Jan Marot

Man muss den Machismus aus der Gesellschaft verbannen

  • 26.02.2020, 10:56
Begriffe wie ‚Eifersuchtsmord‘ sind längst überholt, sagt Tania Sordo Ruz, Juristin und Expertin für machistische Gewalt und Feminizide in Spanien, im progress-Interview.

Frage: Spaniens Gesetz gegen machistische Gewalt wird von anderen Staaten als Vorbild betrachtet. Worin liegen seine Stärken und Schwächen?

Antwort: Die Ley Orgánica de Medidas de Protección Integral contra la Violencia de Género aus dem Jahr 2004 war eine wichtige Weichenstellung. Das Gesetz behandelt die Ursprünge, Hintergründe, Auslöser und Folgen dieser Gewalt. Nun wäre es an der Zeit, das Gesetz auf weitere Formen der machistischen Gewalt auszuweiten. Denn das Gesetz von 2004 behandelt nur Fälle aus dem nächsten Umfeld des Opfers, sprich wenn der (Ex-)Partner der Täter ist. In Fällen, wo die Täter dem Opfer unbekannt waren, gilt der Delikt z.B. nicht als machistische Gewalt. Auch die UNO hat Spanien schon ermahnt, den Gewaltbegriff im Gesetz auszuweiten. Man muss den Rahmen aktualisieren und anpassen. Auch in Bezug auf institutionelle Gewalt muss sich etwas ändern – es kann nicht sein, dass Überlebende von Gewalt die Justiz anrufen und anstelle von Unterstützung nur Demütigung erfahren oder beschuldigt werden, Übergriffe provoziert zu haben. Zudem muss in punkto Entschädigung der Opfer und der berlebenden weit mehr getan werden. Dabei geht es nicht allein um Finanzielles, sondern auch um die Verurteilung machistischer Gewalttaten seitens der Politik und Institutionen sowie Präventionsarbeit.

Frage: Welche Rolle spielen die Medien in der Bewusstseinsbildung?

Antwort: Es ist enorm wichtig, welche Botschaft in der Berichterstattung transmittiert wird. Begriffe wie „Eifersuchtsdelikt“, „Familiendrama“ oder „Mord aus Leidenschaft“ sollten längst nicht mehr verwendet werden, weil sie das strukturelle Element von Gewalt gegen Frauen verschleiern. In der medialen Berichterstattung geschieht es leider oft, dass den Betroffenen selbst Schuld oder Mitschuld zugeschoben wird, etwa durch Berichte zum Verhalten oder Details aus dem Privatleben des Opfers, die für die Straftat irrelevant sind und keine Funktion haben, außer das Delikt zu rechtfertigen.

Frage: Die rechtsradikale Vox-Partei mit ihrem antifeministischen Diskurs erreicht Wählerschichten. Dabei sind die Ultrarechten nicht nur frauenfeindlich, sondern auch rassistisch.

Antwort: Exakt, denn exualisierte Delikte werden gerne Migranten in die Schuhe geschoben, dabei hat Gewalt gegen Frauen nur einen gemeinsamen Nenner: den Machismus, keinesfalls die Herkunft. Man muss den Machismus aus der Gesellschaft verbannen. All die Fake-News-Massen, die die extreme Rechte produziert, müssen wir mit Daten aktiv widerlegen. Viele Ideen der Vox-Partei sind darüber hinaus antidemokratisch, verfassungswidrig und sie wollen alles rückgängig machen, was wir in hartem Kampf erreicht haben. Das liegt auch an der mangelnden Aufarbeitung der Franco-Diktatur, die nun hoffentlich mit der Linkskoalition beginnen wird. Der Diskurs der Vox-Partei ist klar fernab der Realität. Die Debatte, die Vox schürt, ist längst überholt. Aber wir dürfen sie nicht unterschätzen. Gewalt hat immer eine Geschlechterperspektive und punkt. Wenn Vox dem widerspricht, normalisieren sie Gewalt gegen Frauen und das kann zu ihrem Ansteigen führen.

Frage: Fälle sexualisierter Gewalt und Vergewaltigungen haben kürzlich viel mediale Aufmerksamkeit erregt, Gerichtsurteile in Folge haben Massenproteste ausgelöst.

Antwort: Wie anfangs angesprochen muss auch sexualisierte Gewalt, die von Unbekannten ausgeht, in das Gesetz der Geschlechtergewalt aufgenommen werden. Das Strafgesetzbuch muss klarer zwischen sexualisierter Gewalt und Missbrauch unterscheiden. Mit einer Gesetzesänderung ist es aber nicht getan, die Mentalität der Richter_innen in solchen Fällen muss sich ebenso ändern. Sie müssen sich bewusst sein, wann Unterdrückungsverhältnisse, Dominanz und Ohnmacht oder ungleiche Machtverhältnisse bestehen. Die in der Justiz Beschäftigten müssen dahingehend auch in Genderperspektive geschult werden. Zudem gibt es in Spanien bisher kein Krisenzentrum für Überlebende von Vergewaltigungen, die „Rape Crisis Centers“, wie sie in den USA und England seit Jahrzehnten existieren. Opfer brauchen eine Anlaufstelle, an die sie sich wenden können, und spezialisierte Anwält_innen, die in Sachen sexualisierter Gewalt Expertise haben. Aber das Recht alleine kann nicht alle Probleme lösen, es braucht auch Bildung aus Genderperspektive.

Zur Person:

Tania Sordo Ruz (* 1984 in Mexico-Stadt) ist Juristin spezialisiert auf Internationales Recht und Geschlechtergewalt. Sie lebt seit elf Jahren in Spanien, wo sie ihr Doktorat in Interdisziplinären Genderstudien abschloss. An der Madrider Universität Carlos III. forscht Sordo Ruz zu Geschlechtergewalt aus internationaler Perspektive. Zudem ist die Mexikanerin Anwältin und Autorin zahlreicher Studien über Geschlechtergewalt und Feminizide. Sie berät auch Institutionen, wie zuletzt die baskische Regionalregierung über die Neufassung ihres Gesetzes gegen die Geschlechtergewalt.

@TaniaSordoRuz auf Twitter.

Autoreninfo: Jan Marot (*1981 in Graz) studierte Publizistik- und Kommunikationswissenschaft in Wien und Zürich.

Krux um Katalonien unter Kommiliton_innen

  • 29.01.2018, 12:57
Studierende gelten als die treibende Kraft der katalanischen Unabhängigkeitsbewegung, insbesondere was die Mobilisierung bei Massenprotesten für die Republik betrifft. Der von Madrid postulierte „separatistische Meinungsterror“ gegen Andersdenkende, primär rechte, unionistische Studierende wird bei einem Lokalaugenschein fast völlig entkräftet. Nur Spaniens Rechtsextreme suchen den Konflikt für ihre Interessen zu nutzen.

Wie wirken sich die turbulenten Ereignisse um die Sezessionspläne Kataloniens auf den studentischen Alltag in Barcelona aus? Offenbaren sich die angeblich derart tiefen Gräben auch zwischen Kommiliton_innen? Können sich Kritiker_innen, die sich gegen eine Unabhängigkeit stemmen, überhaupt noch freiäußern? An der Autonomen Universität Barcelonas (UAB) scheint auf den ersten Blick Normalbetrieb zu herrschen. Auch auf den zweiten. Klarerweise finden sich Plakate, die „Freiheit für Polithäftlinge“ fordern. Sind doch seit Wochen die Präsidenten der Katalanischen Nationalversammlung (ANC), Jordi Sànchez i Picanyol, und des katalanischen Kulturinstituts Òmnium Cultural, Jordi Cuixart i Navarro, in Präventivhaft wegen „tumultartigem Aufruhr“. Ebenso der von Madrid entmachteter Vize-Regionalregierungschef Oriol Junqueras und sieben seiner Minister_innen, unter anderem wegen „Rebellion“.

„Die politischen Themen, die Katalonien bewegen, sind omnipräsent in Konversationen unter Kolleg_innen an der Fakultät und im Freund_innenkreis“, sagt Núria Janué (20), die Rechtswissenschaften
an der UAB studiert, zum progress. „Das schadet keinesfalls dem universitären Zusammenleben. Diejenigen, die ständig von Spaltung sprechen, sind jene, die Konfrontationen suchen und damit auch schaffen. Tatsächlich herrscht unter den Studierenden hier weitestgehend ein Konsens darüber, dass wir Katalan_innen das Recht haben sollten, über den Wunsch nach Unabhängigkeit abzustimmen, ganz gleich ob man jetzt dafür oder dagegen ist“, führt Janué aus. Sie unterstreicht ebenso, dass unter den Studierenden der UAB eine fast geschlossene Opposition zur Reaktion des spanischen Staates mit dem Außerkraftsetzen der katalanischen Autonomie und zur einhergehenden Welle der Repression seitens der Regierung in Madrid.

Rechtsextreme Aufmärsche
Doch Janué zeigt sich besorgt über „die steigende Sichtbarkeit von Rechtsextremen an der Universität“, wie etwa die so genannte Sociedad Civil Catalana (SCC, „Katalanische Zivilgesellschaft“): „Sie sind eine kleine
Gruppe der Studierenden der UAB, aber sie machen jede Menge Lärm“, klagt sie. Sie verteilen Propaganda-Flyer, organisieren Aufmärsche, Bücherkreise und Diskussionsrunden, zu denen sie Vortragende aus der Neonazi-Szene laden, die Glatzköpfige mit sich im Schlepptau haben. „Sie haben an der Universität nichts verloren“, sagt Janué. Die SCC ist übrigens ein landesweit nicht einmal 800 Mitglieder zählender Verein, der in Vergangenheit
ein Nahverhältnis zur „Nationalen Francisco Franco Stiftung“ unterhielt, die der Pflege des Andenkens an den faschistischen Ex-Diktator verschrieben ist und zuletzt die Massendemonstrationen in Barcelona für die Einheit Spaniens organisierte. Sekundiert wurden diese Proteste vom regierenden rechtskonservativen Partido Popular (PP) unter Spaniens Premier Mariano Rajoy, der rechten „Ciutadans“-Partei („Bürger_innen“- Partei) aber auch den katalanischen Sozialist_innen (PSC) – die unionistischen Kräfte in Katalonien.

