Krux um Katalonien unter Kommiliton_innen

  • 29.01.2018, 12:57
Studierende gelten als die treibende Kraft der katalanischen Unabhängigkeitsbewegung, insbesondere was die Mobilisierung bei Massenprotesten für die Republik betrifft. Der von Madrid postulierte „separatistische Meinungsterror“ gegen Andersdenkende, primär rechte, unionistische Studierende wird bei einem Lokalaugenschein fast völlig entkräftet. Nur Spaniens Rechtsextreme suchen den Konflikt für ihre Interessen zu nutzen.

Wie wirken sich die turbulenten Ereignisse um die Sezessionspläne Kataloniens auf den studentischen Alltag in Barcelona aus? Offenbaren sich die angeblich derart tiefen Gräben auch zwischen Kommiliton_innen? Können sich Kritiker_innen, die sich gegen eine Unabhängigkeit stemmen, überhaupt noch freiäußern? An der Autonomen Universität Barcelonas (UAB) scheint auf den ersten Blick Normalbetrieb zu herrschen. Auch auf den zweiten. Klarerweise finden sich Plakate, die „Freiheit für Polithäftlinge“ fordern. Sind doch seit Wochen die Präsidenten der Katalanischen Nationalversammlung (ANC), Jordi Sànchez i Picanyol, und des katalanischen Kulturinstituts Òmnium Cultural, Jordi Cuixart i Navarro, in Präventivhaft wegen „tumultartigem Aufruhr“. Ebenso der von Madrid entmachteter Vize-Regionalregierungschef Oriol Junqueras und sieben seiner Minister_innen, unter anderem wegen „Rebellion“.

„Die politischen Themen, die Katalonien bewegen, sind omnipräsent in Konversationen unter Kolleg_innen an der Fakultät und im Freund_innenkreis“, sagt Núria Janué (20), die Rechtswissenschaften
an der UAB studiert, zum progress. „Das schadet keinesfalls dem universitären Zusammenleben. Diejenigen, die ständig von Spaltung sprechen, sind jene, die Konfrontationen suchen und damit auch schaffen. Tatsächlich herrscht unter den Studierenden hier weitestgehend ein Konsens darüber, dass wir Katalan_innen das Recht haben sollten, über den Wunsch nach Unabhängigkeit abzustimmen, ganz gleich ob man jetzt dafür oder dagegen ist“, führt Janué aus. Sie unterstreicht ebenso, dass unter den Studierenden der UAB eine fast geschlossene Opposition zur Reaktion des spanischen Staates mit dem Außerkraftsetzen der katalanischen Autonomie und zur einhergehenden Welle der Repression seitens der Regierung in Madrid.

Rechtsextreme Aufmärsche
Doch Janué zeigt sich besorgt über „die steigende Sichtbarkeit von Rechtsextremen an der Universität“, wie etwa die so genannte Sociedad Civil Catalana (SCC, „Katalanische Zivilgesellschaft“): „Sie sind eine kleine
Gruppe der Studierenden der UAB, aber sie machen jede Menge Lärm“, klagt sie. Sie verteilen Propaganda-Flyer, organisieren Aufmärsche, Bücherkreise und Diskussionsrunden, zu denen sie Vortragende aus der Neonazi-Szene laden, die Glatzköpfige mit sich im Schlepptau haben. „Sie haben an der Universität nichts verloren“, sagt Janué. Die SCC ist übrigens ein landesweit nicht einmal 800 Mitglieder zählender Verein, der in Vergangenheit
ein Nahverhältnis zur „Nationalen Francisco Franco Stiftung“ unterhielt, die der Pflege des Andenkens an den faschistischen Ex-Diktator verschrieben ist und zuletzt die Massendemonstrationen in Barcelona für die Einheit Spaniens organisierte. Sekundiert wurden diese Proteste vom regierenden rechtskonservativen Partido Popular (PP) unter Spaniens Premier Mariano Rajoy, der rechten „Ciutadans“-Partei („Bürger_innen“- Partei) aber auch den katalanischen Sozialist_innen (PSC) – die unionistischen Kräfte in Katalonien.

