Februar 2015

Studieren ohne doppelten Boden

  • 05.02.2015, 08:00

Für Menschen, die während des Studiums nicht auf familiären Rückhalt zählen können, ist der Weg durch die Uni besonders hürdenreich.

Für Menschen, die während des Studiums nicht auf familiären Rückhalt zählen können, ist der Weg durch die Uni besonders hürdenreich.

Sogenannte „Care Leaver“ sind Menschen, die die stationäre Jugendhilfe oder eine Pflegefamilie verlassen haben und meist im Alter von 18 Jahren selbständig ihr Leben bewältigen müssen. Also: ehemalige Heimkinder, ehemalige Pflegekinder und solche, die im Betreuten Wohnen unterkamen. Care Leaver sind in unserer Gesellschaft mit Problemen konfrontiert, die bisher wenig Aufmerksamkeit bekommen. Viele von ihnen kommen aus zerrütteten Familienverhältnissen. Umso mehr benötigen sie deshalb die Versicherung, dass sie Verlusterfahrungen und Existenzängste nicht erneut durchleben müssen. Das abrupte Ende der Jugendhilfe bei Erreichen der Volljährigkeit führt allerdings oft genau dazu. Denn während im europäischen Durchschnitt die meisten jungen Erwachsenen bis 25, wenn nicht bis 27 Jahre, bei ihren Eltern wohnen bleiben – in Österreich sind es durchschnittlich 24,6 Jahre – und so nach und nach in die Selbstständigkeit hineinwachsen können, endet für einen Großteil der Care Leaver die Versorgung durch die Jugendhilfe bereits an ihrem 18. Geburtstag.

JUGEND DER ARMUT. Die Jahre zwischen 18 und 25 werden in der Pädagogik nicht umsonst nicht mehr als bloße Verlängerung der Jugend erachtet, sondern vielmehr als eine Lebensphase, die für sich steht: die der „jungen Erwachsenen“, auch als „Emerging Adulthood“ bezeichnet. Diese Lebensphase spielt sich nicht außerhalb sozioökonomischer Kontexte ab, sondern bettet sich in eine Realität der steigenden Jugendarmut ein. Zu diesem Schluss kam die in Deutschland ansässige Arbeitsgemeinschaft für Kinder- und Jugendhilfe (AGJ). 20- bis 25-jährige gehören heutzutage zu den ärmsten Altersgruppen. Viele von ihnen leben aus diesem Grund noch bei den Eltern. Sie haben Jobs, die nicht in dauerhafte Anstellungen münden, beispielsweise in Leiharbeitsverhältnissen. Care Leaver trifft das besonders hart, weil sie sich der prekären Situation junger Erwachsener ohne familiären Rückhalt stellen müssen. Die Gefahr von Arbeits- und Wohnungslosigkeit ist für sie besonders hoch, die Bildungsaussichten sind gering. In Deutschland erreicht nur ein Prozent der Care Leaver den Hochschulsektor. Fehlende Ressourcen und fehlende persönliche Betreuung durchvertraute Ansprechpartner*innen sind dabei zentrale Hindernisse.

Wie die Internationale Arbeitsgemeinschaft für Jugendfragen (IAGJ) beschreibt, wurden Ende 2013 in Österreich 11.913 Kinder, Jugendliche und junge Erwachsene in der Kinder- und Jugendhilfe stationär betreut, 1.066 von ihnen waren im Alter zwischen 18 und 21 Jahren. Zu den Hauptgründen der Unterbringung zählen die Gefährdung des Kindeswohls im Elternhaus sowie die dort fehlende Erziehungskompetenz. Die Jugendhilfe wird nur in Ausnahmefällen bis zum 21. Geburtstag verlängert und die betroffene Person muss auf jeden Fall zustimmen. In manchen Fällen sind es auch das Jugendamt oder andere Organisationen, die bestimmte junge Erwachsene nicht weiter betreuen wollen.

Während es in England und Australien bereits Möglichkeiten der Vernetzung für Care Leaver gibt, ist in Österreich bisher noch kaum etwas zu dem Thema zu hören. In Deutschland hat sich an der Universität Hildesheim eine Forschungsgruppe gebildet, die Angebote für studierende Care Leaver untersucht. Aus dieser Arbeit entwickelte sich auch ein Netzwerk für betroffene Care Leaver, die studieren. Sie organisieren gemeinsame Treffen und sind online auf Facebook und in einem eigenen Forum zu finden. Kürzlich haben sie auch einen Verein gegründet: Careleaver e.V.

EMOTIONALE VERSORGUNG. Die Hürden, die ehemalige Heim- und Pflegekinder auf dem Weg zum Studium überwinden müssen, sind besonders hoch, denn vor dem Studium müssen einige grundlegende Fragen wie die Finanzierung oder die Wohnsituation geklärt werden.

Studierende mit Familie haben oft die Option, bei der Familie wohnen zu bleiben, wenn sie in der Nähe studieren. Sie sparen damit einen Teil der Lebenshaltungskosten und bleiben zugleich in einer ihnen vertrauten Umgebung. Dadurch erleben sie nicht das entwurzelnde Moment, gleich mehrere lebensumwälzende Veränderungen auf einmal zudurchlaufen. Sollte es nach Studienbeginn doch noch zu dem Umzugswunsch kommen, können junge Menschen mit familiärem Rückhalt in aller Ruhe nach einem Zimmer Ausschau halten, ohne Angst haben zu müssen, auf der Straße zu landen. Bei der WG- oder Wohnungssuche sind die finanziellen Mittel die schwerwiegendsten Hindernisse: Viele Vermieter*innen fordern eine Kaution, die in Österreich drei Mal die Höhe der Monatsmiete betragen kann. Ein weiteres Fallbeil sind die Bürgschaften: Viele Eltern versichern, dass sie die Miete zahlen, sollte es einen finanziellen Ausfall von Seiten ihres Kindes geben. Care Leaver, die ihre Situation erklären, werden hingegen oft mit einem „Pech gehabt“ abgefertigt. Damit fallen viele Wohnmöglichkeiten weg. Oftmals bleibt nichts anderes übrig, als eine Untermiete einzugehen, was die meisten Care Leaver aber immer in größere Abhängigkeit zu den Hauptmieter*innen stellt.

