auf einer anerkannten Hochschule in ihrem Herkunftsland studieren könnte.

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Ausländische Studierende, besonders jene aus Drittstaaten, haben einen langen Weg hinter sich und kommen meist aus Ländern, in denen das durchschnittliche Monatseinkommen unter 500 Euro liegt. Im Vergleich zu Studierenden aus EU Ländern müssen sie Studiengebühren in der Höhe von 380-740 Euro pro Semester zahlen, dürfen aber gleichzeitig nicht mehr als zehn Stunden pro Woche arbeiten. Vom Bezug von Studienbeihilfe sind sie ausgeschlossen. Ausländische Studierende müssen jährliche Leistungsnachweise bei der MA 35 in der Höhe von 16 ECTS Punkten erbringen, sonst dürfen sie nicht in Österreich bleiben. Der finanzielle Aufwand ist also um ein vielfaches Höher, als für österreichische Studierende und hier sprechen wir noch nicht einmal von Lebensunterhaltskosten, die wir ja alle zahlen müssen. Im Endeffekt läuft dies darauf hinaus, dass nur Personen für ein Studium nach Österreich kommen können, deren Eltern die hohen Kosten dafür decken können.

SPRACHE MACHT INTEGRATION AUS. Das Bundesministerium für Äußeres betont im Bereich Integration die Notwendigkeit der Beherrschung der deutschen Sprache, ohne die eine Teilhabe an der Gesellschaft beinahe unmöglich scheint: „Das Erlernen der deutschen Sprache und die Akzeptanz unserer demokratischen Werte und Rechtsordnung sind zentrale Eckpunkte einer erfolgreichen Integration. Diese Grundpfeiler der Integration sind unabdingbare Voraussetzungen für die aktive Teilhabe an unserer Gesellschaft – ohne dabei die eigenen Wurzeln leugnen zu müssen“. Kurz gesagt sind wir ohne Sprache, mit der wir uns in einem bestimmten Raum, Land, in einer bestimmten Gruppe verständigen können, VERLOREN, NICHT ZUGEHÖRIG, NICHT FÄHIG. Sprache macht uns zu Menschen, bietet uns die Möglichkeit unser Denken zu erweitern, Fragen zu stellen und diese analytisch zu beantworten, die Möglichkeit weiter zu lernen und uns weiter zu entwickeln. Wenn ihr es so wollt, bietet uns auch die Möglichkeit, uns in die Mehrheitsgesellschaft zu integrieren. Da die Sprache enorm wichtig ist, sollten nicht-deutschsprachige Studierende die Möglichkeit haben, finanziell tragbare Deutschkurse zu besuchen, um sich damit auf ihr Studium vorbereiten zu können.

Der Vorstudienlehrgang der Wiener Hochschulen (VWU), welcher mit der Vorbereitung ausländischer Studierender auf ein Studium in Österreich beauftragt ist, existiert schon sehr lange, genau gesagt seit 1962. Das Projekt ist eine Kooperation zwischen den sechs größten Hochschulen in Wien (Uni Wien, TU, WU, BOKU, MedUni, VetMedUni) und dem ÖAD (Österreichischer Austausch Dienst). Ziel ist es, für die Studierenden, die aus nicht deutschsprachigen Ländern kommen, unter anderem auch Deutschkurse anzubieten. An sich ist das Projekt sehr gut und hilfreich.

Wien ist eine Stadt, die durch Migration wächst. Diese Tatsache ist schon seit vielen Jahren bekannt. Auch an Wiener Hochschulen steigt die Zahl ausländischer Studierender von Jahr zu Jahr. Aus diesem Grund hat sich der VWU mit den Wiener Hochschulen zusammengesetzt und beschlossen, die bisherige Arbeitsweise zu reformieren.