Generell gilt es, in den medialen Propaganda-Wirren Vorsicht walten zu lassen: Spaniens Rechtsextreme versuchen im Fahrwasser des katalanischen Separatismus Land zu gewinnen. Öl ins lodernde Feuer goss dabei etwa Ende Oktober eine UAB-Studentin, die Berühmtheit erlangte, weil sie querbeet ein in vielen Medien, inklusive dem katalanischen Regionalsender TV3 „vom Gesinnungsterror durch gewaltbereite Separatist_innen an Universitäten sprach“, und dabei anonym bleiben wollte. Sie wurde als Mitglied der SCC und Ciutadans enttarnt, und ihre Schilderungen als an den Haaren herbeigezogen entlarvt. Die 20-Jährige Janué hat übrigens am von Madrid
als „illegal“ erachteten Unabhängigkeits-Referendum vom 1. Oktober teilgenommen. Wobei sie auch ihr Wahllokal mit tausenden Bürger_innen vor der Polizei verteidigt hat. Nach den Gewaltexzessen der wohlgemerkt spanischen, und nicht katalanischen Polizei (Mossos d’Esquadra) „war die Frage nicht mehr die Unabhängigkeit per se, sondern es ging um die Verteidigung der Demokratie“, sagt sie. Als pure Spekulation erachtet Janué ein zweites Referendum, bindend in seinem Ergebnis, da der spanische Staat das „katalanische Volk in der demokratischen Ausübung seiner Rechte ohnehin nur unterdrückt“. Vielmehr unterstreicht sie, dass das Referendum
vom 1. Oktober legitim war und dass man nun das Ergebnis in den Regionalwahlen am 21. Dezember bestätigen müsse.

Leichte Spannung in den Hörsälen

Der Katalane Marcel Jordi Dreier (22) macht seinen Master in Maschinenbau an der privaten Ramon-Llull-Universität, parallel zu einem MBA-Programm. Er meint im progress-Gespräch, dass es an seiner Hochschule in Sachen Separatismus „leider eher ruhig bleibt“. „Natürlich heizt die aktuelle politische Lage unter den Kommiliton_innen viele Debatten in den Pausen und in der Kantine an.“ Auch Dreier beharrt dabei auf den existierenden  Meinungspluralismus, mehr noch an seiner privaten Elite-Hochschule. „Bei uns gibt es Klassenvertreter_Innen, die sich paarMal im Jahr versammeln, aber nicht über Politik reden“, betont Dreier : „Es gibt nur Einzelpersonen, die ein paar Plakate gegen die politischen Häftlinge aufhängen, die aber auch von anderen Studierenden zerrissen werden.“ Dreier ist übrigens auch Mitglied von Òmnium Cultural, und nimmt regelmäßig an Aktionen für die Unabhängigkeit teil. „Dieser Tage hängen wir auf den Straßen Barcelonas große gelbe Schleifen auf, für die Inhaftierten unter den Separatist_innen.“ Die überdimensionale Schleife am Eingang zur Universität, die hat Dreier mit Kolleg_innen angebracht, worauf er stolz ist. „Für mich wäre die Lösung des Konfliktes ein vereinbartes Referendum zu feiern. So wie Schottland 2014. Nur leider ist der spanische Staat von diesem Punkt sehr, sehr weit entfernt“, unterstreicht Dreier, der sich keineswegs als Nationalist erachtet. Ohnehin hätte die Sezessionsbewegung für ihn keine derartigen, oder gar populistische Züge, betont er. Vielmehr sei sie aus der Zivilgesellschaft in Graswurzel-Manier erwachsen, über die ANC und eben Òmnium.

Vielstaatliches Spanien zu Grabe getragen

Er fände es richtig und wichtig, dass die katalanische Regierung diesen Konflikt internationalisiert. „Ein föderales, wahrhaftig vielstaatliches Spanien ist am 1. Oktober zu Grabe getragen worden“, meint er, da die zwei größten Parteien Spaniens, Rechtskonservative (PP) und sozialistischer PSOE sich nicht für die Polizeigewalt entschuldigten und die Unterwerfung des katalanischen Volkes anstreben würden. „Von einer spanischen Vielstaatlichkeit ist man aktuell noch weiter entfernt, als von einer Republik Katalonien“, ist Dreier sich sicher. Schauplatzwechsel zu einer weiteren der großen Universitäten Barcelonas, wo bereits am Ausgang von der U-Bahnstation in großen gelben Lettern „Espanya“, jedoch mit einem Hakenkreuz an Stelle des „S“, gesprayt wurde. Und im Campus-Innenhof ein „Sí“, „Ja“ den Unabhängigkeitswillen deutlich macht: „In meinem Fachbereich ist das Klima stark
für die Unabhängigkeit“, sagt der deutsche Universitätsprofessor Klaus-Jürgen Nagel von der Universitat Pompeu Fabra (UPF) in Barcelona zum progress. Der gebürtige Münsteraner lehrt Politikwissenschaft und lebt seit fast 20 Jahren in Katalonien und gilt als Experte für Nationalismus- und Föderalismus- fragen: „Die wenigen Student_innen, die in Vertretungen organisiert sind, sind zumeist im separatistischen SEPC.“ An der UPF seien die Studierenden vielmehr sehr stark zivil mobilisiert, betont Nagel. „Doch selbst wenn ein Streik angesagt ist, dann geht der bis mittags, es folgt eine Demo und am Nachmittag sind meist schon wieder Lehrveranstaltungen“, sagt er.

Das im Verhältnis zu anderen Hochschulen – wie eben die UAB oder die Universität von Girona, eine Wiege des Separatismus – „ruhigere Klima“ erklärt er sich damit, dass die größten Fachbereiche an der UPF Wirtschafts- und Rechtswissenschaften sind. Human- und Sozialwissenschaftler_innen seien kaum vertreten. Er meint weiter, dass Gegner_innen und Befürworter_innen ja keinen echten Streit haben müssen, solange sie mehrheitlich zumindest
das Recht auf eine Volksabstimmung in Katalonien anerkennen. Wie 70 bis 80 Prozent der Bevölkerung es auch wollen.“ Erst wenn man das Recht darauf abstreite, wie es die spanische Regierung tue, dann werde es kritisch, sagt Nagel. 
Emigrant_innenfamilien

Doch wie betrachten Studierende fern von Katalonien die Situation? Gonzalo de la Orden Rodriguéz (22) ist Musikstudent im südspanischen Granada. Der überwiegende Teil seiner Onkel und Tanten, väter- und mütterlicherseits, leben in Katalonien. Normal, für viele Familien Süd- und Zentralspaniens, denn zur Franco-Diktatur gab es massive Migrationsbewegungen aus den landwirtschaftlichen Regionen ins damals bereits stark industrialisierte Katalonien: „Ich bin sehr interessiert an der Katalonienfrage und bin dafür, dass ein bindendes Referendum abgehalten wird. Mit allen rechtlichen Garantien. Aber prinzipiell bin ich gegen eine Unabhängigkeit“, sagt er zum progress. Die Entscheidung darüber müssten jedoch die Katalan_innen haben. „Die Frage betrifft nicht nur die Katalan_innen, sondern ganz Spanien“, sagt indes seine Kollegin Lourdes Gay Punzano (22) aus Jaén. Auch sie studiert Musik in Granada, und wie so viele Andalusier_innen hat auch sie Verwandte in Katalonien, „die jedoch geschlossen gegen eine Sezession wären“, wie sie betont. Sie seien Spanier_innen: „Schuld an der
aktuellen Situation tragen beide Seiten, Madrid und Barcelona“, ist sie überzeugt. 
 

Von Jan Marot, Barcelona (@JanMarot auf Twitter)

 

Wissen

Aktuelle Studien des offiziellen katalanischen CEO-Statistikinstitutes (Centro de Estudios de Opinión, siehe http://ceo.gencat.cat) belegen einen deutlichen Zusammenhang zwischen höherem Bildungsniveau und
stärkerem Wunsch nach staatlicher Souveränität. Aber auch wer ein mittleres bis hohes Einkommen (ab 1800 Euro monatlich) hat, tendiert eher für die unabhängige Republik. Spitzenverdiener_innen indes sind eher unionistisch eingestellt. Zudem gilt in Sachen politischer Einstellung, wer sich eher als links erachtet, zählt mit weit größerer Wahrscheinlichkeit zum Sektor der Unabhängigkeitsbefürworter_innen. 

 

Was vom Jasminduft geblieben ist

  • 17.12.2013, 16:07

Fast drei Jahre nach dem Sturz des Diktators Zine el-Abidine Ben Ali lechzt Tunesien nach Stabilität und die tunesische Jugend nach Perspektiven. Die Revolution ist festgefahren, radikale Kräfte agieren immer offener.

Fast drei Jahre nach dem Sturz des Diktators Zine el-Abidine Ben Ali lechzt Tunesien nach Stabilität und die tunesische Jugend nach Perspektiven. Die Revolution ist festgefahren, radikale Kräfte agieren immer offener.

Fast drei Jahre sind vergangen, seit sich der damals 26-jährige tunesische Gemüsehändler Mohamed Bouazizi in Sidi Bouzid selbst im Brand steckte. Drei Wochen später erlag er den Verletzungen, während seine Heimatstadt zur „Wiege der Jasminrevolution“ wurde.
Ein Akt, der zu Protesten und Umstürzen, Bürgerkriegen und letztendlich auch Reformen führte. In Tunis hat sich der Großteil der Hoffnungen der revolutionären Bewegungen jedoch noch nicht erfüllt, am wenigsten jene der jungen Generation. Das tief gespaltene Land ringt um seine Zukunft. Maßgeblich dafür verantwortlich sind die ideologischen und programmatischen Gräben, die die politischen Lager trennen. Hinzu kommen außerparlamentarische Kräfte, in erster Linie radikale Salafist_innen, die mächtigen Gewerkschaften, aber auch jene Bevölkerungsschicht, die einst von Ben Alis Regime profitierte und jetzt zusätzlich Konflikte schürt.

Gespaltene Gesellschaft. Nach wie vor hat Tunesien keine neue Verfassung, sondern lediglich einen von der Verfassungsgebenden Versammlung erarbeiteten, nicht-akzeptierten Entwurf. Die Grundübel der Vergangenheit unter dem Ben-Ali-Clan – Vetternwirtschaft, Korruption, Armut, Arbeitslosigkeit – sind noch nicht beseitigt. Zwar existiert vor allem dank Online-Medien eine gewisse Pressefreiheit, doch was Blogger_innen und Neo-Newsportale aufdecken – beispielsweise das ministerielle Verprassen von Staatsgeldern für Luxushotels und teuren Champagner – lässt das Vertrauen in die neuen Strukturen schwinden.
Dennoch, die moderat-islamistische Ennahda-Partei, die eine quasi-permanente Übergangsregierung und den Premier Ali Larayedh stellt, klammert sich beharrlich an die Macht, wenngleich Larayedh seinen Rücktritt längst angeboten hat. Der Ennahda wird nicht nur ein ambivalentes Verhältnis zu militanten Salafist_innen unterstellt, zudem soll sie jene decken, die die tödlichen Mordanschläge auf Mohamed Brahmi und Chokri Belaid begangen haben – sofern die Mörder_innen nicht sogar aus ihren eigenen Reihen stammen. Brahmi war Parlamentsabgeordneter und Gründer der Partei Volksbewegung, Belaid Politiker der linken Bewegung Patriotischer Demokraten. Beide waren Teil der linksliberalen Volksfront zur Verwirklichung der Revolutionsziele. Auf ihrer Ermordung folgten schwere Unruhen; nach Belaids gewaltsamem Tod wurde der Dialog der verfeindeten politischen Lager in Tunesien abgebrochen.
Während dieser Dialog bis heute nie so recht in Gang gekommen ist, pochen die Salafist_innen immer offener auf einen Gottesstaat. Ein solcher wird in Tunesien aber auch auf lange Sicht wohl nicht errichtet werden. Zu groß ist die Zahl derjenigen, die eine funktionierende, mit Freiheiten ausgestattete Demokratie fordern. Immerhin sind die oppositionellen Kräfte, darunter Linke, Sozialist_ innen und Liberale, fast so stark wie die Ennahda, die viele ihrer einstigen Wähler_innen vergrault hat.