Sollten sie umziehen, bekommen viele Studierende meist Unterstützung von der Familie: vom Ausdiskutieren, ob die Wohnung mit Schimmelbefall lieber links liegen gelassen und doch lieber das Studierendenwohnheim bevorzugt wird bis hin zur Besorgung des Umzugswagens. Die Tücken des Mietvertrags können in der Familie durchdiskutiert werden. Auch das soziale Netz ist meistens größer und damit auch die Wahrscheinlichkeit, dass immer irgendwer jemanden kennt, der*die gerade eine Wohnung verlässt oder ein Zimmer anbietet. Auch besteht die Möglichkeit, vertraute Gegenstände mitzunehmen, was wiederum kostensparend sein kann: Viele Care Leaver müssen sich von Grund auf neu einrichten und gleichzeitig vieles im Heim zurücklassen, was ihnen lieb geworden ist.

STUDIENBEIHILFE? NUR MIT ELTERN. Auch die Beantragung der Studienbeihilfe kann zum großen Problem werden. Für die Ausfüllung der Dokumente benötigt es nämlich weiterhin die Eltern, zu denen viele Care Leaver keinen Kontakt haben und die sich sehr oft auch nicht verantwortlich sehen. Eine Ausnahme bildet das Selbsterhalter*innenstipendium: Es gilt für alle, die durchgehend vier Jahre vor Studiumsbeginn Lohn bezogen haben. Für die anderen bedeutet das: Wenn bis zum 18. Geburtstag die Jugendhilfe zuständig war und dann plötzlich trotz Volljährigkeit wieder die häufig entfremdeten Eltern angeschrieben werden müssen, geschieht es nicht selten, dass Care Leaver monatelang auf Antworten warten müssen, weil die Ursprungsfamilie entweder überfordert ist oder ihrer Verantwortung einfach nicht nachgehen will oder kann. Es ist nicht klar, wie mit solchen Fällen umgegangen wird. Oftmals kommt es dabei auf die Nachsicht oder auch Willkür einzelner Beamt*innen an, die mit solchen Fällen konfrontiert werden. Nichtsdestotrotz führt so eine Situation fast immer mindestens zu einer verzögerten Auszahlung der Studienbeihilfe, was für die betroffenen Care Leaver oft Schulden und in einigen Fällen auch den Verlust ihres Wohnsitzes bedeutet.

Menschen, die eine Familie haben, erleben oft Rückhalt, sollte etwas nicht ganz nach Plan verlaufen. Sei es für ein Wochenende, an dem eins sich wieder bei Mama und Papa beziehungsweise Mama und Mama oder Papa und Papa einfindet und beim gemeinsamen Brunch mit ihnen über nervende Vermieter*innen klagt, sich mit ihnen gemeinsam über die viel zu hohen Heizungskosten wundert oder einfach nur mal anruft. Selbst wenn das Verhältnis nicht zum Besten steht, ein Bett oder ein warmes Abendessen helfen schon über manche Hürde. Care Leaver haben diesen „doppelten Boden“ in vielen Fällen nicht.

STIGMA UND AUFSTEIGER*INNENMYTHOS. Care Leaver müssen mit unterschiedlichen Dynamiken kämpfen: einerseits die eigene Biografie, in der physische und emotionale Gewalt und Vernachlässigung oft eine Rolle spielen. Dafür benötigen sie Unterstützung durch Beratung und/oder therapeutische Behandlung, die auf ihre Verhältnisse abgestimmt sein müssen und sie dort abholen, wo sie stehen. Anderseits erleben sie Stigmatisierung aufgrund ihrer Vergangenheit als Heimkinder oder Pflegekinder. Diese führt nicht selten bereits in der Schule zu Mobbing- und Ausschlusserfahrungen. Care Leaver sind dadurch in Gefahr, erneut in manipulative und emotional gewaltvolle Beziehungen zu Menschenzu geraten. Manche verheimlichen ihre Vergangenheit, um solche Situationen zu verhindern. Das führt allerdings nicht selten zu Isolation und erschwert die Anbindung an andere Menschen.

Gerade auch in der Umgebung der Hochschule, wo ein Großteil der Leute aus Akademiker*innenfamilien stammt und sich mit großer Selbstverständlichkeit dort bewegt, weil bereits die eigenen Eltern die Umgangsformen dieses Milieus verinnerlicht haben, erleben Care Leaver ähnliche Ausschlüsse wie etwa Studierende aus der Arbeiter*innenklasse. Die Kehrseite dieser Ausschlüsse ist die Romantisierung einer solchen Vergangenheit, gerade auch im Hochschulsektor. Care Leaver, die „es geschafft haben“, die „es allen gezeigt haben“, müssen als Beispiele für den Aufstiegstraum herhalten. Das vermittelt die Idee, dass der Wert eines Menschen daran gebunden ist, ob er*sie den sozialen Aufstieg geschafft hat. Eine solche Perspektive individualisiert soziale Probleme und überlässt dem*der Einzelnen die Mehr-Arbeit, die eigentlich auf strukturelle Probleme innerhalb einer Gesellschaft zurückzuführen sind, mit denen wir niemanden alleine lassen sollten.