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VWU NEU. Die Überlegungen, den VWU neu zu gestalten, gehen auf das Jahr 2013 zurück, in dem eine Diskussion zwischen dem VWU-Komitee und den Wiener Hochschulen stattfand. Es ging darum, die Vorstudienlehrgänge vor allem im Hinblick auf die Qualität zu verbessern, wie zum Beispiel einheitliche Inskriptionsfristen für alle DeutschkursanbieterInnen festzulegen, die Qualität der Unterrichtseinheiten zu verbessern, oder die Übungseinheiten aller KursanbieterInnen zu vereinheitlichen. Der VWU benötigte außerdem neue KooperationspartnerInnen, da zusammen mit der Österreichischen Orientgesellschaft (ÖOG) nicht genügend Kursplätze für alle Studierenden zu Verfügung gestellt werden konnten. Ende 2015 kamen zwei DeutschkursanbieterInnen hinzu: das Sprachzentrum der Uni Wien und „die Berater“.

Theoretisch klingt das Projekt VWU Neu gut und hilfreich für alle, die zum Studieren nach Österreich kommen wollen. Es stellt sich bei diesen Umstrukturierungen jedoch auch die Frage, wie die Qualitätsverbesserung finanziert werden soll und ob die für Drittstaatsangehörige existenziellen Deutschkurse erschwinglich bleiben.

Finanziert wird der VWU zum einen vom Bundesministerium für Bildung, Wissenschaft und Kultur, zum anderen durch die Kursgebühren der TeilnehmerInnen, die sich bis jetzt auf 460 Euro pro Person und Semester beliefen. Im Zuge der geplanten Umstrukturierung des VWU, werden die Preise nun auf 1.150 Euro pro Semester erhöht, also fast das Dreifache. Das ist natürlich ein Schock für diejenigen, die jetzt schon am Existenzlimit leben.

WAS BETROFFENE DARÜBER DENKEN. Um auch die Betroffenen zu Wort kommen zu lassen, haben wir Statements von jenen Drittstaatsangehörigen gesammelt, die den VWU besuchen. Über die künftige Verteuerung herrscht Unmut. „Viele Leute könnten es sich dann nicht leisten, in Österreich zu studieren“ bringt Muhamed aus dem Iran die Problematik auf den Punkt. Asaf aus Aserbaidschan meint “Wir haben keine Alternative, wir müssen jetzt zahlen, wir können nirgendwo anders hingehen“. Auch über die Gründe der steigenden Preise stellen unsere GesprächspartnerInnen Vermutungen an. Mirela aus Bosnien und Herzegowina sagt: “Die wollen uns hier nicht haben, ich fühle mich nicht willkommen. Sie wollen damit die Einwanderung stoppen”. Ein türkischer Student in Wien kommentiert: “Wenn die FPÖ in der Regierung ist, werden sie dieses Problem sowieso von den Wurzeln an lösen. Dann wird es weit und breit keine Kurse geben”. Ein anderer Gesprächspartner meint: „Das ist eine traurige Nachricht. Ich hoffe der Grund dafür ist nicht, dass sie eine höhere Bildung für ausländische Studierende in Österreich unmöglich machen wollen”.

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Personen, die zum Studieren nach Österreich kommen und den VWU besuchen, befinden sich bereits in einer prekären Situation, was das Arbeitsrecht und das Studienbeihilferecht betrifft. Eva aus Österreich, die eine amerikanische Matura hat und noch einige Ergänzungsprüfungen absolvieren muss, findet die Situation „ziemlich frustrierend“ und weiter: „Auch jetzt sind VWU-Kurse teuer. Die Leute bekommen wenig Geld von den Eltern, müssen arbeiten. Ich arbeite auch, um mir den VWU zu leisten.“ Firas aus dem Iran erinnert sich: “Ich kenne Leute aus dem Iran, die nach ein oder zwei Jahren zurück mussten, weil sie kein Geld von ihren Eltern bekommen. Es gibt viele Personen, die sich in den Unterrichtsstunden nicht konzentrieren können, weil sie sich um andere Sachen kümmern müssen und andere Probleme haben, Probleme mit Geld zum Beispiel“.

