Juni 2016

„Drogenfreier Volkskörper“

  • 22.06.2016, 14:02

Rechtsextreme Drogenpolitiken, rechtsextremer Drogenkonsum.

Wenngleich FPÖ-Politiker_innen sich tagesaktuell immer wieder zu drogenpolitischen Themen positionieren, bleibt die Thematik im Parteiprogramm der FPÖ jedoch weitgehend ausgespart. Anders verhält es sich bei der Nationaldemokratischen Partei Deutschlands (NPD), in deren Parteiprogramm Drogenkriminalität „hohe Priorität“ zugeschrieben wird, die „härter zu ahnden“ wäre. Die Alternative für Deutschland (AfD) wiederum fordert „Süchtigen […] im Wege der kontrollierten Abgabe“ Zugang zu Drogen zu ermöglichen und glaubt, damit Kriminalität und „Schwarzmarkt“ bekämpfen zu können. Als gemeinsamer Nenner dieser durchwegs unterschiedlichen Positionen fungieren im rechtsextremen Parteienspektrum vor allem die Ablehnung liberaler Drogenpolitiken sowie die rassistische Aufladung damit verbundener Diskurse. Dabei werden Feindbilder geschaffen, die den Vertrieb von Drogen ausschließlich bei vermeintlich „Fremden“ orten. Es handle sich, so die Konstruktion, um organisierte „ausländische“ Banden, die versuchen würden, den „Volkskörper“ sprichwörtlich zu vergiften. National Gesinnte hingegen würden und müssten jegliche Form der Verbreitung von Drogen aus selbigem Grund ablehnen. Das „eigene Volk“ müsse „sauber“, „rein“ beziehungsweise „drogenfrei“ gehalten werden. Die tiefe Verankerung des Feinbildes des „ausländischen Drogendealers“ in Gesellschaft, Politik und Medien ermöglicht es Vertreter_innen der extremen Rechten, sich als „Saubermacher_ innen“ und „Beschützer_innen des Volks“, insbesondere der angeblich bedrohten Jugend zu inszenieren. Zudem eignet sich das Drogenthema, als vermeintlich politisch wenig belastetes, um in der sogenannten Mitte der Gesellschaft zu punkten.

WIDERSPRÜCHLICH. Dennoch spiegeln sich die prohibitionistischen Forderungen rechtsextremer Parteien nicht unbedingt im Verhalten ihrer Anhänger_innen wider, da in regelmäßigen Abständen gegen Angehörige rechtsextremer und neonazistischer Szenen nicht nur wegen Konsums von, sondern auch Handel mit Drogen ermittelt wird. So war beispielsweise der 2010 aufgeflogene neonazistische Kulturverein Objekt 21 nahe Attnang- Puchheim in Drogen- und Waffenhandel involviert. Auch in Deutschland lag im Zuge von Ermittlungen immer wieder die Vermutung nahe, dass sich neonazistische Szenen über Drogenhandel finanzieren. Zudem sind Fälle bekannt, in denen Rechtsextreme ihre Taten, wie das Zeigen des Hitlergrußes oder auch Gewalt gegen Menschen, (vor Gericht) mit vorangegangenem Drogenkonsum zu entschuldigen versuchten.

Auch in den Reihen der FPÖ selbst kommt es immer wieder zu „Skandalen“ im Zusammenhang mit Drogenmissbrauch. So standen zum Beispiel letztes Jahr eine Polizeibeamtin und FPÖ-Bezirksfunktionärin sowie ein Mitglied der Polizeigewerkschaft Aktionsgemeinschaft Unabhängiger und Freiheitlicher (AUF) in Innsbruck im Visier von Ermittlungen wegen Verstößen gegen das Suchtmittelgesetz. Widersprüchlichkeiten in rechtsextremen Drogenpolitiken werden auch in Bezug auf die Haltungen rechtsextremer Parteien zu Tabak und Alkohol evident. Abgesehen davon, dass die „Volksdroge“ Alkohol in den meisten rechtsextremen Kreisen ohnehin nicht als Suchtmittel anerkannt wird, inszeniert sich die FPÖ in Abgrenzung zur Regierung als „Raucher_ innenpartei“. Während in Bezug auf andere Suchtmittel selbstbestimmte Konsummöglichkeiten gänzlich abgelehnt werden, tritt die FPÖ in der von ihr ins Leben gerufenen Petition „Nein zum absoluten Rauchverbot“ für „die Wahlfreiheit der Konsumenten und Gastronomen“ ein.

PANZERSCHOKOLADE. Bereits im Zweiten Weltkrieg dürfte die Haltung der Nationalsozialist_innen gegenüber Drogen alles andere als ablehnend gewesen sein. Adolf Hitler selbst soll mit sogenannten Nachtschattendrogen und Strychnin experimentiert, Josef Goebbels Morphium und Hermann Göring Kokain konsumiert haben. In der deutschen Wehrmacht und Luftwaffe wurde vor allem im Blitzkrieg gegen Polen Pervitin, heute bekannt als Crystal Meth, eingesetzt, um einerseits die Konzentrations- und Leistungsfähigkeit der Soldaten zu steigern und andererseits ihre Angstgefühle einzudämmen. Über 200 Millionen „Stuka-Tabletten“, „Hermann-Göring- Pillen“, „Panzerschokolade“ und „Fliegermarzipan“, wie die entsprechenden „Aufputscher“ genannt wurden, sollen zwischen 1939 und 1945 eingesetzt worden sein.

STRAFEN STATT HELFEN. Darüber hinaus lässt sich sagen, dass rechtsextreme Ideologie, anstelle von Prävention und Ursachenbekämpfung oder der Förderung eines selbstbestimmten, verantwortungsvollen Konsumverhaltens, auf Repression, härtere Strafen und Ausbau von Kontroll- und Überwachungsmaßnahmen setzt. Von vielen rechten und rechtsextremen Parteien sowie ihren Anhänger_innen werden jedoch nicht nur liberale Drogenpolitiken abgelehnt, sondern auch Unterstützungsprogramme für Suchterkrankte. Die Forderung nach „Zwangstherapie für Drogenabhängige“, wie sie von der FPÖ-Nationalratsabgeordneten Dagmar Belakowitsch- Jenewein aufgestellt wurde, ignoriert beispielsweise, dass nicht jeder Konsum mit einer Suchterkrankung gleichzusetzen ist und die Wirksamkeit derartiger Maßnahmen nicht durch Zwang, sondern ausschließlich durch (freiwillige) Bereitschaft der Betroffenen erreicht werden kann.

Auch Waldarbeit oder landwirtschaftliche Tätigkeiten, wie es die FPÖ begleitend zum Entzug vorgeschlagen hat, zielen nicht notwendigerweise auf die Heilung ab. Vielmehr wird deutlich, dass sich hinter der Ablehnung von Suchthilfe auch gängige Muster menschenfeindlicher, sozialdarwinistischer Politiken verbergen, in denen schwächere Mitglieder der Gesellschaft nicht unterstützt, sondern im Gegenteil als Last für die Allgemeinheit erachtet werden. Die AfD fordert in ihrem Parteiprogramm beispielsweise, „nicht therapierbare Alkohol- und Drogenabhängige sowie psychisch kranke Täter […] nicht in psychiatrischen Krankenhäusern, sondern in der Sicherungsverwahrung unterzubringen“. Hinzu kommt außerdem, dass sich rechtsextreme und neonazistische Gewalt auch immer wieder gegen soziale Randgruppen wie Konsument_innen von Drogen und Suchterkrankte richtet.

Judith Goetz ist Mitglied der Forschungsgruppe Ideologien und Politiken der Ungleichheit und studiert Politikwissenschaften im Doktorat an der Uni Wien.

Zwischen U-Bahnhof und Grauem Haus

  • 22.06.2016, 13:50
Drogen und die Justiz – aus dem Alltag einer Rechtspraktikantin.

Drogen und die Justiz – aus dem Alltag einer Rechtspraktikantin.

„Zu zwei Drittel sind wir ja Sozialarbeiter_innen.“ Das sagt meine Ausbildungsrichterin immer, wenn sie das Gefühl hat, der Mensch auf der Anklagebank müsste eigentlich gar nicht da sitzen. Die meisten von unseren Leuten hier, sagt sie, die hätten nur irgendwen gebraucht, der sie an der Hand nimmt und ein bisserl durchs Leben führt.

