Pflastersteine nach Athen tragen

  • 13.07.2012, 18:18

Hellas muss Milliarden an Euro sparen. PolitikerInnen kündigen die radikalsten Reformen der Geschichte der jungen Demokratie an. Das treibt die Massen auf die Straßen, schürt Widerstand und belebt Zivilcourage und Demokratiebewusstsein. Eine Reportage.

Hellas muss Milliarden an Euro sparen. PolitikerInnen kündigen die radikalsten Reformen der Geschichte der jungen Demokratie an. Das treibt die Massen auf die Straßen, schürt Widerstand und belebt Zivilcourage und Demokratiebewusstsein. Eine Reportage.

Ein Mann fuchtelt wütend mit den Händen in der Luft. Die Fotografin, gegen die die griechische Schreitirade gerichtet ist, zuckt mit den Schultern. „You are not in Barcelona!“, bricht es aus ihm heraus – und das obwohl die Linse der Kamera nicht einmal seinen Kopf im Focus hat. Für sie interessanter sind die schwarz vermummten Männer rund um ihn herum. Die schweren Gasmasken mit den rüsselartigen Schnauzen haben sie fest an die Köpfe geschnallt, die oft noch jungenhaft anmutenden Körper stecken in schwarzen Kapuzenpullovern. Von den mehreren hunderttausend Demonstrierenden, die an jenem fünften Mai durch die Innenstadt Athens mal singend, mal schreiend, mal still und leise marschieren, zählt nur ein Bruchteil zum gewaltbereiten Schwarzen Block. Dennoch scheinen tausende PolizistInnen – mit Schlagstock, Tränengas und Schockbomben bewaffnet, mit Gasmaske und Abwehrschild geschützt – an jenem schwülen Mittwochnachmittag nur wegen ihnen die Straßen zu säumen. Abwartend stehen sie da, beobachten wie sich die Massen vorbeischieben. Es ist ruhig solange sich nicht die Wut der Enttäuschten über die PolizistInnen ergießt. 

Die Ruhe vor dem Sturm ist laut. Wüste Beschimpfungen sind zu vernehmen, bis der erste zur Bierflasche greift und sie auf die PolizistInnen schleudert. Steine, so groß, dass sie gerade noch in eine Hand passen, folgen. Die Masse schiebt sich panikartig davon, manche flüchten durch die engen Gassen. Schaulustige stehen abseits, ziehen sich vorausahnend Stofffetzen vor Mund und Nase. Jeder weiß in diesem Moment, was als nächstes kommt. Ein Mann ganz in Schwarz schmeißt einen Molotowcocktail auf die in grün gekleideten Zielscheiben seiner Wut, Mülltonnen werden angezündet, die Polizei feuert Schockbomben und Tränengas. Es kracht, es knallt und zurrt. Ein stechender, juckender, lähmender Geruch liegt beißend in der Luft, dringt in das Gewand und reizt Tränendrüsen und Atemwege. Wer will und kann, der flüchtet. Andere sehen an jenem Tag wie eine Bank in Flammen aufgeht. Bei der größten Demonstration seit der Revolution vor 35 Jahren ersticken drei Bankangestellte hinter den gut verriegelten Eingangsbereichen, die die Banken in diesen Tagen vor Angriffen schützen sollten. Auch am nächsten Tag bleiben sie verriegelt. Schwarze Fahnen hängen an metallenen Rollläden.
Der Generalstreik in Athen ist die wütende Reaktion auf die rigorosen Sparmaßnahmen der griechischen Regierung. PensionistInnen und BeamtInnen werden bis zu einem Fünftel ihres Gehalts verlieren. In den kommenden Monaten soll eine Reform nach der anderen beschlossen werden. Das Pensionssystem und die Krankenkassen werden komplett umgestaltet, die Steuerbehörden neu aufgestellt, die Zahl der politischen VertreterInnen in den Regionen soll schrumpfen und die 10.000 staatlichen Kommissionen werden zusammengestrichen. 30 Milliarden Euro will die Regierung wegen der drohenden Staatspleite einsparen. Gleichzeitig bekommt Hellas in den kommenden drei Jahren von der EU und dem Internationalen Währungsfonds (IWF) Notkredite in Höhe von € 110 Milliarden. Wer Geld gibt, der bestimmt dieAuflagen, und  so dürfen die EU und der IWF all die Reformen überprüfen und, wenn sie es als notwendig empfinden, den Geldhahn abdrehen. Griechenland geht als erstes Land, das sich bevormunden lassen muss, in die Geschichte der Euro-Zone ein. 