UNLEISTBAR: VIELE KONSEQUENZEN. Aufklärung und die Bereitschaft die Studierenden genauer darüber zu informieren, warum die Deutschkurspreise dermaßen erhöht werden, ist kaum bis gar nicht vorhanden. Die betroffenen Studierenden an die VWUWebseite zu verweisen, führt vor allem zu Verwirrung und Unsicherheit.

Die VWU-Kommission beteuert natürlich, dass sich das Geld auszahlen wird und behauptet, dass man die Deutschkurse von nun an in zwei Semestern schaffen kann. Daran zweifeln Studierende wie Aman aus Ägypten, den wir bei der Vorbereitung auf die VWUPrüfungen mit unseren Fragen gestört haben: “Man kann es nicht in zwei Semestern schaffen, es ist zu wenig Zeit”. Noch schlimmer wird es wohl werden, wenn Studierende das Gefühl haben, dass sie nicht erwünscht sind.

Sprache ist eine wichtige, existenzielle Ressource für jeden Menschen. Diese Ressource ist notwendig für ausländische Studierende, die nach Österreich kommen, weil sie die Türen zu einer höheren Bildung öffnet. Schließen wir die Türen, machen wir die Deutschkurse unerschwinglich, dann schließen wir gleichzeitig den Zugang zu den Hochschulen und damit den Zugang zur freien Bildung.

Aylin Bademsoy studiert Germanistik und Philosophie, Kanita Halkic studiert Soziologie an der Universität Wien. Beide sind im Referat für ausländische Studierende auf der ÖH-Bundesvertretung tätig.
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Fans of Thrones

  • 18.06.2016, 15:32
SPOILERS – The Game of Fans. Nie mehr „Wenn du das nicht machst, sag ich dir wie es bei Game of Thrones weitergeht“. – das Wissensmonopol der Bücherkenner_innen wurde mit der neuen Staffel ausgehebelt.

SPOILERS – The Game of Fans. Nie mehr „Wenn du das nicht machst, sag ich dir wie es bei Game of Thrones weitergeht“. – das Wissensmonopol der Bücherkenner_innen wurde mit der neuen Staffel ausgehebelt.

Am 24. April startete die sechste Staffel Game of Thrones des amerikanischen Privatsenders HBO. Die fantastische Actionserie zeichnet sich nicht nur durch ihre hohen Produktionskosten aus – ca. zehn Millionen Dollar pro Folge, sondern punktet besonders mit einer hypnotisierenden Mischung aus Drama, Sex und Gewalt. Dabei steht sie der Romanvorlage des amerikanischen Autors Georg R.R. Martin um nichts nach, doch die um sich greifende Popularität der Serie hat die Reichweite der Bücher bei weitem überholt. Die visuelle Adaption des Textmaterials schockiert und fesselt wöchentlich Millionen von Menschen an die Empfangsgeräte. Doch die Romanreihe wurde mit der nun angelaufenen sechsten Staffel eingeholt. Fans der Bücher beschwören den schwergewichtigen Autor deshalb schneller zu arbeiten und einen gesünderen Lebensweg einzuschlagen, um nicht vor Beendigung der Romanreihe, wie viele seiner Charaktere, einen plötzlichen Tod zu erleiden. Ein Vorschlag, dem der Autor und notorische Mörder seiner (Haupt)Charaktere mit einem „Fuck you to those people“ begegnete.

Trotzdem stellt sich für eingefleischte Fans eine Frage: Inwieweit ist die neueste Staffel der Buchreihe treu? Obwohl die Serienschöpfer David Benioff und Daniel B. Weiss von G.R.R. Martin in ihrem weiteren Vorgehen beraten werden, zweifeln viele Fans der Buchreihe die Authentizität der Storyline in der Serie an. Ohne die Buchvorlage zu kennen geht somit für viele der Reiz an der Serie verloren. Nicht umsonst existieren im Internet zahlreiche „reaction videos“, in denen wissende BücherleserInnen schockierte Serienfans filmen, wenn wieder einmal überraschend ein Charakter geköpft, vergiftet oder kastriert wird. Obwohl die Serie auch schon in den letzten Staffeln von der Romanvorlage abgewichen ist, scheint dieses Wissen einen besonderen Reiz auszumachen. Das Wissen der Bücherfans wird dabei zum Joker. Ist eine Handlung verändert oder ein Charakter in der Serie umgedeutet, erkennen dies die Fans und können so mit ihren Bücherfakten punkten. Ganz zu schweigen von der Machtposition die mit dem Ausspruch „SPOILERS“ einhergeht. Mit der neuen Staffel der Serie geht dieser Spaß verloren.

