Juni 2010

Stimmen gegen das Vergessen

  • 13.07.2012, 18:18

65 Jahre Befreiung vom Nationalsozialismus bedeutet unter anderem auch, sich mit dem Ableben vieler ZeitzeugInnen und Holocaustüberlebenden auseinandersetzen zu müssen und sich neue Formen der Erinnerung, aber auch Strategien gegen das Vergessen anzueignen.

65 Jahre Befreiung vom Nationalsozialismus bedeutet unter anderem auch, sich mit dem Ableben vieler ZeitzeugInnen und Holocaustüberlebenden auseinandersetzen zu müssen und sich neue Formen der Erinnerung, aber auch Strategien gegen das Vergessen anzueignen.

Die Filmreihe Visible von Marika Schmiedt stellt den Versuch dar, die Erinnerungen von ZeitzeugInnen zu sammeln und für die Nachwelt zu erhalten. Die Reihe Bücher gegen das Vergessen des kleinen zweisprachigen Verlages Drava aus Kärnten/KoroŠka versucht dasselbe.
In einer fünfteiligen Portraitreihe hat die Filmemacherin Marika Schmiedt filmisches Material aufgearbeitet, das in den Jahren 1998 bis 2000 von Mitarbeiterinnen der Lagergemeinschaft Ravensbrück in Zusammenarbeit mit dem Institut für  Konfliktforschung in Form von Interviews mit Frauen gesammelt wurde, die das KZ Ravensbrück überlebt haben. Die Besonderheit dieses Projekts wird durch den Zugang dargestellt, nicht nur die Lebensgeschichten der Überlebenden für die nachfolgenden Generationen festzuhalten, sondern auch darauf einzugehen, welche Auswirkungen die traumatischen Erfahrungen des Nationalsozialismus auf die Nachgeborenen hatten. „Ihr Leben mit dieser Erinnerung, mit/bestimmend für die gegenwärtigen Beziehungen zu Kindern und Enkeln und deren Erfahrungen damit, machen für jüngere ZuschauerInnen den Zusammenhang der Geschichte des Nationalsozialismus mit dessen Bedeutung heute sichtbar.“
So kommen auch die Kinder und Enkelkinder der Holocaust überlebenden Frauen zu Wort und schildern die Schwierigkeiten, sich mit den Geschichten und Erfahrungen ihrer Eltern und Großeltern  auseinanderzusetzen. In den verschiedenen Portraits von Überlebenden unterschiedlicher Opfergruppen werden die Spätfolgen ebenso aufgezeigt wie die Art und Weise, wie die Erfahrung des Holocausts die Beziehungen zu den Familienangehörigen mitstrukturieren. So portraitiert beispielsweise Aber in Auschwitz will ich begraben sein nicht nur die traurige Geschichte von Dagmar Ostermann, die lange Zeit als jüdische Zeitzeugin in Schulen in ganz Österreich tätig war und nun, beinahe vergessen, in einem jüdischen Altersheim in Wien vereinsamt, sondern auch ihren Enkel Marc Ostermann, der sich als letzter in Wien verbleibender Familienangehöriger um seine Oma kümmert. Dieser will sich auch dem letzten Wunsch seiner Oma annehmen, nämlich in Auschwitz begraben zu werden. In der Gedenkstätte des Vernichtungslagers selbst war er aber noch nie. Im Portrait erzählt Ostermann davon, dass die Realität der Lager war, dass sie nicht überlebt wurden. Darüber hinaus versteht sie das Wort „Wiedergutmachung“, gerade in Anbetracht der ständigen Angst und der „Ausrottung“ ganzer Familien durch die Nazis, als reinen Zynismus. Ostermann gibt auch zu, dass sie ihren Sohn mit den Erzählungen vom KZ malträtiert hat und das Aufwachsen mit ihren Erinnerungen nicht immer einfach gewesen ist.
Auch in Lungo Dom/Langer Weg über die Überlebende Ceija Stojka beschreiben sowohl die Tochter als auch die Enkelin der Romi und Künstlerin, dass sie mit den Erzählungen über KZs aufgewachsen sind. Aber auch die Diskriminierungen, mit denen sich Angehörige der Minderheit der Roma immer noch konfrontiert sehen, werden in dem Portrait ausführlich thematisiert. „Die Angst, die durch ihre Erinnerungen an die grauenhafte Kindheit im Todeslager und die wieder zunehmenden Verfolgungen von Roma in Europa wach gehalten wird, hat sie an ihre Kinder und Enkelkinder weitergegeben – aber auch die Liebe zum Leben.“ 

Autobiographische Erzählungen. Der Drava Verlag hat in den letzten Jahren mehrere autobiographische Werke und Übersetzungen von ehemaligen PartisanInnen und anderen (Kärntner) SlowenInnen, die sich auf unterschiedliche Art und Weise gegen das nationalsozialistische Vernichtungsregime zur Wehr setzten, veröffentlicht. So erschienen beispielsweise im Herbstprogramm 2007 die Erzählungen zweier Autoren, Anton Haderlap und Franc Kukovica, die die Erinnerungen an den Zweiten Weltkrieg und die damit verbundenen Erlebnisse aus der Perspektive der Kinder, die sie damals waren, literarisch verarbeiteten.

Franz Kukovica. So erzählt der 1933 in Blasnitzen/Plaznica, in der Gemeinde Eisenkappel-Vellach/Železna Kapla-Bela geborene Franc Kukovica in seinem Werk Als uns die Sprache verboten wurde. Eine Kindheit in Kärnten (1938-1945) von der systematischen Ausschaltung der slowenischen Sprache in Kärnten/Koroška sowie der voranschreitenden Benachteiligung, Zurücksetzung und Demütigung von slowenisch sprechenden Menschen durch die Nazis. In der Schule als „Windischer“ stigmatisiert, erinnert sich Kukovica auch an seine Angst, die Verluste, die er schon als Kind machen musste, und an jene Männer und Frauen, die für die Freiheit kämpften, und mit denen seine Eltern während des Kriegs in engem Kontakt standen. Während sein Vater in der Fabrik für die PartisanInnen nützliche Materialien, Gegenstände und Geld sammelte und sich später auch dem bewaffneten Widerstand anschloss, übernahm Kukovica selbst Kurierdienste. In seinen Erinnerungen schreibt er: „Bei der Erledigung meiner Kurierdienste fühlte ich in meinem Körper oft eine plötzliche Spannung, mir wurde so heiß, dass ich schwitzte, das Herz schlug mir sehr stark, ich fühlte es im Halse, Angst befiel mich. Gewöhnlich dann, wenn meine Zweiliterkanne vollgefüllt mit verschiedenen Sachen für die Partisanen war und ich am Wachposten vor der Brücke über die Vellach vorbei musste.“

Anton Haderlap. Aus der Perspektive eines Vierzehnjährigen wird auch das autobiographische Werk Graparji. So haben wir gelebt, Erinnerungen an Kärntner Slowenen in Frieden und Krieg von Anton Haderlap erzählt. Ebenfalls in der Gegend von Eisenkappel/Železna Kapla situiert, bearbeitet Haderlap die Geschichte seiner Familie, seines Tals sowie der slowenisch- sprachigen Bevölkerung seit dem Ersten Weltkrieg bis zur späteren Verfolgung und Unterdrückung durch die Nazis. So finden auch die verharmlosend als „Aussiedlung“ bezeichneten Deportationen von knapp 1.000 Kärntner Sloweninnen und Slowenen im Frühjahr 1942 Erwähnung in dem besagten Werk. Weiters beschreibt Haderlap auch den starken Zulauf der slowenisch-sprachigen Bevölkerung Kärntens zu den PartisanInnen, denen sich auch sein Vater anschloss. Während Haderlaps Mutter, zwei Tanten und ein Onkel sowie eine im gemeinsamen Haushalt lebende Cousine von den Nazis verhaftet und nach Ravensbrück und Dachau deportiert wurden, gelang dem Autor selbst gemeinsam mit einer anderen Tante und seinem elfjährigen Bruder die Flucht in die Wälder, wo er sich ebenfalls dem bewaffneten Widerstand gegen den Nationalsozialismus anschloss, als Kurier tätig wurde und so den Zweiten Weltkrieg überlebte. In seinen Erinnerungen schreibt er: „Für einen jungen, neugierigen Menschen wie mich war vieles schwer zu verstehen. Es gab viele Fragen, auf die man einem Kind zu seinem Schutz und zum Schutz der ganzen Gruppe keine Antwort geben durfte. Geheimhaltung war lebenswichtig. Zu großes Vertrauen und Arglosigkeit haben viele ins Verderben gestürzt. Immer musste man mit Verrätern, Spitzeln und Denunzianten rechnen. Also musste ich in meinem neuen Heim warten und mich an das Leben im einsamen, muffigen Raum gewöhnen.“
In den autobiographischen Schriften ehemaliger PartisanInnen zeigt sich, dass die Literatur eine der wenigen Möglichkeiten darstellte, dem von ihnen Erlebten Gehör zu verschaffen, ihre Anliegen sichtbar zu machen und das auszusprechen, was nach 1945 in Kärnten wie auch anderswo in Österreich fast niemand hören wollte.