Blockade-Spiel. Größtes Hindernis für die Umsetzung der dringend anstehenden Reformen in Tunesien ist, wie Analyst_innen betonen, der Kommunikationsboykott von Regierung und Opposition, der den wichtigen „nationalen Dialog“ verhindert. Man bezichtigt sich gegenseitig der Blockade und schiebt einander die Schuld am Stillstand zu. Das machen sich vor allem die gemeinsamen Feinde beider Seiten, die einstigen Nutznießer_innen des Ben-Ali-Regimes, zu Nutze und gießen noch Öl ins Feuer.
Auch die Terrorgruppe Al Qaida des Islamischen Maghreb erstarkte in den Revolutionswirren und bewaffnete sich während des Bürgerkriegs im benachbarten Libyen. Die Zahl der Anschläge – auch in Tourismusorten – steigt. Gerade der Tourismus ist jedoch wirtschaftlich die größte Hoffnung der jungen Demokratie, die kaum über Rohstoffe verfügt.
Wiederholt kam es auch zu Gewaltakten und Ausschreitungen rund um Kunstausstellungen und Filmpremieren, wenn gezeigte Inhalte nicht den rigiden Moralvorstellungen von selbsternannten Glaubenshüter_innen entsprachen. Von Moralhüter_innen in den Reihen der Justiz werden exemplarisch Prozesse gegen Jugendliche geführt, die Kuss-Fotos auf Facebook posten. Auch Musiker, wie die Rapstars Alaa Yaacoub und Ahmed Ben Ahmed aka Weld El 15 und Klay BBJ mussten untertauchen – wegen kritischer Songs, die der Revolutionsjugend aus der Seele sprechen, etwa ihrem Track „Polizisten sind Hunde“ (arab. „Boulicia Kleb“). In Abwesenheit hat man sie zu 21 Monaten Haft verurteilt.
Einer, der maßgeblich zum Umsturz Ben Alis beigetragen hat, ist Hamadi Kaloutcha – ein Alias des einstigen Cyberdissidenten Sofiène Ben Haj M’Hamed, der nach seinem Politikwissenschaftsstudium in Brüssel noch zu Diktaturzeiten nach Tunesien heimkehrte. Sein Pseudonym bot allerdings nur bedingt Schutz: Drei Tage war er nach einer Polizeirazzia unter Schlafentzug verhört worden. „Sie haben zwar nicht meinen Laptop, jedoch den meiner Ehefrau beschlagnahmt“, wie Ben Haj M’Hamed sagt. Er übersetzte unter anderem pikante Wikileaks-Dokumente, in denen es um Ben Ali geht, ins Französische und Arabische.
 

Trotz allem Optimist. Ben Haj M’Hamed ist nach wie vor Cyberaktivist. Gilt es doch das Erreichte zu verteidigen, und das Erhoffte zu erlangen. Ungefährlich ist das freilich nicht. Im Oktober wurde er, wie er selbst twitterte, aufgrund eines Facebook-Posts von islamistischen Schlägern physisch attackiert. Zudem ist Ben Haj M’Hamed als Filmemacher aktiv und verdient den Lebensunterhalt für sich und seine Familie mit Gelegenheitsjobs für ausländische Nachrichtenteams. Doch auch wie internationale Medien über die Situation in Tunesien berichten, kritisiert er: „Sie kommen mit vorgefertigten Meinungen. Manche Reportagen sind fertig, bevor die Teams zu drehen beginnen. Auch Journalist_innen von staatlichen TV-Sendern sind oft manipulativ und vorurteilsbehaftet.“ So würden mitunter etwa fälschlicherweise Salafist_innen als die dominante Kraft im Land dargestellt.
Auf die Frage, was sich verbessert habe, antwortet er: „Vieles“ und scherzt: „Nun muss ich nicht mehr mehrere Proxy-Server hintereinander schalten, um die Ortung meines Standortes zu erschweren, oder über fremde WLAN-Netze einsteigen. Ich war, bin und bleibe Optimist“, sagt Ben Haj M’Hamed und hofft auf einen baldigen Urnengang, eine Aufklärung der Morde an Belaid und Brahmi und eine Mehrheit der Linksliberalen bei den nächsten Wahlen. Eine echte Verfassung müsse her, und das rasch. Doch dafür sei ein ehrlicher und zielorientierter Dialog der Zerstrittenen in der Verfassungsgebenden Versammlung unabdingbar. Die dringend geforderten Wahlen wurden bereits mehrmals verschoben. So auch der im Juli angekündigte Termin für den 17. Dezember. „Die Geduld der Tunesier_innen wird weiter auf die Probe gestellt.“

Der Autor lebt als freier Journalist in Granada und schreibt regelmäßig über Spanien, Portugal und Nordafrika.

Reservate für Eliten

  • 24.10.2013, 22:43

Der Sparstift, der an Spaniens Universitäten angesetzt wird, zwingt Hunderttausende zum Studienabbruch. Während Stipendien von der konservativen Regierung massiv beschnitten werden, stecken die Hochschulen selbst in der Krise.

Der Sparstift, der an Spaniens Universitäten angesetzt wird, zwingt Hunderttausende zum Studienabbruch. Während Stipendien von der konservativen Regierung massiv beschnitten werden, stecken die Hochschulen selbst in der Krise.

Mit Semesterbeginn flammt der Protest der Studierenden gegen die aktuelle Bildungspolitik der konservativen spanischen Regierung wieder auf. Spätestens Anfang November soll das Gesetzespaket zur „Verbesserung der Qualität der Ausbildung“ in Spanien in Kraft treten. Mit einem landesweiten Streik werden Schulen und Universitäten am 24. Oktober dagegen Widerstand leisten. „Meine KommilitonInnen haben es sehr schwer. Kein Wunder, dass sie wie auch beim Generalstreik im Herbst 2012 die Möglichkeit zum Protest nutzen. Dabei geht es ihnen nicht ums Blaumachen, wie es rechte PolitikerInnen gerne sehen“, weiß Julia Portnova (23), ukrainischdeutsche Politikwissenschaftsstudentin, die über Erasmus ein Jahr in Granada verbracht hat.

Knapp 360.000 Anspruchsberechtigte werden zukünftig wegen ihres Notenschnitts keine oder deutlich weniger finanzielle Unterstützung erhalten. Denn das Bildungsministerium unter José Ignacio Wert von der rechtskonservativen Volkspartei hat die Voraussetzungen für den Bezug von Stipendien drastisch verschärft. Hunderttausende sind folglich zum Abbruch ihres Studiums gezwungen. Hinzu kommt, dass auch Förderungen für die Mobilität von Studierenden wegfallen. Wer einen Studienort fern des Elternhauses hat, hat nicht mehr unbedingt Anspruch auf Förderungen, weil nicht länger der Wohnsitz der Eltern, sondern jener des nächsten Verwandten zur Berechnung herangezogen wird. Mittlerweile wurde vor dem Verfassungsgerichtshof eine Klage gegen die Stipendienkürzungen eingebracht.

MASSIVE KÜRZUNGEN. „Ich konnte mit 3.000 Euro jährlich an Unterstützung rechnen“, sagt Juan Castillo Argudo (35). Castillo hat in Madrid und Granada bereits erfolgreich zwei Studien – Lehramt Pädagogik und Psychopädagogik – absolviert und macht derzeit einen Master in Sevilla . Jedoch erfuhr er kürzlich, dass er von nun an weniger als 1.500 Euro bekommen wird: „Nicht einmal mit 3.000 Euro jährlich kann man überleben. Mit der Hälfte ist das unmöglich.“ Er werde mehr arbeiten müssen und sich kaum dem Studium widmen können, sofern sich ein Job findet. „Die Universität wird wieder ein Reservat der Eliten, die Geld haben“, prophezeit Castillo.

Auch um die Förderung der internationalen Mobilität steht es nicht gut in Spanien: Castillo hat im Zuge seiner bisherigen Studien über Erasmus auch ein Jahr in Lissabon verbracht. Dabei hat man ihn und viele andere um einen Teil ihrer Erasmusförderungen geprellt. Staat und EU zahlen einen Teil, außerdem stockt die andalusische Regionalregierung mit maximal 350 Euro monatlich auf 900 Euro auf. Eine Summe, die Castillo niemals gänzlich erhalten hat, wenngleich schriftlich vereinbart worden war, dass das Geld spätestens bei der Rückkehr ausbezahlt werde. KollegInnen nahmen Bankkredite oder Darlehen bei Verwandten auf, die sie nicht retournieren können. „Über 2.100 Euro sind sie mir schuldig geblieben“, sagt Castillo. Einige StudentInnen haben gegen die Einsparungen geklagt, doch bis es zu einem Urteil kommt, werden mindestens fünf Jahre vergehen.

Mit all dem nicht genug: Studiengebühren rangieren in Spanien zwischen 2.000 Euro und 18.000 Euro pro Jahr – Summen, die durch hinzukommende Prüfungstaxen noch um 15 bis 25 Prozent, in einzelnen Fällen sogar um 50 Prozent, erhöht werden. Zusätzlich zu den Studiengebühren kostet das Absolvieren von 60 ECTS-Credits, laut Bildungsministerium, im Schnitt 1.070 Euro. Außerdem krempelt Spanien derzeit auch die Regelungen des Hochschulzugangs radikal um. Einzelne Studiengänge können nun selbst ihre Studierenden auswählen, während vormals das Abschneiden bei der „Selectividad“ – der spanischen Version der Matura – ausschlaggebend war.

NACHHALTIGE KRISE. Mit Spaniens aktuellem Kurs in Sachen Bildungspolitik legt die konservative Regierung von Premier Mariano Rajoy den Grundstein für die Permanenz der Krise. Derzeit sind weit mehr als zwei Millionen junge SpanierInnen weder in Ausbildung, noch haben sie eine Arbeit. Ein Wert, der laut OECD in den Krisenjahren um 69 Prozent angestiegen ist. Die Jugendarbeitslosigkeit (bei 18–25 Jährigen) rangiert bei rund 60 Prozent. Wer kann, sucht sein Glück im Ausland.

