Geld oder Leben

  • 13.11.2012, 19:02

Mit der jüngsten Reform des spanischen Gesundheitswesens verloren mehr als 150.000 MigrantInnen ohne regulären Aufenthaltsstatus ihr Anrecht auf Versorgung. Einzelne Regionen und tausende ÄrztInnen rebellieren. Sie wollen weiter kostenlose Behandlungen gewähren.

Mit der jüngsten Reform des spanischen Gesundheitswesens verloren mehr als 150.000 MigrantInnen ohne regulären Aufenthaltsstatus ihr Anrecht auf Versorgung. Einzelne Regionen und tausende ÄrztInnen rebellieren. Sie wollen weiter kostenlose Behandlungen gewähren.

Mit erstem September diesen Jahres verloren abertausende „Sin Papeles“ (zu deutsch „Ohne Papiere“) in Spanien ihr Anrecht auf Gesundheitsversorgung. Die Rechtsregierung unter Premier Mariano Rajoy stoppte per Gesetz (Real Decreto 16/2012) die Jahrzehnte lang gültige „universelle“ Gesundheitsversorgung, die auch für MigrantInnen mit irregulärem Aufenthaltsstatus galt. Zig E-Cards waren von einem Tag auf den anderen ungültig.

Je nachdem, in welcher Region Spaniens die Betroffenen leben, sind nun unterschiedlichste Regelungen in Kraft. Sowohl die Verwirrung und der Widerstand unter ÄrztInnen und PflegerInnen als auch die Ängste der MigrantInnen sind folglich immens. Dabei wollte die konservative Gesundheitsministerin aus den Reihen des Partido Popular (PP), Ana Mato, in erster Linie dem „Gesundheitstourismus“, der laut spanischem Rechnungshof 2009 bereits ein Budgetloch von knapp 900 Millionen Euro riss, ein Ende setzen. Spanien dürfe nicht länger „das Paradies der illegalen Einwanderung“ sein, wie sie meint. Einzig für Minderjährige, bei Notfällen oder auch Schwangerschaften sollen ÄrztInnen weiter Hilfe leisten, versicherte Mato in einem vergeblichen Versuch, die Wogen zu glätten.

Drohender Ruin. Wer nun im Krankheitsfall Dienstleistungen in Anspruch nehmen will, muss, sofern er oder sie unter 65 Jahre alt ist, einen Betrag von 710,40 Euro jährlich bezahlen. Wer älter ist, dem winken gar Kosten von 1864,80 Euro. Doch mit der neu etablierten „Versicherung“ ist lediglich die Grundversorgung gedeckt. Krankentransporte, Prothesen und Rollstühle etwa werden nicht gedeckt. Zudem sollen MigrantInnen auch 100 Prozent der Medikamentenkosten selber tragen. „Die Summen sind gerecht und zumutbar”, rechtfertigte der Gesundheitsrat der Region Kastilien-La Mancha, José Ignacio Echániz (PP) in einer gemeinsamen Pressekonferenz mit Mato die Reform. Wer sich nicht versichert, dem winkt aber der Ruin.

Denn nur ein einziger Tag auf der Intensivstation kostet in Kastilien-La Mancha 2824 Euro. Wer seine Beiträge nicht berappt, und Rechnungen nicht bezahlen kann, verliert zudem die Aufenthaltsbewilligung, sofern eine solche denn existiert. Die Caritas prüft zur Zeit noch, welche Folgen das Nichtbezahlen für MigrantInnen hat und warnt, dass jenen, die bislang zumindest gemeldet waren, in diesem Fall eine Art „ziviler Tod“ drohe, mit dem sie vollends aus der Gesellschaft ausgeschlossen werden würden. „Schulden werden sich akkumulieren. Wer nicht bezahlt, dem droht die Sperre und Pfändung seines Bankkontos“, weiß Francisco Solans von der spanischen Anwaltskammer, wo er mit AusländerInnenrechten betraut ist. Einen Privatkonkurs gibt es in Spanien ohnehin nicht.