Seit fast drei Monaten mache ich jetzt Gerichtspraxis, meine erste Zuteilung ist eine Strafabteilung in Wien. Ungefähr die Hälfte der Fälle, die wir verhandeln, haben irgendetwas mit Drogen zu tun. Teenager, die mit einem Joint erwischt worden sind. Ein bisschen ältere Teenager, die mit ein paar mehr Joints erwischt worden sind. Ein bisschen kaputtere Teenager, die auf Heroin-Cold-Turkey im Verhandlungssaal sitzen und keinen zusammenhängenden Satz mehr herausbringen. Und natürlich die erwachsenen Gegenparts zu diesen Teens. Die Leute, die ihre Verhandlung verschieben wollen, weil sie keine Urlaubstage mehr haben und der Chef nichts mitbekommen soll. Die, die sich fürchten ihre Mindestsicherung zu verlieren, wenn sie wegen Drogen verurteilt werden. Die, die auf einmal verschwinden, obdachlos gemeldet sind, aber auch in keiner Einrichtung mehr auftauchen. Die, die mit den Drogen für all die anderen handeln.

KLASSENJUSTIZ, GANZ UNGENIERT. Alle diese Leute, die mir auf der Bank gegenüber sitzen, haben eines gemeinsam: Sie sind das, was der Dekan meiner Fakultät bei meiner Sponsionsfeier mit einem süffisanten Grinsen und ein wenig Abscheu im Gesicht als „bildungsfern“ bezeichnet hat. Die meisten haben keinen formalen Bildungsabschluss, weder eine Lehre, noch eine Schule. Viele sind schon jahrelang beim AMS als arbeitssuchend gemeldet, obwohl sie noch keine achtzehn sind.

Das ärgert meine Ausbildungsrichterin, und mich ärgert es auch. Weil es nämlich nicht so ist, dass die Menschen aus sozial schwächeren Schichten mehr Drogen konsumieren als der Rest der Gesellschaft. Sie sind nur die einzigen, die kontinuierlich verfolgt werden. Armut und Perspektivlosigkeit gehen mit einer erhöhten Kriminalitätsgefährdung, gerade im Bereich der leichten und mittelschweren Delikte, einher. Das bedeutet aber nicht, dass die anderen Teile der Gesellschaft keine Drogen konsumieren. Jede Person mit intaktem olfaktorischem Organ, die jemals auf einer Studierendenparty oder in einer dieser wunderbaren Discos, die 20 Euro Eintritt verlangen, war, weiß das. Keine mir bekannte Person aus dem studentischen Milieu ist jemals wegen einer verdammten Cannabiszigarette vor ein Strafgericht gesetzt worden. Nein, da wird das wegen Geringfügigkeit eingestellt, mit Diversion gleich bei der Staatsanwaltschaft vorgegangen – wenn man überhaupt dort landet. Das ist auch richtig so, dafür gibt es ja diese Instrumente. Nur kommt eine Mindestsicherungsbezieher_ in anscheinend nicht in den Genuss dieser.

IN DEN SCHUHEN DEINER DEALER_IN. Am deutlichsten sieht man das bei jenen, die mit den Drogen für all die anderen handeln. Und damit meine ich nicht die Person, die im VIP-Bereich irgendeines Clubs kleine weiße Plastiktüten auspackt. Diejenigen, die den ganzen Tag auf der Straße stehen, Wind und Wetter ausgesetzt sind, bei Schritt und Tritt beobachtet werden, jederzeit erwischt werden könnten, andauernd erwischt werden. Der Boulevard nennt sie gerne Straßendealer_in.

Die allermeisten sind wahnsinnig jung, haben keinen sicheren Aufenthaltstitel, viele sind Asylwerber_innen oder U-Boote. Sie sprechen kaum oder nur sehr schlecht Deutsch, viele auch kein Englisch. Sie haben Angst. Sie haben alle Angst. Angst vor Gefängnis, Deportation, vor weißen Menschen in Uniformen und ihrer Reaktion auf dunkle Haut. Angst vorm Stummund Taub-Sein. Denn sie sind viel zu oft beides. Wenn sie bei der Verhandlung einen Dolmetscher oder eine Dolmetscherin zur Verfügung gestellt bekommen, ist das oft das erste Mal seit Wochen, dass sie richtig mit ihrer Umwelt kommunizieren können. „Was soll ich denn anderes machen? Mir bleibt ja nichts anderes über. Ich darf nicht arbeiten, ich darf nicht in die Schule, ich darf nirgends hin.“ Sagt uns die Dolmetscherin. Seine Hände zittern, die Tränen kämpfen mit der Panik um den Platz in seinen Augen. Eine Diversion – das ist eine Art Vergleich mit dem Staat, bei dem man nicht verurteilt wird – bekommen nicht mehr viele von ihnen. Weil sie schon zu oft erwischt worden sind, weil die Gewerbsmäßigkeit im Raum steht. Und sie trifft auch fast immer zu – wer Drogen verkauft, um davon zu leben, tut es nunmal gewerbsmäßig.

Ein Drittel der österreichischen Bevölkerung hat schon einmal Cannabis konsumiert, unter den Jüngeren ist dieser Anteil noch höher: Ich bin Juristin, ich habs nicht unbedingt mit Zahlen oder Statistiken, so etwas wie Methoden lernen wir nicht. Den Theorien des freien Marktes stehe ich – gelinde ausgedrückt – skeptisch gegenüber, aber eines weiß ich: Es gäbe den Markt nicht ohne entsprechende Nachfrage.

Drogen sind medizinisch betrachtet böse zu Menschen. Sie zerstören unsere Hirne und Nervensysteme, sie machen uns abhängig und unsere Wahrnehmung kaputt. Das ist unbestritten. Dass das Konsumieren von Drogen, das Weitergeben und Handeln, strafbar ist, ist ein vollkommen anderes Kapitel. Dass restriktive Drogenpolitik und vor allem gerichtliche Verfolgung jedoch nicht alle gleichermaßen trifft, sondern dass die Verfolgung „bildungsferner“ Teile der Gesellschaft einen derartigen Überhang zu haben scheint, ist nicht einmal unseres bürgerlichen Rechtsstaats würdig.

Eine liberale Drogenpolitik hat viele Vorteile: Sie senkt die Krankheiten und Ansteckungsraten bei den Süchtigen, sie erhöht den Reinheitswert der Suchtgifte und macht sie so berechenbarer, sie bringt nicht zuletzt Steuern ein. Liberale Drogenpolitik wird aber die Probleme derjenigen, die den Straßenhandel am Gürtel betreiben, nicht lösen. Was es braucht sind legale Fluchtwege, vernünftige Aufenthaltstitel mit Arbeitsmarktzugang, eine Sozialpolitik, die ihren Namen verdient – wenn die Armut sinkt und Zukunftsperspektiven bestehen, dann sinkt die Kriminalität.

Tamara Felsenstein hat Rechtswissenschaften studiert und absolviert gerade ihre Gerichtspraxis.

Verweise:
http://derstandard.at/1369362961278/Ueber-das- Etikett-Auslaenderkriminalitaet
http://www.neustart.at/at/_files/pdf/webpublikationen/arbeit_faelle/nulltoleranz_schlechter.pdf
http://link.springer.com/chapter/10.1007/978-3- 531-94164- 6_14#page-1
http://www.bmg.gv.at/cms/home/attachments/1/0/6/CH1040/CMS1164184142810/bericht_zur_drogensituation_2015.pdf
 

„Solidarität zeigen mit Dealer_innen“

  • 22.06.2016, 13:35
Gras für die einen – Abschiebung für die anderen? Das Bündnis „Kiberei, was geht? Initiative gegen Polizei auf unseren Straßen“ setzt sich mit der herrschenden Drogenpolitik auseinander und kritisiert Medien und Politik dafür, Drogendealer_innen in eine Sündenbockposition zu drängen.

Gras für die einen – Abschiebung für die anderen?

Das Bündnis „Kiberei, was geht? Initiative gegen Polizei auf unseren Straßen“ setzt sich mit der herrschenden Drogenpolitik auseinander und kritisiert Medien und Politik dafür, Drogendealer_innen in eine Sündenbockposition zu drängen.

progress: Am 1. Mai 2016 seid ihr mit einem Flugblatt zum ersten Mal an die Öffentlichkeit gegangen. An wen richtet sich eure Initiative?
Kiberei, was geht? Initiative gegen Polizei auf unseren Straßen:
Wir wollen uns solidarisch zeigen mit Dealer_innen und all jenen, die von der Polizei täglich und nicht nur entlang des Gürtels schikaniert, kontrolliert oder festgenommen werden. Und wir wollen unterstützende Interventionsformen entwickeln sowie kompakte Rechtshilfeinformationen zur Verfügung stellen. Zeug_innen von Polizeikontrollen und Racist Profiling sagen wir: Geht nicht einfach vorbei, sondern schaut hin, bleibt stehen, mischt euch ein, fragt die betroffenen Personen, ob sie Unterstützung brauchen. Eine weitere Gruppe, die wir ansprechen wollen, sind die Anrainer_ innen. Viele sind mit der massiven Polizeipräsenz in ihrem Grätzl überhaupt nicht einverstanden, auch nicht mit der willkürlichen Vertreibung unerwünschter Gruppen oder Jugendlicher. Auch jene, die mehr oder weniger aktiv Teil der stattfindenden Gentrifizierung sind, wollen wir ansprechen und in die Verantwortung nehmen. Schließlich wollen wir uns in den medialen und politischen Diskurs einmischen und sagen: Wir lassen uns die rassistischen Politiken und die Polizei auf unseren Straßen, die unter dem Deckmantel von Sicherheit und Sauberkeit daherkommen, nicht länger gefallen.