Care Leaver benötigen ausreichende Beratung für die Zeit nach der Jugendhilfe, persönliche Betreuung durch Menschen, die sie selbst auswählen können und die ein fester Bezugspunkt bleiben in den ganzen umwälzenden Ereignissen im Leben der jungen Erwachsenen. Sie brauchen klare Bedingungen, die die Schwierigkeiten ihrer Situation anerkennen, in den Behörden, Ämtern und gerade auch an den Hochschulen. Und darüber hinaus brauchen sie das Zugeständnis, wie alle anderen jungen Erwachsenen Fehler machen zu dürfen, zu lernen, sich weiterzuentwickeln und neue Wege zu gehen.

 

Tuba Alacalı studiert Latein und Bibliotheks- und Informationswissenschaften in Berlin.

Remember, remember

  • 04.02.2015, 18:04

6 mal unnützes Wissen, dass euch sofort wieder entrinnen wird.

6 mal unnützes Wissen, dass euch sofort wieder entrinnen wird.

Aller Tage Tag
„Internationale Tage“ von Zeug werden meist von NGOs oder Interessensgemeinschaften ausgerufen, um ein Thema medial präsenter zu machen und Aktionen zu bündeln. Der erste internationale Tag war der 1. Mai, der 1889 vom Gründungskongress der Zweiten Internationalen als „Kampftag der Arbeiterbewegung“ ausgerufen wurde. Zwei Jahre zuvor hatten Sprecher*innen der Plansprache mit etwas weniger Medieninteresse den Esperanto-Tag (26. Juli) eingeführt. Mit dem Weltfrauentag, 1910 von der deutschen Sozialistin Clara Zetkin initiiert, erfolgte der Durchbruch der Praxis der Welttagsausrufung. Heute gibt es mindestens 241 internationale Tage für dieses und jenes (wandelnde Gedenktage à la „zweiter Montag im Monat“ nicht eingerechnet), die meisten im Oktober (36) und April (32). Ein paar Schmankerl unter den Gedenk- und Aktionstagen: Tag der Blockflöte (10. Jänner), Weltkatzentag (8. August), Anti-Diät-Tag (6. Mai), Weltfernsehtag (21. November)

Erinnerungskultur, Österreich Edition
Über die Anzahl der Denkmalschändungen in Österreich führt die Polizei keine eigene Statistik – diese laufen gemeinhin unter Sachbeschädigung. 2014 allerdings gab es viele Nachrichten über Schmierereien oder Zerstörung von Denkmälern in Österreich. Insbesondere betroffen waren jene für die Opfer des Nationalsozialismus, vor allem in Salzburg. Seit 2007 werden dort alle paar Monate Stolpersteine mit den Namen deportierter und ermordeter Juden und Jüdinnen ausgegraben, verlegt oder unkenntlich gemacht; im Mai 2014 wurde das gläserne Mahnmal für Euthanasie-Opfer des Nationalsozialismus mit einem spitzen Gegenstand zerbrochen. Zuvor waren in der Mauthausen-Gedenkstätte in Oberösterreich (neuerlich) rassistische Schmierereien aufgetaucht.

Die Fälscher*innen
Habe ich das wirklich so erlebt oder bilde ich mir das ein? Kann ich mich daran echt erinnern oder hat mir das nur jemand sehr bildhaft erzählt? Zum Beispiel bei frühen Kindheitserinnerungen kann eins sich da nicht immer hundertprozentig sicher sein. In der Gedächtnisforschung heißt der Vorgang einer retroaktiven künstlichen Erlebnisprotokollproduktion „Erinnerungs(ver)fälschung“. Die falsche Erinnerung unterscheidet sich von der Lüge dadurch, dass die Betroffenen ihre eigenen Aussagen tatsächlich für wahr halten. Einfache psychologische Experimente deuten darauf hin, dass es möglich ist, Menschen durch Suggestion und lebhaftes Erzählen falsche Erinnerungen „einzupflanzen“ – zum Beispiel, dass sie sich als Kind im Einkaufszentrum verlaufen hätten oder in Disneyland auf Bugs Bunny getroffen seien, obwohl der dort als Warner Brothers-Charakter Hausverbot hat.

Denkzettel
Die Erfindung des Post-Its geht auf einen glücklichen Fehler zurück: Als der Wissenschaftler Spencer Silver 1968 für die US-amerikanische Firma 3M einen superstarken Kleber erfinden hätte sollen, gelang ihm lediglich ein etwas enttäuschender, leichter, druckempfindlicher Klebstoff. Lange blieb diese Erfindung als „Lösung ohne Problem“ in der Firma unbeachtet – bis Silvers Kollege Art Fry 1974 in einem Seminar auf die Idee kam, sein Lesezeichen mit eben diesem Kleber im Gesangsbuch festzumachen. Das Post-It war geboren; ab den 80ern eroberte es Büroräume und Federpennale auf der ganzen Welt. Auch im Zeitalter der Digitalisierung hält sich das Post-It in seinem charakteristischen Gelb etwa in Form von Desktop-Erinnerungen. Auch aus Kunst (für großflächige Collagen) und Politik (in Form von an Wände geklebten Protest-Forderungen) sind die kleinen Notizzettelchen nicht mehr wegzudenken.

