Algeriens Frühlingserwachen auf Raten

  • 27.09.2012, 01:15

Keime der Proteste gegen Langzeitpräsidenten Abdel Aziz Bouteflika gehen im größten Staat Afrikas in Zeitlupe auf. Die junge Generation und eine zersplitterte Opposition fordern Demokratie und die faire Verteilung der Erdöl- und Gaseinnahmen. Das Regime löscht den drohenden Flächenbrand mit Almosen in Milliardenhöhe.

Der 15. Oktober 2011 ist der Tag, den Protestbewegungen rund um den Erdball für die „Globale Revolution“ reserviert hatten. In Oran, der zweitgrößten, angeblich weltoffensten Stadt Algeriens, wo, wenn die Sonne sich hebt, im Uni-Viertel noch tiefe Bässe aus dem Rai-Club hämmern, wenn der Muezzin zum Samstagsgebet ruft, mit seiner großen Universität, herrscht Ruhe. Die Tageszeitungen, wie El Watan, titelten mit den „Empörten“, die „eine neue Welt einfordern“, aber wie in Albert Camus Roman „La Peste“, für den Oran trefflich die urbane Vorlage bot, wirkt die von Bergen umringte Hafenmetropole mit ihren knapp 700.000 EinwohnerInnen, als wäre sie unter Quarantäne gestellt – wie das gesamte Land, das sich mit seinen 33 Millionen EinwohnerInnen über das Siebenfache der Fläche Frankreichs erstreckt.
„So Gott es will, wird es uns bald besser gehen“, sagt Nordin A. (25), der Wirtschaft studiert hat und nun bei der Hafenverwaltung einen Teilzeitjob hat: „Wir Algerier sind nun mal arm. Mein Onkel hat das Land auf illegalem Weg verlassen und arbeitet nun in Deutschland. Er wollte, dass ich nachkomme.“ Aber er sei seit dem Tod seines Vaters das Familienoberhaupt, habe fünf Geschwister, und trage die Verantwortung. „Ich liebe Algerien zu sehr, um ihm den Rücken zu kehren, wie es viele wagen.“
Hamadi K. (20), der dieses Jahr Informatik zu studieren beginnt, und neben der Schule in einem Internetcafe arbeitet, nickt. Über Facebook vernetzt, verfolgen Nordin und er auch die algerische Demokratiebewegung, die sich stark aus ihrer Generation formiert. Obacht sei geboten, wie Hamadi betont. GeheimpolizistInnen würden im Internet, und nicht nur dort, jungen Aufbegehrenden folgen. Festnahmen von der BloggerInnenszene, über KarikaturistInnen – wie Ali Dilem, der neun Jahre seines Lebens im Gefängnis verbrachte, und wiederholt mit Morddrohungen seitens radikaler IslamistInnen konfrontiert war – bis hin zu JournalistInnen, die nach Aufhebung des seit 1992 währenden Ausnahmezustands im Februar über Demonstrationen berichtet haben, sind keine Einzelfälle. Nordin und Hamadi haben einen Job, wenn auch prekär. Über die Hälfte ihrer AltersgenossInnen hat den nicht. Das Gros sieht sich neben der wirtschaftlichen auch der privaten Zukunft beraubt. Für ihre Hoffnungslosigkeit und Empörung ist Rapmusik ein Ventil und Spiegel. Die „Schuldigen“ der Misere hat der Künstler Solo Montana, in J’accuse im Establishment des „Militärs und des Marionettenpräsidenten“ festgemacht. Nach mehreren Angriffen und Todesdrohungen lebt der Musiker seit dem Frühjahr 2011 im kanadischen Exil. Just als die Welle der Proteste der arabischen Welt Anfang dieses Jahres auch in Algerien gipfelte. Dem ersten Aufbegehren gegen Weizenmehlpreise auf Höchstniveau bereits im vergangenen Dezember, folgte Anfang Jänner die Errichtung eines „Nationalen Rates für Demokratische Änderungen“. Begleitet von Selbstverbrennungen, mobilisierte sich mehr Widerstand. Zehntausende gingen, parallel zu und inspiriert von den revolutionären Bewegungen Tunesiens, den Protesten der Gruppe des „20. Februar“ Marokkos sowie den BesetzerInnen von Kairos Tahrir-Platz auf die Straßen Algeriens.