Doch wie die nötigen Beträge etwa von PflegerInnen und HaushaltshelferInnen, die in der Schattenwirtschaft arbeiten, von TaglöhnerInnen in dem „Plastikmeer“ aus Gewächshäusern rund um das südspanische Almeria, oder von den vielen StraßenhändlerInnen aufgebracht werden sollen, fragen sich FlüchtlingshelferInnen und Oppositionsparteien gleichermaßen. Immerhin sollen es zwischen 150.000 und 200.000 Menschen aus nicht EU-Staaten sein, die aus dem System gekippt wurden, wie offizielle Ministeriumszahlen belegen.

Widerstand. Doch nicht alle spanischen Regionen wollen dem Spardiktat der Madrider Zentralregierung Folge leisten. Abseits der PP-regierten Regionen Madrid, Valencia, Aragón, Balearen und Kastilien-León, wo ein jeder Arztbesuch fortan verrechnet wird, selbst wenn der oder die Kranke keine Mittel hat, um diesen zu bezahlen, rebellieren etwa das von einer Koalition aus SozialistInnen und Linken regierte Andalusien, sowie Katalonien und das Baskenland gegen Matos Pläne. Hier müssen MigrantInnen jedoch ihre lokale soziale Verwurzelung nachweisen, um einen Massenansturm aus anderen Regionen zu verhindern. Diese Regionen gewähren MigrantInnen weiterhin eine kostenlose Gesundheitsversorgung über eine im Leistungsumfang limitierte eigene Form der E-Card. Und auch das konservativ regierte Galicien bietet MigrantInnen ohne regulärem Status die selben Rechte in Sachen Gesundheit wie den SpanierInnen.

Das Geld zählt, nicht der Mensch. „Es ist ein Trugschluss, zu glauben, MigrantInnen ohne Aufenthaltsstatus seien GesundheitstouristInnen”, beklagt Sylvia Koniecki, die sich seit mehr als 25 Jahren bei Granada Acoge für MigrantInnen einsetzt: „Gesundheitstouristen(Innen?) sind meist EU-Bürger? oder Menschen, die aus reicheren Nationen nach Spanien kommen, um sich behandeln zu lassen.“ Mit der neuen Regelung zähle nicht mehr der Mensch, sondern nur mehr das, was er ökonomisch beisteuert, kritisiert Koniecki.

Auch viele ÄrztInnen steigen zudem auf die Barrikaden. „Retten wir Menschen, nicht Banken“, stand etwa auf einem Transparent bei einer Demonstration von MedizinerInnen in Madrid Ende August zum Protest gegen die „Apartheid im Gesundheitswesen“. Diesen Begriff brachte der Arzt Ricardo Angora, Mitglied von Medicos del Mundo (übersetzt, „Ärzte der Welt“) in die Debatte ein. Er pocht auf „das Recht der Ärzte zu behandeln und zu heilen“. „Es geht bei der Gesundheit nicht um ein Privileg, sondern um ein Menschenrecht“, ist er überzeugt. Álvaro González, Präsident ebenjener spanischen NGO, die das sofortige Außerkraftsetzen der betreffenden Gesetzgebung fordert, hofft, „dass die Mobilisierung der Bürger und der starke gesellschaftliche Widerstand gegen die Reform den eingeschlagenen Weg korrigieren wird“.

Und auch MigrantInnenvereine wollen mit Kundgebungen, über den Druck der Straße das Gesetz kippen, das Gilberto Torres, vom Dachverband der Flüchtlingshilfsorganisationen Spaniens als diskriminierend bezeichnet. Auf der Internetplattform yosisanidaduniversal.net werden zudem Fallbeispiele und Leidenswege dokumentiert. Zugleich gibt das Portal auch ÄrztInnen Rat, wie sie weiter – etwa in Berufung auf das Gewissen und den Berufsethos – behandeln können, ohne in einer rechtlichen Zwickmühle zu enden, oder gar den Job zu verlieren. Zudem werden freiwillige BegleiterInnen vermittelt, die mit MigrantInnen ohne regulärem Aufenthaltsstatus gemeinsam zum Arzttermin gehen.