Myosotis secunda
Das Vergissmeinnicht ist eigentlich eine ganze Pflanzengattung in der Familie der Raublattgewächse, die in Europa, Asien, Afrika, Australien und Nordamerika verbreitet ist. Der deutsche Name „Vergissmeinnicht“ tritt zum ersten Mal im 15. Jahrhundert auf. Der Grund für die Namensgebung ist allerdings nicht endgültig geklärt. Einer Legende nach soll das leer ausgegangene, unscheinbare Blümchen Gott bei der Namens- oder Farbgebung zugerufen haben, es nicht zu vergessen. Andere Quellen sprechen davon, dass das blaue Vergissmeinnicht im Mittelalter unter Liebenden ein Symbol der Treue gewesen sein soll und sein Name daher kommt. Spannend ist jedenfalls der ungebrochene Namenstransfer in viele verschiedene Sprachen: forget-me-not, ne m’oubliez pas, neforgesumino, unutmabeni, ワスレナグサ…

LOL, der Tod
Tipp für den nächsten Tirolurlaub: Der „lustige Friedhof“ im Unterinntal (offiziell „Museumsfriedhof Kramsach“) ist eine ganz besondere Sehenswürdigkeit. Hans Guggenberger, Besitzer der Schmiede, hinter der sich der lustige Friedhof befindet, hat unzählige Grabsteine und -kreuze zusammengetragen – mit teilweise dreisten und einzigartigen Inschriften: „Hier liegt die Jungfer Rosalind/geboren als unerwünschtes Kind/ihr unbekannter Vater/war Kapuziner- Pater“. Laut Angaben des Kurators ist seine die größte Grabkreuzsammlung Europas. Solch lockerflockiger Umgang mit dem Tod („Hier liegt in süßer Ruh’/erdrückt von seiner Kuh/Franz Xaver Maier. Daraus sieht man/wie kurios man sterben kann.“) dürfte auf das Barock zurückgehen und bis etwa 1900 gehalten haben. Bezeichnend für die Landesmentalität, was hier unter anderem als lustig empfunden wird: „Hier liegt Martin Krug/der Kinder, Weib und Orgel schlug“.

 

Olja Alvir studiert Germanistik und Physik an der Universität Wien.

„Watson, was haben Sie angerichtet?“

  • 04.02.2015, 17:13

Der beste Medizinstudent der Welt ist ein Computer. Und bald dein Arzt.

Der beste Medizinstudent der Welt ist ein Computer. Und bald dein Arzt.

2030. Hinter mir schließt die Haustüre mit einem Klicken. Ich steige in mein Auto, das automatisch die Türen öffnet und teile dem System die Adresse des Krankenhauses, in dem ich arbeite, mit. „Möchten Sie etwas trinken?“, werde ich gefragt. Ich bitte um einen Cappuccino. Die Stimme im Auto teilt mir mit, was auf der Welt passierte, während ich schlief. „Wir haben das Ziel erreicht“, sagt die Computerstimme wenig später. Aus dem Brillenfach entnehme ich meine Gesundheitsbrille, die mich rund um die Uhr über Blutzucker, Blutdruck, Puls und jegliche Nährstoffe meiner Nahrungsaufnahme am Laufenden hält.

Bei der ersten OP an diesem Tag assistieren mir Watson Alpha und Watson Beta. Währenddessen grüble ich über das gestrige Versagen Watson Deltas. Durch einen Verbindungsfehler zu seiner Energiequelle hatte er bei einer Operation an der Lunge einfach nicht mehr reagiert. Der Neustart dauerte ein paar Minuten und führte beinahe zu einem Organversagen des Patienten. Früher war man misstrauischer, heutzutage ist das Vertrauen in die Technik zu groß. Gehörten derartige Gedanken nicht auch der Vergangenheit an? Die Technologie war doch viel weiter als man dachte. Und zuverlässiger als der Mensch. Die meisten wissen nicht was die Wurzel aus sieben ist, der Computer berechnet es in Millisekunden. Wenn Watson also sagte, dass zu 90 Prozent keine Chemotherapie notwendig sei, so war das auf jeden Fall zuverlässiger als eine menschenmögliche Analyse.

2015. „Welche Behandlung eignet sich am besten bei Brustkrebs Stufe Drei bei Frau Kirschbaum?“, fragt die behandelnde Ärztin im Memorial Sloan Kettering Cancer Center. Diese Frage stellt sie nicht etwa eifrigen MedizinstudentInnen. Nein, die Klinikerin spricht mit einem Computer namens „Watson“. Man stelle sich vor, man fragt sein Smartphone nach der besten Behandlung von seinem Fußpilz, anstatt mit der Apothekerin zu sprechen. In diesem Beispiel geht es aber nicht um ein wenig Juckreiz zwischen den Zehen, sondern um eine tödliche Krankheit. Genauer gesagt um eine der häufigsten Todesursachen bei Frauen. Wer ist dieser Watson, dem wir so viel zumuten? Vorgestellt wurde das Computerprogramm 2011 von IBM in der Quizsendung Jeopardy. Dabei spielte es gegen die zwei Rekordgewinner der Show. Watson ging als weit überlegener Gewinner aus dem Duell. Nach Jeopardy „ging“ Watson zur besten Medizinuni der Welt. Nicht physisch – man ließ das Programm Medizinbücher, neueste Erkenntnisse aus der Forschung und Patientenakten „lesen“ sowie abspeichern.

Watsons Größe ist über die Jahre von dem Raum eines Schlafzimmers zur Größe einer Pizzaschachtel geschrumpft, das System kann aber auch über die Cloud abgerufen werden. Manche nennen ihn den besten Studenten der Welt: Er merke sich alles, beschwere sich nie, sei niemals verkatert oder müde, nie krank, habe keine Beziehungsprobleme und sei nicht voreingenommen. Im Moment macht Watson sich im Memorial Sloan Kettering Cancer Center in New York auch schon gut als Assistenzarzt für Onkologie und diagnostiziert laut Forbes zu 90 Prozent richtig. Menschen dagegen liegen nur bei einer Rate von 50 Prozent. Wird der Supercomputer bald der beste Diagnostiker der Welt sein?

