Das Reich der Mitte

  • 13.07.2012, 18:18

Der Mittelstand bröckelt. Das zeigen zahlreiche Erhebungen und Statistiken. Der Mittelstand selbst will davon nichts wissen, denn: Die Armen, das sind scheinbar immer die anderen.

Der Mittelstand bröckelt. Das zeigen zahlreiche Erhebungen und Statistiken. Der Mittelstand selbst will davon nichts wissen, denn: Die Armen, das sind scheinbar immer die anderen.

Wer ist in unserer Gesellschaft reich? Sind es die MillionärInnen mit der Villa im noblen Vorort? Oder sind es bereits die ArbeitnehmerInnen, die im Monat mehr als € 2.000 verdienen? Für manche beginnt Reichtum ab € 2.000 Nettoeinkommen, bei anderen liegt diese Grenze bei € 20.000. Wenn es um das Vermögen geht, dann gehen die Schätzungen noch weiter auseinander, so eine Statistik aus Deutschland. € 50.000 erachten manche als „reich“, bei anderen müssen schon mindestens zwei Millionen am Konto sein. Reichtum ist nicht objektiv, Fakt ist aber: Tendenziell setzen die BürgerInnen die Reichtumsgrenze immer etwas oberhalb von dem an, wo sie selbst stehen. Sie sind nicht reich, aber – und das ist der Trost – fast reich.
Somit empfindet sich eigentlich die gesamte Bevölkerung der Mittelschicht zugehörig. Von leitenden Angestellten bis hin zu Arbeitslosen sind alle nicht arm, nicht reich, sondern irgendwo dazwischen. In einer Studie wurden Deutsche gebeten, sich auf einer Skala von eins bis zehn einzutragen, wobei eins unten und zehn oben ist. Kurioserweise geben westdeutsche ManagerInnen durchschnittlich die Zahl 6,6 und ungelernte ArbeiterInnen die Zahl 4,6 auf der Skala an. Laut Selbstwahrnehmung gibt es die wirklich Armen und die wirklich Reichen nicht.
Das stimmt aber nicht. Auch wenn alle in die Mitte streben, hat diese reale Grenzen. Wer etwa mehr als 160 Prozent des Durchschnittsgehalts verdient, zählt zur Oberschicht, zur „Elite“. Wer nur 60 Prozent davon verdient, der gehört zur Unterschicht und ist somit armutsgefährdet. In Österreich liegt das Durchschnittsgehalt im Singlehaushalt momentan bei € 1.584 pro Monat. In Deutschland befinden sich 20 Prozent der Bevölkerung oberhalb und 25 Prozent unterhalb dieser Mittelschichtsgrenze. In den Köpfen der Bevölkerung allerdings leben wir in einer nivellierten Mittelstandsgesellschaft, die Klassengesellschaft ist passé.

Schön wär’s. Wenn die Vermögens- und Besitzstrukturen betrachtet werden, zeigt sich ein anderes Bild: In Österreich vereinen sich in den zehn reichsten Prozent der Bevölkerung 54 Prozent des Geldvermögens. Und jene zehn Prozent besitzen auch 71 Prozent aller Immobilien.
Wirklich problematisch ist diese Tatsache, weil sich die eigentliche Mittelschicht gerne den Eliten nahe fühlt, erklärt Ulrike Herrmann in ihrem Buch Hurra, wir dürfen zahlen. Dass die Mittelschicht sich als „fast reich“ empfindet, ist für die wirklich Reichen sehr praktisch. Denn es ist die große Masse der Mittelschicht, die bei Wahlen maßgeblich dafür verantwortlich ist, wer Politik machen darf. Wenn sie sich selbst als „Elite“ sieht, kann die Elite ihre Forderungen durchbringen – und das geschieht meist auf dem Rücken der Mittelschicht. „Die Elite muss die Mittelschicht zum Selbstbetrug animieren“, schreibt Herrmann. So lassen sich die WählerInnen der Mittelschicht einreden, dass Vermögens- oder auch Grundsteuern niedrig zu halten sind. GewinnerInnen sind vor allem die Angehörigen der Eliten.
Aber wenn jemand „fast reich“ ist, wie viel kann einen dann schon noch trennen von den oberen Zehntausend? Die Mittelschicht investiert Unsummen in die Bildung ihrer Kinder und schickt sie auf Privatschulen, während sie darauf vergisst, zu fordern, dass das öffentliche Schulsystem verbessert wird. Die Oberschicht suggeriert dem Volke tatsächlich, offen und zugänglich zu sein. Jemand müsse nur die gewisse Leistung, das gewisse Talent erbringen, um dort oben dazuzugehören. Tatsächlich sind diese Kreise aber nach unten quasi abgeschlossen, schreibt Herrmann. Die Eliten hätten es so wie der Adel perfektioniert, sich hermetisch abzuschließen und dabei ganz offen zu wirken.