Karel Prušnik-Gašper. Auch Karel Prušnik-Gašper, ein bekannter Kärntner PartisanInnenführer erzählt in seinem Erinnerungsbuch Gemsen auf der Lawine (1981) von seiner Verurteilung zu einer zwölfmonatigen Haft. Dies geschah, weil er in seiner Rede bei der Denkmalenthüllung in St. Ruprecht 1947 unter anderem dazu aufgerufen hatte, das Denkmal möge den Kärntner SlowenInnen für alle Zeiten eine Mahnung sein, niemals wieder „Sklaven zu sein“ und immer dann zu den Waffen zu greifen, wenn es darum geht, „gegen die Fremdherrschaft“ zu kämpfen. „Unser Ziel war ein gerechter Friede eine gerechte demokratische Ordnung, die völlige Liquidierung des Faschismus.“ Ein Ziel, das im offiziellen Kärnten/Koroška und seinem „ewigen Abwehrkampf“ gegen alles Undeutsche weder anzutreffen war noch ist. 
 

 

Gottes Werk und Teufels Beitrag

  • 13.07.2012, 18:18

Erasmus-Kolumne: In Salamanca liegen das Heilige und die Sünde so nahe beieinander wie die Kathedrale und die Universität

Erasmus-Kolumne: In Salamanca liegen das Heilige und die Sünde so nahe beieinander wie die Kathedrale und die Universität

Die Stadt gleicht einem Blasebalg: Zu Beginn des Semesters saugt sie sich mit Studierenden an, und an dessen Ende schleudert sie sie mit Kraft in die Ferien. Salamanca, an der Grenze zu Portugal, hat etwa gleich viele EinwohnerInnen wie Linz. Rund ein Drittel davon sind jedoch Studierende. Die zweitälteste Universität in Spanien hat eine lange Tradition der Gastfreundlichkeit für Studis, besonders für die jungen „fahrenden Gelehrten“ aus dem Ausland, die jedes Jahr zu Semesterbeginn wie eine Urgewalt über den Ort hereinbrechen. Hunderte Kneipen, Diskotheken und spezielle Stamperl-Bars („Chupiterías“) bieten jede Gelegenheit, sich den Exzessen des Erasmuslebens hinzugeben.
Beim ersten Spaziergang durch die Stadt, deren Kern aus dem Barock stammt, wirkt das Potpourri an Ocker- und Brauntönen beinahe erdrückend. Neben der Kathedrale und zahllosen Kirchen sind auch die Universität und das Rathaus im selben Barockstil erbaut, der sich an die späte Gotik anlehnt. Die Monumente der Stadt sind mit tausend Winkeln und Schnörkeln verziert, und aus dem für die Stadt typischen, gleichen Sandstein gehauen.
Nicht zuletzt, um die barocke Schwere der Fassaden auszugleichen, haben sich RestaurateurInnen im Laufe der Jahrhunderte einige Frechheiten erlaubt. So versteckten sie etwa mitten unter Darstellungen der Mutter Gottes und von Heiligen einen Frosch, Ratten und sogar einen Astronauten. Eine besonders beliebte Serie von historischen Statuen am zentralen Universitätsgebäude zeigt die vier studentischen Sünden des 17. Jahrhunderts: Masturbation, Faulenzerei, Wein und Weiberei.

Essen wie Don Quijote. Wer sich in den kleinen, verwinkelten Gassen verliert, für den/die ist es leicht, sich spontan in die joviale Gastlichkeit der Stadt zu verlieben. Auf den Plätzen werden Schirme gespannt, um den angeblich heißesten Ort in Spanien vor Sonne und gelegentlichen Schauern zu schützen. Der Plaza Mayor, der für kastilische Städte typische Hauptplatz, ist dabei eher unter der Kategorie „Touristenfalle“ einzuordnen. Doch nur ein paar Straßen weiter bietet beinahe jedes Lokal zu einem für österreichische Verhältnisse sehr günstigen kleinen Bier gratis ein Häppchen Nahrung an, die traditionelle Tapa. Diese bildet das Rückgrat der äußerst bodenständigen spanischen Kulinarik.
In Olivenöl lasiertes Weißbrot und aromatischer Schinken, grüne und schwarze Oliven, Calamari mit ordentlich Öl und Knoblauch – Salamanca ist ein Ort der deftigen Sinnesfreuden. Hier, nicht unweit des Meeres, ist Fisch ebenso fixer Bestandteil der Cuisine wie Linseneintopf und Morcilla, die traditionelle Blutwurst, deren Geschmack man gegenüber nicht voreingenommen sein sollte. Nur als VegetarierIn hat man es schwer in Salamanca. Die Worte „ohne Fleisch“ klingen für viele Wirtsleute immer noch wie ein Fluch aus den Tagen, in denen Spanien arm und Fleisch ein seltenes Vergnügen war.
Heiß geliebt werden in Salamanca alle religiösen, und nicht ganz so religiösen, Feste und Feiertage. Während der Osterwoche tragen etwa Hermandades – Bruderschaften – überlebensgroße Heiligenstatuen durch die Stadt spazieren. Und praktisch das ganze Jahr über bieten eigene Herbergen Pilgern auf dem Jakobsweg nach Santiago de Compostella Unterkunft und Unterhaltung. Im September machen die Ferías y Fiestas die ganze Stadt zu einem Rummelplatz aus Punschhütten und Konzertbühnen. Mitte Dezember finden sich Studierende aus ganz Spanien zur noche vieja universitaria zusammen, einer Art vorgreifenden Silvesterfeier, bevor es über die Ferien heim zu den Eltern geht.

Zündstoff in Kneipen. Wie andere StudentInnenstädte ist Salamanca auch ein politisch heißes Pflaster. Ist der Alltag in der dicht bebauten Stadt an und für sich locker per Fußweg zu bewältigen, finden sich dennoch regelmäßig dutzende Fahrrad-Aficionados der Gruppe Critical Mass zusammen, um im Automobilnarrischen Spanien für einen umweltfreundlicheren Verkehr zu protestieren. Wundester Punkt der grünen AktivistInnen ist aber der Río Tormes, der durch Salamanca fließt. Der Fluss schäumt bei Hochwasser vor lauter Verschmutzung. Darin zu baden ist undenkbar.
Für viele einheimische Studierende bietet die Uni erstmals Raum, sich kritisch mit der Landesgeschichte zu beschäftigen. Nur eine knappe Autostunde südlich, am Weg nach Madrid, liegt im Tal der Gefallen (Valle de los caidos) das gigantomanische Mausoleum von Spaniens verstorbenem Diktator Francisco Franco. Die Zeit seiner Herrschaft (1939-1975) sorgt in Spanien noch immer für Zündstoff, auch in den Bars und Kneipen der Stadt. „Franco hat viel Gutes getan; er war einfach nur zu lange an der Macht“, sagt die 18-jährige Maturantin Pilar. „Er war ein brutaler Diktator, und dass ihm immer noch gehuldigt wird, ist ekelhaft“, kontert Jaíme, ein 23-jähriger Geschichtsstudent.
Der politische Kontext Spaniens ist ausländischen Studierenden in der Stadt jedoch oft nicht bewusst. „Ich habe gehört, dass es hier die beste Party in ganz Spanien gibt“, sagt Dirk, ein deutscher Erasmus-Student aus Wolfsburg. Wie er denken viele. Das Leben hier ist für viele aus dem Ausland billig und sorglos. „Duschen kannst du, wenn du tot bist“, steht auf Dirks T-Shirt. Er wird heute noch durch die Vergnügungsmeilen der Stadt ziehen. Für andere wirkt ein Jahr der durchgehenden Feiern ernüchternd. „Ein Semester hier hat für mich gereicht“, sagt Clara, Kunstgeschichte-Studentin aus Wien. „Nachher brauche ich ganz fix Urlaub vom Alkohol.“

 

STOP statt STEP?

  • 13.07.2012, 18:18

Zwei der drei Anträge auf Zugangsbeschränkungen nach §124b wurden nicht beschlossen, doch Ministerin Karl lässt nicht locker. Neues Projekt der Ministerin ist eine neue Studieneingangsphase, an deren Ende kräftig ausselektiert werden soll.

Zwei der drei Anträge auf Zugangsbeschränkungen nach §124b wurden nicht beschlossen, doch Ministerin Karl lässt nicht locker. Neues Projekt der Ministerin ist eine neue Studieneingangsphase, an deren Ende kräftig ausselektiert werden soll.