Dafür spricht, dass sich kein Mensch der Welt das Wissen, das täglich produziert wird, aneignen kann. MedizinerInnen sind meist Gebiete spezialisiert und können nicht sämtliche Informationen und Studien im Kopf haben. Neben den fehlenden Beziehungsproblemen hat Watson auch sonst keine Bedürfnisse: Er muss nicht aufs Klo, keine Rauchpause einlegen und es ist ihm auch egal, welches Geschlecht oder welche Hautfarbe seine Patient_innen haben. Ein weiterer Vorteil der Computerdiagnose sind (nach den hohen Einstiegskosten allerdings) die niedrigen Zusatzkosten inklusive weniger Fehldiagnosen – sprich Entlastung für PatientIn und System. Und dann ist da natürlich noch der (vielleicht) nahende Tag, an dem man Watson über sein Handy fragen kann, wie man in einer Unfallsituation, oder einem Notfall in der Pampa zu handeln hat. Virenscanner. Wie funktioniert diese virtuelle Diagnose eigentlich? Die behandelnde Ärztin gibt Symptome in das Programm ein. Watson kombiniert die ihm verfügbaren Daten wie elektronische Krankenakten (im österreichischen Fall die umstrittene ELGA) und Daten zu Allergien, Unverträglichkeiten und Langzeitmedikation der Patientin sowie, falls gegeben, Genanalyse und Krankheitsgeschichte der Familie. Dann berechnet Watson zu wie viel Prozent er welche Behandlung empfiehlt. Meist liegt er dabei richtig, das heißt, meist springen die PatientInnen auf die von ihm vorgeschlagene Behandlung an. Watson 2.0 soll auch (Röntgen-)Bilder wahrnehmen und lesen können. Klingt schon ein wenig nach Science Fiction, oder?

Im Hinterkopf sollte man jedoch auch die Risiken behalten. Fehler und Vorurteile, die Menschen in Studien einbauen, werden von Watson automatisch übernommen und so kann es zu einer gefährlichen Verbreitung dieser kommen. Barbara Prainsack vom Kings College London erinnert außerdem daran, dass die EntwicklerInnen und UnterstützerInnen von Watson stets betonen, dass diese Software die Arbeit menschlicher ÄrztInnen nicht ersetzen, sondern ergänzen soll. Die Entscheidungshoheit in der Klinik müsse beim Menschen bleiben. Ihre Bedenken: „So gut gemeint solche Versicherungen auch sein mögen, sie übersehen die Tatsache, dass Dr. Watson und andere algorithmische Entscheidungshilfen neue Autoritäten schaffen, die niemandem rechenschaftspflichtig sind, und die als geistiges Eigentum der Firma, die sie produzieren, häufig intransparent sind. Zudem ist es naiv, anzunehmen, dass die Empfehlungen algortihmischer Entscheidungshilfen von KlinikerInnen einfach ignoriert werden können. Es wird viele Situationen geben, in denen ÄrztInnen lieber auf Nummer sicher gehen und entgegen dem eigenen Urteil der Empfehlung der Maschine folgen, um sich nicht angreifbar zu machen.“

 

Clara Heinrich studiert Politikwissenschaft an der Universität Wien.

Einstürzende Neubauten

  • 04.02.2015, 16:40

Von maroden Hörsälen bis zu herabfallenden Fassaden – Österreichs Unigebäude sind nicht gerade in Topform. Wer ist hier zuständig und wie viel kostet das Ganze eigentlich?

Von maroden Hörsälen bis zu herabfallenden Fassaden – Österreichs Unigebäude sind nicht gerade in Topform. Wer ist hier zuständig und wie viel kostet das Ganze eigentlich?

2. Jänner 2015: Vom „Learning Center“ der neuen WU fällt eine 80 Kilo schwere Betonplatte. Das Gleiche ist ein halbes Jahr zuvor – im Juli 2014 – schon einmal passiert. Der Campus der WU wurde erst im Herbst 2013 eingeweiht, nun sieht der Vorplatz der Bibliothek wieder wie eine Baustelle aus: Ein Gerüst soll vor weiteren herabstürzenden Fassadenelementen schützen, bis die Ursachen endgültig geklärt sind. Herabfallende Fassadenteile sind an Österreichs Universitäten nicht unbedingt eine Seltenheit: Im Herbst 2012 fiel etwa eine Fensterscheibe aus dem zweiten Stock des Türkenwirt-Gebäudes der Universität für Bodenkultur Wien (BOKU). Auch hier steht seitdem ein Gerüst, das die Studierenden vor ihrer eigenen Universität schützen soll. Und auch hier kam durch die fallende Fensterscheibe glücklicherweise niemand zu Schaden.

Diese doch recht dramatischen Beispiele illustrieren, womit Studierende alltäglich konfrontiert sind: Österreichs Universitätsgebäude sind nicht in bestem Zustand. Zwar stürzen nicht ständig Betonplatten von allen Universitäten zu Boden, aber die Liste der Beschwerden ist doch lang: Sie reicht von zu wenig Lern- und Gruppenräumen über inadäquate Toiletten bis hin zu groben baulichen Mängeln, beispielsweise im Fall von Türen, die ständig kaputt gehen, weil sie nicht für die hohe Frequenz an ein- und ausgehenden Studierenden ausgelegt sind. Hinzu kommt, dass viele Universitätsgebäude nicht barrierefrei sind. Der Klassiker ist die Klage über zu kleine Hörsäle, die an manchen Hochschulen schon wenige Jahre nach ihrer Entstehung ertönt.

MIETKARUSSELL. Was sind die Ursachen für bauliche Mängel? Warum kriegen es die österreichischen Universitäten nicht hin, ihren Studierenden genug Platz und annehmbare Konditionen zum Lernen und Studieren zu bieten? Viele von uns würden mit dem ewigen Mantra, das die österreichische Hochschullandschaft seit vielen Jahren begleitet, antworten:Es fehlt den Universitäten einfach an Geld, um ihre Gebäude zu erhalten oder neue zu errichten. Aberso einfach ist das mit „ihren Gebäuden“ nicht. Die wenigsten Universitäten besitzen die Gebäude, die sie benutzen, selbst. Als die Unis im Jänner 2004 in die sogenannte „Autonomie“ entlassen wurden, haben sie zwar die Hoheit über ihr Finanzgebahren erhalten, die Gebäude blieben jedoch im Besitz einer GmbH: die Bundesimmobiliengesellschaft (BIG).