Korruption und Vetternwirtschaft. Viele, die auf die Straße gingen, haben die Militärdiktatur in den späten 60er und frühen 70er Jahren miterlebt. Sie wollen sich nichts mehr diktieren lassen. „Get out IMF“ prangt in roter Schrift auf einem alten Bank-Gebäude am Syntagma- Platz. Manch einer spricht in diesen Tagen vom Austritt aus der EU. Nicht Vassilis P., der als Kellner in einem Restaurant am Fuße der Akropolis eine Gemüseplatte serviert. „Die Griechen sind Mitschuld an der Krise. Jahrzehntelang hat man durch Korruption und Vetternwirtschaft ganz gut vom System gelebt.“ Jene, die nicht in die Hand, die sie füttert, beißen wollen, beugen sich während der Demonstration neugierig über die hübschen Balkone am Syntagma-Platz, lassen sich die Haare schneiden in einem der vielen Friseursalons, die trotz Generalstreik in der Innenstadt regen Betrieb haben, oder sie schlürfen überhaupt in sicherer Entfernung ihren Cappuccino um € 4,50 am Kolonaki-Platz.
Rund € 30 Milliarden pro Jahr versickern in Griechenland in der Schattenwirtschaft. Die Regierung unter der Führung von Premierminister Giorgos Papandreou will nun den Steuersündern den Garaus machen. Geschehen soll dies etwa durch eine Überwachungstechnik aus Israel. tatt Quassam-Raketen im Gaza-Streifen sollen Satelliten über Griechenland nun die versteckte Swimmingpools und Luxuskarossen in Vorort-Villen ausfindig machen. Warum besteht ein Teil der GriechInnen aus korrupten SteuerhinterzieherInnen? Sie als geizig abzustempeln, wäre wahrlich zu einfach. Nein, das Problem ist strukturell: Es ist das fehlende Vertrauen in den Staat, das zur mangelnden Steuerehrlichkeit führt.
Seit dem Ende der Militärdiktatur 1974 teilen sich grob gesehen zwei große Parteien die Macht über Griechenland auf. Den Grundstock zur heutigen Staatsschuld legte die Regierung von Andreas Papandreou – Vater des heutigen Ministerpräsidenten – der aktuell regierenden Panhellenischen Sozialistischen Bewegung (PASOK). Er griff mit seiner populistischen usgabenpolitik in den 80er Jahren tief in die Staatskassen. Die meisten großen Ausgabenschübe gingen jedoch in der Vergangenheit auf das Konto der zweiten, großen Partei: Der konservativen Partei Neue Demokratie  (ND). Die Regierung unter Konstaninos Karamanlis, die im vergangen Jahr abgewählt wurde, ist für die Verdoppelung des Haushaltslochs verantwortlich. Jedoch ist die Schuldfrage nicht allein mit diesen zwei Parteien geklärt – das ganze politische Establishment hat dem traditionellen griechischen Usus gefrönt, denStaat als Beute zu betrachten und den öffentlichen Dienst vom Staatssekretär bis zur Putzfrau mit eigenen Leuten zu füllen.
Aus diesem Grund sind die Feindbilder der Demonstrierenden nicht primär die BesserwisserInnen innerhalb der EU oder des IMF, sondern die eigenen PolitikerInnen. Was die Menschen eint, ist ein Grundverständnis über die korrupte Elite. „So nicht!“, sagen viele, ballen die linke Hand zu einer Faust und strecken sie in die Höhe. Verkörpert wird der Feind durch die schwer bewaffneten PolizistInnen, die an allen Ecken und Enden für Zucht und Ordnung sorgen. Was in Österreich unvorstellbar wäre, passiert in Griechenland in sämtlichen Straßen, auch ohne Demonstration: Eine Frau kracht mit einer Horde von schwer bewaffneten PolizistInnen zusammen, die oft scheinbar grundlos das von vielen Studierenden und linksautonomen BewohnerInnen bevölkerte Viertel Exarchia belagern. Sie schreit und schimpft, stößt gegen das Schutzschild der ExekutivbeamtInnen. Es wird zurückgeschubst, ihr Geschrei wird lauter und in Bruchteilen von Sekunden stürmen zwei Dutzend ZivilistInnen auf die verlängerten Arme der Regierung zu. Zivilcourage ist in Griechenland dieser Tage kein abstrakter Begriff. 