Die Anträge auf Zugangsbeschränkungen nach §124b für Architektur und die Wirtschaftsuniversität Wien wurden im Mai im MinisterInnenrat abgelehnt,  lediglich“ das Pubilizistik-Studium wird ab Herbst wieder beschränkt werden. Was für zukünftige Publizistik- StudentInnen eine massive Hürde bedeutet, ist Beatrix Karl noch lange nicht genug. Im Gegenteil, sie verbuchte die Ablehnung der restlichen Anträge als Niederlage und einigte sich dafür mit der Koalitionspartnerin auf eine Neugestaltung der Studieneingangsphase – die STEP soll zur Knock-Out-Phase werden. Eine Aktion der ÖH vor dem Bundeskanzleramt, eine Rektoratsbesetzung mit Kurzbesuch im Audimax und eine Besetzungs-Visite im BMWF waren die spontanen Reaktionen der Studierenden darauf, der Ausstieg der ÖH und der #unibrennt-Bewegung aus dem Hochschuldialog nur der nächste logische Schritt. 

Knock-Out. Trotz der vielen negativen Reaktionen lässt sich die Ministerin nicht beirren – erst kürzlich bestärkte sie ihre Forderungen nach Knock-Out-Phasen zu Studienbeginn bei einer Veranstaltung in Innsbruck. Die gewünschte „Qualität“ sei ohne Selektion nicht zu erreichen. Hier eine Gegenthese: Die gewünschte „Qualität“ der Studieneingangsphase lässt deutlich zu wünschen übrig, nicht die Fähigkeiten der StudienanfängerInnen!
Der Einstieg in die akademische Welt an sich fällt nicht leicht. Besonders an großen Universitäten und in großen Studienrichtungen ist der culture-clash zwischen schulischer Allround- Versorgung und universitärer Selbstständigkeit groß. Sich einen Stundenplan das erste Mal selbst zu erstellen, ist eine veritable Herausforderung – an der aber kaum eineR scheitert. Das zeigt die Studie über frühe StudienabbrecherInnen, die im letzten Jahr vom BMWF herausgegeben wurde: Das „System Universität“ habe nur 5,5 Prozent der AbbrecherInnen abgeschreckt, die wichtigsten Gründe für einen Abbruch sind nicht erfüllte Erwartungen an das Studium sowie Probleme mit der Vereinbarkeit von Studium und Erwerbsarbeit.
Ein ähnliches Bild zeigt der Projektbericht zum Studienwechsel, der ebenso vom BMWF in Auftrag gegeben wurde: 72 Prozent der Befragten wechselten ihr Studium, weil sie etwas anderes erwartet hatten oder sich die eigenen Interessen veränderten (62 Prozent). Die Gründe für den frühzeitigen Drop-Out können also nicht den neu gewonnenen Freiheiten, die ein Universitätsstudium mit sich bringt, zugeschanzt werden.
Dass Reformbedarf bei vielen Studieneingangsphasen besteht, leugnet niemand und wird auch durch die Empirie gezeigt. Problembearbeitung ist allerdings vorrangig in der größeren Durchlässigkeit zwischen Studienrichtungen angesagt – ein System, in dem ein Studienwechsel in den ersten beiden Semestern unproblematisch und ohne Zeitverlust vollzogen werden kann, wäre zumindest in verwandten Fachrichtungen dringend nötig. Das wäre zum Beispiel durch eine höhere Wahlfreiheit in der ersten Studienphase, in der Kurse aus verschiedenen Studienrichtungen belegt werden können, möglich. Auch die Studienwahl würde so erleichtert und verbessert, denn durch eine gute allgemeine Einführungsphase ins Fachgebiet erschließt sich erst die Vielfalt der Möglichkeiten.

Kerncurriculum. Einige Universitäten arbeiten bereits jetzt mit einem Kerncurriculum, das im ersten Studienjahr absolviert werden soll: Die Montanuniversität Leoben bietet ein gemeinsames erstes Studienjahr für neun Studienrichtungen an, die Studienwahlentscheidung zwischen den angebotenen Fächern verlagert sich also ein Jahr nach hinten. Ähnlich geht die Wirtschaftsuniversität Wien vor – diese Studieneingangsphase ist aber weniger für ihre Orientierung, sondern für ihre gnadenlose Selektion bekannt: Geschätzte 80 Prozent aller Studierenden an der WU werden hier rausgeprüft.
Es kommt also auf die Intention an, mit der Studieneingangsphasen umgesetzt werden: Sollen Studierende in die Hochschule integriert oder aus der Uni gedrängt werden? Karls Wünsche diesbezüglich sind eindeutig: Die Orientierung, die momentan laut Universitätsgesetz Ziel der Studieneingangsphase sein muss, soll der Selektion weichen. Am Ende der STEP soll es, wenn es nach der Ministerin geht, künftig Aufnahmeverfahren geben, deren Bestehen Voraussetzung für das weitere Studium sein soll – flächendeckende Zugangsbeschränkungen nach einem Jahr „Vorlaufzeit“ also.
Das Ziel, die AkademikerInnenquote zu erhöhen, wird damit freilich meilenweit verfehlt werden. Österreich hat nicht nur im OECDSchnitt zu wenige AbsolventInnen sondern auch weniger StudienanfängerInnen als die meisten Industriestaaten. Dass es für Volkswirtschaften wenig nachhaltigere Investitionsmöglichkeiten als Bildung gibt, ist ebenso Fakt. Ministerin Karl verschließt die Augen vor diesen Tatsachen – bleibt nur noch zu hoffen, dass „Spiegelministerin“ Claudia Schmied mehr Weitblick beweist und dem Beschränkungswahnsinn den gesellschaftlich notwendigen freien Bildungszugang entgegenhält. Wir Studierende werden uns in jedem Fall gegen die geplanten Schranken wehren.

 

Hörsaal statt Badestrand

  • 13.07.2012, 18:18

In den Sommerferien bieten viele Universitäten wieder geblockte Kompaktkurse an. Leicht verdiente ECTS-Punkte oder doch überforderndes Marathon-Pauken

In den Sommerferien bieten viele Universitäten wieder geblockte Kompaktkurse an. Leicht verdiente ECTS-Punkte oder doch überforderndes Marathon-Pauken

Drei Monate lang keinen Hörsaal betreten müssen: Ein Traum, der sich für prüfungsgeplagte Studierende alljährlich im Sommer erfüllt. Auch wenn die ein oder andere Seminararbeit noch zu schreiben ist, ein Ferialpraktikum ansteht oder der Nebenjob schon wartet – von Juli bis September stehen Urlaub und Entspannung im Vordergrund. Gänzlich vorlesungsfrei bleibt die so genannte vorlesungsfreie Zeit aber nicht: Viele Unis bieten in den Sommermonaten zusätzliche Kompaktkurse an.

Semesterstoff in drei Wochen. Das umfassendste Angebot steht den Studierenden der WU Wien offen. Im Rahmen der Sommeruni 2010 werden vom 30. August bis zum 25. September an die 30 geblockte Lehrveranstaltungen angeboten – hauptsächlich aus stark nachgefragten Bachelor-Studiengängen (das konkrete Programm stand zu Redaktionsschluss noch nicht fest). Im letzten Jahr war die Teilnahme an den Kompaktkursen mit insgesamt 2.900 Plätzen beschränkt – also durchschnittlich etwa 100 TeilnehmerInnen pro Kurs. Innerhalb von drei Wochen konnten Lernwillige etwa den Semesterstoff der Vorlesung „Europäisches und öffentliches Wirtschaftsrecht I“ erlernen und direkt im Anschluss die Prüfung absolvieren. Auch Lehrveranstaltungen für Erstsemestrige und Sprachkurse wurden angeboten. Dieses Jahr können sich Interessierte ab dem 16. August für einzelne Angebote anmelden.
Das Ziel der Sommeruni ist die „Flexibilisierung des Studiums“, wie die ÖH WU auf ihrer Webseite schreibt. Studierende sollen die Möglichkeit haben, einzelne Kurse in den Ferien nachzuholen und ihr Studium zu beschleunigen. „Hauptsächlich nutzen Höhersemestrige und erwerbstätige Studierende das Angebot“, sagt WU-Mitarbeiterin Katharina Steiner. Mithilfe der Kompaktkurse könnten Studium und Beruf leichter unter einen Hut gebracht werden.