In eurem Flyer kritisiert ihr studentisch- bildungsbürgerliche Drogenkonsument_ innen dafür, zwar beim Gemüsekonsum, nicht aber bei Graseinkauf auf „Fair Trade“ zu achten.
Die Leute, die ihre Drogen entlang des Gürtels oder an anderen Orten Wiens kaufen, die wegen Vertreibung und Gentrifizierung ständig wechseln, denken oft nicht an die Arbeitsbedingungen ihrer Straßendealer_innen. Häufig sind das Asylwerber_innen oder Sans Papiers, denen der Zugang zu legaler Lohnarbeit verwehrt ist. Um ihren Lebensunterhalt zu bestreiten, bleiben ihnen informalisierte und illegalisierte Tätigkeiten. Dealen ist eine der wenigen und zudem männlich* dominierten Jobmöglichkeiten, die bleiben. Die Bedingungen: niedrigster Lohn, anstrengende und stressige Arbeit und hohes Risiko. Dealer_innen ohne Papiere riskieren lange Gefängnisstrafen, Nachteile im Asylverfahren und ihre Abschiebung. Die im Juni in Kraft getretene Verschärfung des Suchtmittelgesetzes trifft die Straßendealer_innen, nicht die Konsument_innen. Dass Konsument_innen ihre Substanzen relativ bequem und sicher einkaufen und sich manche davon gleichzeitig über die Sichtbarkeit von Drogenbusiness und Drogennutzer_innen beschweren, ist absurd. Die Konsument_innen könnten ihre Privilegien dafür einsetzen, das Risiko, dem die Dealer_innen ausgesetzt sind, zu vermindern.

Wie schätzt ihr die Rolle der rotgrünen Stadtregierung in Wien ein?
Die Stadt Wien betreibt seit Jahren eine Säuberungspolitik, mit der unerwünschte Gruppen von zentralen öffentlichen Plätzen vertrieben werden. Ein prominentes Beispiel dafür ist die Karlsplatz-Renovierung und die Vertreibung der dortigen Drogenszene. Das Problem von kurzsichtiger Nicht-vor-meiner-Nase-Politik ist, dass es lediglich zu einer Verschiebung in andere Stadtteile kommt – derzeit beispielsweise bei der Josefstädter Straße und der Gumpendorfer Straße. Statt strukturelle Probleme (wie mangelnde Arbeitsmöglichkeiten, ein Defizit an leistbarem Wohnraum, das überlastete Gesundheitssystem, etc.) zu bearbeiten, wird vielmehr eine Stimmung der Angst erzeugt. Diese wird dann noch dazu rassistisch codiert, was dazu führt, dass die marginalisiertesten Personen als Sündenböcke präsentiert werden.

Der grüne Bezirksvorsteher Neubaus, Thomas Blimlinger, richtete sich im Februar mit einem Brief an alle Haushalte, schürte die Ängste der „besorgten Bürger_innen” und stimmte ein in die aus mehreren Richtungen erfolgten Rufe nach mehr Polizei. Dass die massive Polizeipräsenz zu einem erhöhten Sicherheitsgefühl beiträgt, wagen wir aber zu bezweifeln.

Repressive Aktionen gegen vermeintliche oder tatsächliche Drogendealer_innen werden medial zumeist als Erfolge präsentiert. Wo sind die Leerstellen der herrschenden Art der Berichterstattung?
Es existieren kaum Beiträge, die ohne die Narrative vom 16. Bezirk als Gefahrenzone, Geflüchteten als kriminellen und gefährlichen Drogendealern* und der Polizei als Akteurin in der Wiederherstellung von Sicherheit auskommen. Eine kritische Sichtweise auf rassistische Polizeikontrollen und auf die fast permanente Polizeipräsenz am Gürtel fehlt. Es ist erstaunlich, wie viele Medien – auch so genannte Qualitätsmedien – Meldungen der Polizei direkt, wörtlich und ohne weitere Recherche übernehmen. Manche Darstellungen durch Journalist_innen, die auf stereotype Weise von vor Ort berichten, können nur als Klassenkampf von oben gesehen werden. Medien sind einerseits aktiv an der Herstellung eines Klimas rassistischer Hetze beteiligt, andererseits an der Rechtfertigung von immer mehr Polizeipräsenz und -repression an immer mehr Orten Wiens.

Welche drogenpolitischen Perspektiven würdet ihr favorisieren? Was sich rund um den Gürtel abspielt, ist ein Beispiel dafür, wie Drogenpolitik, Stadtentwicklung und Asyl-/ Migrationspolitiken ineinandergreifen. Das müsste sich auch in den Entwicklungen widerspiegeln, die wir uns wünschen – bloß umgekehrt. Es reicht also nicht, Drogenhandel und -konsum zu entkriminalisieren, so aber vielleicht neue Ausschlüsse zu schaffen. Es braucht auch einen generellen Perspektivenwechsel. Hin zu: Wer hier ist, ist von hier. Und ein Bekenntnis, dass die Städte für alle sind, die in ihnen leben. Ohne Blaulicht, ohne Papiere.

Kontakt zur Initiative: wasgeht@riseup.net

Interview: Florian Wagner

Subjektive Unsicherheit

  • 22.06.2016, 13:03
Es ist das selbstgesetzte Ziel der Stadt Wien, keine örtlich verfestigte Drogenhandelsszene aufkommen zu lassen. Um dieses zu erreichen, arbeiten mehrere Stellen zusammen: Die Polizei, die Sucht- und Drogenkoordination und politische Entscheidungsträger_innen.

Es ist das selbstgesetzte Ziel der Stadt Wien, keine örtlich verfestigte Drogenhandelsszene aufkommen zu lassen. Um dieses zu erreichen, arbeiten mehrere Stellen zusammen: Die Polizei, die Sucht- und Drogenkoordination und politische Entscheidungsträger_innen.

„Wir brauchen uns nicht die Illusion zu machen, dass wir die einzige Großstadt sein werden, in der es überhaupt keine Drogen gibt, aber es kommt drauf an, welche Maßnahmen man setzt und ob die Situation eskaliert oder moderat bleibt“, meint Michael Dressel, Leiter der Wiener Sucht- und Drogenkoordination. Mit der Liberalisierung des Strafrechts zu Jahresbeginn, wurde es erschwert, Menschen wegen Drogenhandels festzunehmen. Damit einhergehend wurde der Verkauf von Haschisch und Marihuana im öffentlichen Raum sichtbarer und von Teilen der Bevölkerung stärker als Problem wahrgenommen. Der Cannabishandel entlang der Linie U6 entwickelte sich zu einem medial breit diskutierten Thema. Die Politik reagierte und Anfang Juni trat eine Novelle des Suchtmittelgesetzes in Kraft, die den Drogenhandel im öffentlichen Raum als eigenen Tatbestand unter Strafe stellt. Es drohen nun bis zu zwei Jahre Haft.

Die Novelle ruft auch Kritiker_innen auf den Plan. „Die Sinnhaftigkeit der neuen Regelung ist fragwürdig“, bemängelt Nikolaus Tsekas, Leiter des Vereins Neustart Wien, der im Auftrag des Justizministeriums Bewährungshilfe für verurteilte Straftäter_ innen leistet. „Damit erreichen wir nur, dass die Polizei nicht zahnlos wirkt. Das Ziel, Menschen von straffälligen Handlungen abzuhalten, werden wir damit nicht erreichen“, erklärt er. Auch die Polizei beobachtet, dass Personen, die wegen Cannabishandels verurteilt wurden, nach der Entlassung oft wieder im Drogenhandel tätig sind.

WARUM ALSO DAS NEUE GESETZ? „Es haben sich vermehrt Bürgerinnen und Bürger an mich gewandt, die sich Sorgen machen bezüglich der Sicherheits- und Drogenproblematik entlang der U6 und die Gesetzesänderung hat den Menschen Sicherheit gegeben“, schildert Veronika Mickel, ÖVP-Bezirksvorsteherin des 8. Wiener Gemeindebezirks. Für die städtische Politik und die Bezirksvertretungen ist die Zufriedenheit der wahlberechtigten Bevölkerung entscheidend. Das Sicherheitsgefühl hat aber oft wenig mit der realen Bedrohungslage zu tun, sondern ist äußerst subjektiv. „Es gibt heute nachweislich weniger Kriminalität, trotzdem haben wir als Gesellschaft das Gefühl, in einer unglaublich gefährlichen Zeit zu leben“, erklärt Neustart-Leiter Tsekas.