Der Abend danach. Am Abend nach der Demonstration ist es ungewöhnlich ruhig in Exarchia. Wo sich sonst vor liebevollen Graffiti-beschmierten Häusern die junge Generation zum Biertrinken trifft, schleicht heute nur eine Katze über die glatten Pflastersteine. Bars, Restaurants, Shops – sie alle sind verriegelt. Mit den DemonstrantInnen ist auch das Leben von den Straßen abgezogen. Kaum ein Auto parkt anarchistisch am Straßenrand, die PolizistInnen sitzen angelehnt an das Gitter der Eingangspforten eines Supermarktes. Sie wirken erschöpft und gelangweilt. So manch einer spielt in diesen Leerlaufstunden mit dem Handy. Nicht weit von ihnen entfernt ist das Polytechnische Institut – einer der wenigen Rückzugsorte in Athen, wo seit Beginn der jungen Demokratie die Polizei keinen Zutritt hat. An der Straßenecke wurde im Dezember 2008 der 15-jährige Alexandros von einem Polizisten erschossen. Damals war viel von der Perspektivenlosigkeit der jungen Generation die Rede. Mittlerweile hat sich die Situation verschlimmert. Im Herbst 2009 war in Griechenland bereits jede vierte Person unter 24 Jahren ohne Job. Bald werden sich die Leute womöglich nicht mehr über die 700-Euro-Generation beklagen, die nicht gerecht bezahlt wird, sondern über die hoffnungslose Gegenwart ohne Beschäftigung. „Wer es sich leisten kann, der studiert im Ausland“, sagt die Journalistin Karolina T., „und kommt nicht mehr zurück.“ Die junge Griechin mit dem schwarzen Lockenkopf ging vor sechs Jahren zum Studieren nach London. Bis heute hat sie Rückkehrpläne, aber keine Möglichkeiten.
Neben Griechenland ist die Jugendarbeitslosigkeit auch in Italien und Spanien sehr hoch. Im März waren im krisengebeutelten Spanien bereits 41,3 Prozent der jungen Menschen ohne Arbeit. Auch hier ist die Tendenz steigend. Die Jugendarbeitslosigkeit ist eng mit der Krise verknüpft, die auch die mediterranen Staaten erfasst hat. Vor allem seit der Diskussion rund um den Rettungsschirm für Griechenland sind alte Stereotype und Vorurteile gegen die SüdländerInnen wieder am Köcheln. Faul und träge sollen sie sein, die Menschen in jenen Ländern, in denen viele so gerne ihre Sommerurlaube verbringen. Schon jetzt haben gehässige BritInnen die Abkürzung „Pigs“ für Portugal, Italien, Griechenland und Spanien erfunden. Vier Staaten, von denen befürchtet wird, dass die aktuelle Wirtschaftskrise sie wie zarte Grashalme in einem Sturm umknickt. Vielleicht waren die wütenden Worte „You are not in Barcelona!“ des griechischen Demonstranten unbewusst vorausahnend. Vielleicht gehen das nächste Mal hunderttausende SpanierInnen auf die Straßen. Zumindest für das Demokratiebewusstsein könnte das gut sein.

 

AutorInnen: Marion Bacher