Parallelveranstaltungen. Auch andere Universitäten bieten im Sommer geblockte Lehrveranstaltungen an, allerdings nicht in demselben Umfang wie die WU. Einzelne Studiengänge der Uni Wien halten Kompaktkurse für jene Lehrveranstaltungen ab, welche im Sommersemester besonders stark überlaufen waren. Studierende der Politikwissenschaft können zum Beispiel im September die Übung „Qualitative Methoden“ als Blocklehrveranstaltung besuchen. Für die Studiengänge haben die Kompaktkurse in den Ferien den Vorteil, dass damit für die nachfolgenden Semester Kapazitäten frei werden.
Auch an der Boku Wien finden im September einige Lehrveranstaltungen – wie zum Beispiel BWL – als „Parallelveranstaltungen“ statt, so Maria Schuster vom Zentrum für Lehre an der Boku. Diese geblockten Kurse stellen ein zusätzliches Angebot für die Studierenden dar. Aufgrund der „anwendungszentrierten Ausbildung“ würden auch einzelne Projekte der Studierenden über den Sommer weiterlaufen. Die TU Wien bietet in den Sommermonaten hingegen keine Kompaktkurse an. Die vorlesungsfreie Zeit werde hauptsächlich für die Forschung verwendet, sagt TU-Pressesprecher Herbert Kreuzeder, „wie man es an einer Forschungsuniversität eben erwartet.“ Studierende können etwa Praktika in Labors absolvieren.

Lerneffekte umstritten. Grundsätzlich bieten geblockte Sommerkurse den Vorteil, in relativ kurzer Zeit eine Lehrveranstaltung absolvieren zu können – und dafür die ECTSPunkte einzusacken. Auch erhalten jene Studierende eine zweite Chance, die während des Semesters keinen Seminarplatz ergattern konnten. Jedoch stellt sich die Frage, ob ein Kompaktkurs dieselbe Lernqualität bietet wie eine Lehrveranstaltung, die sich über ein ganzes Semester erstreckt. Generell wird angenommen, dass der Lerneffekt in einer geblockten Lehrveranstaltung höher sei. Eine Forschergruppe aus Leipzig kam in einer Studie 2007 hingegen zu dem Schluss, dass Blockveranstaltungen einem normalen Unterricht nicht überlegen sind. Schlussendlich muss jede Studentin und jeder Student für sich selbst entscheiden, wie sie oder er am besten lernen kann.

    

Buch-Rezension: "Kritik des Kapitalismus"

  • 13.07.2012, 18:18

Einen interessanten Versuch, die Wirtschaftskrise von linker Perspektive aufzuarbeiten, hat der Autor und freie Journalist Christian Stenner mit dem Buchprojekt Kritik des Kapitalismus – Gespräche über die Krise gewagt, welches von SPÖ-, Grünen- und KPÖ-Steiermark finanziert wurde.

Einen interessanten Versuch, die Wirtschaftskrise von linker Perspektive aufzuarbeiten, hat der Autor und freie Journalist Christian Stenner mit dem Buchprojekt Kritik des Kapitalismus – Gespräche über die Krise gewagt, welches von SPÖ-, Grünen- und KPÖ-Steiermark finanziert wurde. Ähnlich bunt gemischt, aber so bezeichnend wie die Zusammensetzung der Finanziers, sind auch die 15 linken ÖkonomInnen aus dem deutschsprachigen Raum, mit denen der Autor jeweils am Rande von Veranstaltungen Einzelinterviews geführt hat. Die Interviewten reichen von Margit Schratzenstaller (WIFO), über den bekannten deutschen Politökonomen Elmar Altvater, dem Austrokeynesianer Kurt W. Rothschild bis zu einigen MarxistInnen. Der einzige dünne rote Faden der sich auf den ersten Blick durch das Buch zieht, ist der interviewende Autor selbst. Auf den zweiten Blick wird aber klar, dass es sich bei dem Buch um einen Versuch handelt, die Linke auf einen groben Nenner, auf gemeinsame politische Strategien im Zuge der Wirtschaftskrise zu bringen. Eindeutig steht bei den Fragen des Autors nicht das Trennende, sondern das Verbindende, nicht das gegenseitige Ansudern, sondern das Erweitern im Vordergrund.
So ist beispielsweise ein Konsens der ÖkonomInnen, dass die expansive Niedrigzinspolitik und die hochriskanten Kreditvergaben der USA nur der Auslöser, nicht aber der tiefere Grund für die Finanzkrise sind. Das Problem ist nicht nur ein unregulierter Finanzmarkt, sondern die massive Umverteilung von den ArbeitnehmerInnen und Erwerbslosen hin zu den Vermögenden in den letzten 30 Jahren. Durch Standortkonkurrenz, Lohndumping, Privatisierung von Pensionen, Beitragssenkungen für Konzerne etc. wurden gewaltige Summen an Geld nicht mehr hauptsächlich konsumiert (wie noch in den 1970ern), sondern es wurde sukzessive damit spekuliert, da am Finanzmarkt mehr Gewinne zu machen waren als in der Realwirtschaft. Stephan Schulmeister vom Wirtschaftsforschungsinstitut sieht das Problem dieser Entwicklung darin, dass „je mehr Teilnehmer auf einem Markt spekulieren, desto stärker schwanken die Preise – und je stärker die Preise schwanken, desto mehr lässt sich auf diesem Markt verdienen.“ Immer mehr werden dadurch auch vermögende, „realwirtschaftliche“ Unternehmen gezwungen, mitzuwetten, um sich zum Beispiel gegen starke Kursschwankungen abzusichern – dadurch werden immer größere angehäufte Vermögen auf der Jagd nach Gewinnen in den Finanzsektor geworfen und somit in immer kürzeren Zeitabständen Blasen produziert: Dieser Teufelskreis ist der Grund der gegenwärtigen Krise. Eine gezielte und große Umverteilung von gesellschaftlichem Reichtum von „oben“ nach „unten“ ist für die ÖkonomInnen nicht nur moralisches Gebot, sondern muss die logische Antwort auf die Krise sein – ansonsten werden weitere folgen. Die momentane Politik wird aber von Joachim Becker (Uni Wien) eher als „restaurativ“ gewertet – speziell Europa versucht, ohne große Veränderungen den Zustand vor der Krise wiederherzustellen, pumpt frisches Geld in den Finanzmarkt und verteilt weiter in Richtung „oben“ um.
Im Buch werden auch Alternativen vorgestellt: Manche Vorschläge bleiben in der kurzfristigen Polit-Ebene (Finanzmarktregulierung, Vermögensbesteuerung, bis hin zum Umgang mit Staatsschulden und sinnvolleren Konjunkturprogrammen), andere Ideen skizzieren auch alternative Modelle des Wirtschaftens. Obwohl das Buch Kritik des Kapitalismus heißt, wird es diesem Anspruch auf seinen kurzen 192 Seiten kaum gerecht. Auch die Differenzen und Widersprüchlichkeiten der ÖkonomInnen hätten ehrlicher herausgearbeitet werden können. Im Großen und Ganzen aber ist das Buch angenehm verbindend und empfehlenswert.

Julian Schmid studiert Politikwissenschaft und Volkswirtschaft in Wien.

Kritik des Kapitalismus. Gespräche über die Krise, Herausgeber: Christian Stenner, Edition Linke Klassiker. 224 S., Promedia, Wien 2010.

Pflastersteine nach Athen tragen

  • 13.07.2012, 18:18

Hellas muss Milliarden an Euro sparen. PolitikerInnen kündigen die radikalsten Reformen der Geschichte der jungen Demokratie an. Das treibt die Massen auf die Straßen, schürt Widerstand und belebt Zivilcourage und Demokratiebewusstsein. Eine Reportage.

Hellas muss Milliarden an Euro sparen. PolitikerInnen kündigen die radikalsten Reformen der Geschichte der jungen Demokratie an. Das treibt die Massen auf die Straßen, schürt Widerstand und belebt Zivilcourage und Demokratiebewusstsein. Eine Reportage.

Ein Mann fuchtelt wütend mit den Händen in der Luft. Die Fotografin, gegen die die griechische Schreitirade gerichtet ist, zuckt mit den Schultern. „You are not in Barcelona!“, bricht es aus ihm heraus – und das obwohl die Linse der Kamera nicht einmal seinen Kopf im Focus hat. Für sie interessanter sind die schwarz vermummten Männer rund um ihn herum. Die schweren Gasmasken mit den rüsselartigen Schnauzen haben sie fest an die Köpfe geschnallt, die oft noch jungenhaft anmutenden Körper stecken in schwarzen Kapuzenpullovern. Von den mehreren hunderttausend Demonstrierenden, die an jenem fünften Mai durch die Innenstadt Athens mal singend, mal schreiend, mal still und leise marschieren, zählt nur ein Bruchteil zum gewaltbereiten Schwarzen Block. Dennoch scheinen tausende PolizistInnen – mit Schlagstock, Tränengas und Schockbomben bewaffnet, mit Gasmaske und Abwehrschild geschützt – an jenem schwülen Mittwochnachmittag nur wegen ihnen die Straßen zu säumen. Abwartend stehen sie da, beobachten wie sich die Massen vorbeischieben. Es ist ruhig solange sich nicht die Wut der Enttäuschten über die PolizistInnen ergießt. 