(c) Mafalda Rakoš

Die BIG, die in die drei Unternehmensbereiche Universitäten, Schulen und Spezialimmobilien gegliedert ist, ist Vermieterin von beinahe allen Universitätsgebäuden Österreichs. Sie steht zu 100 Prozent im Eigentum der Republik Österreich. Dabei kommt es zu einer paradoxen Situation: Der Bund vergibt in Form von Steuergeldern finanzielle Mittel an die Universitäten, die wiederum diese Gelder als Mieten an die Bundesimmobiliengesellschaft zahlen. Die Mieteinnahmen fließen in der Folge wieder dem Bund selbst zu. Das Geld wird also einmal im Kreis herumgereicht, mit der BIG als mittlere Instanz. Und wenn Geld von einem Konto auf das nächste wandert, wird es natürlich nicht mehr, sondern weniger. Es fallen schließlich Bankgebühren, Verwaltungs- und Transaktionskosten an.

355 MILLIONEN. Die BIG wurde im Jahr 1992 gegründet und löste damit die Bundesgebäudeverwaltung (beziehungsweise die Bundesbaudirektion Wien) ab. Die BIG verwaltet seither den überwiegenden Teil der Immobilien der Republik Österreich. Damals wurde argumentiert, eine staatliche Verwaltung sei zu ineffizient und führe zu langen Wartezeiten bei Bauprojekten, Schwierigkeiten bei der Verwertung nicht mehr benötigter Gebäude und mangelndem Kostenbewusstsein. Das Bewusstsein für die Kosten eines Gebäudes fehlte offenbar sowohl bei den Benutzer_innen der Gebäude als auch bei der Bundesgebäudeverwaltung. Bis 1992 war die Benutzung der Gebäude durch öffentliche Stellen – wie zum Beispiel Universitäten – nämlich kostenlos. Mit der Gründung der BIG änderte sich das: Sie handelte mit den einzelnen Mieter_innen Mieten zu marktüblichen Preisen aus. Bis zum Jahr 2000 verwaltete die BIG zunächst nur Schulen und Universitäten, dann wurde ihr zu einem Preis von 2,4 Milliarden Euro das Eigentumsrecht an fast allen Bundesgebäuden übertragen. Heute betreut die BIG mit ihren Tochtergesellschaften 2.800 Gebäude, die ungefähr einen Wert von neun Milliarden Euro ausmachen. Ungefähr 23 Prozent dieser Gebäude werden von Universitäten genutzt. Die Bundesimmobiliengesellschaft ist die erste Ansprechpartnerin für die Mieter_innen, sie wickelt Bauvorhaben ab, regelt Miet- und Vertragsverhältnisse und kümmert sich um die Instandhaltung ihrer Gebäude. Unter der schwarz-blauen Koalition wurden 2000 ein weiteres Mal die Rechte der BIG erweitert: Mit dem „Bundesimmobiliengesetz zur Verwertung nicht mehr benötigter Liegenschaften“ ist es der BIG nun auf höchster Ebene gestattet, Teilbereiche von universitären Gebäudekomplexen zu verkaufen – etwa an zahlungskräftige Privatinteressent_innen.

Ebenso wie die BIG Gebäude an Private verkaufen kann, können die Unis auch andere Vermieter_innen finden. Allerdings gehören 90 Prozent aller Unigebäude der BIG. Einige Unis besitzen selbst einzelne Grundstücke, so zum Beispiel die Veterinärmedizinische Universität (VetMed): „Das Lehr- und Forschungsgut im Bezirk Baden in Niederösterreich, bestehend aus vier landwirtschaftlichen Betrieben, gehört der VetMed selbst“, erklärt Doris Sallaberger vom Büro des Rektorats der VetMed.

(c) Mafalda Rakoš

Trotzdem muss die VetMed ungefähr 33 Prozent ihres Globalbudgets für Mieten aufbringen – der höchste Anteil aller Unis. Insgesamt mussten die Unis 2013 etwas mehr als 355 Millionen Euro an Miete zahlen. Wie viel Miete die einzelnen Universitäten zahlen, ist dabei sehr unterschiedlich. „Die Lage ist sehr entscheidend, denn jede Uni hat einen eigenen Mietvertrag mit der BIG“, legt Wolfgang Nedobity dar, der bei der Österreichischen Universitätenkonferenz (UNIKO) für Gebäude- und Infrastrukturfragen zuständig ist. Relativ gesehen kommen die BOKU und die TU Wien am zweitschlechtesten weg: Fast 22 Prozent ihres Globalbudgets müssen die technisch-naturwissenschaftlichen Unis für Mieten ausgeben.

HERUNTERKRACHENDE STUDIERENDE. An der BOKU wird derzeit von der BIG das Hauptgebäude renoviert. Damit trotzdem Lehrveranstaltungen abgehalten werden können, ist die „Universität des Lebens“ in die Augasse gezogen. Das klingt ein bisschen nach Hobbit-Romantik, dieser temporäre Standort ist aber in Wirklichkeit der Betonklotz der alten WU. Manche Hörsäle und Büroräumlichkeiten kann die BOKU ohne Mehrkosten nutzen, für das Audimax der alten WU muss sie jedoch extra Miete zahlen, da sie in ihrem Hauptgebäude keinen so großen Hörsaal besitzt. Wohlgemerkt würde dieser Hörsaal ansonsten einfach nur leer herumstehen, wie große Teile der alten WU es momentan tun. Immerhin müssen die BOKU-Erstsemestrigen nicht mehr in ein Großkino am anderen Ende der Stadt fahren, um ihre Vorlesungen zu hören. So richtig zufrieden sind die Studierenden mit ihrem „Ausweichquartier“ aber dennoch nicht: „Es ist bereits mehrmals während der Vorlesungen passiert, dass die Stühle einfach so zerbrachen; die Studierenden purzelten dann mit lautem Krachen runter“, erzählt Simon, der sich auch über fehlende Infrastruktur wie WLAN oder Uhren beklagt: „Ein Lehrender bringt immer selbst eine Wanduhr mit, damit alle die Zeit im Blick haben.“ Auch wenn manche BOKU-Studierende die gute Verkehrsanbindung oder den „post-apokalyptischen Charme“ der Augasse schätzen, so klagen doch beinahe alle über die Klimaanlage, die auch im Winter für arktische Temperaturen in den Hörsälen sorgt.