Im Grunde ist es das Militär, weniger der Präsident und dessen quasi Einheitspartei, die Front de Libération Nationale (FLN), das dieses Land kontrolliert. Demonstriert haben die Sicherheitskräfte dies deutlich, als sie mit 30.000 Gendarmen eine für den 12. Februar angesetzte, knapp 10.00 Protestierende zählende, Versammlung umringten. Ein weiterer friedlicher Protest in Algier wurde am 12. April niedergeknüppelt, ein Vorgehen, das 170 Verletzte forderte. Im laufenden Jahr waren bereits über 800 Verletzte und mindestens fünf Todesopfer zu beklagen.
Unter dem Druck der Straße kündigte Bouteflika sukzessive Verfassungsänderungen, wie beim Wahlrecht, an, forderte Staatsmedien zur Meinungspluralität auf, und öffnete den Geldhahn, um die Wut des Volkes zu bändigen. Der Gerontokrat, 1937 im heute marokkanischen Oujda geboren, ist seit 1999 an die Macht, begleitet von Manipulationsgerüchten und stilisierte sich zum „Friedensbringer“ gegen die Milizen der Islamistischen Heilsfront (FIS), der selbst keinerlei Widerspruch zulässt. 2009 wurde er mit über 90 Prozent der Stimmen wieder gewählt, wobei die Opposition zum Boykott aufrief. Das algerische Staatsvermögen ist immens, dank der Einkünfte aus Erdöl- und Erdgasvorkommen, die Europa laben. Was sich nicht nur darin zeigt, dass Oran einen Stadtteil hat, der gar Frankfurts Bankencity ähnelt, wo die Wolkenkratzer der Energiegiganten stehen.
Reich an Erdgas und Erdöl, konnte Algerien Preisschwankungen bei Grundnahrungsmitteln abfedern. Der Benzinpreis beträgt weniger als ein Zehntel von dem, was wir EuropäerInnen zu berappen haben. Es gibt in Algerien Arbeitslosengeld und eine Fixpension für jedeN, und zuletzt wurden großzügig Gehälter, auch die der UniversitätsprofessorInnen, deutlich angehoben. „Jene, im Sozialismus fußende Elemente“ sind aus der Sicht des saharauischen Politologen und Menschenrechtsaktivisten der NGO Afapredesa, Abdeslar Omar, „das Haar, an dem die Stabilität hängt.“ Wer arbeitslos ist, kaum etwas besitzt, könne sich ernähren, hätte ein Dach über dem Kopf und Anrecht auf Gesundheitsversorgung. So das Ideal, in der Realität trifft man nicht nur nachts Menschen, die in Mülltonnen mit Ratten um Essbares konkurrieren.
Vielmehr ein Revolutionshemmnis ist die letzte, gescheiterte demokratische Etappe, die zwischen 1988 und 1992 in eine Dekade des Bürgerkriegs mündete. Vielen, auch jungen Algeriern wiegen Traumata der Blutvergießen, die rund 100.000 Todesopfer forderten, schwer. Heute noch liefern sich bewaffnete Gruppen Gefechte mit dem Militär. BerberInnenstämme in der Region Kabylei im Osten für ihre Autonomie, radikal-islamistische Milizen und Terroristen der Al Qaida des Islamischen Maghreb verüben Bombenattentate primär gegen Kasernen, aber auch gegen westliche Einrichtungen, wie zuletzt gegen Büros der UNO 2007 in Algiers.
Das Land gleicht einer Baustelle, mit einer Vielzahl chinesischer Bagger. Dem einsetzenden regionalen Wandel, mit gestärkten Demokratien, der sich abzeichnet, wird es sich nicht verschließen können. Doch beweist beginnendes Tauwetter mit Marokko, dass sich Autokraten wie Bouteflika und König Mohammed VI. von Feinden zu Brüdern wandeln. Wenn ihre Macht zu wackeln droht, geben sie nur Häppchen von ihr ab. So bleibt der algerischen Opposition wohl vorerst nur die Hoffnung auf den Artikel 88 der Verfassung, der die Absetzung eines Staatschefs aufgrund von Krankheit fordert, und eine teilweise politische Entmachtung des Militärs.

Der Autor studiert im Doktorat Kommunikationswissenschaften.
Seit 2007 lebt er als freier Journalist in Granada.

Webtipp: Rap von Solo Montana, J’accuse … („Ich beschuldige…”):
www.youtube.com/watch?v=dQ52peh9EFI

Dilems Karikaturen in der Tageszeitung Liberté, auf
http://www.liberte-algerie.com/

 

AutorInnen: Jan Marot