Dabei wird das Problem oft erst durch mediale Panikmache als solches wahrgenommen. In der aktuellen Diskussion spielt auch Rassismus eine große Rolle. Zwar sind laut Michael Dressler von der Sucht- und Drogenkoordination mindestens die Hälfte der im Drogenhandel Tätigen Österreicher_ innen. Diese werden aber in der öffentlichen Debatte kaum wahrgenommen. Als störend empfunden wird die Anwesenheit von „fremden Männern“ in den U6-Stationen. Gerade aber die Dealer (der Straßenverkauf von Cannabis ist ein fast ausschließlich männliches Business), die aus Nigeria, Marokko, Algerien, Afghanistan oder Tschetschenien kommen, haben oft keine andere Erwerbsmöglichkeit, da sie vom Arbeitsmarkt ausgeschlossen sind. „Wenn ich keine Transferleistungen des Staates bekomme, aber auch nicht legal arbeiten darf, habe ich nur die Möglichkeit, mir auf andere Weise Geld zu beschaffen“, erklärt Tsekas. Den Leuten sei es dann lieber, leichte Drogen zu verkaufen, als bewaffnete Raubüberfälle zu begehen.

Michael Dressel dagegen zeigt sich überzeugt, dass gegen den öffentlichen Drogenhandel nur polizeiliche Maßnahmen helfen. Daher hat sich auch die Sucht- und Drogenkoordination für die aktuelle Gesetzesänderung stark gemacht. Der maßgebliche Input kam allerdings von der Exekutive selbst, erklärt Roman Hahslinger, Sprecher der Landespolizeidirektion Wien: „Unsere Anregung war es, den Drogenhandel strenger unter Strafe zu stellen.“ Denn wenn die gesetzlichen Bestimmungen schärfer seien, so Hahslinger, könne eine festgenommene Person in Untersuchungshaft überstellt werden und sei zumindest einmal eine gewisse Zeit lang weg vom Drogenhandel.

KAUFEN JA, VERKAUFEN NEIN. Die Menschen, die Haschisch oder Marihuana entlang der U6 kaufen, sind in der Regel „sozial integriert“, heißt es von Seiten der Sucht- und Drogenkoordination. „Das sind Leute, die kiffen wollen und sich schnell was kaufen“, meint Dressel. Dass die neue Rechtslage zu weniger Konsum führen wird, glaubt er nicht: „Es ist eine Frage von Angebot und Nachfrage. Wenn die Leute kiffen wollen, dann werden sie sich das irgendwo besorgen.“ Für Dressel ist wichtig, dass sich die Arbeit der Exekutive nicht gegen die Konsument_innen richtet. Die Kriminalisierung der Käufer_innen sei in den letzten zehn, fünfzehn Jahren zurückgegangen, erzählt er.

Dies ist ein Indiz dafür, dass der Konsum von Hanfprodukten in den letzten Jahren gesellschaftlich immer mehr toleriert, der Cannabisverkauf allerdings nach wie vor als Störung der öffentlichen Sicherheit empfunden wird. Die damit einhergehende Politik, die zwischen Duldung und Repression schwankt, geht auf Kosten der Dealer_innen. Doch wer auf der Straße Marihuana verkauft, tut das in kleinen Mengen und baut Cannabis nicht selbst an. Darüber hinaus sind die meisten Händler_innen mittellos und können sich oft nicht einmal die Miete leisten.

Während das neue Suchtmittelgesetz das Ziel verfolgt, Cannabishändler_innen zwischenzeitlich aus dem Verkehr zu ziehen, würde es wohl eine nachhaltigere Wirkung zeigen, wenn man legale Erwerbsmöglichkeiten zulässt. Zielführender wäre daher eine Öffnung des Arbeitsmarktes für Asylwerber_innen, aber auch für „Geduldete“, also Menschen mit negativem Asylbescheid, deren Abschiebung aber legal nicht durchführbar wäre. Nikolaus Tsekas sieht die aktuelle Debatte als guten Anlass, um auch in Österreich Modelle anderer Staaten zu diskutieren, in denen Cannabis in den letzten Jahren erfolgreich legalisiert wurde. Denn der Handel und Konsum von Hanfprodukten findet mit oder ohne strengere Gesetze statt.

Die Novelle des Suchtmittelgesetzes wirkt wie eine Kompromisslösung zwischen konservativen und links-liberalen Kräften: Die einen wollen, dass Drogen und Armut im öffentlichen Raum nicht sichtbar sind, die anderen wollen, dass Cannabiskonsument_ innen unbehelligt bleiben. Abgewälzt wird der Konflikt auf die, denen nichts anderes übrig bleibt, als Haschisch und Marihuana zu verkaufen. Denn wer nicht wählen darf, für den wird auch keine Politik gemacht.

Katharina Gruber hat Politikwissenschaft in Wien studiert und ist in der politischen Bildungsarbeit und im Journalismus tätig.

Fiktion …

  • 22.06.2016, 12:32
Zur Darstellung von Drogendealer_innen in Filmen und Serien ...

Zur Darstellung von Drogendealer_innen in Filmen und Serien ...

Die uneindeutige Weiblichkeit von Snoop
Felicia „Snoop“ Pearson in der HBO-Serie The Wire wird von Felicia Pearson gespielt. Neben professionellen Schauspieler*innen wurden auch viele Lai_innen gecastet. Unter anderem Pearson, die selbst Drogendealerin war und mit 14 zu acht Jahren Gefängnis wegen Mordes verurteilt wurde. Zu Beginn nur Statistin wird ihre Rolle in weiterer Folge ausgebaut. Sie dealt nicht direkt mit Drogen, sondern ist dafür zuständig, Leute aus dem Weg zu räumen, bringt deshalb im Laufe der Serie dutzende Menschen um und scheint dabei nie von irgendwelchen Skrupeln geplagt zu sein. Sie steht symbolisch und am treffendsten für den Typus „Men with Tits“, da sie durch nichts als Frau zu erkennen ist. Nur am Ende, bevor sie von einem früheren Verbündeten hingerichtet wird, fragt sie diesen noch: „Does my hair look good?“, woraufhin ihr entgegnet wird: „You look good Felicia.“ Es ist das erste und einzige Mal, dass sie von einem der ihren mit Felicia angesprochen wird. Erst im Tod wird sie zur Frau.
[Anm. d. A.: Ich danke Laura Söllner für ihre Mithilfe.] Anne Marie Faisst arbeitet als Buchhändlerin und studiert nebenbei Internationale Entwicklung an der Uni Wien.

Das undynamische Duo
Ein Verkaufsort, eine Droge: Jay und Silent Bob vertreiben in zahlreichen Filmen des Regisseurs Kevin Smith Marihuana vor dem „Quick Stop“-Laden in Leonardo, New Jersey. Als Kinder haben sie sich dort kennengelernt und so ihren Platz im Leben gefunden. Sie sind die liebenswerte Version lästiger Dealer_innen an der Straßenecke: Zwar machen sie Radau und belästigen Passant_innen, doch erweisen sie sich immer wieder als Menschen mit gutem Herz. Wenn es die Handlung erfordert, begehen sie ihre kleinkriminellen Taten im nächstgelegenen Einkaufszentrum oder reisen auch quer durchs Land. Die beiden sind nicht eindimensional auf das Dealen reduziert. Ihr Erwerbsleben bleibt aber eine nicht näher ausgestaltete Facette wie auch ihre anderen Charakteristika – etwa der Kunstgriff, dass Silent Bob, wenn er denn mal redet, meist etwas Bedeutungsvolles zu sagen hat. Die beiden sind also nicht mehr (und sollen auch nicht mehr sein) als Cartoon- Figuren, quasi die straffälligen Enkel der Marx Brothers.
Markus Grundtner hat Rechtswissenschaften sowie Theater-, Film- und Medienwissenschaft studiert. Er arbeitet als Konzipient in Wien.

Grace Saves Herself
Nach dem plötzlichen Tod ihres Mannes erbt Grace Trevethyn einen Schuldenberg. Ihrem Haus, das sich unweit eines west-englischen Fischerdorfes befindet, droht die Zwangsversteigerung. Die Hauptfigur des Films Saving Grace ist eine begnadete Gärtnerin. Als ihr Hausangestellter Matthew sie darum bittet, seine angeschlagenen Hanfpflanzen aufzupeppeln und ihre Bemühungen binnen kürzester Zeit Wirkung zeigen, haben beide die rettende Idee: Grace und Matthew pflanzen hochpotentes Marihuana an. Bald wissen alle im Dorf – inklusive des örtlichen Polizisten – vom groß dimensionierten Drogenanbau. Aus Verständnis für die von finanziellen Nöten geplagte Grace unternehmen sie nichts. Größere Polizeirepression droht erst, als Grace und Matthew versuchen, ihre Ernte in London zu verkaufen. Auf dem Anwesen von Grace kommt es zum Showdown zwischen Polizei, einem hippieesken Kleindealer und dem Handlanger des potentiellen Großabnehmers. Dank eines Hanffeuers löst sich alles im kollektiven Rausch auf. Die Verarbeitung des Erlebten in Form eines Bestseller- Romans wirft schlussendlich das nötige Kleingeld für Grace ab.
Florian Wagner studierte Theater-, Film- und Medienwissenschaft an der Universität Wien.