Rationalität versus Solidarität. Mikel Mazkiarán von SOS Racismo kritisiert, dass „ein funktionierendes Modell zerstört worden ist, und nun die Improvisation regiert“. Auch Ärzte ohne Grenzen schlägt Alarm. Deren Sprecher konstatierte gegenüber El País: „Es herrscht große Verwirrung unter MedizinerInnen und unter MigrantInnen, die sich nun vor dem Arztbesuch fürchten, und auch im Krankheitsfall davon absehen, weil sie sich ausweisen müssen.“ Sie listen Fälle auf, wie jenen von M. (32) aus Bolivien, die schwarz als Putzfrau arbeitet. Sie leidet an Depressionen, seit ihr Sohn schwer erkrankt ist, aber kann sich ihre Behandlung nun nicht mehr leisten. P. aus Rumänien leidet an Lungentuberkulose und Diabetes und wird kein Insulin mehr erhalten, während die offene Infektionskrankheit nun auch zum Risiko für seine Mitmenschen werde. Ganz zu Schweigen von den vielen von AIDS- oder Krebskranken, deren Behandlung, wenn überhaupt, einzig unter hohen Kosten fortführbar ist. „Es kann nicht sein, dass man einzig wegen der nicht und nicht enden wollenden Wirtschaftskrise Menschen mir nichts dir nichts aus der Gesundheitsversorgung ausschließt“, kritisiert Hassan Q. (35) aus Marokko, der seit sechs Jahren in Granada lebt und sich mit Gelegenheitsjobs durchschlägt.

„Die Rationalität dominiert, nicht die Solidarität. Es gilt einzig zu sparen, und Epidemien vorzubeugen”, klagt Miguel Fonda, Präsident des Dachverbands der Rumänen in Spanien (FEDROM): „Viele Menschen werden nicht mehr behandelt. Das wird gefährliche Konsequenzen haben, nicht nur für die Betroffenen.“ Auch Joe Illoh, Präsident des Vereins der Nigerianer Spaniens wettert gegen das neue Gesetz: „Die extrem nachteilige Maßnahme der Regierung trifft unsere Gemeinschaft sehr stark. Verunsicherung und Angst regieren.“

http://yosisanidaduniversal.net

http://www.medicosdelmundo.org

www.apartheidsanitario.com

 

„Das neue Gesetz, dass MigrantInnen ohne legalen Aufenthaltsstatus aus dem öffentlichen Gesundheitssystem wirft, ist eine absolute Katastrophe. Zum Glück werden wir hier in Andalusien noch behandelt. Andernorts muss man fortan viel Geld zahlen, wenn man zum Arzt geht. Doch auf der Straße verdienen wir viel zu wenig. Menschen werden sterben. Und mehr noch, wer nicht behandelt wird, steckt viele andere an.“
Modou K. (35) aus dem Senegal schlägt sich seit mehr als sechs Jahren als Straßenhändler in Granada durch.

„Ich bin vor drei Monaten extra aus Alicante nach Granada gezogen, denn in der Region Valencia gibt es im Gegensatz zu Andalusien keine Gesundheitsversorgung für Menschen wie mich, die keine Papiere haben. Das kann doch nicht die Lösung sein. Die geforderten Beiträge kann sich niemand leisten. Es gibt keine Arbeit. Jeden Tag gehe ich in die Armenküche, um zumindest etwas Essen zu bekommen. Ich lebe in ständiger Angst, abgeschoben zu werden.“
Ismael S. (36) aus Mali lebt seit sieben Jahren in Spanien

„Zum Glück haben Ärzte und Pfleger ein viel größeres Herz als Politiker, die meist nur Populismus schüren und auf ihren eigenen Vorteil bedacht sind. Die Gesundheitsversorgung ist ein Menschenrecht. Die Gesundheit eines jeden ist immens wertvoll, dennoch darf sie keinen Preis haben.“ 
Nordin S. (56) kam bereits vor 22 Jahren aus dem marokkanischen Casablanca nach Spanien und führt ein Geschäft in Granada, seit er seinen Aufenthaltsstatus legalisiert hat.

AutorInnen: Jan Marot