Pro Studierende_r zahlt die BOKU insgesamt circa 2.050 Euro im Jahr Miete. Damit liegt sie im oberen Mittelfeld, noch mehr zahlen vor allem die künstlerischen Unis, die mit niedrigen Studierendenzahlen und großem Flächenanspruch in dieser Wertung natürlich ziemlich schlecht abschneiden. Das günstigste Verhältnis von Studierenden zu Mieten hat die einzige „Universität“ Österreichs, die auch ihr eigenes Gesetz hat: die Universität für Weiterbildung in Krems zahlte 2013 pro Studi nur 120 Euro Miete, allerdings nicht an die BIG, sondern an das Land Niederösterreich, das die Gebäude für die Donau-Uni bereitstellt.

(c) Mafalda Rakoš

So unterschiedlich die Ansprüche der einzelnen Unis an ihre Gebäude sind, so unterschiedlich entwickeln sich auch ihre Mieten: Vom Jahr 2012 auf das Jahr 2013 war von Steigerungen von bis zu 19 Prozent (JKU Linz) und Minderungen von bis zu zehn Prozent (WU – trotz des Umzuges auf einen neuen Campus) alles dabei. Auch die Erfahrungen der Unis mit der BIG sind höchst unterschiedlich.

Die BIG ist nämlich föderal strukturiert. Die Zentrale in Wien hat jedoch für jedes Bundesland eigene Betreuer_innen, die mit den Universitäten vor Ort zusammenarbeiten; „mehr oder weniger“, wie Reinhold Strasser, Leiter der Abteilung Gebäude und Technik der Paris Lodron Universität Salzburg sagt. Die Zusammenarbeit der Zentrale mit den Salzburger Landesstellen sei problematisch. Kleinste Gebäudereparaturen müssten jedes Mal zuvor in Wien genehmigt werden. Auch die Aufteilung der Zuständigkeiten zwischen den Universitäten und der BIG selbst sei ausbaufähig. Ein Beispiel, das absurd klingt, aber die Causa veranschaulicht wie kein zweites, sind Doppelfenster: Bei Reparaturen von Fenstern ist die BIG für die äußere Fensterscheibe, die Uni für die innere zuständig. Dabei handle es sich um eine normale Klausel des Mietgesetzes, wie progress von den Universitäten immer wieder versichert wurde. Wie sinnvoll diese im universitären Alltag ist oder ob sie gar zur angestrebten Kosteneffizienz führt, ist fraglich.

BUNDESLUXUSWOHNUNGEN. Einen ärgeren Konflikt tragen die Studierenden der Universität für Musik und darstellenden Kunst Wien (mdw) mit der BIG aus: Auf der Homepage der Hochschüler_innenschaft der mdw werden Bauspekulation und BIG in einem Satz erwähnt. Darunter sind jede Menge Fotos einer Brachfläche, die an einen Gebäudeflügel der Uni angrenzt. Augenscheinlich eine Baustelle: Rote, gelbe und blaue Container sind darauf zu sehen, umgrenzt von einem grauen Stahlzaun. Bevor die Container auftauchten, gab es uniinterne Bestrebungen, die ohnehin schon begrenzte Nutzfläche der Universität durch die Bebauung dieser anschließenden Brachfläche zu vergrößern: Immer wieder waren solche Pläne aber aus Gründen des Denkmalschutzes abgelehnt worden. Nun hat die BIG, der die Liegenschaft in der Beatrixgasse 11-17 gehört, diese an eine Firma namens „Beatrixgasse 11-17 GmbH“ verkauft – einer Tochter der ARE Development GmbH, die wiederum eine Tochter der BIG ist. 31 Luxuswohnungen mit Blick auf den Stephansdom sollen hier nun gebaut werden.

Die Universität für Musik und darstellende Kunst bietet diverse Instrumentalstudienrichtungen an. Elementarer Bestandteil ist das regelmäßige Üben. Laut Hochschüler_innenschaft laufen aktuell schon täglich Beschwerden von Anrainer_innen, die sich durch die lauten Proben der Studierenden gestört fühlen, bei der Universität ein. Kommt demnächst ein neuer Wohnbau in unmittelbare Nähe der Uni, könnten die ohnehin schon begrenzten Probezeiten ein weiteres Mal gekürzt werden.

(c) Mafalda Rakoš

WIDERSTAND. Studentischer Widerstand gegen BIG-Projekte ist aber nichts Neues: Mitte der 2000er-Jahre kämpfte das selbstverwaltete TüWi-Lokal gegen Pläne der BOKU, das Gebäude (und damit die Grundlage des Lokals und des angeschlossenen Hofladens) der BIG zu überlassen. Dies war nämlich in den Leistungsvereinbarungen festgehalten worden. Der Protest wirkte: Das TüWi, das offiziell auf Flächen der ÖH BOKU (die diese widerum von der BOKU zur Verfügung gestellt bekommt, die sie von der BIG anmietet) steht, blieb. Und wird auch nach dem geplanten Abriss und Neubau des Gebäudes wieder einziehen dürfen.