Ein Schneemann in Kolumbien
Robin Hood, Familienmensch und Serienmörder: Die Serie Narcos nimmt sich dem Leben und Wirken Pablo Escobars an. Aus unterschiedlichen Blickwinkeln all jener Lebenswelten und behördlichen Schutzbereiche, welche von Escobar berührt, beeinflusst oder gar eingerissen wurden. Die Hauptperspektive bleibt jedoch jene eines US-Drogenpolizisten. Die erste Staffel folgt dem Aufstieg vom kleinen Schmuggler zum internationalen Kokain- Großhändler. Gezeigt wird Escobar als Mann mit Ambitionen, dessen krimineller Hintergrund ihm aber den Eintritt in die Politik verwehrt. Eben diese Obrigkeit zwingt er mit Entführungen, Auftragsmorden und Terroranschlägen in die Knie. Er errichtet gar sein eigenes Gefängnis und sperrt sich dort selbst mit allen Annehmlichkeiten ein, um nicht an die USA ausgeliefert zu werden. Am Schluss der ersten Narcos-Staffel muss Escobar seine persönliche Festung verlassen, weil sich zwei Staatsgewalten (die US-amerikanische und die kolumbianische) nicht von einem einzelnen Mann die Stirn bieten lassen wollen.
Markus Grundtner hat Rechtswissenschaften sowie Theater-, Film- und Medienwissenschaft studiert. Er arbeitet als Konzipient in Wien.

Mutter Oberin!
Er hat stets feinen Stoff. „Mutter Oberin“/„Mother Superior“, aus der Kultromanverfilmung „Trainspotting“. „Was darf’s denn sein?“, fragt der von Keith Allen personifizierte Dealer mit Stil. Heroin natürlich. Was sonst? Intravenös. Wie sonst? Fixbesteck vergessen? Kein Problem; der fürsorgliche Mitvierziger aus der Lebensrealität des schottischen Autors Irvine Welsh entsprungen, hilft gerne aus. Lou Reeds „Perfect Day“ ertönt in der Verfilmung von Danny Boyle, mit dem damals blutjungen Ewan McGregor in der Hauptrolle. Als heroinaffiner Renton versinkt er prompt im roten Teppich, einem Grabe gleich. Zu viel war es. Zu rein. So zerrt die Oberin seinen bewusstlosen Körper möglichst sanft aus dem Arbeiter_innensiedlungs-Wohnblock auf die Straße und ruft ein Taxi. Denn Taxler_innen stellen keine Fragen. Die Oberin steckt Renton ein paar Pfund in die Hemdtasche. Tätschelt liebevoll die Wange – Kundenpflege aus dem Bilderbuch.
Jan Marot studierte Publizistik- und Kommunikationswissenschaft in Wien und Zürich.

Tarantinos Version eines Dealers
In „Pulp Fiction“ (1994) werden fast alle Formen von Kriminalität in irgendeiner Weise gezeigt. Der Lieblingsdealer von Vincent – dem Handlanger eines Gangsterbosses und Hauptfigur im Film – ist Lance. Er lebt mit seiner Frau in einem gemütlichen Vorstadthaus und muss zum Arbeiten dieses nicht mehr verlassen. Er begrüßt dort seine Stammkund_ innen und versorgt sie mit hochklassigem Stoff. Lance selbst ist den Drogen nicht abgeneigt, ist aber bei weitem kein Junkie. Er arbeitet also nicht, um sich seine Sucht zu finanzieren. Viel Platz bekommt er in Quentin Tarantinos Blockbuster nicht. Der Film lebt von der Vielzahl an coolen Typen und ihren Sprüchen. Die Welt der organisierten Kriminalität wird sehr stilisiert, voller Klischees und Verweisen auf Popkultur zelebriert. Sehr realitätsnah ist die Darstellung von Lance also nicht, der gern vor dem Fernseher hockt und um drei Uhr nachts genüsslich Frühstücksflocken verzehrt.
Katja Krüger-Schöller studiert Gender Studies in Wien.

Lest hier den begleitenden Artikel über die realen Drogendealer*innen

… und Wirklichkeit

  • 22.06.2016, 12:31

… und wie sich ihre echten Gegenstücke zwischen Repression, Prekarität, Ruhm und Reichtum bewegen .

Hanf-Omas
Kurznachrichten über Drogenrazzien und hopsgenommene Dealer_innen sind generell ein dankbares journalistisches Genre. Umsomehr gilt das, wenn ältere Frauen, die Cannabisplantagen betreiben und irgendwann erwischt werden, im Mittelpunkt der Berichterstattung stehen. Sie entsprechen einerseits überhaupt nicht dem Bild der gefährlichen Dealer_ innen, andererseits verstecken sich hinter den lustig anmutenden Meldungen oft tragische Geschichten. So standen im Februar 2014 eine 63-Jährige und ihr Mann aus dem Hunsrück vor Gericht, weil sie aus medizinischen Gründen 47 Cannabispflanzen im Keller gehegt hatten. Die Rentnerin baute das Gras an, um eine drohende Erblindung zu bekämpfen. Die teuren Medikamente konnte sich die ehemalige Putzkraft nicht leisten. Das Gericht hatte Mitleid und sprach nur eine Verwarnung aus. Doch nicht jede Hanf-Oma ist so liebenswert: Im schweizerischen Malters verteidigte eine 65-Jährige für 17 Stunden mit Waffengewalt ihre Plantage gegen die Polizei. Sie wurde bei der Erstürmung ihrer Wohnung erschossen.

Meth-Enkel
Nicht nur Großeltern agieren manchmal als Drogendealer_ innen, auch ihre „Enkel“ sind teilweise schon in sehr jungen Jahren aktiv. Im Vereinigten Königreich wurde zum Beispiel im Juli 2014 ein 13-Jähriger im nordenglischen Barrow dabei erwischt, wie er Heroin und Meth dealte. Angeblich wurde der Jugendliche von einer Gang zum Dealer ausgebildet und lebte bei Süchtigen, die er zur Miete mit kostenlosen Drogen versorgte. Dieses Modell scheint in Nordengland beliebt zu sein: Die Polizei berichtete von zwei weiteren Fällen, in denen 14-Jährige in einer sehr ähnlichen Situation gewesen wären. 2012 will die Polizei im Vereinigten Königreich insgesamt über 12.000 Dealer_innen festgenommen haben, die nicht nur minderjährig, sondern auch unter 16 Jahren alt waren. Die meisten von ihnen handelten jedoch mit leichten Drogen wie Cannabis und nicht mit als „class A drugs“ bezeichneten harten Drogen. Für den Dealer aus Barrow wurde unterdes keine Gnade angekündigt. Die Gerichte würden in solchen Fällen „Strafen verteilen, die dem geleisteten Schaden an der Gesellschaft entsprechen“, so eine Polizeisprecherin.

Verschärftes Gesetz
Die Diskussionen über die Wiener U-Bahnlinie U6, bei der vor allem bürgerliche Journalist_innen die Präsenz von Schwarzen Menschen, die sie als Drogendealer_innen zu identifizierten glaubten, beklagten, sind in einer Gesetzesnovelle mit anschließender Polizeiaktion gemündet. Großkotzig kündigte die Wiener Polizei „bis zu 200 zusätzliche Festnahmen“ innerhalb der ersten 24 Stunden an und ließ in Großraumzellen mehr Betten aufstellen. Außerdem wurde das Personal aufgestockt. Insgesamt waren es dann gigantische 14 mutmaßliche Dealer_innen, die in den ersten 24 Stunden nach Inkrafttreten der Gesetzesnovelle verhaftet wurden. Dabei umfasst der neue Straftatbestand den Handel mit illegalen Drogen im öffentlichen Raum und an anderen Orten, wenn „das Verhalten durch unmittelbare Wahrneh mung dazu geeignet ist, berechtigtes Ärgernis zu erregen“. Dieser Gummiparagraph lässt sich hervorragend dazu einsetzen, Drogenszenen von einem Ort zum nächsten zu jagen. So freut sich die Wiener Polizei bereits jetzt darüber, die Dealer_innen von der U6 verjagt zu haben. Aber Wien hat ja noch einige andere U-Bahnlinien.