Die Ruhe vor dem Sturm ist laut. Wüste Beschimpfungen sind zu vernehmen, bis der erste zur Bierflasche greift und sie auf die PolizistInnen schleudert. Steine, so groß, dass sie gerade noch in eine Hand passen, folgen. Die Masse schiebt sich panikartig davon, manche flüchten durch die engen Gassen. Schaulustige stehen abseits, ziehen sich vorausahnend Stofffetzen vor Mund und Nase. Jeder weiß in diesem Moment, was als nächstes kommt. Ein Mann ganz in Schwarz schmeißt einen Molotowcocktail auf die in grün gekleideten Zielscheiben seiner Wut, Mülltonnen werden angezündet, die Polizei feuert Schockbomben und Tränengas. Es kracht, es knallt und zurrt. Ein stechender, juckender, lähmender Geruch liegt beißend in der Luft, dringt in das Gewand und reizt Tränendrüsen und Atemwege. Wer will und kann, der flüchtet. Andere sehen an jenem Tag wie eine Bank in Flammen aufgeht. Bei der größten Demonstration seit der Revolution vor 35 Jahren ersticken drei Bankangestellte hinter den gut verriegelten Eingangsbereichen, die die Banken in diesen Tagen vor Angriffen schützen sollten. Auch am nächsten Tag bleiben sie verriegelt. Schwarze Fahnen hängen an metallenen Rollläden.
Der Generalstreik in Athen ist die wütende Reaktion auf die rigorosen Sparmaßnahmen der griechischen Regierung. PensionistInnen und BeamtInnen werden bis zu einem Fünftel ihres Gehalts verlieren. In den kommenden Monaten soll eine Reform nach der anderen beschlossen werden. Das Pensionssystem und die Krankenkassen werden komplett umgestaltet, die Steuerbehörden neu aufgestellt, die Zahl der politischen VertreterInnen in den Regionen soll schrumpfen und die 10.000 staatlichen Kommissionen werden zusammengestrichen. 30 Milliarden Euro will die Regierung wegen der drohenden Staatspleite einsparen. Gleichzeitig bekommt Hellas in den kommenden drei Jahren von der EU und dem Internationalen Währungsfonds (IWF) Notkredite in Höhe von € 110 Milliarden. Wer Geld gibt, der bestimmt dieAuflagen, und  so dürfen die EU und der IWF all die Reformen überprüfen und, wenn sie es als notwendig empfinden, den Geldhahn abdrehen. Griechenland geht als erstes Land, das sich bevormunden lassen muss, in die Geschichte der Euro-Zone ein. 

Korruption und Vetternwirtschaft. Viele, die auf die Straße gingen, haben die Militärdiktatur in den späten 60er und frühen 70er Jahren miterlebt. Sie wollen sich nichts mehr diktieren lassen. „Get out IMF“ prangt in roter Schrift auf einem alten Bank-Gebäude am Syntagma- Platz. Manch einer spricht in diesen Tagen vom Austritt aus der EU. Nicht Vassilis P., der als Kellner in einem Restaurant am Fuße der Akropolis eine Gemüseplatte serviert. „Die Griechen sind Mitschuld an der Krise. Jahrzehntelang hat man durch Korruption und Vetternwirtschaft ganz gut vom System gelebt.“ Jene, die nicht in die Hand, die sie füttert, beißen wollen, beugen sich während der Demonstration neugierig über die hübschen Balkone am Syntagma-Platz, lassen sich die Haare schneiden in einem der vielen Friseursalons, die trotz Generalstreik in der Innenstadt regen Betrieb haben, oder sie schlürfen überhaupt in sicherer Entfernung ihren Cappuccino um € 4,50 am Kolonaki-Platz.
Rund € 30 Milliarden pro Jahr versickern in Griechenland in der Schattenwirtschaft. Die Regierung unter der Führung von Premierminister Giorgos Papandreou will nun den Steuersündern den Garaus machen. Geschehen soll dies etwa durch eine Überwachungstechnik aus Israel. tatt Quassam-Raketen im Gaza-Streifen sollen Satelliten über Griechenland nun die versteckte Swimmingpools und Luxuskarossen in Vorort-Villen ausfindig machen. Warum besteht ein Teil der GriechInnen aus korrupten SteuerhinterzieherInnen? Sie als geizig abzustempeln, wäre wahrlich zu einfach. Nein, das Problem ist strukturell: Es ist das fehlende Vertrauen in den Staat, das zur mangelnden Steuerehrlichkeit führt.
Seit dem Ende der Militärdiktatur 1974 teilen sich grob gesehen zwei große Parteien die Macht über Griechenland auf. Den Grundstock zur heutigen Staatsschuld legte die Regierung von Andreas Papandreou – Vater des heutigen Ministerpräsidenten – der aktuell regierenden Panhellenischen Sozialistischen Bewegung (PASOK). Er griff mit seiner populistischen usgabenpolitik in den 80er Jahren tief in die Staatskassen. Die meisten großen Ausgabenschübe gingen jedoch in der Vergangenheit auf das Konto der zweiten, großen Partei: Der konservativen Partei Neue Demokratie  (ND). Die Regierung unter Konstaninos Karamanlis, die im vergangen Jahr abgewählt wurde, ist für die Verdoppelung des Haushaltslochs verantwortlich. Jedoch ist die Schuldfrage nicht allein mit diesen zwei Parteien geklärt – das ganze politische Establishment hat dem traditionellen griechischen Usus gefrönt, denStaat als Beute zu betrachten und den öffentlichen Dienst vom Staatssekretär bis zur Putzfrau mit eigenen Leuten zu füllen.
Aus diesem Grund sind die Feindbilder der Demonstrierenden nicht primär die BesserwisserInnen innerhalb der EU oder des IMF, sondern die eigenen PolitikerInnen. Was die Menschen eint, ist ein Grundverständnis über die korrupte Elite. „So nicht!“, sagen viele, ballen die linke Hand zu einer Faust und strecken sie in die Höhe. Verkörpert wird der Feind durch die schwer bewaffneten PolizistInnen, die an allen Ecken und Enden für Zucht und Ordnung sorgen. Was in Österreich unvorstellbar wäre, passiert in Griechenland in sämtlichen Straßen, auch ohne Demonstration: Eine Frau kracht mit einer Horde von schwer bewaffneten PolizistInnen zusammen, die oft scheinbar grundlos das von vielen Studierenden und linksautonomen BewohnerInnen bevölkerte Viertel Exarchia belagern. Sie schreit und schimpft, stößt gegen das Schutzschild der ExekutivbeamtInnen. Es wird zurückgeschubst, ihr Geschrei wird lauter und in Bruchteilen von Sekunden stürmen zwei Dutzend ZivilistInnen auf die verlängerten Arme der Regierung zu. Zivilcourage ist in Griechenland dieser Tage kein abstrakter Begriff. 

Der Abend danach. Am Abend nach der Demonstration ist es ungewöhnlich ruhig in Exarchia. Wo sich sonst vor liebevollen Graffiti-beschmierten Häusern die junge Generation zum Biertrinken trifft, schleicht heute nur eine Katze über die glatten Pflastersteine. Bars, Restaurants, Shops – sie alle sind verriegelt. Mit den DemonstrantInnen ist auch das Leben von den Straßen abgezogen. Kaum ein Auto parkt anarchistisch am Straßenrand, die PolizistInnen sitzen angelehnt an das Gitter der Eingangspforten eines Supermarktes. Sie wirken erschöpft und gelangweilt. So manch einer spielt in diesen Leerlaufstunden mit dem Handy. Nicht weit von ihnen entfernt ist das Polytechnische Institut – einer der wenigen Rückzugsorte in Athen, wo seit Beginn der jungen Demokratie die Polizei keinen Zutritt hat. An der Straßenecke wurde im Dezember 2008 der 15-jährige Alexandros von einem Polizisten erschossen. Damals war viel von der Perspektivenlosigkeit der jungen Generation die Rede. Mittlerweile hat sich die Situation verschlimmert. Im Herbst 2009 war in Griechenland bereits jede vierte Person unter 24 Jahren ohne Job. Bald werden sich die Leute womöglich nicht mehr über die 700-Euro-Generation beklagen, die nicht gerecht bezahlt wird, sondern über die hoffnungslose Gegenwart ohne Beschäftigung. „Wer es sich leisten kann, der studiert im Ausland“, sagt die Journalistin Karolina T., „und kommt nicht mehr zurück.“ Die junge Griechin mit dem schwarzen Lockenkopf ging vor sechs Jahren zum Studieren nach London. Bis heute hat sie Rückkehrpläne, aber keine Möglichkeiten.
Neben Griechenland ist die Jugendarbeitslosigkeit auch in Italien und Spanien sehr hoch. Im März waren im krisengebeutelten Spanien bereits 41,3 Prozent der jungen Menschen ohne Arbeit. Auch hier ist die Tendenz steigend. Die Jugendarbeitslosigkeit ist eng mit der Krise verknüpft, die auch die mediterranen Staaten erfasst hat. Vor allem seit der Diskussion rund um den Rettungsschirm für Griechenland sind alte Stereotype und Vorurteile gegen die SüdländerInnen wieder am Köcheln. Faul und träge sollen sie sein, die Menschen in jenen Ländern, in denen viele so gerne ihre Sommerurlaube verbringen. Schon jetzt haben gehässige BritInnen die Abkürzung „Pigs“ für Portugal, Italien, Griechenland und Spanien erfunden. Vier Staaten, von denen befürchtet wird, dass die aktuelle Wirtschaftskrise sie wie zarte Grashalme in einem Sturm umknickt. Vielleicht waren die wütenden Worte „You are not in Barcelona!“ des griechischen Demonstranten unbewusst vorausahnend. Vielleicht gehen das nächste Mal hunderttausende SpanierInnen auf die Straßen. Zumindest für das Demokratiebewusstsein könnte das gut sein.