Aber auch Prostitution scheint für Studierende vermehrt ein Mittel zum Zweck der Studienfinanzierung zu sein, wie der in Barcelona beheimatete Verein der SexarbeiterInnen Aprosex betont. Seit Krisenbeginn würden rund 300.000 Menschen mehr als zuvor mittels sexueller Dienste ihr Leben finanzieren, betont Concha Borrell, Sprecherin der NGO. Ärzte ohne Grenzen sprach für 2012 von lediglich 2.100 neuen SexarbeiterInnen in Spanien. Davon wären 18 Prozent Studierende. Bei Aprosex geht man von mehr als 100.000 Studierenden seit Krisenbeginn aus.

Was abseits der Kürzungen von Stipendien an Spaniens kaputt gesparten Universitäten in Sachen Forschung und Lehre geschieht, sorgt derzeit auch für Spott und Häme aus dem Ausland. So sprach die Süddeutsche Zeitung zu Recht von „akademischem Inzest, Filz, Nepotismus und Vetternwirtschaft“ und „Plagiieren mit Auszeichnung“. Weite Wellen schlug die Causa um den Plagiatsvorwurf gegen den Präsidenten des spanischen Olympischen Komitees Alejandro Blancos betreffend seiner Doktorarbeit. Eine in weiten Teilen identische Arbeit wurde an der Universität von Alicante eingereicht – ebenfalls betreut von Blancos Doktormutter, die mittlerweile für ihn arbeitet. Die Uni reagierte auf Kritik mit dem Kommentar, es „sei keine Arbeit eingereicht worden“, es handle sich lediglich um „Vorstudien“.

KÜNDIGUNG NACH PROTEST. Der Pädagoge José Penalva hat in seinem Buch „Korruption an Spaniens Universitäten“ die Kritik an abgekarteten Auswahlverfahren, Postenschachern und der damit unmittelbar verknüpften Vergabe von Stipendien und Fördermitteln gebündelt. Weil er Missstände aufzeigt, wird er nun von KollegInnen massiv gemobbt. In einem anderen Fall wurden fünf WissenschaftlerInnen, die zum ForscherInnenstab der Universität von La Rioja gehörten und dort über Alzheimer forschten, nach ihrer Teilnahme an Protesten gegen Einsparungen gekündigt. So wird ein Klima geschaffen, in dem viele lieber schweigen, um nicht den Kündigungswellen an öffentlichen Universitäten zum Opfer zu fallen.

 

Jan Marot ist freischaffender Journalist in Granada.

Bis Buchstaben beben

  • 24.02.2013, 09:50

Der Poet José Manuel Caballero Bonald ist diesjähriger Cervantespreisträger. Kaum jemand prägte die spanische Literatur seit den 1950er-Jahren in vergleichbarem Ausmaß, ohne dabei international Beachtung zu finden.

Der Poet José Manuel Caballero Bonald ist diesjähriger Cervantespreisträger. Kaum jemand prägte die spanische Literatur seit den 1950er-Jahren in vergleichbarem Ausmaß, ohne dabei international Beachtung zu finden.

Er geht an die Grenzen des sprachlich Möglichen und stürzt sich nahezu religiös in seine Beschäftigung mit Erinnerungen, dem Vergessen der Ungewissheit, die das noch Kommende in sich birgt: Der Dichter José Manuel Caballero Bonald, 1926 als Sohn kubanischer Eltern in der südwestspanischen Sherry-Wiege Jerez de la Frontera geboren, verfasste bis 1992 eine Handvoll Novellen, wie Campo de Agramante, um sich später vollends auf sein Faible, die Poesie, zu konzentrieren. Der mittlerweile 86jährige Poet studierte erst Fachfernes, wie Nautik und Astronomie, später spanische Literatur und Philosophie in Sevilla, um schließlich viele Jahre als Universitätsprofessor im kolumbianischen Bogotá sowie in den USA und auf Kuba zu verbringen.

„Die Poesie ist eine Mischung aus Musik und Mathematik“, ist Bonald überzeugt. Und so ist er stets bedacht, Bedeutung und Klang seines umfassenden Vokabulars penibel zu takten. Nicht zuletzt deshalb ist Bonald in seiner perfektionistischen Sprache und Melodik aus dem Spanischen kaum übersetzbar. Und so ist sein Oeuvre außerhalb von Iberien und Lateinamerika kaum bekannt. „Weil das Gestern ist nur eine Grabinschrift, damit das Morgen niemals für immer währen wird“, ist einer von knapp 3000 Versen seines autobiografischen und streckenweise irrationalen Werks Entreguerras – De la Naturaleza de las Cosas (Zwischenkriege. Über die Natur der Dinge), das zugleich eine Ode an das Leben an sich ist. Bonald offenbart darin „alle seine Erlebnisse“, Reisen, Bekanntschaften, aber auch seine Flüchte in die Gedankenwelt und seine tiefen Reflexionen über Poesie und Sprache per se. So ist er selbst davon überzeugt, dass sein Opus einen „Meilenstein“ der spanischen Poesie darstelle, und die überwiegende Mehrheit der KritikerInnen gibt ihm Recht. Satzzeichen benötigte er dafür, abseits von Frage- und Ausrufezeichen, keine.

Für sein Lebenswerk erhielt Bonald Ende November den renommiertesten Preis der spanischen Literaturwelt, den Premio Cervantes. Seit Längerem zählte Bonald zum engsten FavoritInnenkreis für die mit 125.000 Euro höchst dotierte Lorbeeren der spanisch-sprachigen Welt. Überreicht wird der Preis stets am 22. April, dem Todestag des Don Quijote-Autors Miguel de Cervantes. Seit Längerem zählte Bonald zum engsten FavoritInnenkreis für die mit 125.000 Euro höchst dotierte Lorbeeren der spanisch-sprachigen Welt. Überreicht wird der Preis stets am 22. April, dem Todestag des Don Quijote-Autors Miguel de Cervantes.

Literatenclub im Widerstand. Bonald wird als eine der gewichtigsten spanischen Literaturstimmen der „Generation der 1950er-Jahre“ bezeichnet. Damals begann die erste Phase behutsamer Öffnung der faschistischen Diktatur Francisco Francos. Zwar sträubte sich Bonald stets gegen Schubladisierungen, dennoch zählt er heute mit Antonio Gamoneda (*1931) oder Juan Goytisolo (*1931) zu den wenigen Überlebenden jenes Poesie-affinen Literatenclubs, der verhaftet und im berüchtigten Carabanchel-Gefängnis Madrids eingesperrt wurde. Die Schriftsteller waren Teil des intellektuellen Widerstands, dennoch: „Das Einzige, was wir gemein haben, ist unsere Affinität zum Alkohol und unsere Aversion gegen das Franco-Regime“, betonte Bonald.

Meist war es nicht der Faschismus, sondern massive und permanente Ausschweifungen, die dem Leben seiner Freunde ein zu frühes Ende setzten. Trotzdem stoppen Bonalds zweiteilige Memoiren, La costumbre de vivir (1995, Die Gewohnheit zu leben) und Tiempo de guerras perdidas (2001, Die Zeit der verlorenen Kriege), abrupt mit dem Ende der Diktatur, die der Tod Caudillo Francos (1975) markierte, weil der Prozess des verordneten Vergessens Bonald, der als unbeugsam und rebellisch gilt, tief erzürnte. Treffend  bezeichnete Andalusiens Kulturminister Luciano Alonso den in seiner Sprache „zu barockem Prunk“ neigenden Poeten als „einen Ästheten unserer Zeit“. Er sei ein „klares Beispiel, wie man Wohlgestalt in Einklang mit der Gesellschaft bringen“ könne.

"Wenn ich mir in Allem sicher wäre, ich könnte nicht schreiben, geschweige denn leben“, sagte Bonald selbst 2011 in einem Interview mit der Lokalzeitung Diario de Jérez. Mit dem  Gedicht La Noche no tiene paredes (Die Nacht hat keine Wände) erhob er die ihn selbst quälend wie treibend verfolgende Ungewissheit zur Quasi-Religion, die es zu verteidigen gelte. „Der keine Zweifel hat, der sich allem sicher ist, ist das Ähnlichste, was es zu einem Schwachkopf gibt“, schrieb er dort. Lebenslust und -erfahrung prägten Bonald und  schärften seine Reflexionen: „Wie oft habe ich am Ende eines Tages den Halt meiner Füße in dem aufgewühlten Gewässer meiner Jahre verloren, und die Fracht meines Lebens
verbrennen und heulen gesehen.“

Und wenn nun, frei nach Ludwig Wittgenstein, die Grenzen unserer Sprache die Grenzen unserer Welt und Wahrnehmung, ja unseres Seins per se markieren, dann wagt sich Bonald ohnehin weiter an den äußersten Rand des überhaupt in Worte Fassbaren, an jenen Ort, wo menschliche Gefühle – und in seinem Werk vor allem der Zweifel – in die Weiten des  Unfassbaren vordringen. „Vielleicht erwartet er es, gegen die sanfte Träne zu kämpfen, die der Buchstabe der Liebe ist, und gegen jenes vernichtende Licht, das in ihm bereits schmerzt und aus ihm seinen Namen heraus schreit: Schönheit“ – sind nur abschließend wie exemplarisch einige, wenige Zeilen des Gedichtes, Cenizas son mis Labios, zu Deutsch Asche sind meine Lippen. Einzig in die Königliche Akademie der spanischen Sprache hat man Bonald nicht aufgenommen. Aufgrund der dort gelehrten ausgeprägten Lexik will er dort aber ohnehin nicht Platz nehmen.

Die Stiftung Fundación Caballero Bo­nald im Internet

Gedichte

 

Iberien igelt sich ein

  • 02.01.2013, 17:27

Im von Massenarbeitslosigkeit geplagten Spanien verfestigt sich die Meinung, dass Migration ein verzichtbares Übel sei, warnt die Internationale Organisation für Migration (IOM).

Im von Massenarbeitslosigkeit geplagten Spanien verfestigt sich die Meinung, dass Migration ein verzichtbares Übel sei, warnt die Internationale Organisation für Migration (IOM).

Die nicht enden wollende Wirtschaftskrise lässt die Ablehnung von MigrantInnen in Spanien deutlich steigen. Immer mehr SpanierInnen sind der Meinung, sie sollten das Land verlassen. „Das Klima gegenüber jenem Bevölkerungsteil hat sich besorgniserregend verschlechtert“, zu diesem Schluss kommt auch die Internationale Organisation für Migration (IOM) in ihrem jüngsten Länderbericht „Die Auswirkung der Krise auf Immigranten in Spanien“. 37 Prozent lehnen mittlerweile Einwanderung generell ab. Demgegenüber stehen 33 Prozent der SpanierInnen, die sich tolerant zeigen. Ein Drittel der Befragten gab sich gleichgültig in dieser Thematik, wenngleich die IOM diesen Bevölkerungsteil als „eher ablehnend“ einstuft. Vier von fünf SpanierInnen sind zudem überzeugt, dass Migration zu Lohndumping führt. Die Mehrheit der MigrantInnen verdient in Spanien weniger als den Mindestlohn. Wie der IOM-Bericht überdies darlegt, steigen Arbeitslosigkeit und extreme Armut unter EinwandererInnen (10,8 Prozent) weit rascher als unter SpanierInnen (6,7 Prozent).