Die geblendete Mitte. Realistischerweise bleiben die Schichten unter sich. Das ist schon aus soziologischen Gründen verständlich. Jedoch hält die Mittelschicht vehement an der Vorstellung fest, dass ihre Kinder mit der richtigen Leistung aufsteigen werden.
So lässt sich die Mittelschicht von der Oberschicht etwas vorgaukeln. Fürstin Gloria von Thurn und Taxis etwa tönte vor einigen Jahren in der Zeit: „Wir sind bei Gott nicht reich, wir sind absoluter Mittelstand“, während das Vermögen ihres Sohnes auf € 500 Millionen geschätzt wird. Quelle-Erbin Madeleine Schickedanz wiederum offenbarte in der Bild, dass sie sich kaum mehr leisten könne, mit ihrem Mann zum Italiener ums Eck essen zu gehen, obwohl sie in einem Schloss mit Kunstsammlung wohnt. Weitere Recherchen ergaben, dass sie wohl noch einige Millionen Euro besitzt.
Vielleicht nicht immer ganz so drastisch, aber die Reichen rechnen sich gerne arm. Oder zeigen sich als „einer von euch“, vor allem in der Politik. Vor zwei Monaten wurde in Österreich die Mittelstandsvereinigung Österreich gegründet. Es soll ein Forum sein, das sich für die Anliegen des Mittelstandes einsetzt. Was genau die sind, ist momentan noch nicht näher erörtert. Jedenfalls ist der Präsident der ehemalige ORF-Journalist Walter Sonnleitner.
Zum Vorstand gehören Menschen wie Ex-Billa-Chef Veit Schalle, der Banker Matthäus von Thun-Hohenstein, der Anwalt Alexander Scheer und Prinz Albert von Liechtenstein. Abgesehen davon, dass der Verein eine eindeutige BZÖ-Schlagseite hat, sind das alles nicht Herrschaften, die per Definition dem Mittelstand angehören.

Sozialschmarotzer. Während sich die Reichen also arm rechnen, werden die Armen wiederum gerne reich gerechnet. Sie werden gerne als Schmarotzer hingestellt, die ein nichtsnutziges Leben führen und die wahren LeistungsträgerInnen aussaugen. Es kommt somit zu einer totalen Verdrehung der Realitäten, die den Reichtum der Reichen fördert und die Armen ärmer macht und weiter an den Rand drängt.
Natürlich will sich die Mittelschicht von dieser verachteten Gruppe abgrenzen. Vor allem weil die Gefahr, tatsächlich abzusteigen, in den letzten Jahren gestiegen ist. Im Jahr 2000 zählten 49 Millionen der Deutschen zum Mittelstand, 2006 waren es nur noch 44 Millionen. Laut einem Rechnungshofbericht haben 2008 die ArbeitnehmerInnen der untersten zehn Prozent der Gesellschaft nur 88 Prozent von dem verdient, was sie 1998 bekamen. Dagegen haben die oberen zehn Prozent um 24 Prozent mehr verdient. 12,4 Prozent sind in Österreich armutsgefährdet, das sind ca. eine Million Menschen. „Die Angst kriecht langsam die Bürotürme hoch“, wird der Soziologe Stefan Hradil im Buch von Herrmann zitiert. Paradoxerweise fördert die große Masse genau deshalb die Wünsche der Eliten, denn: Die AbsteigerInnen, das sind die anderen.
 

AutorInnen: Anna Sawerthal