 

Wir leben in einem sehr, sehr konservativen Land

  • 13.07.2012, 18:18

Dafür, dass Nationalratspräsidentin Barbara Prammer das zweithöchste Amt der Republik ausübt, ist sie sehr unbekannt. Ein politisches Porträt einer stillen Kämpferin.

Dafür, dass Nationalratspräsidentin Barbara Prammer das zweithöchste Amt der Republik ausübt, ist sie sehr unbekannt. Ein politisches Porträt einer stillen Kämpferin.

„Es sind nicht alle 183 so, wie einige wenige sich ständig darstellen“, sagt Barbara Prammer über die Abgeordneten des Hauses, dessen Chefin sie ist, und es klingt fast ein wenig liebevoll. „Aber da gibt es natürlich schon enorme KandidatInnen. Die könnte ich jetzt namentlich aufzählen, tue ich aber nicht, weil das ohnedies alle wissen.“ Gemeint ist damit natürlich unter anderem der dritte Nationalratspräsident und Mitglied der schlagenden Burschenschaft Olympia, Martin Graf (FPÖ). Trotz wiederholter demokratiepolitisch inakzeptabler Taten und Aussagen seit seiner umstrittenen Wahl ins Präsidium (so lud er unter anderem den rechtsextremen Professor Walter Marinovic als Redner ins Parlament ein) blieben alle Anträge zu seiner Abwahl  ohne Erfolg. Die jüngste Debatte zur Abwahl von Nationalratspräsident Graf entwickelte sich letztendlich gar zu einer Farce über die Frage, von wem sich die bei einem Parlamentarier-Fußballturnier nicht anwesende Präsidentin Prammer vertreten hätte lassen dürfen, um Grußworte auszusprechen. Nach 14 Stunden wurde die Sitzung geschlossen, eine Einigung über die Frage der Präsidenten-Abwahl musste wieder einmal vertagt werden. 

Junge Mutter. Aber Barbara Prammer, die als Nationalratspräsidentin das zweithöchste Amt im Staate trägt, hat gelernt, geduldig zu sein. Gerade was jene Themen betrifft, die sie laut eigener Aussage seit Beginn ihrer Karriere in den Mittelpunkt gerückt hat: „Frauenthemen, Demokratieentwicklung, internationale Politik – die sprödesten Themen überhaupt.“ Was die Frauenthemen betrifft, bekommt Prammer schon früh in ihrem Leben persönliche Gründe, sich zu engagieren: Kurz nach der Matura wird sie schwanger und arbeitet daraufhin als alleinerziehende Mutter am Gemeindeamt ihrer Heimatgemeinde Ottnang in Oberösterreich. Als stellvertretende Amtsleiterin muss sie bei einer Gemeinderatssitzung Protokoll führen und wird dabei Zeugin ihrer eigenen Diskriminierung. Bei der Sitzung wird beschlossen, dass der Mann, der an Prammer eigentlich Teile seiner Kompetenzen hätte abgeben müssen, mit einer Sekretärin ausgestattet wird, während sie auf dem niedrigeren Level weiterarbeiten soll. „Das war eines der eindrucksvollsten Ereignisse meines Lebens“, sagt Prammer heute, und auch der Grund, warum sie zu studieren begonnen habe. „Weil ich mir damals gedacht habe: Es reicht mir. Ich mag so nicht mehr weitertun.“
Heute würden Frauen im Gegensatz zu ihrer Generation etwas älter werden, bis sie die ersten Diskriminierungserfahrungen machten. Allerdings sei der öffentliche Druck und auch der Druck „von einer sehr männlich orientierten Gesellschaft“ noch immer enorm. Darum fordert Prammer sowohl Frauenquoten als auch wieder mehr Kampagnen, denn „wir leben in einem sehr, sehr konservativen Land und es ist vieles in den Köpfen der Menschen noch nicht drinnen. Wenn ich immer noch höre, wie lange die Frauen zuhause bleiben müssen, weil sonst die Kinder missraten werden.“ Und verantwortlich und schuld wenn irgendwas schief geht seien sowieso nur die Frauen – „das ist ja alles zum wahnsinnig werden mittlerweile.“ 

Objektive Wahrheit? Bei diesen Worten wird Prammers Stimme laut und es ist spürbar, wie sehr ihr das Thema nahegeht. Zur Zeit des Frauenvolksbegehrens war Prammer selbst Frauenministerin unter Viktor Klima und musste miterleben, wie nach der schwarz-blauen Wende als eine der ersten Maßnahmen das Frauenministerium abgeschafft wurde. Dann nimmt sie sich aber wieder zurück. Sie hat ja mittlerweile auch einen anderen Job. Und in diesem hat Prammer genug zu tun: Am 30. Juni sollen die Klubs über eine Ausweitung der beruflichen Immunität von Abgeordneten abstimmen. Prammer setzt sich außerdem schon länger für eine Reform der Geschäftsordnung des Nationalrates bei Untersuchungsausschüssen ein. Nach deutschem Vorbild des sogenannten Organstreitverfahrens soll demnach die parlamentarische Minderheit von einem Viertel der Abgeordneten die Einsetzung eines Untersuchungsausschusses verlangen können. Auch wenn die Einzelheiten dieser Reform derzeit noch ausgehandelt werden müssen, soll sie im Sommer über die Bühne gehen. Ein weiterer ausstehender Punkt ist natürlich die anstehende Totalrenovierung des Parlaments, die nun effektiv erst 2013 begonnen werden kann. „Wer nicht gut plant, hat schlecht gebaut“, verteidigt Prammer den späten Baubeginn und weckt so einmal mehr den Eindruck, als gehöre es zu den höchsten Tugenden einer Nationalratspräsidentin, sich unermüdlich in Geduld zu üben.
Immerhin, in mehreren für sie wichtigen Punkten konnte Prammer seit ihrem Antritt bereits große Erfolge verbuchen. Erstens sei das Parlament „um ein vielfaches weiblicher geworden“, freut sich Prammer. Von zwei VizedirektorInnen sei jetzt eine eine Frau, von sieben Dienstleistenden seien drei Frauen und vier Männer, bei den Abteilungsleitungen sei man bei rund 40 Prozent angelangt. Eine zweite wichtige Änderung im Hohen Haus unter der Nationalratspräsidentin Prammer ist die Öffnung des Hauses für die Bevölkerung durch regelmäßige Veranstaltungen zu demokratiepolitischen Themen, Lesungen und Ähnlichem. Als ihr „neues Steckenpferd neben der Frauenpolitik“ bezeichnet Prammer die Demokratiebildung für den jüngeren Anteil der Bevölkerung. Im Parlament wird diese in Gestalt der 2007 von Prammer ins Leben gerufenen Demokratiewerkstatt verwirklicht (siehe S. 14), mit beinahe täglich stattfindenden Workshops für Kinder zu Demokratiepolitik und Medien. „Das, was wir den Kindern vermitteln müssen, ist, dass sie kritisch sind, dass sie alles kritisch hinterfragen.“ Während Prammer über dieses Thema spricht, kommt sie mehr und mehr in einen Redeschwall, der in scharfen Worten gipfelt: „Es gibt keine objektive Wahrheit in der Politik.“

 

Demokratie lernen

  • 13.07.2012, 18:18

Die Demokratiewerkstatt des Parlaments, initiiert von Nationalratspräsidentin Barbara Prammer, soll für Kinder und Jugendliche der Ort sein, wo sie Demokratie nicht nur kennenlernen sondern auch praktisch lernen können. Wie der Lernprozess angelegt ist, hat sich das PROGRESS genauer angesehen.