Gefährliches Klima. „Der Nährboden istgesättigt. Wenn wir nicht gegensteuern, wird dies zu einer Situation der Fragmentierung der Gesellschaft und der Exklusion der Immigranten führen“, warnt Walter Actis, Co-Studienautor. Zwischen 1996 und 2010 stieg, angetrieben vom Bauboom und einer blühenden Tourismuswirtschaft, die Zahl der gemeldeten MigrantInnen in Spanien von knapp 500.000 auf mehr als 5,5 Millionen – inklusive der EU-BürgerInnen und Eingebürgerten. „Die Krise hat zwar den Migrationsdruck gebremst. Die Bedingungen, unter denen MigrantInnen leben, sind aber besorgniserregend“, so Actis.

2007 waren lediglich zwölf Prozent der SpanierInnen der Meinung, Menschen mit irregulärem Aufenthaltsstatus sollten abgeschoben werden. Mit 2010 stieg der Wert bereits auf ein Fünftel. 43 Prozent fordern die Ausweisung von ImmigrantInnen, die lange Zeit ohne Erwerb verbleiben. Die Arbeitslosigkeit unter MigrantInnen war zwischen 2008 und 2011 doppelt so hoch wie jene unter SpanierInnen, die zuletzt 25 Prozent überschritten hat. Sowohl die amtierende Rechtsregierung unter Premier Mariano Rajoy als auch dessen sozialistischer Vorgänger, José Luis Rodríguez Zapatero, haben MigrantInnen über weiterlaufende Arbeitslosenbezüge zur Rückkehr in ihre Herkunftsländer bewegt. Zugleich forcierte Spanien Abschiebungen. 2011 waren mehr als 13.000 MigrantInnen in den Auffanglagern C.I.E (in den Nordafrika-Exklaven CETI genannt) interniert. 60 Tage dürfen sie bleiben, und offiziellen Zahlen zu Folge wurden 48 Prozent in ihre Ursprungsländer abgeschoben. Laut Zahlen von NGOs hingegen waren es mehr als 11.000 Menschen, die im Vorjahr in ihre Heimatstaaten zurückgeschickt wurden. Mit Ende 2012 soll die 24.000-Personen-Schwelle überschritten werden.

Vor 20 Jahren, am 13. November 1992 erschütterte der rassistische Mord an der aus der Dominikanischen Republik stammenden Lucrecia Pérez das Land. Es war der erste dieser Art im demokratischen Spanien nach der Franco-Diktatur, die 1977 ihr Ende gefunden hatte. Eine Gruppe junger Neo-Faschisten hatte Pérez mit der Dienstwaffe eines Zivilgardebeamten, der an der Bluttat beteiligt war, erschossen. „Damals erkannte man ebenso wenig wie heute, dass es eine gefährliche Strömung gewaltbereiter Rassisten in Spanien gibt“, sagt Macel Camacho, Sprecher der Plattform gegen Xenophobie und Rassismus: „Es gilt, die Erinnerung an Lucrecia wachzuhalten, um einem aktuellen Widererstarken dieses Übels entgegenzuwirken.“

In den letzten zwei Dekaden hat Zuwanderung nach Spanien ein spektakuläres Wachstum erfahren, sagt Tomás Calvo Buezas, emeritierter Universitätsprofessor für Sozialanthropologie an der Madrider Universidad Complutense und Gründer des  Studienzentrums für Migration und Rassismus an der hiesigen politikwissenschaftlichen Fakultät. Dem Anstieg von einem auf zwölf Prozentpunkte gemessen an der spanischen Gesamtbevölkerung, exklusive der „Sin Papeles“ ohne legalen Aufenthaltsstatus, steht ein knapp fünfprozentiger Zuwachs an rassistischen Gewalttaten gegenüber. Bislang funktionierten, so Calvo Buezas, die Maßnahmen zur Bewusstseinsbildung, die nun jedoch deutliche Bugdetkürzungen erfahren haben. Doch damit nicht genug, wie Calvo Buezas betont: „Die Krise schafft rascher ein immer gefährlicheres Klima. Denn die Neonazi-Fraktionen oder NeofaschistInnen, wie die Goldene Morgenröte in Griechenland, nähren sich an der Mittel- und Unterschicht, indem sie diesen einen Konkurrenzkampf um Jobs und Gehälter mit MigrantInnen vorgaukeln.“

Online-Bastionen. Auch im Internet wachsen spanische Neonazi-Communities. Gab es 1992 lediglich 200 einschlägige Websites, gibt es aktuell mehr als 2000. Gleichzeitig steigt die Zahl an Lokalen, Bars und Konzerten von Neonazi-Bands landesweit. „Die Krise ist der ideale Nährboden, auf dem Neonazi- Bewegungen wachsen und gedeihen“, warnt der Sozialanthropologe weiter. Nicht minder steigt die Zahl der rechtsextremen Parteien in Spanien abseits der üblichen, wie der einstigen Einheitspartei Francisco Francos, der Falange de las J.O.N.S., und ihrer unzähligen ideologischen Klone. In den vergangenen Jahren schafften deklariert xenophobe neue Fraktionen wie España 2000 in Alcalá de Henares – einer der Wiegen der spanischen Sprache – und anderen Orten der Region Valencia, Plataforma per Catalunya im katalanischen Vic oder Democracia Nacional auch den Einzug in Stadt- und Gemeinderäte, nicht jedoch in Regionalregierungen.

In den Einsparungen im Sozialwesen, dem Aus der Gesundheitsversorgung (progress berichtete) für Menschen ohne legalen  Aufenthaltsstatus, dem von Amnesty International mehrmals angeprangerten Kontrollwahn der spanischen Polizei gegenüber MigrantInnen und Massenabschiebungen sieht Calvo  Buezas „institutionellen Rassismus“.

Übergriffe auf Chinesinnen. Der steigende Rassismus gilt längst nicht mehr ausschließlich LateinamerikanerInnen, MaghrebbürgerInnen oder Menschen aus dem Subsahara-Afrika. Seit der Polizeiaktion Operación Emperador gegen die chinesischeMafia Mitte Oktober, die in Spanien bis zu 1,2 Milliarden Euro jährlich „gewaschen“ habe, sehen sich nun auch chinesische StaatsbürgerInnen in Spanien Übergriffen ausgesetzt. Anfang November streikte das Gros der von chinesischen ImmigrantInnen betriebenen Geschäfte. „SchülerInnen werden von KollegInnen und Eltern als Mafiosi beschimpft. GeschäftsinhaberInnen ergeht es gleich. ChinesInnen wurden sogar in der Metro Madrids verfolgt“, beklagt Jorge García, Sprecher der Spanisch-Chinesischen Handelskammer. Ende November wurden einige der Hauptangeklagten bereits wieder auf freien Fuß gesetzt. Die Ressentiments bleiben aber weiterhin bestehen.

Der Autor Jan Marot ist freier Journalist für Iberien und den Maghreb und lebt in Granada, Spanien.

Geld oder Leben

  • 13.11.2012, 19:02

Mit der jüngsten Reform des spanischen Gesundheitswesens verloren mehr als 150.000 MigrantInnen ohne regulären Aufenthaltsstatus ihr Anrecht auf Versorgung. Einzelne Regionen und tausende ÄrztInnen rebellieren. Sie wollen weiter kostenlose Behandlungen gewähren.

Mit der jüngsten Reform des spanischen Gesundheitswesens verloren mehr als 150.000 MigrantInnen ohne regulären Aufenthaltsstatus ihr Anrecht auf Versorgung. Einzelne Regionen und tausende ÄrztInnen rebellieren. Sie wollen weiter kostenlose Behandlungen gewähren.

Mit erstem September diesen Jahres verloren abertausende „Sin Papeles“ (zu deutsch „Ohne Papiere“) in Spanien ihr Anrecht auf Gesundheitsversorgung. Die Rechtsregierung unter Premier Mariano Rajoy stoppte per Gesetz (Real Decreto 16/2012) die Jahrzehnte lang gültige „universelle“ Gesundheitsversorgung, die auch für MigrantInnen mit irregulärem Aufenthaltsstatus galt. Zig E-Cards waren von einem Tag auf den anderen ungültig.

Je nachdem, in welcher Region Spaniens die Betroffenen leben, sind nun unterschiedlichste Regelungen in Kraft. Sowohl die Verwirrung und der Widerstand unter ÄrztInnen und PflegerInnen als auch die Ängste der MigrantInnen sind folglich immens. Dabei wollte die konservative Gesundheitsministerin aus den Reihen des Partido Popular (PP), Ana Mato, in erster Linie dem „Gesundheitstourismus“, der laut spanischem Rechnungshof 2009 bereits ein Budgetloch von knapp 900 Millionen Euro riss, ein Ende setzen. Spanien dürfe nicht länger „das Paradies der illegalen Einwanderung“ sein, wie sie meint. Einzig für Minderjährige, bei Notfällen oder auch Schwangerschaften sollen ÄrztInnen weiter Hilfe leisten, versicherte Mato in einem vergeblichen Versuch, die Wogen zu glätten.

Drohender Ruin. Wer nun im Krankheitsfall Dienstleistungen in Anspruch nehmen will, muss, sofern er oder sie unter 65 Jahre alt ist, einen Betrag von 710,40 Euro jährlich bezahlen. Wer älter ist, dem winken gar Kosten von 1864,80 Euro. Doch mit der neu etablierten „Versicherung“ ist lediglich die Grundversorgung gedeckt. Krankentransporte, Prothesen und Rollstühle etwa werden nicht gedeckt. Zudem sollen MigrantInnen auch 100 Prozent der Medikamentenkosten selber tragen. „Die Summen sind gerecht und zumutbar”, rechtfertigte der Gesundheitsrat der Region Kastilien-La Mancha, José Ignacio Echániz (PP) in einer gemeinsamen Pressekonferenz mit Mato die Reform. Wer sich nicht versichert, dem winkt aber der Ruin.

Denn nur ein einziger Tag auf der Intensivstation kostet in Kastilien-La Mancha 2824 Euro. Wer seine Beiträge nicht berappt, und Rechnungen nicht bezahlen kann, verliert zudem die Aufenthaltsbewilligung, sofern eine solche denn existiert. Die Caritas prüft zur Zeit noch, welche Folgen das Nichtbezahlen für MigrantInnen hat und warnt, dass jenen, die bislang zumindest gemeldet waren, in diesem Fall eine Art „ziviler Tod“ drohe, mit dem sie vollends aus der Gesellschaft ausgeschlossen werden würden. „Schulden werden sich akkumulieren. Wer nicht bezahlt, dem droht die Sperre und Pfändung seines Bankkontos“, weiß Francisco Solans von der spanischen Anwaltskammer, wo er mit AusländerInnenrechten betraut ist. Einen Privatkonkurs gibt es in Spanien ohnehin nicht.