Generell gilt es, in den medialen Propaganda-Wirren Vorsicht walten zu lassen: Spaniens Rechtsextreme versuchen im Fahrwasser des katalanischen Separatismus Land zu gewinnen. Öl ins lodernde Feuer goss dabei etwa Ende Oktober eine UAB-Studentin, die Berühmtheit erlangte, weil sie querbeet ein in vielen Medien, inklusive dem katalanischen Regionalsender TV3 „vom Gesinnungsterror durch gewaltbereite Separatist_innen an Universitäten sprach“, und dabei anonym bleiben wollte. Sie wurde als Mitglied der SCC und Ciutadans enttarnt, und ihre Schilderungen als an den Haaren herbeigezogen entlarvt. Die 20-Jährige Janué hat übrigens am von Madrid
als „illegal“ erachteten Unabhängigkeits-Referendum vom 1. Oktober teilgenommen. Wobei sie auch ihr Wahllokal mit tausenden Bürger_innen vor der Polizei verteidigt hat. Nach den Gewaltexzessen der wohlgemerkt spanischen, und nicht katalanischen Polizei (Mossos d’Esquadra) „war die Frage nicht mehr die Unabhängigkeit per se, sondern es ging um die Verteidigung der Demokratie“, sagt sie. Als pure Spekulation erachtet Janué ein zweites Referendum, bindend in seinem Ergebnis, da der spanische Staat das „katalanische Volk in der demokratischen Ausübung seiner Rechte ohnehin nur unterdrückt“. Vielmehr unterstreicht sie, dass das Referendum
vom 1. Oktober legitim war und dass man nun das Ergebnis in den Regionalwahlen am 21. Dezember bestätigen müsse.

Leichte Spannung in den Hörsälen

Der Katalane Marcel Jordi Dreier (22) macht seinen Master in Maschinenbau an der privaten Ramon-Llull-Universität, parallel zu einem MBA-Programm. Er meint im progress-Gespräch, dass es an seiner Hochschule in Sachen Separatismus „leider eher ruhig bleibt“. „Natürlich heizt die aktuelle politische Lage unter den Kommiliton_innen viele Debatten in den Pausen und in der Kantine an.“ Auch Dreier beharrt dabei auf den existierenden  Meinungspluralismus, mehr noch an seiner privaten Elite-Hochschule. „Bei uns gibt es Klassenvertreter_Innen, die sich paarMal im Jahr versammeln, aber nicht über Politik reden“, betont Dreier : „Es gibt nur Einzelpersonen, die ein paar Plakate gegen die politischen Häftlinge aufhängen, die aber auch von anderen Studierenden zerrissen werden.“ Dreier ist übrigens auch Mitglied von Òmnium Cultural, und nimmt regelmäßig an Aktionen für die Unabhängigkeit teil. „Dieser Tage hängen wir auf den Straßen Barcelonas große gelbe Schleifen auf, für die Inhaftierten unter den Separatist_innen.“ Die überdimensionale Schleife am Eingang zur Universität, die hat Dreier mit Kolleg_innen angebracht, worauf er stolz ist. „Für mich wäre die Lösung des Konfliktes ein vereinbartes Referendum zu feiern. So wie Schottland 2014. Nur leider ist der spanische Staat von diesem Punkt sehr, sehr weit entfernt“, unterstreicht Dreier, der sich keineswegs als Nationalist erachtet. Ohnehin hätte die Sezessionsbewegung für ihn keine derartigen, oder gar populistische Züge, betont er. Vielmehr sei sie aus der Zivilgesellschaft in Graswurzel-Manier erwachsen, über die ANC und eben Òmnium.