Vom Gangsta zum legalen Dealer
Nachdem in einigen US-Bundesstaaten der Konsum von Cannabis legalisiert wurde, stellt sich dort eine paradoxe Situation ein: Während ehemalige Dealer_innen, viele davon People of Color, weiterhin ihre Gefängnisstrafen absitzen, haben Cannabis- Start-ups den legalen Markt übernommen. Geführt werden diese meist von Weißen Menschen, die davor nicht im Fokus polizeilicher Ermittlungen bezüglich Drogenkriminalität standen. Allerdings gibt es natürlich auch Ausnahmen: Der Rapper Snoop Dogg ist vor einiger Zeit mit einer eigenen Linie von Cannabisprodukten ins Geschäft eingestiegen – diesmal legal. In den 1990ern stand der Rapper nämlich nicht selten wegen Drogendelikten vor Gericht, unter anderem auch wegen Dealens. Nun ist aber alles anders: Mit „Leafs by Snoop“ vertickt der Rapper im US-Bundesstaat Colorado legal acht verschiedene Cannabissorten in stylisch designten Schachteln, außerdem gibt es Konzentrate und Kekse zu erwerben. Snoops Cannabisimperium wird von einer eigenen Marihuana-Medienfirma abgerundet: „Merry Jane“ soll Cannabis und Popkultur vermengen.

52 Milliarden
Als reichster Drogenboss galt der mittlerweile 85-jährige Amerikaner Frank Lucas. Sein Drogengeschäft begann er in den 1960ern im New Yorker Stadtteil Harlem. Seine Strategie bestand vor allem darin, das Monopol der italienischen Mafia in New York zu brechen. Dafür reiste er nach Bangkok und kontaktierte dort einen entfernten Verwandten, der Verbindungen zur U.S. Army hatte. So begann der Schmuggel direkt aus dem sogenannten „Goldenen Dreieck“. Wie genau dieser von statten ging, darüber gehen die Meinungen auseinander. In manchen Versionen wird von Särgen toter US-Soldaten berichtet, andere Quellen geben nachgemachte Särge oder „nur“ Möbel an. Lucas vertraute nur Verwandten und guten Freund_innen seine Drogengeschäfte an, weil er der Meinung war, dass die Chance, dass diese ihn bestehlen würden, geringer sei. Mit den großen Profitmargen, die er aus dem Direktverkauf seines „Blue Magic“-Heroins ohne Zwischenhändler_innen erzielte, konnte er viel Besitz anhäufen, unter anderem auch eine Rinderfarm in North Carolina. Als er 1975 jedoch festgenommen wurde, verschwand angeblich sein gesamter Besitz. In „American Gangster“ wurde Lucas’ Leben verfilmt, allerdings mit einigen Änderungen, damit die Geschichte genügend Dramatik für das Mainstream-Kino bietet.

Online-Dealer_innen
Der Handel mit Drogen läuft auch im Netz. Wer abgelegen wohnt oder schlicht keine Lust hat, bei Straßendealer_innen zu kaufen, kann sich im Darknet so ziemlich alles besorgen, was das Herz begehrt. Die geheimen Seiten sind nur über das verschlüsselte und anonyme TOR-Netzwerk erreich bar, bezahlt wird in der Kryptowährung Bitcoins. Die bekannteste Seite für alles Illegale war „Silk Road“, benannt nach der historischen Seidenstraße. Aufge setzt und betreut wurde der Darknet-Marktplatz von Ross Ulbricht, der besser unter dem Pseudonym „Dread Pirate Roberts“ bekannt war. 2013 stellte sich heraus, dass Ulbricht ziemlich unsicher gehandelt hatte: das FBI kam ihm auf die Schliche, nahm ihn fest und beschlagnahmte "Silk Road". Ulbricht wurde daraufhin unter anderem wegen Drogenhandels und Auftragsmord zu lebenslanger Haft verurteilt.

Joël Adami studiert Umwelt- und Bioressourcenmanagement an der Universität für Bodenkultur Wien und nein, das hat nichts mit Drogenanbau zu tun.

Lest hier den begleitenden Artikel über die fiktiven Drogendealer*innen

Fußnoten zum Wahn

  • 22.06.2016, 12:02
Nach dem Ablauf des Urheberrechts für Mein Kampf bemühen sich die Herausgeber der kritischen Edition darum, die Ausstrahlung des Originaltexts auf 2.000 Seiten zu zerstören

Nach dem Ablauf des Urheberrechts für Mein Kampf bemühen sich die Herausgeber der kritischen Edition darum, die Ausstrahlung des Originaltexts auf 2.000 Seiten zu zerstören. Das gelingt in der typographischen Gestaltung durchaus: Hitlers Erzählung wird vom wissenschaftlichen Apparat richtiggehend umklammert. Erfolgreich ist ebenso das Unternehmen, Hitlers fantastische Schilderung seines Lebens gegen den tatsächlichen biographischen Hintergrund zu kontrastieren.

Doch der Wahn, den Hitler in „Mein Kampf“ ausbuchstabiert, lässt sich nicht durch penible Faktenrecherche widerlegen. Allzu oft schrecken die Herausgeber davor zurück, die ideologischen Abgründe und nicht bloß die historische Landschaft auszuleuchten. Auf Hitlers Litanei, dass die „jüdische Bastardierung“ die deutschen Städte dorthin bringe, „wo Süditalien heute bereits ist“, reagieren sie etwa mit dem Hinweis, dass Hitler hier falsch liege, da im Süden Italiens seit Jahrhunderten nur eine winzige jüdische Gemeinde existierte. An solchen Stellen wird der Kommentar zu Besserwisserei. Wer Hitlers Wahn konsequent wie eine Ansammlung von Irrtümern behandelt, vermittelt den Eindruck, statt „Mein Kampf“ zu kommentieren, den Führer belehren zu wollen.

Am tiefsten schürft der Kommentar dort, wo er am nächsten an der textlichen Oberfläche bleibt. Über die Armut, die er in Wien erlebt hat, schreibt Hitler etwa: „Wer nicht selber in den Klammern dieser würgenden Natter sich befindet, lernt ihre Giftzähne niemals kennen.“ Das Bild ist als Ganzes verunglückt, wird in der Fußnote bemerkt: Nattern würgen nicht, und wen sie dennoch würgen, der kann ihre Giftzähne nicht sehen. Stürzt die Metapher ins Leere, befindet sich häufig auch der Gedanke im freien Fall.

In tausenden anderen Fußnoten und Einleitungen erfährt man mehr oder häufig auch weniger Bedeutendes. Sei es über Hitlers Diät in der Festungshaft in Landsberg („Eier, Butter, Zitronen“), sei es über das Lieblingshobby von Hitlers Vater („Bienenzucht“). Wer so etwas wissen will, verwechselt das Interesse an der Person Hitler mit der Begeisterung für des Führers Privatleben. Es steht zu befürchten, dass der riesige Zuspruch für das Buch – mehr als 60.000 verkaufte Exemplare – nicht zuletzt auf diesem Missverständnis beruht. Den Herausgebern ist der Erfolg nicht vorzuwerfen: Ihre Edition ermöglicht das Studium des Textes, verhindert aber seine ungestörte Lektüre.

Christian Hartmann, Othmar Plöckinger, Roman Töppel, Thomas Vordermayer (Hg.):
Hitler, Mein Kampf. Eine kritische Edition.
Institut für Zeitgeschichte München- Berlin 2016. 1.966 Seiten, 59 Euro.

Simon Gansinger studiert Philosophie an der Universität Wien.

Die queeren Kompliz_innen des Systems

  • 22.06.2016, 11:49
Gegen die Komplizenschaft mit dem System appellieren Heinz-Jürgen Voß und Salih Alexander Wolter mit „Queer und (Anti-) Kapitalismus“. Adressiert ist das Buch eindeutig an Leute, die sich in queeren Theoriegebilden bereits prächtig zurechtfinden.

Gegen die Komplizenschaft mit dem System appellieren Heinz-Jürgen Voß und Salih Alexander Wolter mit „Queer und (Anti-) Kapitalismus“. Adressiert ist das Buch eindeutig an Leute, die sich in queeren Theoriegebilden bereits prächtig zurechtfinden. Dieser tendenziell weiße, akademische Mittelschichtskreis hat sich mitunter ganz gut mit gesellschaftlichen Machtstrukturen arrangiert und ist immer wieder einmal versucht, sich in akademischen Diskursen und kleinen Teilbereichen dessen zu verlieren, was die Autoren nun als „das Ganze“ problematisieren. Das Ganze ist irgendwie Kapitalismus, aber nicht bloß als Wirtschaftsform, sondern als Prinzip, das die Gesellschaft strukturiert und gestaltet und das mit Sexismus, Rassismus und anderen Ungleichheiten verwoben ist.

Dieser Verwobenheit war man sich in den Anfängen der queeren Bewegung in den 1960ern durchaus bewusst. Damals protestierten Trans*-Personen, Sexarbeiter*innen, junge obdachlose Queers, Queers of Color und jene aus der Arbeiterklasse gegen Polizeigewalt und gesellschaftliche Unterdrückung. Die aktuelle Queer-Bewegung neigt dazu, diese solidarischen Kämpfe in den Hintergrund zu drängen und eigene privilegierte Positionen absolut zu setzen. Dagegen wenden sich die Autoren. Sie gehen darauf ein, warum sex, class und race analytisch nicht getrennt werden sollten, wieso eine Aufspaltung politischer Kämpfe problematisch ist und warum wir uns bedingungslos an die Kämpfe jener anschließen müssen, die gesellschaftlich am meisten unterdrückt werden. Zentrale Themen sind die Geschichte der Queer-Bewegung, Feminismus, Kolonialismus, globale Arbeitsteilung und Kapitalismus.