Doch wie die nötigen Beträge etwa von PflegerInnen und HaushaltshelferInnen, die in der Schattenwirtschaft arbeiten, von TaglöhnerInnen in dem „Plastikmeer“ aus Gewächshäusern rund um das südspanische Almeria, oder von den vielen StraßenhändlerInnen aufgebracht werden sollen, fragen sich FlüchtlingshelferInnen und Oppositionsparteien gleichermaßen. Immerhin sollen es zwischen 150.000 und 200.000 Menschen aus nicht EU-Staaten sein, die aus dem System gekippt wurden, wie offizielle Ministeriumszahlen belegen.

Widerstand. Doch nicht alle spanischen Regionen wollen dem Spardiktat der Madrider Zentralregierung Folge leisten. Abseits der PP-regierten Regionen Madrid, Valencia, Aragón, Balearen und Kastilien-León, wo ein jeder Arztbesuch fortan verrechnet wird, selbst wenn der oder die Kranke keine Mittel hat, um diesen zu bezahlen, rebellieren etwa das von einer Koalition aus SozialistInnen und Linken regierte Andalusien, sowie Katalonien und das Baskenland gegen Matos Pläne. Hier müssen MigrantInnen jedoch ihre lokale soziale Verwurzelung nachweisen, um einen Massenansturm aus anderen Regionen zu verhindern. Diese Regionen gewähren MigrantInnen weiterhin eine kostenlose Gesundheitsversorgung über eine im Leistungsumfang limitierte eigene Form der E-Card. Und auch das konservativ regierte Galicien bietet MigrantInnen ohne regulärem Status die selben Rechte in Sachen Gesundheit wie den SpanierInnen.

Das Geld zählt, nicht der Mensch. „Es ist ein Trugschluss, zu glauben, MigrantInnen ohne Aufenthaltsstatus seien GesundheitstouristInnen”, beklagt Sylvia Koniecki, die sich seit mehr als 25 Jahren bei Granada Acoge für MigrantInnen einsetzt: „Gesundheitstouristen(Innen?) sind meist EU-Bürger? oder Menschen, die aus reicheren Nationen nach Spanien kommen, um sich behandeln zu lassen.“ Mit der neuen Regelung zähle nicht mehr der Mensch, sondern nur mehr das, was er ökonomisch beisteuert, kritisiert Koniecki.

Auch viele ÄrztInnen steigen zudem auf die Barrikaden. „Retten wir Menschen, nicht Banken“, stand etwa auf einem Transparent bei einer Demonstration von MedizinerInnen in Madrid Ende August zum Protest gegen die „Apartheid im Gesundheitswesen“. Diesen Begriff brachte der Arzt Ricardo Angora, Mitglied von Medicos del Mundo (übersetzt, „Ärzte der Welt“) in die Debatte ein. Er pocht auf „das Recht der Ärzte zu behandeln und zu heilen“. „Es geht bei der Gesundheit nicht um ein Privileg, sondern um ein Menschenrecht“, ist er überzeugt. Álvaro González, Präsident ebenjener spanischen NGO, die das sofortige Außerkraftsetzen der betreffenden Gesetzgebung fordert, hofft, „dass die Mobilisierung der Bürger und der starke gesellschaftliche Widerstand gegen die Reform den eingeschlagenen Weg korrigieren wird“.

Und auch MigrantInnenvereine wollen mit Kundgebungen, über den Druck der Straße das Gesetz kippen, das Gilberto Torres, vom Dachverband der Flüchtlingshilfsorganisationen Spaniens als diskriminierend bezeichnet. Auf der Internetplattform yosisanidaduniversal.net werden zudem Fallbeispiele und Leidenswege dokumentiert. Zugleich gibt das Portal auch ÄrztInnen Rat, wie sie weiter – etwa in Berufung auf das Gewissen und den Berufsethos – behandeln können, ohne in einer rechtlichen Zwickmühle zu enden, oder gar den Job zu verlieren. Zudem werden freiwillige BegleiterInnen vermittelt, die mit MigrantInnen ohne regulärem Aufenthaltsstatus gemeinsam zum Arzttermin gehen.

Rationalität versus Solidarität. Mikel Mazkiarán von SOS Racismo kritisiert, dass „ein funktionierendes Modell zerstört worden ist, und nun die Improvisation regiert“. Auch Ärzte ohne Grenzen schlägt Alarm. Deren Sprecher konstatierte gegenüber El País: „Es herrscht große Verwirrung unter MedizinerInnen und unter MigrantInnen, die sich nun vor dem Arztbesuch fürchten, und auch im Krankheitsfall davon absehen, weil sie sich ausweisen müssen.“ Sie listen Fälle auf, wie jenen von M. (32) aus Bolivien, die schwarz als Putzfrau arbeitet. Sie leidet an Depressionen, seit ihr Sohn schwer erkrankt ist, aber kann sich ihre Behandlung nun nicht mehr leisten. P. aus Rumänien leidet an Lungentuberkulose und Diabetes und wird kein Insulin mehr erhalten, während die offene Infektionskrankheit nun auch zum Risiko für seine Mitmenschen werde. Ganz zu Schweigen von den vielen von AIDS- oder Krebskranken, deren Behandlung, wenn überhaupt, einzig unter hohen Kosten fortführbar ist. „Es kann nicht sein, dass man einzig wegen der nicht und nicht enden wollenden Wirtschaftskrise Menschen mir nichts dir nichts aus der Gesundheitsversorgung ausschließt“, kritisiert Hassan Q. (35) aus Marokko, der seit sechs Jahren in Granada lebt und sich mit Gelegenheitsjobs durchschlägt.

„Die Rationalität dominiert, nicht die Solidarität. Es gilt einzig zu sparen, und Epidemien vorzubeugen”, klagt Miguel Fonda, Präsident des Dachverbands der Rumänen in Spanien (FEDROM): „Viele Menschen werden nicht mehr behandelt. Das wird gefährliche Konsequenzen haben, nicht nur für die Betroffenen.“ Auch Joe Illoh, Präsident des Vereins der Nigerianer Spaniens wettert gegen das neue Gesetz: „Die extrem nachteilige Maßnahme der Regierung trifft unsere Gemeinschaft sehr stark. Verunsicherung und Angst regieren.“

http://yosisanidaduniversal.net

http://www.medicosdelmundo.org

www.apartheidsanitario.com

 

„Das neue Gesetz, dass MigrantInnen ohne legalen Aufenthaltsstatus aus dem öffentlichen Gesundheitssystem wirft, ist eine absolute Katastrophe. Zum Glück werden wir hier in Andalusien noch behandelt. Andernorts muss man fortan viel Geld zahlen, wenn man zum Arzt geht. Doch auf der Straße verdienen wir viel zu wenig. Menschen werden sterben. Und mehr noch, wer nicht behandelt wird, steckt viele andere an.“
Modou K. (35) aus dem Senegal schlägt sich seit mehr als sechs Jahren als Straßenhändler in Granada durch.

„Ich bin vor drei Monaten extra aus Alicante nach Granada gezogen, denn in der Region Valencia gibt es im Gegensatz zu Andalusien keine Gesundheitsversorgung für Menschen wie mich, die keine Papiere haben. Das kann doch nicht die Lösung sein. Die geforderten Beiträge kann sich niemand leisten. Es gibt keine Arbeit. Jeden Tag gehe ich in die Armenküche, um zumindest etwas Essen zu bekommen. Ich lebe in ständiger Angst, abgeschoben zu werden.“
Ismael S. (36) aus Mali lebt seit sieben Jahren in Spanien

„Zum Glück haben Ärzte und Pfleger ein viel größeres Herz als Politiker, die meist nur Populismus schüren und auf ihren eigenen Vorteil bedacht sind. Die Gesundheitsversorgung ist ein Menschenrecht. Die Gesundheit eines jeden ist immens wertvoll, dennoch darf sie keinen Preis haben.“ 
Nordin S. (56) kam bereits vor 22 Jahren aus dem marokkanischen Casablanca nach Spanien und führt ein Geschäft in Granada, seit er seinen Aufenthaltsstatus legalisiert hat.

Mehr Kick in die spanische Politik

  • 30.09.2012, 02:47

Sonia Reyes Sáez ist ehemalige Olympionikin im Taekwondo

Sonia Reyes Sáez ist ehemalige Olympionikin im Taekwondo

Den Olymp ihrer Karriere erreichte Sonia Reyes Sáez bereits in Athen bei den Olympischen Spielen von 2004. „Eine Olympiateilnahme ist nun mal der Traum jedes Sportlers“, erinnert sich Reyes, die seit ihrem zweiten Lebensjahr im zentralspanischen Guadalajara (Kastilien–La Mancha) lebt: „Noch dazu im Taekwondo, einem Sport, von dem ich lange nicht geglaubt habe, dass er je olympisch werden wird.“ Eine offizielle Disziplin ist der koreanische Kampfsport Taekwondo erst seit den Spielen in Sydney 2000 – Tae steht für die Handtechnik, Kwon für die Fußtechnik, und Do für den „Weg“ oder die „Kunst“. In Athen wurde Reyes als Favoritin gehandelt, errang aber nur den undankbaren vierten Platz – im Kampf um Bronze knapp geschlagen von der Mexikanerin Iridia Salazar Blanco.

„Auf dem Niveau der Weltspitze kennt man seine Gegnerinnen gut, und ist auch von der Kraft her annähernd gleich stark. Um zu gewinnen, muss man psychisch überlegen sein“, weiß Reyes. 2008 war sie in Peking ein weiteres Mal bei den Sommerspielen, diesmal allerdings als Ersatz für das spanische Team. Wenig später beendete sie ihre aktive Karriere, um eine Familie zu gründen. „Spitzensport und eine Schwangerschaft, das geht nicht gleichzeitig“, sagt Reyes, heute Mutter der fünf Jahre alten Elena. „Das aktive SportlerInnenleben ist kurz“, so Reyes. Deshalb setzte sie ihre Karriere kurzerhand als Sportreporterin für einen Lokalsender sowie innerhalb der Sportpolitik fort. Zudem trainiert sie heute Kinder und Jugendliche im Taekwondo. In den Kampfsport steckt sie  nach wie vor „ihre ganze Leidenschaft“.