Alena Brunner studiert im Masterstudiengang CREOLE an der Universität Wien.

Reise in unendliche Langeweilen

  • 18.06.2016, 15:26
T.I.M.E Stories verspricht schon im Vorfeld viel, hat tolle Illustrationen und ein schnittiges Imagevideo.

T.I.M.E Stories verspricht schon im Vorfeld viel, hat tolle Illustrationen und ein schnittiges Imagevideo. Der Karton ist weiß und wertig, clean designed wie ein neues Apple-Produkt. Ein Jackpot für Unboxing-Enthusiast_ innen und Leute, die sich gerne dekorative Dinge ins Regal stellen. Auch die Grundidee klingt ziemlich cool: Wir sind AlienAgent_ innen und können im Rahmen einer kooperativen Mission in verschiedene Wirtskörper und somit Rollen schlüpfen. Bei dem Szenario „Hinter der Maske“ in einem irgendwie historischen, ägyptischen Setting fühlt es sich zudem an, wie eine wilde Kolonialisierungsphantasie. Der Premiumpreis von rund 45 Euro für das Basis-Spiel mit einem einzigen Szenario und 25 Euro für jede neue Geschichte, bisher gibt es drei, ist stattlich. Da jedes Szenario nur einmal gespielt werden kann, sollte diese Zeitreise das Erlebnis unseres Lebens werden. Oder zumindest aufregender als das Schälchen mit Wasabinüssen auf dem Tisch.

Durch lange Rollenspiel-Sessions fühlte ich mich recht gut vorbereitet, als es hieß, das getestete Szenario könnte etwas länger dauern: Ich war gespannt auf den erzählerischen Part. Es sollte sich jedoch herausstellen, dass jede langatmige „DSA“ Regelwerksdiskussion ein Spaziergang gegen diese Zeitreise ist. Die Charaktere im Spiel bleiben flach und leblos: Möglichkeiten, sie selbst in-Game zu entwickeln oder wirklich einzubeziehen, gibt es keine. Nach einer oder wenigen Runden muss ein neuer Wirt besetzt werden, schnell fährt sich das Spielprinzip fest: Karten werden umgedreht und ausgelegt, die Mission beschränkt sich im Wesentlichen darauf, dass wir uns merken und darüber diskutieren, was auf diesen Karten stand. So entwickeln wir sukzessive das Szenario und decken eine Landkarte auf. Einmal lesen wir eine Beschriftung nicht richtig. Das kostet uns zwei Stunden und zahllose Wiederholungen. Wenn der Weg das Ziel sein soll, ist das Ziel also in der ewigen Wiederkunft des Gleichen zu suchen. Nach etwa sechs Stunden setzt dann auch eine Art Zeitreise-Flow ein. Alles wird irgendwie nebensächlich außer dem Drang, endlich die Lösung zu finden, um ins Bett gehen zu können. Vielleicht haben wir uns die „aufregenden Geschichten und Abenteuer in verschiedenen Welten“ einfach nicht genug vorgestellt. Zurück bleibt das Gefühl, ein ausgesaugter Wirtskorpus zu sein.

T.I.M.E Stories
http://www.spacecowboys.fr/time-stories
Von Manuel Rozoy, Illustrationen von Benjamin Carré, David Lecossu und Pascal Quidault.
Ab 12 Jahren.
Spieldauer: ca. 90 Minuten

Anne Pohl arbeitet für einen Abgeordneten in Berlin und hat das Spieleblog herzteile.org mitgegründet.

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