Das Buch findet klare Worte für queere Kompliz_innen des Systems, vorausgesetzt sie sind mit akademischem, linkem Theoriejargon vertraut. Für alle anderen sind es weniger klare Worte, mehr verschwommene Ideen in komprimierter Form. Ich würde das Buch trotzdem allen empfehlen, die sich gerne kritisch mit der Gesellschaft auseinandersetzen. Durch die streckenweise komplizierten Formulierungen kann man sich durchkämpfen, dann bietet es eine hervorragende Zusammensicht der Kernaspekte linker Ideologie. Außerdem gibt es dutzende Verweise auf essentielle Werke zum Weiterlesen, die in bisherigen Debatten vielfach ungerechtfertigt vernachlässigt wurden.

Heinz-Jürgen Voß & Salih Alexander Wolter: Queer und (Anti-)Kapitalismus.
Schmetterling Verlag. 2015 (2. Auflage).
159 Seiten, 12,80 Euro.

Carina Brestian studierte Gender Studies an der Uni Wien.

Konstruierte Natur

  • 22.06.2016, 11:32
Die Stadt wird gerne als Gegensatz zur Natur gesehen. Dabei existieren innerhalb von Städten verschiedene Formen von Natur, die ebenso unterschiedlich wahrgenommen und bewertet werden.

Die Stadt wird gerne als Gegensatz zur Natur gesehen. Dabei existieren innerhalb von Städten verschiedene Formen von Natur, die ebenso unterschiedlich wahrgenommen und bewertet werden. In ihrem Band „Ansichtssache Stadtnatur“ untersucht die Berliner Stadt- und Kulturgeografin Katharina Winter, welchen Einfluss verschiedene Ansichten, was Stadtnatur ist oder sein kann, auf den Umgang mit sogenannten Zwischennutzungen haben. Im Grunde gilt schon die natürliche Sukzession – also das ungehinderte Wachstum von Pflanzen, deren Zusammensetzung sich mit der Zeit von reinen Gräsern zu Sträuchern und schließlich zu Bäumen verändert – als Zwischennutzung. Viel spannender sind jedoch die menschlichen Zwischennutzungen wie Guerilla Gardening oder improvisierte Spielplätze.

Drei Fallstudien über solche Zwischennutzungen hat Winter durchgeführt. Zuerst stellt sie den „Garten der Posie“, einen interkulturellen Gemeinschaftsgarten im dicht besiedelten Neukölln-Rixdorf, vor und geht dabei besonders auf die Spannungen zwischen sogenannter „bedürftiger“ und „nützlicher“ Natur ein, die in jedem Garten entstehen und in einem Gemeinschaftsgarten besonders präsent sind. Die zweite Fallstudie behandelt die „Tentstation“, einen innerstädtischen Zeltplatz auf dem Gelände eines ehemaligen Freibades in Moabit. Hier untersucht Winter besonders die Fragen, was für ein Naturverständnis auf einem Zeltplatz vorherrscht und ob Nachhaltigkeit automatisch Schönheit bedeutet. Sie spricht dabei der Ästhetik der „gebrauchten Natur eines gebrauchten Ortes“ eine besondere Rolle zu. Drittes und letztes Fallbeispiel ist die Wagenburg „Lohmühle“, die auf einem ehemaligen Mauerstreifen entstand. Hier untersucht Winter besonders den Naturschutzgedanken der Bewohner_innen.

Sowohl die theoretischen Kapitel zur Konstruktion des Naturbegriffes als auch die Fallstudien sind für Interessierte eine Bereicherung. Lobenswert ist auch, wie kritisch der Nachhaltigkeitsbegriff in diesem Band betrachtet wird. Winter benutzt im Text zufällig die weibliche oder männliche Form, was zwar interessant ist, durch einen Gendergap oder -sternchen jedoch einfacher gelöst hätte werden können.

Katharina Winter: „Ansichtssache Stadtnatur. Zwischennutzungen und Naturverständnisse.“
transcript, 262 Seiten, 29,99 Euro, eBook 26,99 Euro.

Joël Adami studiert Umwelt- und Bioressourcenmanagement an der Universität für Bodenkultur Wien.

Intergeschlechtlichkeit – Eine malträtierte und tabuisierte Vielfalt.

  • 22.06.2016, 11:17
Von der erdrückenden Unfreiheit des Zwei-Geschlechter-Systems.

Von der erdrückenden Unfreiheit des Zwei-Geschlechter-Systems.

Identität, Geschlecht und Sexualität sind weltweit ausschlaggebende Faktoren in allen Gesellschaften – Institutionen, Wissenschaften, Rechtsordnungen, Bildungssystem und Religionen sind darauf aufgebaut. Unsere gesellschaftliche Dichotomie lässt sich kinderleicht auf zwei corpora zusammenfassen und definieren. Auf der einen Seite haben wir die Frau und auf der anderen den Mann. Natürlich findet man immer wieder leichte definitorische Abweichungen, doch das sind die starren vorherrschenden Normen der Geschlechter und Geschlechtsidentitäten, die von unseren Gesetzbüchern wahrgenommen werden. Und das bei rund 7,39 Milliarden Menschen. Ich wiederhole: 7.390.000.000 Menschen. Diese triviale Sicht auf Körperlichkeit und Wahrnehmung spiegelt sich konzentriert auf juristischer, aber verstärkt auch auf medizinischer Ebene, was für zahlreiche Menschen, die nicht der Norm entsprechen, imponderables Leiden verursacht.

WAS IST INTERGESCHLECHTLICHKEIT? Intergeschlechtlichkeit ist ein Überbegriff für Menschen, deren körperliche Geschlechtsmerkmale die willkürlich gesetzten Grenzen zwischen „männlich“ und „weiblich“ überschreiten. Es kann sich hier um chromosomale, anatomische und/oder hormonelle Geschlechtsmerkmale handeln. Deswegen kann auch nicht von einem bestimmten intergeschlechtlichen Körper die Rede sein. Es gibt ihn einfach nicht: Diversität ist das Stichwort. Darüberhinaus kann auch nicht von einer Geschlechtsidentität gesprochen werden. Die meisten intergeschlechtlichen Menschen definieren sich als Mann oder Frau, viele aber auch als Inter*, Trans* oder anderes.

Intergeschlechtlichkeit wird manchmal bereits bei der Geburt eines Kindes festgestellt, manchmal in der Pubertät – wenn diese anders verläuft als erwartet, und manche erfahren davon, wenn ein unerfüllter Kinderwunsch besteht und nach einer medizinischen Lösung gesucht wird. Bei sehr viele Menschen bleiben intergeschlechtliche Merkmale ein ganzes Leben lang unbemerkt. Schätzungen gehen davon aus, dass 1,7 Prozent der Bevölkerung intergeschlechtlich ist, d. h. auf die derzeitige Weltbevölkerung berechnet kommen wir zu der Zahl von ca. 125.630.000 Menschen. Das sind 125.630.000 Gründe, das bestehende Zwei- Geschlechter-System zu beseitigen und ein Gesellschaftsmodell der Inklusion einzuführen.

Tobias Humer ist Obmann und Mitbegründer von VIMÖ (Verein Intergeschlechtlicher Menschen Österreich), Teil des unabhängigen Netzwerkes Plattform der Intersex Österreich ist. Tobias hat sich dazu bereit erklärt, seine Geschichte zu erzählen.

progress: Wie hast du über deine Intergeschlechtlichkeit erfahren und wie ist dein familiäres Umfeld damit umgegangen?
Tobias Humer: Meinen Eltern wurde sehr früh mitgeteilt, dass ich kein ,normales‘ Mädchen sei und dass meine Entwicklung beobachtet werden sollte. Sie waren deshalb einige Male bei Ärzt_innen und im Krankenhaus. Sie haben sich stets sehr unwohl gefühlt, weil ich ständig rumgereicht und von zahlreichen Mediziner_innen als Sensation betrachtet wurde. Ihnen wurde verordnet, jedes Jahr ins Krankenhaus zu gehen, doch sie entschieden sich dagegen, was eigentlich ziemlich gut war. Leider wurde meine Intergeschlechtlichkeit danach aber verschwiegen. Es wurde nie darüber geredet. Das Tabu war so stark, dass auch ich es nicht schaffte, darüber zu sprechen, obwohl ich mir meines „Anders-Seins“ recht früh bewusst war. In der Pubertät begann mein Körper dann, sich immer weiter von der weiblichen Norm zu entfernen und es wurde immer schwieriger für mich, nicht aufzufallen. Es gab niemand, mit dem ich darüber sprechen konnte und ich wusste auch von niemandem, di*er so war wie ich. So entschied ich mich mit vierzehn Jahren, mich umzubringen.