Als Sportsprecherin der sozialistischen Partei von Kastilien-La Mancha, eine der am stärksten verschuldeten Regionen Spaniens, kennt Reyes auch die Kehrseite der Medaille. „Es ist katastrophal. So machen sie den Sport kaputt“, kritisiert sie die aktuelle Sparpolitik, die der Konservative Mariano Rajoy aus Madrid diktiert, und die auch ihr Ressort massiv betrifft. Nicht nur Karrieren von SpitzensportlerInnen seien gefährdet, klagt sie: „Viele sind durch die Kürzungen der SportlerInnen-Stipendien um bis zu 40 Prozent dazu gezwungen, aufzugeben.“ Sie müssten Arbeit suchen, was im Spanien der Krise keine leichte Angelegenheit ist.

Auch als Abgeordnete im Regionalparlament seien die Taekwondo-Grundsätze, wie Ye-Ui, Höflichkeit, Yom-Chi, die Integrität, und vor allem In-Nae, die Geduld gefordert, so Reyes. „Meine mentale Stärke hilft mir in der Politik, wo eine dicke Haut gefragt ist“, erklärt sie, die selbst erfahren musste, dass die  Grabenkämpfe der politischen Lager vor kaum einer Grenze halt machen. So wurde das öffentliche Schwimmbad in Reyes Heimatstadt Guadalajara, das seit ihrer Olympia-Teilnahme ihren Namen getragen hatte, kurzerhand wieder umgetauft, nachdem die konservative Volkspartei das Bürgermeisteramt errang.

Webtipp: www.soniareyessaez.com

Über Stolpersteine hinweg

Conchi Bellorín Naranjo ist Judoka und Spaniens Medaillenhoffnung für London 2012

Für die Sommerspiele in London zählt sie zu den wenigen, aber umso größeren Medaillenhoffnungen im spanischen Olympia-Team: Conchi Bellorín Naranjo, geboren 1980 in Badajóz in der Extremadura, der ärmsten und kargsten aller spanischen Provinzen im Südwesten der Iberischen Halbinsel.

„Die Qualifikation für Olympia war sehr hart“, erzählt die Judoka: „Nicht nur, dass wir 40 Wettbewerbe in meiner Gewichtsklasse (Anm. bis 57 Kilogramm) bestreiten. Ich hatte auch eine sehr starke direkte Rivalin um die Teilnahme.“ Bellorín gelang mit ihrer Qualifikation dennoch der Generationenwechsel im spanischen Judo-Team. Denn sie setzte sich gegen die aus Alicante stammende Isabel Fernández (*1972) durch, die keine geringere ist als die Olympiasiegerin von 2000 (Sydney) und Bronzemedaillengewinnerin von 1996 (Atlanta).

„Jetzt, wo ich mich qualifiziert habe, will ich das bestmögliche Ergebnis schaffen“, sagt Bellorín. Trotzdem gibt sie sich Bellorín bescheiden: „Ein Olympisches Diplom macht sich auch gut an der Wohnzimmerwand.“ Gegen einige Weltmeisterinnen und Olympiasiegerinnen habe sie schon gewonnen.

Bellorín entstammt, wie sie sagt, „einer sehr sportaffinen Familie“. Mit zwölf Jahren entdeckte sie Judo für sich. Am meisten haben sie dessen Werte begeistert: „Ich habe dadurch gelernt, für die Möglichkeiten, die uns unser Leben bietet, zu kämpfen.“ Judo habe ihr auch das Selbstvertrauen gegeben, in einer Gesellschaft zu bestehen, in der Frauen in den langen Jahren der Franco-Diktatur (1939-1975) als Menschen zweiter Klasse betrachtet wurden.

Bellorín hegt große Sympathien für die spanische Jugend- und Protestbewegung des 15.Mai, die indignados (dt. Empörten): „Seither hat sich Vieles in Spanien verändert. Es wird nichts mehr so sein, wie es früher war.“ Bellorín beklagt an der Situation der spanischen Jugend nicht nur die Perspektivenlosigkeit: „Dass viele junge Menschen einzig und alleine im Nachtleben, bei Botellónes (Anm. kollektives Betrinken im Öffentlichen Raum), in Bars und Clubs ihren Ausgleich suchen, und nicht im Sport, macht es nicht besser.“

Was Bellorín nach ihrer aktiven Judoka-Karriere machen will, weiß sie nicht: „Um ehrlich zu sein, habe ich noch nicht daran gedacht.“ Sich für den Sport als Beruf zu entscheiden, sei eine sehr schwere Entscheidung gewesen. Seinerzeit musste sie ihr Arbeitsrecht-Studium abbrechen. Erst ein SportlerInnen-Stipendium und ein erster Sponsor gaben ihr schlussendlich eine gewisse finanzielle Sicherheit. „Ich musste neben dem Training und den Wettbewerben ab sechs Uhr morgens in einem Sportbedarfsgeschäft Preisetiketten kleben und noch in der Nacht kellnern.“ Denn leben konnte sie vom Judo nicht.

Wenn Bellorín nicht mit ihrem Hund „Itchy“ – benannt nach dem sadistischen blauen Zeichentrickmäuschen aus Die Simpsons – ausgedehnte Spaziergänge macht, trainiert sie hart, „zwischen drei und sechs Stunden jeden Tag“. Doch ihr Trainingsplan änderte sich im Schlusssprint auf Olympia deutlich: „Neben dem Krafttraining verwöhne ich mich jetzt. Ich gehe in den Spa und nehme Thermalbäder. Und ich absolviere mehr psychologische Trainingseinheiten.“ Auf London freut sie sich übrigens auch, weil sie dort ihre österreichische Freundin und Medaillenkonkurrentin Sabrina Filzmoser wieder treffen wird: „Sie ist einfach großartig, menschlich wie sportlich.“

Tipp: Die olympischen Judo-Kämpfe in der Gewichtsklasse (bis 57 Kilo) finden ab dem 30. Juli statt.

„Spanien ist weder demokratisch noch zivilisiert“

  • 28.09.2012, 11:25

Ana María Pérez del Campo gründete 1973 in der Ära Francisco Francos den Verein Getrennter und Geschiedener Frauen. Warum sie mit 76 Jahren noch für das Recht auf Abtreibung kämpft, erzählte sie Jan Marot.

Ana María Pérez del Campo gründete 1973 in der Ära Francisco Francos den Verein Getrennter und Geschiedener Frauen. Warum sie mit 76 Jahren noch für das Recht auf Abtreibung kämpft, erzählte sie Jan Marot.

progress: Spaniens Justizminister Alberto Ruíz Gallardón will die Fristenlösung bei schwerer Missbildung des Fötus verbieten.

Ana María Pérez: Wenn man von Gallardón spricht, muss man ihn als das bezeichnen, was er ist: ein Fundamentalist. Das Thema Abtreibung wird in Spanien seit 40 Jahren debattiert. In einem offiziell nichtkonfessionellen Staat darf Gallardón nicht unter religiösen Vorsätzen Gesetze durchboxen. Das stimmt natürlich insofern nicht, dass bei uns in Spanien die Kirche so stark ist, wie der Islam in islamistischen Staaten. Die Burka der Spanierinnen ist, dass man ihnen nicht gewährt, selbst über ihre Mutterschaft zu entscheiden. Gallardón geht es darum, dass die Frauen das Rollenbild der 1960er- Jahre wieder aufgreifen: Zurück zur Familie und an den Herd. Es soll wieder Gottes Gesetz eingeführt werden. Unser einstiger Diktator Francisco Franco hat in seinem Testament niedergeschrieben, er habe „Spanien gut verschnürt hinterlassen, alles gut verschnürt“. Was heute passiert, knüpft daran an. Dabei gibt es in der EU nur zwei Staaten, die die Abtreibung nicht geregelt haben. Malta und Irland. Zwei der katholischsten, wenn man so will. Selbst das hochkatholische Polen gewährt Abtreibungen bei Missbildung des Fötus. Die Frage Leben ja, Leben nein, sie ist im Fötenstatus eine rein biologische, über einen eben erst begonnenen biologischen Prozess.

Wie entstand Ihre NGO der Getrennten und Geschiedenen Frauen Spaniens?

1973 gab es ja das Scheidungsrecht noch nicht. Unser erster Name war Verein der Getrennten Frauen. Wir mussten die Prüfung der Generalsicherheitsdirektion in Madrid bestehen. Wir schickten unsere Präsidentin, eine deklarierte Befürworterin des faschistischen Regimes, was die Sache erleichterte. 1975 trennten sich unsere Wege und wir begannen den Kampf für die Scheidung und die Abtreibung. Viele Frauen aus faschistischen Haushalten haben damals abgetrieben. Sie stiegen in ein Flugzeug und führten den Eingriff in London, Frankreich oder in Portugal durch. Aus Protest gegen das Abtreibungsverbot sperrten wir uns in Kirchen und Gerichte ein. Vor der UNO brachten wir Klagen zur Situation der Frauen im Franco-Spanien ein. Ich bin eine Feministin und wir müssen weiterkämpfen, denn das drohende Unrecht, das vom konservativen Fundamentalismus ausgeht, ist zu groß.

Wie haben Sie ihre eigene Trennung und spätere Scheidung von ihrem Ex-Ehemann erlebt?

Ich habe mich nach fünf Jahren der Ehe getrennt. Das war 1961. Das musste vor der Kirche und einem Tribunal geschehen. Die Urteile damals begannen mit der Phrase „Im Namen Gottes“. Mich erklärte man zu einer „unschuldigen“ Ehefrau. Das erfüllte mich mit Scham, denn was die Kirche unter „unschuldig“ versteht, kann vieles sein. Vom selben Gericht wurden Frauen mit der Begründung verurteilt, sie wären nicht ihren ehelichen Pflichten nachgekommen. Frauen wurden verurteilt, weil sie sich nicht von ihren Männern wieder und wieder vergewaltigen lassen wollten; unzählige, weil sie arbeiten wollten und ihr Mann dazu keine Erlaubnis gab. Frauen klagten, weil sie wie Sklavinnen einzig als Hauskraft geheiratet worden waren. Frauen wie ich. Wir waren vor dem Gesetz Objekte, die man ehelichte, um das Haus des Mannes zu schmücken. Erst 1981 – als das Recht gesetzlich verankert war – konnte ich mich scheiden lassen.

Aktuell sehen wir einen deutlichen Anstieg der Todesopfer häuslicher Gewalt. Wo liegen die Gründe?

Die jetzige Regierung lässt Frauenzentren, Frauenhäuser und Informationsstellen schließen. Das ist ein Grund für den Anstieg. Aber die Zahlen steigen vor allem, wenn die Aggressoren sich im Gefühl der Straffreiheit wägen. Bislang (Anm. zum 2. August 2012) sind in diesem Jahr 33 Frauen in Spanien ermordet worden, durch die Hände ihrer Ehemänner, Partner, oder ihres Ex.

Welche Rolle spielt dabei die PP-Regierung?