Die Demokratiewerkstatt des Parlaments, initiiert von Nationalratspräsidentin Barbara Prammer, soll für Kinder und Jugendliche der Ort sein, wo sie Demokratie nicht nur kennenlernen sondern auch praktisch lernen können. Wie der Lernprozess angelegt ist, hat sich das PROGRESS genauer angesehen.

Das ist der Anrufbeantworter des Parlaments: Ja hallo, eins möchte ich schon sagen: Jugendliche brauchen mehr Kontakt zu den Politikern, wie wär’s mit einer Diskussionsrunde?“ Mit diesen Worten beleben die Jugendlichen der P11-Klasse der Polytechnischen Schule im 15. Wiener Gemeindebezirk ihren selbst gemachten Radiobeitrag im Rahmen der Demokratiewerkstatt des Österreichischen Parlaments.
Die Demokratiewerkstatt wurde 2007 von Nationalratspräsidentin Barbara Prammer ins Leben gerufen. Sie ist eine Einrichtung zur Förderung von Demokratieverständnis und politischem Interesse für Kinder und Jugendliche und, laut Selbstdefinition, als „Werkstatt und Experimentierfeld mit unterschiedlichen Zugängen zu politischen Themen“ angelegt.
Ein Experimentierfeld sind Medien – wie das Radio – und Diskussionen mit PolitikerInnen: So führen etwa die SchülerInnen des Polytechnischen Lehrgangs ein Interview mit dem Nationalratsabgeordneten Kai Jan Krainer. Ihr Beitrag dreht sich um die Schnittstelle zwischen WählerInnen und PolitikerInnen – und den Stellenwert von Demokratie: Warum sollen wir wählen gehen? Was ist eine Demokratie, was ist eine Diktatur? Und wie funktioniert Mitbestimmung? Diese und andere Fragen diskutieren die Jugendlichen in ihrem Radiobeitrag. Ihr Resümee: „Wir haben nicht geglaubt, dass Politiker ganz normale Menschen sind so wie wir. Probier‘s auch.“

Auf den Spuren eines Gesetzes. Während die 15- bis 16-Jährigen in der Demokratiewerkstatt über ihr Wahlrecht diskutieren, verfolgen Sascha, Lukas, Elisa, Tamara und ihre KollegInnen aus der 4B-Klasse der Volksschule in Wien 14 den Weg eines Gesetzes: Im Parlament können die Kinder vor Ort sehen und erfassen, welche Stationen ein Gesetz durchlaufen muss. Auch sie stellen sich in ihrem Radiobeitrag die Frage: „Warum ist wählen wichtig?“ Ihre Antwort: „Weil man abstimmen kann und seine Meinung sagen kann. Wer nicht wählt, vergibt seine Stimme.“ Das Thema „wählen“ hat seit der Senkung des Wahlalters auf 16 Jahre an Bedeutung für Jugendliche gewonnen.

Mitbestimmung erleben. „Jede Schülerin und jeder Schüler soll in seiner oder ihrer Schullaufbahn zumindest einmal einen Workshop besucht haben“, sagt Nationalratspräsidentin Barbara Prammer über die Ziele der Demokratiewerkstatt. Die Workshops mit Titeln wie „Politische Werkstatt“ (Wie entsteht ein Gesetz?), „Partizipationswerkstatt“ (Wie funktioniert Meinungsbildung in einer Demokratie?) oder „Europawerkstatt“ (Die Aspekte der Europäischen Union) sind Montag bis Freitag für Schulklassen offen. An Samstagen können EinzelteilnehmerInnen die Demokratiewerkstatt erleben.
Der didaktische Ansatz der Demokratiewerkstatt definiert Selbsttätigkeit, persönliches Ziel, greifbares Ergebnis, Mitbestimmung und Erfolgserlebnis als die wichtigsten Elemente. „Bewusst selber machen schafft Bewusstsein, deshalb werden die Inhalte so aufbereitet, dass sie erlebbar werden. Am Ende der Workshops steht als Ziel immer ein persönliches Produkt (Zeitung, Radiosendung, Filmbeitrag, Archivbeitrag…)“, heißt es auf der Homepage des Parlaments. Die Ergebnisse stehen dann – wie die Radiobeiträge der SchülerInnen des Polytechnischen Lehrgangs und der 4B-Klasse – auf der Webseite zum Download zur Verfügung. „Diese greifbaren Ergebnisse unterstützen das Begreifen. Die Kinder und Jugendlichen haben in der Umsetzung ihrer Workshop- Ergebnisse die Wahlmöglichkeit zwischen verschiedenen Werkzeugen und Ausdrucksmitteln. Der Erfolg und das Erlebnis der gemeinsamen Arbeit und des gemeinsamen Erforschens stärkt die Identifikation durch das Erleben von Mitbestimmung“, so die Erklärung des pädagogischen Herangehens. 

Wen interessiert’s? Das Projekt findet Anklang: In den letzten zweieinhalb Jahren haben über 25.000 SchülerInnen die Demokratiewerkstatt besucht. Für Nationalratspräsidentin Barbara Prammer ist der Zenit des Projekts aber noch lange nicht erreicht: „Mein Ziel ist es, die Demokratiewerkstatt noch weiter auszubauen: Gemeinsam mit den SozialpartnerInnen wollen wir Möglichkeiten erarbeiten, wie Lehrlinge an der Demokratiewerkstatt im Rahmen ihrer Ausbildung teilnehmen können.“ Außerdem wünscht sich die Präsidentin die Ausweitung solcher oder ähnlicher Projekte auf die Landtage vor Ort. Dass ein Ausbau Erfolg haben kann, scheint vorprogrammiert – die Demokratiewerkstatt in Wien ist ausgelastet. LehrerInnen nutzen das Angebot für den Bereich politischer Bildung, denn die pädagogische Herangehensweise erfüllt das Ziel, möglichst abwechslungsreich den SchülerInnen nachhaltige Erfahrungen zu ermöglichen. Dennoch: Die Demokratiewerkstatt darf nur eine Ergänzung zur Politischen Bildung in der Schule sein – damit die politische Bildung im Schulbereich abzuhaken wäre fatal. Gerade wenn es um die Vorbereitung auf die Wahrnehmung des Wahlrechts mit 16 Jahren geht. Die Kinder und Jugendlichen erleben, dass wählen mehr ist, als nur ein Kreuz in der Wahlzelle zu machen: Es geht um Information, Meinungsbildung, Diskussion und Mitbestimmung. Sandra, Meli, Görkan und Ahmed aus der P11 sagen dazu: „Wir Jugendlichen finden, wir haben mehr Verantwortung verdient.“

 

Die Angst vor unserer Handlungsunfähigkeit

  • 13.07.2012, 18:18

Das vorliegende Heft ist ein Heft der Krise. Das war nicht geplant, ist aber offensichtlich.

Kommentar

Das vorliegende Heft ist ein Heft der Krise. Das war nicht geplant, ist aber offensichtlich: Christine Nöstlinger spricht im Cover-Interview über die Krise der SPÖ, Marion Bacher beschreibt in ihrer Reportage die Auswirkungen der Finanzkrise auf Griechenland, Anna Sawerthal umreißt in ihrem Beitrag die Krise der Mittelschicht und Heribert Prantl, einer der besten Leitartikler Deutschlands, veranschaulicht in seiner abgedruckten Rede die Krise von Journalismus und Pressefreiheit, die wiederum zu einer schweren Krise der Demokratie führen könnte.
Das beim Lesen der Geschichten entstehende Gefühl nimmt folgenden  Gedanken schon vorweg: Die beschriebenen Krisen sind allesamt keine isolierten Phänomene, sondern hängen miteinander zusammen. Es gibt zwischen ihnen eine Verbindung, die auf zwei Punkte heruntergebrochen werden kann: Angst und fehlender Glaube. Die Angst vor unserer eigenen scheinbaren Handlungsunfähigkeit. Und der fehlende Glaube in die Kraft unseres Handelns. In den vergangenen Jahrzehnten hat sich ein so bequemer wie gefährlicher Gedanke in vielen Köpfen breit gemacht. Dass der Zug der Geschichte seine Endstation erreicht habe, wurde allerorten gefaselt. Nicht zuletzt auch an den Universitäten. Dass wir uns nicht mehr um das politische Ganze kümmern müssten, wurde uns erzählt, sondern nur noch um unser eigenes, privates Wohlergehen.
Die Wirklichkeit sieht aber anders aus. Das so genannte Ende der Geschichte hat gerade um ein Haar Griechenland in den Bankrott getrieben; das Ende der Geschichte ist gerade dabei, Zeitungsredaktionen und die Pressefreiheit zu zerstören; das Ende der Geschichte macht sich gerade daran, blutig erkämpfte Werte und Tugenden zu vernichten.
Das Gerede vom Ende der Geschichte ist kein Ende der Geschichte, sondern der Versuch, den Menschen allenthalben einzureden, dass politisch und journalistisch integres Handeln sinn- und zwecklos wären.
Wenn JournalistInnen selbst nicht mehr an den Journalismus glauben, wer bewacht dann die Demokratie? Wenn sich die Mittelschicht aufgibt, wer trägt dann den demokratischen Staat? Wenn sozialdemokratische Parteien in handlungsunfähigkeit verharren, wer verhindert dann, dass die Massen zu den antidemokratischen Rechtsradikalen abwandern?