ALLES WAS ANDERS IST, IST KRANK. Inter* Menschen sind einer steten Pathologisierung und Stigmatisierung ausgesetzt, die irreversible Schäden mit sich bringen. Die Medizin klassifiziert diese Vielfalt als „Störung der Geschlechtsentwicklung“ (disorders of sex development, DSD) was sich gut in der Auflistung im ICD (Internationale statistische Klassifikation der Krankheiten und verwandter Gesundheitsprobleme) niederschlägt, wo bis 1992 auch Homosexualität als Krankheit gelistet war. Je nachdem wie der Wissensstand der Mediziner_innen ist, werden die Eltern von zwischengeschlechtlichen Kindern aufgeklärt – ihnen wird aber fast immer geraten, sich für ein Geschlecht zu entscheiden. Ist die Entscheidung gefallen, wird zum Skalpell oder zu Hormonen gegriffen: Eine zu große Klitoris wird verkleinert, ein zu kleiner Penis vergrößert, künstliche Vaginas werden angelegt, Hormone oder Pubertätshemmer verabreicht und oft auch eine Kombinationen solcher Methoden angewandt. Die Liste ist lang. Die meisten Eingriffe, die bei zwischengeschlechtlichen Kindern und Jugendlichen durchgeführt werden, sind medizinisch nicht notwendig und somit rechtswidriger Natur, weil sie die Integrität und Autonomie des Kindes schädigen, doch unter dem Begriff „Heilbehandlungen“ stellen sie Ausnahmen dar. Diese Eingriffe ziehen in fast allen Fällen leidvolle und irreversible Konsequenzen nach sich, wie z.B. Zeugungsunfähigkeit (Sterilisation), lebenslange Abhängigkeit von künstlicher Hormontherapie, Sensibilitätsverlust, aber auch starke Traumata und Depressionen. Studien vergleichen die psychischen Folgen solcher Behandlungen mit denen von sexuellem Missbrauch und anderen schweren Misshandlungen. Dennoch ist dies auch in österreichischen OPRäumen gängige Praxis: alles unter dem Deckmantel der „Heilung“.

Welche Erfahrungen hast du mit Ärzt_innen gemacht?
Nach meinem Suizidversuch haben meine Eltern den Hausarzt gerufen, der mir eröffnet hat, dass es viele Menschen wie mich gibt und dass es ,eine Lösung‘ gibt für mein Problem – zwei Wochen später saß ich alleine vor einem Chirurgen, der mich fragte, ob ich ein Leben als Mann oder als Frau weiterführen möchte, wobei mir suggeriert wurde, dass es leichter wäre, eine Frau aus mir zu machen. Nochmal zwei Wochen später hatte ich eine kosmetische Genitaloperation hinter mir und kurz darauf war ich kastriert und bekam Östrogen. Alles ohne psychotherapeutische Unterstützung, ohne fundierte Aufklärung, und ohne mir zu erklären, dass ich auch so bleiben kann wie ich bin. Für ein paar Jahre habe ich dann versucht, diese Frau zu werden, die ich anscheinend sein sollte. Irgendwann wurde mir jedoch klar, dass sich das alles sehr falsch anfühlt. Mit 22 bin ich dann nach Berlin gezogen und hab dort das erste Mal in meinem Leben andere Inter* kennengelernt und begonnen, meine persönliche Geschichte in eine größere Geschichte einzuordnen. Eine Geschichte der Pathologisierung und Unsichtbarmachung von intergeschlechtlichen Menschen.

WIE KAM ES DAZU? Wenn wir einen Rückblick wagen, wie es historisch zu diesem krampfhaften Impuls der operativen Eingriffe gekommen ist, ist diese Entwicklung weniger rätselhaft als es scheint: Der amerikanische Psychologe und Sexologe John Money galt ab den 50ern bis in den 90er Jahre als wahre Instanz bezüglich Intergeschlechtlichkeit. Er setzte folgende drei Handlungsschritte für den Umgang mit normabweichenden Genitalien durch, die von der medizinischen Fachwelt, einhergehend mit der wachsenden Popularität der plastischen Chirurgie, aufgegriffen und angewendet worden sind: • die frühzeitige Geschlechtszuweisung, • die operative Angleichung in den ersten Lebensmonaten bis -jahren sowie • die Geheimhaltung der Diagnose, der Eingriffe und der Hormoneinnahmen. Gemäß der zynischen Aussage „it’s easier to dig a hole than to build a pole“ wurden Betroffene mehrheitlich in Mädchen „umfunktioniert“. Der Penis oder die Klitoris eines Kindes durfte nicht mehr als zwei Standardabweichungen von der Norm haben.

Hast du jemals versucht, die Ärzt_innen zu kontaktieren, die dich operiert und betreut haben?
„Ich habe den damals zuständigen Endokrinologen (Hormonspezialist) kontaktiert und mich mit ihm getroffen, und ihm auch klargemacht, wie unzufrieden ich mit der mir widerfahrenen Behandlung bin. Er reagierte darauf sehr respektvoll und zeigte sogar Reue – und überreichte mir dann fast meine gesamte Krankenakte, was wirklich selten ist. Oft fragen Inter*Personen nach ihren Akten und bekommen eine banale Ausrede wie „die Papiere sind leider bei einem Brand zerstört worden“. Als ich später meinen Personenstand ändern wollte, hat mir dieser Arzt dann auch einen Brief geschrieben, in dem er geschildert hatte, dass ich eigentlich ein Mann sei. Mit diesem Brief hatte ich am Standesamt in kürzester Zeit einen männlichen Eintrag – was mir klar vor Augen geführt hat, welche Definitionsmacht die Medizin hat."

HOFFNUNGSSCHIMMER. Wenn wir einen Blick über unseren Tellerrand wagen, findet man bisher zwar kaum Länder, die diese medizinische Praxis unterbinden, aber bereits viele, die zumindest im Personenstand mehr als nur zwei Geschlechter zulassen. In Australien und Neuseeland zum Beispiel ist der Passeintrag mit einem „dritten Geschlecht“ versehen, der mit einem „X“ gekennzeichnet ist. In Nepal dagegen wird dieser Eintrag mit einem „O“ festgehalten. Das „O“ steht hierbei für „others“ und das „X“ für zwischengeschlechtlich.

Im Dezember 2010 nahm sich der Deutsche Ethikrat der Debatte an und veröffentlichte eine 200-seitige Stellungnahme. Was die Politik daraus gemacht hat, ist eher problematisch. 2013 ist die Gesetzesnovelle des Personenstandsgesetzes in Kraft getreten. Sie besagt, dass die Angaben freigelassen werden müssen, wenn das Geschlecht des Neugeborenen nicht eindeutig männlich oder weiblich ist, was einem Zwangsouting gleichkommt und die Eltern erst recht unter Druck setzt. Zusätzlich würde man Inter*Personen alles andere als gleichgestellt sehen, da sie nach dieser Novelle als geschlechtslos dargestellt werden. Als wahrlich avantgardistisch zeigte sich jedoch Malta. Im April 2015 wurde das „Gender Identity, Gender Expression and Sex Characteristics Act 2015“ in Kraft gesetzt. Dieses Gesetz manifestiert die juristische Anerkennung von Trans*- und Inter*Personen und schützt sie umfassend vor Diskriminierung. Darüber hinaus ist Malta das erste Land, welches medizinische Eingriffe bei zwischengeschlechtlichen Säuglingen kriminalisiert.

Was hältst du von den letzten juristischen Veränderungen?
Dass der Deutsche Ethikrat sich der Sache angenommen hat, war grunsätzlich gut. So wie es jedoch die deutsche Politik umgesetzt hat, ist der Schuss nach hinten losgegangen. Wir als VIMÖ begrüßen allerdings das neue maltesische Gesetz und arbeiten daran, dass Ähnliches bald auch in Österreich passiert. Das Gesetz stützt sich auf drei Säulen: Erstens wurden geschlechtsverändernde Eingriffe bei Kindern und Jugendlichen verboten. Zweitens gibt es neben männlich und weiblich nun eine dritte Option für den Geschlechtseintrag, und dieser ist leicht und unbürokratisch zu ändern. Und drittens wurde das Antidiskriminierungsgesetz ausgeweitet, sodass auch Inter*Personen ganz klar vor Diskriminierung geschützt sind. Was in Malta in Kraft getreten ist, ist eine wahre Revolution.

Interview mit Tobias Humer von VIMÖ (Verein Intergeschlechtlicher Menschen Österreich)
vimoe.at
plattform-intersex.at

Carmela Migliozzi studiert Deutsch und Italienisch auf Lehramt an der Universität Wien.

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