Sie schaltet auf Durchzug. Seit 1968 sind mehr als 8.900 Frauen in Spanien von ihren Partnern und Ex-Partnern ermordet worden. Warum beziehe ich mich auf 1968? Seither wurden die Opfer des ETA-Terrorismus gezählt. 857 Tote und Verletzte gehen auf das Konto der baskischen TerroristInnen. Doch diese ermordeten Frauen starben die qualvollsten Tode. Sie wurden erschlagen, verbrannt, erstochen, erschossen, mit Säure überschüttet. Das passiert im heutigen Spanien – ein Land, das man weder zivilisiert noch demokratisch nennen kann. Wären die 8.900 Toten Fußballer gewesen, oder aus einer sozialen Schicht, die Einfluss hat, das Problem wäre längst gelöst. Zwei Dinge wären ein Anfang: Lange Gefängnisstrafen für die Täter und eine wirksam überwachte Bannmeile nicht nur für die Frauen, sondern auch für die Kinder.

Nicht selten werden auch Kinder ermordet.

So rächen sich Väter an ihren Frauen auf die bestialischste Art und Weise überhaupt. Wie beim jüngsten Fall (Anm.: in Las Palmas de Gran Canaria), wo ein Vater mit seinem Kind sein vollgetanktes Auto vor dem Haus seiner Ex-Frau gegen einen Pfeiler gefahren hat und beide verbrannt sind. Der Kinds- und Selbstmörder hatte kurz davor noch seine Ex-Frau über die Sprechanlage des Hauses aufgefordert, sie solle ans Fenster treten, um das zu sehen, was sie verdiene.

Justizminister Gallardón will die Entscheidung über eine geteilte Obsorge im Scheidungsfall dem Richter überantworten.

Es soll eine Regelung kommen, die absolut frauenfeindlich ist. Eine, die das Wohl des Kindes in die Hände eines Bürokraten legt. Ein Kind ist kein Gut, das man aufteilen kann. Kinder brauchen eine Erziehung, die nicht auf Widersprüchen der Eltern aufbaut, und keine Kindheit, wo sie wie ein Koffer weitergereicht werden. Sie brauchen Ruhe, Ernsthaftigkeit und Routine. Das ist wichtig für ihre
Entwicklung und ihr ganzes Leben. Wir fordern keine Bevorzugung der Mütter. Wichtig ist, dass der Fokus darauf gerichtet ist, wo das Kind sich am besten entwickeln und leben kann.

Algeriens Frühlingserwachen auf Raten

  • 27.09.2012, 01:15

Keime der Proteste gegen Langzeitpräsidenten Abdel Aziz Bouteflika gehen im größten Staat Afrikas in Zeitlupe auf. Die junge Generation und eine zersplitterte Opposition fordern Demokratie und die faire Verteilung der Erdöl- und Gaseinnahmen. Das Regime löscht den drohenden Flächenbrand mit Almosen in Milliardenhöhe.

Der 15. Oktober 2011 ist der Tag, den Protestbewegungen rund um den Erdball für die „Globale Revolution“ reserviert hatten. In Oran, der zweitgrößten, angeblich weltoffensten Stadt Algeriens, wo, wenn die Sonne sich hebt, im Uni-Viertel noch tiefe Bässe aus dem Rai-Club hämmern, wenn der Muezzin zum Samstagsgebet ruft, mit seiner großen Universität, herrscht Ruhe. Die Tageszeitungen, wie El Watan, titelten mit den „Empörten“, die „eine neue Welt einfordern“, aber wie in Albert Camus Roman „La Peste“, für den Oran trefflich die urbane Vorlage bot, wirkt die von Bergen umringte Hafenmetropole mit ihren knapp 700.000 EinwohnerInnen, als wäre sie unter Quarantäne gestellt – wie das gesamte Land, das sich mit seinen 33 Millionen EinwohnerInnen über das Siebenfache der Fläche Frankreichs erstreckt.
„So Gott es will, wird es uns bald besser gehen“, sagt Nordin A. (25), der Wirtschaft studiert hat und nun bei der Hafenverwaltung einen Teilzeitjob hat: „Wir Algerier sind nun mal arm. Mein Onkel hat das Land auf illegalem Weg verlassen und arbeitet nun in Deutschland. Er wollte, dass ich nachkomme.“ Aber er sei seit dem Tod seines Vaters das Familienoberhaupt, habe fünf Geschwister, und trage die Verantwortung. „Ich liebe Algerien zu sehr, um ihm den Rücken zu kehren, wie es viele wagen.“
Hamadi K. (20), der dieses Jahr Informatik zu studieren beginnt, und neben der Schule in einem Internetcafe arbeitet, nickt. Über Facebook vernetzt, verfolgen Nordin und er auch die algerische Demokratiebewegung, die sich stark aus ihrer Generation formiert. Obacht sei geboten, wie Hamadi betont. GeheimpolizistInnen würden im Internet, und nicht nur dort, jungen Aufbegehrenden folgen. Festnahmen von der BloggerInnenszene, über KarikaturistInnen – wie Ali Dilem, der neun Jahre seines Lebens im Gefängnis verbrachte, und wiederholt mit Morddrohungen seitens radikaler IslamistInnen konfrontiert war – bis hin zu JournalistInnen, die nach Aufhebung des seit 1992 währenden Ausnahmezustands im Februar über Demonstrationen berichtet haben, sind keine Einzelfälle. Nordin und Hamadi haben einen Job, wenn auch prekär. Über die Hälfte ihrer AltersgenossInnen hat den nicht. Das Gros sieht sich neben der wirtschaftlichen auch der privaten Zukunft beraubt. Für ihre Hoffnungslosigkeit und Empörung ist Rapmusik ein Ventil und Spiegel. Die „Schuldigen“ der Misere hat der Künstler Solo Montana, in J’accuse im Establishment des „Militärs und des Marionettenpräsidenten“ festgemacht. Nach mehreren Angriffen und Todesdrohungen lebt der Musiker seit dem Frühjahr 2011 im kanadischen Exil. Just als die Welle der Proteste der arabischen Welt Anfang dieses Jahres auch in Algerien gipfelte. Dem ersten Aufbegehren gegen Weizenmehlpreise auf Höchstniveau bereits im vergangenen Dezember, folgte Anfang Jänner die Errichtung eines „Nationalen Rates für Demokratische Änderungen“. Begleitet von Selbstverbrennungen, mobilisierte sich mehr Widerstand. Zehntausende gingen, parallel zu und inspiriert von den revolutionären Bewegungen Tunesiens, den Protesten der Gruppe des „20. Februar“ Marokkos sowie den BesetzerInnen von Kairos Tahrir-Platz auf die Straßen Algeriens.
Im Grunde ist es das Militär, weniger der Präsident und dessen quasi Einheitspartei, die Front de Libération Nationale (FLN), das dieses Land kontrolliert. Demonstriert haben die Sicherheitskräfte dies deutlich, als sie mit 30.000 Gendarmen eine für den 12. Februar angesetzte, knapp 10.00 Protestierende zählende, Versammlung umringten. Ein weiterer friedlicher Protest in Algier wurde am 12. April niedergeknüppelt, ein Vorgehen, das 170 Verletzte forderte. Im laufenden Jahr waren bereits über 800 Verletzte und mindestens fünf Todesopfer zu beklagen.
Unter dem Druck der Straße kündigte Bouteflika sukzessive Verfassungsänderungen, wie beim Wahlrecht, an, forderte Staatsmedien zur Meinungspluralität auf, und öffnete den Geldhahn, um die Wut des Volkes zu bändigen. Der Gerontokrat, 1937 im heute marokkanischen Oujda geboren, ist seit 1999 an die Macht, begleitet von Manipulationsgerüchten und stilisierte sich zum „Friedensbringer“ gegen die Milizen der Islamistischen Heilsfront (FIS), der selbst keinerlei Widerspruch zulässt. 2009 wurde er mit über 90 Prozent der Stimmen wieder gewählt, wobei die Opposition zum Boykott aufrief. Das algerische Staatsvermögen ist immens, dank der Einkünfte aus Erdöl- und Erdgasvorkommen, die Europa laben. Was sich nicht nur darin zeigt, dass Oran einen Stadtteil hat, der gar Frankfurts Bankencity ähnelt, wo die Wolkenkratzer der Energiegiganten stehen.
Reich an Erdgas und Erdöl, konnte Algerien Preisschwankungen bei Grundnahrungsmitteln abfedern. Der Benzinpreis beträgt weniger als ein Zehntel von dem, was wir EuropäerInnen zu berappen haben. Es gibt in Algerien Arbeitslosengeld und eine Fixpension für jedeN, und zuletzt wurden großzügig Gehälter, auch die der UniversitätsprofessorInnen, deutlich angehoben. „Jene, im Sozialismus fußende Elemente“ sind aus der Sicht des saharauischen Politologen und Menschenrechtsaktivisten der NGO Afapredesa, Abdeslar Omar, „das Haar, an dem die Stabilität hängt.“ Wer arbeitslos ist, kaum etwas besitzt, könne sich ernähren, hätte ein Dach über dem Kopf und Anrecht auf Gesundheitsversorgung. So das Ideal, in der Realität trifft man nicht nur nachts Menschen, die in Mülltonnen mit Ratten um Essbares konkurrieren.
Vielmehr ein Revolutionshemmnis ist die letzte, gescheiterte demokratische Etappe, die zwischen 1988 und 1992 in eine Dekade des Bürgerkriegs mündete. Vielen, auch jungen Algeriern wiegen Traumata der Blutvergießen, die rund 100.000 Todesopfer forderten, schwer. Heute noch liefern sich bewaffnete Gruppen Gefechte mit dem Militär. BerberInnenstämme in der Region Kabylei im Osten für ihre Autonomie, radikal-islamistische Milizen und Terroristen der Al Qaida des Islamischen Maghreb verüben Bombenattentate primär gegen Kasernen, aber auch gegen westliche Einrichtungen, wie zuletzt gegen Büros der UNO 2007 in Algiers.
Das Land gleicht einer Baustelle, mit einer Vielzahl chinesischer Bagger. Dem einsetzenden regionalen Wandel, mit gestärkten Demokratien, der sich abzeichnet, wird es sich nicht verschließen können. Doch beweist beginnendes Tauwetter mit Marokko, dass sich Autokraten wie Bouteflika und König Mohammed VI. von Feinden zu Brüdern wandeln. Wenn ihre Macht zu wackeln droht, geben sie nur Häppchen von ihr ab. So bleibt der algerischen Opposition wohl vorerst nur die Hoffnung auf den Artikel 88 der Verfassung, der die Absetzung eines Staatschefs aufgrund von Krankheit fordert, und eine teilweise politische Entmachtung des Militärs.

Der Autor studiert im Doktorat Kommunikationswissenschaften.
Seit 2007 lebt er als freier Journalist in Granada.

Webtipp: Rap von Solo Montana, J’accuse … („Ich beschuldige…”):
www.youtube.com/watch?v=dQ52peh9EFI

Dilems Karikaturen in der Tageszeitung Liberté, auf
http://www.liberte-algerie.com/

 

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