 

Das Reich der Mitte

  • 13.07.2012, 18:18

Der Mittelstand bröckelt. Das zeigen zahlreiche Erhebungen und Statistiken. Der Mittelstand selbst will davon nichts wissen, denn: Die Armen, das sind scheinbar immer die anderen.

Der Mittelstand bröckelt. Das zeigen zahlreiche Erhebungen und Statistiken. Der Mittelstand selbst will davon nichts wissen, denn: Die Armen, das sind scheinbar immer die anderen.

Wer ist in unserer Gesellschaft reich? Sind es die MillionärInnen mit der Villa im noblen Vorort? Oder sind es bereits die ArbeitnehmerInnen, die im Monat mehr als € 2.000 verdienen? Für manche beginnt Reichtum ab € 2.000 Nettoeinkommen, bei anderen liegt diese Grenze bei € 20.000. Wenn es um das Vermögen geht, dann gehen die Schätzungen noch weiter auseinander, so eine Statistik aus Deutschland. € 50.000 erachten manche als „reich“, bei anderen müssen schon mindestens zwei Millionen am Konto sein. Reichtum ist nicht objektiv, Fakt ist aber: Tendenziell setzen die BürgerInnen die Reichtumsgrenze immer etwas oberhalb von dem an, wo sie selbst stehen. Sie sind nicht reich, aber – und das ist der Trost – fast reich.
Somit empfindet sich eigentlich die gesamte Bevölkerung der Mittelschicht zugehörig. Von leitenden Angestellten bis hin zu Arbeitslosen sind alle nicht arm, nicht reich, sondern irgendwo dazwischen. In einer Studie wurden Deutsche gebeten, sich auf einer Skala von eins bis zehn einzutragen, wobei eins unten und zehn oben ist. Kurioserweise geben westdeutsche ManagerInnen durchschnittlich die Zahl 6,6 und ungelernte ArbeiterInnen die Zahl 4,6 auf der Skala an. Laut Selbstwahrnehmung gibt es die wirklich Armen und die wirklich Reichen nicht.
Das stimmt aber nicht. Auch wenn alle in die Mitte streben, hat diese reale Grenzen. Wer etwa mehr als 160 Prozent des Durchschnittsgehalts verdient, zählt zur Oberschicht, zur „Elite“. Wer nur 60 Prozent davon verdient, der gehört zur Unterschicht und ist somit armutsgefährdet. In Österreich liegt das Durchschnittsgehalt im Singlehaushalt momentan bei € 1.584 pro Monat. In Deutschland befinden sich 20 Prozent der Bevölkerung oberhalb und 25 Prozent unterhalb dieser Mittelschichtsgrenze. In den Köpfen der Bevölkerung allerdings leben wir in einer nivellierten Mittelstandsgesellschaft, die Klassengesellschaft ist passé.

Schön wär’s. Wenn die Vermögens- und Besitzstrukturen betrachtet werden, zeigt sich ein anderes Bild: In Österreich vereinen sich in den zehn reichsten Prozent der Bevölkerung 54 Prozent des Geldvermögens. Und jene zehn Prozent besitzen auch 71 Prozent aller Immobilien.
Wirklich problematisch ist diese Tatsache, weil sich die eigentliche Mittelschicht gerne den Eliten nahe fühlt, erklärt Ulrike Herrmann in ihrem Buch Hurra, wir dürfen zahlen. Dass die Mittelschicht sich als „fast reich“ empfindet, ist für die wirklich Reichen sehr praktisch. Denn es ist die große Masse der Mittelschicht, die bei Wahlen maßgeblich dafür verantwortlich ist, wer Politik machen darf. Wenn sie sich selbst als „Elite“ sieht, kann die Elite ihre Forderungen durchbringen – und das geschieht meist auf dem Rücken der Mittelschicht. „Die Elite muss die Mittelschicht zum Selbstbetrug animieren“, schreibt Herrmann. So lassen sich die WählerInnen der Mittelschicht einreden, dass Vermögens- oder auch Grundsteuern niedrig zu halten sind. GewinnerInnen sind vor allem die Angehörigen der Eliten.
Aber wenn jemand „fast reich“ ist, wie viel kann einen dann schon noch trennen von den oberen Zehntausend? Die Mittelschicht investiert Unsummen in die Bildung ihrer Kinder und schickt sie auf Privatschulen, während sie darauf vergisst, zu fordern, dass das öffentliche Schulsystem verbessert wird. Die Oberschicht suggeriert dem Volke tatsächlich, offen und zugänglich zu sein. Jemand müsse nur die gewisse Leistung, das gewisse Talent erbringen, um dort oben dazuzugehören. Tatsächlich sind diese Kreise aber nach unten quasi abgeschlossen, schreibt Herrmann. Die Eliten hätten es so wie der Adel perfektioniert, sich hermetisch abzuschließen und dabei ganz offen zu wirken.

Die geblendete Mitte. Realistischerweise bleiben die Schichten unter sich. Das ist schon aus soziologischen Gründen verständlich. Jedoch hält die Mittelschicht vehement an der Vorstellung fest, dass ihre Kinder mit der richtigen Leistung aufsteigen werden.
So lässt sich die Mittelschicht von der Oberschicht etwas vorgaukeln. Fürstin Gloria von Thurn und Taxis etwa tönte vor einigen Jahren in der Zeit: „Wir sind bei Gott nicht reich, wir sind absoluter Mittelstand“, während das Vermögen ihres Sohnes auf € 500 Millionen geschätzt wird. Quelle-Erbin Madeleine Schickedanz wiederum offenbarte in der Bild, dass sie sich kaum mehr leisten könne, mit ihrem Mann zum Italiener ums Eck essen zu gehen, obwohl sie in einem Schloss mit Kunstsammlung wohnt. Weitere Recherchen ergaben, dass sie wohl noch einige Millionen Euro besitzt.
Vielleicht nicht immer ganz so drastisch, aber die Reichen rechnen sich gerne arm. Oder zeigen sich als „einer von euch“, vor allem in der Politik. Vor zwei Monaten wurde in Österreich die Mittelstandsvereinigung Österreich gegründet. Es soll ein Forum sein, das sich für die Anliegen des Mittelstandes einsetzt. Was genau die sind, ist momentan noch nicht näher erörtert. Jedenfalls ist der Präsident der ehemalige ORF-Journalist Walter Sonnleitner.
Zum Vorstand gehören Menschen wie Ex-Billa-Chef Veit Schalle, der Banker Matthäus von Thun-Hohenstein, der Anwalt Alexander Scheer und Prinz Albert von Liechtenstein. Abgesehen davon, dass der Verein eine eindeutige BZÖ-Schlagseite hat, sind das alles nicht Herrschaften, die per Definition dem Mittelstand angehören.

Sozialschmarotzer. Während sich die Reichen also arm rechnen, werden die Armen wiederum gerne reich gerechnet. Sie werden gerne als Schmarotzer hingestellt, die ein nichtsnutziges Leben führen und die wahren LeistungsträgerInnen aussaugen. Es kommt somit zu einer totalen Verdrehung der Realitäten, die den Reichtum der Reichen fördert und die Armen ärmer macht und weiter an den Rand drängt.
Natürlich will sich die Mittelschicht von dieser verachteten Gruppe abgrenzen. Vor allem weil die Gefahr, tatsächlich abzusteigen, in den letzten Jahren gestiegen ist. Im Jahr 2000 zählten 49 Millionen der Deutschen zum Mittelstand, 2006 waren es nur noch 44 Millionen. Laut einem Rechnungshofbericht haben 2008 die ArbeitnehmerInnen der untersten zehn Prozent der Gesellschaft nur 88 Prozent von dem verdient, was sie 1998 bekamen. Dagegen haben die oberen zehn Prozent um 24 Prozent mehr verdient. 12,4 Prozent sind in Österreich armutsgefährdet, das sind ca. eine Million Menschen. „Die Angst kriecht langsam die Bürotürme hoch“, wird der Soziologe Stefan Hradil im Buch von Herrmann zitiert. Paradoxerweise fördert die große Masse genau deshalb die Wünsche der Eliten, denn: Die AbsteigerInnen, das sind die anderen.
 

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