Vielstaatliches Spanien zu Grabe getragen

Er fände es richtig und wichtig, dass die katalanische Regierung diesen Konflikt internationalisiert. „Ein föderales, wahrhaftig vielstaatliches Spanien ist am 1. Oktober zu Grabe getragen worden“, meint er, da die zwei größten Parteien Spaniens, Rechtskonservative (PP) und sozialistischer PSOE sich nicht für die Polizeigewalt entschuldigten und die Unterwerfung des katalanischen Volkes anstreben würden. „Von einer spanischen Vielstaatlichkeit ist man aktuell noch weiter entfernt, als von einer Republik Katalonien“, ist Dreier sich sicher. Schauplatzwechsel zu einer weiteren der großen Universitäten Barcelonas, wo bereits am Ausgang von der U-Bahnstation in großen gelben Lettern „Espanya“, jedoch mit einem Hakenkreuz an Stelle des „S“, gesprayt wurde. Und im Campus-Innenhof ein „Sí“, „Ja“ den Unabhängigkeitswillen deutlich macht: „In meinem Fachbereich ist das Klima stark
für die Unabhängigkeit“, sagt der deutsche Universitätsprofessor Klaus-Jürgen Nagel von der Universitat Pompeu Fabra (UPF) in Barcelona zum progress. Der gebürtige Münsteraner lehrt Politikwissenschaft und lebt seit fast 20 Jahren in Katalonien und gilt als Experte für Nationalismus- und Föderalismus- fragen: „Die wenigen Student_innen, die in Vertretungen organisiert sind, sind zumeist im separatistischen SEPC.“ An der UPF seien die Studierenden vielmehr sehr stark zivil mobilisiert, betont Nagel. „Doch selbst wenn ein Streik angesagt ist, dann geht der bis mittags, es folgt eine Demo und am Nachmittag sind meist schon wieder Lehrveranstaltungen“, sagt er.

Das im Verhältnis zu anderen Hochschulen – wie eben die UAB oder die Universität von Girona, eine Wiege des Separatismus – „ruhigere Klima“ erklärt er sich damit, dass die größten Fachbereiche an der UPF Wirtschafts- und Rechtswissenschaften sind. Human- und Sozialwissenschaftler_innen seien kaum vertreten. Er meint weiter, dass Gegner_innen und Befürworter_innen ja keinen echten Streit haben müssen, solange sie mehrheitlich zumindest
das Recht auf eine Volksabstimmung in Katalonien anerkennen. Wie 70 bis 80 Prozent der Bevölkerung es auch wollen.“ Erst wenn man das Recht darauf abstreite, wie es die spanische Regierung tue, dann werde es kritisch, sagt Nagel. 
Emigrant_innenfamilien

Doch wie betrachten Studierende fern von Katalonien die Situation? Gonzalo de la Orden Rodriguéz (22) ist Musikstudent im südspanischen Granada. Der überwiegende Teil seiner Onkel und Tanten, väter- und mütterlicherseits, leben in Katalonien. Normal, für viele Familien Süd- und Zentralspaniens, denn zur Franco-Diktatur gab es massive Migrationsbewegungen aus den landwirtschaftlichen Regionen ins damals bereits stark industrialisierte Katalonien: „Ich bin sehr interessiert an der Katalonienfrage und bin dafür, dass ein bindendes Referendum abgehalten wird. Mit allen rechtlichen Garantien. Aber prinzipiell bin ich gegen eine Unabhängigkeit“, sagt er zum progress. Die Entscheidung darüber müssten jedoch die Katalan_innen haben. „Die Frage betrifft nicht nur die Katalan_innen, sondern ganz Spanien“, sagt indes seine Kollegin Lourdes Gay Punzano (22) aus Jaén. Auch sie studiert Musik in Granada, und wie so viele Andalusier_innen hat auch sie Verwandte in Katalonien, „die jedoch geschlossen gegen eine Sezession wären“, wie sie betont. Sie seien Spanier_innen: „Schuld an der
aktuellen Situation tragen beide Seiten, Madrid und Barcelona“, ist sie überzeugt. 
 

Von Jan Marot, Barcelona (@JanMarot auf Twitter)

 

Wissen

Aktuelle Studien des offiziellen katalanischen CEO-Statistikinstitutes (Centro de Estudios de Opinión, siehe http://ceo.gencat.cat) belegen einen deutlichen Zusammenhang zwischen höherem Bildungsniveau und
stärkerem Wunsch nach staatlicher Souveränität. Aber auch wer ein mittleres bis hohes Einkommen (ab 1800 Euro monatlich) hat, tendiert eher für die unabhängige Republik. Spitzenverdiener_innen indes sind eher unionistisch eingestellt. Zudem gilt in Sachen politischer Einstellung, wer sich eher als links erachtet, zählt mit weit größerer Wahrscheinlichkeit zum Sektor der Unabhängigkeitsbefürworter_innen. 

 

AutorInnen: Jan Marot