2013 forderte die UNIKO, dass die BIG sämtliche Unigebäude an die Universitäten zurückgeben sollte, damit diese von der Last der hohen Mieten befreit werden und es auch leichter haben, Kredite aufzunehmen. Heute will von dieser Forderung fast keine Uni mehr etwas wissen: „Die Probleme der Finanzierung der Gebäudeerhaltung bleiben gleich und das was die Universitäten jetzt für die Mieten vom Bund bekommen, würde dann eben nicht mehr gezahlt werden. Tatsache ist aber, dass die Konstruktion Eigentümerin BIG – Mieterinnen Universitäten auch nicht sinnvoll ist, da hier Geld gewissermaßen im Kreis geschickt wird und letztlich profitieren davon die Banken“, erklärt die Rektorin der Akademie der Bildenden Künste, Eva Blimlinger.

Die BIG war bis zu Redaktionsschluss nicht für eine Stellungnahme zu haben. Aber ob mit oder ohne sie: Probleme an Unigebäuden werden letzten Endes nur durch eine höhere Finanzierung gelöst werden können.

 

Joël Adami studiert Umwelt- und Bioressourcenmanagement an der Universität für Bodenkultur Wien.

Anne Schinko studiert Politikwissenschaft und Geschichte an der Universität Wien.

force, power and violence

  • 10.04.2015, 12:55

Sechs Dinge über Gewalt, die du noch nicht wusstest.

stark sein
Der Begriff Gewalt kommt von dem althochdeutschen Wort „waltan“, was so viel wie „stark sein“ oder „beherrschen“ bedeutet. Im Allgemeinen werden damit Vorgänge, Handlungen, aber auch soziale Zusammenhänge bezeichnet, mit denen auf Menschen, Tiere und – der besorgte österreichische Umgang mit Fensterscheiben und Mistkübeln lässt es schon erahnen – Gegenstände eingewirkt werden kann. Und zwar so, dass diese beeinflusst, verändert oder geschädigt werden. Je nach Kontext kann mit Gewalt ein direkter Einfluss oder auch nur eine Machtquelle, wie beim Begriff „Gewaltentrennung“, gemeint sein. Im Englischen gibt es für diese unterschiedlichen Bedeutungen eigene Wörter: Wer mit Gewalt einen Nagel einschlägt, benutzt force, die Gewalt als Machtquelle wird power genannt.


unterhaltsame Gewalt
Diskussionen über Gewaltdarstellungen in Filmen und Videospielen beherrschen regelmäßig Schlagzeilen, oft in Zusammenhang mit angeblich davon inspirierten nicht-virtuellen Gewalttaten. In Österreich hat jedes Bundesland sein eigenes Jugendschutzgesetz, was prinzipiell neun verschiedene Zulassungen von Filmen bedeuten könnte. In der Praxis prüft jedoch die Jugendmedienkommission des Bundesministeriums für Unterricht, Kunst und Kultur Filme und spricht eine Altersempfehlung aus, die von allen Bundesländern mit der Ausnahme Wiens übernommen wird. In der Hauptstadt sieht sich ein eigener Filmbeirat die Werke vor der Veröffentlichung an und gibt eine Altersempfehlung aus. Verpflichtend sind diese Empfehlungen jedoch weder bei Filmen noch bei Computerspielen. Anders sieht es in Deutschland aus: Dort wird von der Unterhaltungssoftware Selbstkontrolle (USK) jedes Computerspiel durchgespielt, von unabhängigen Expert_innen geprüft und mit einer verbindlichen Altersfreigabe versehen.


thermonukleare Metaphernexplosion
Sollte es in naher Zukunft in Österreich zu kriegerischen Auseinandersetzungen kommen, wird manchen Medien die sprachliche Munition ausgehen. So werden jedes Jahr im Jänner bereits im Vorfeld die Proteste gegen den FPÖ-„Akademikerball“ als „Chaos“, „Krawalle“, „Ausschreitungen“ beschrieben, es wird vor „Gewaltexzessen“ gewarnt und nach den Protesten werden dann gar „bürgerkriegsähnliche Zustände“ herbeifabuliert. Diese verbale Aufrüstung wurde heuer auch von der Forderung der Bezirkshauptfrau des 1. Wiener Gemeindebezirkes nach einem Bundesheereinsatz in der Innenstadt begleitet. Wer sich Bilder von Städten wie Kobanê oder Aleppo, wo tatsächlich Bürger_innenkrieg herrscht, ansieht, wird relativ schnell erkennen, dass es sich bei Demonstrationen, an deren Rand Mistkübel umgeworfen (und wieder aufgestellt) und Fensterscheiben zerbrochen werden, mitnichten um Ereignisse handelt, die man als „Krieg“ bezeichnen könnte.


„bürgerkriegsähnliche Zustände“

ohne Graustufen
Die „erotische“ Romanreihe „Fifty Shades Of Grey“ von E. L. James ist von den Bestsellerregalen in die Kinos gewandert und feierte auch dort Erfolge. Während die Buchreihe von einigen als sexuelle Befreiung gefeiert wurde, hagelt es gerade aus der BDSM-Szene Kritik: Der beschriebene Sex sei zwar BDSM-Praktiken nachempfunden, die dargestellte Beziehung sei jedoch durch Missbrauch gekennzeichnet. Während in der BDSM-Szene Vertrauen, Konsens und sogenannte Safe-Words (Wörter, die im Vorhinein ausgemacht werden und „Stop“ oder „Nein“ bedeuten) eine wichtige Rolle spielen und das Ausleben gewisser Kinks überhaupt erst möglich machen, kommen diese Aspekte in James’ Roman überhaupt nicht vor. Nein-Sagen wird von der Romanfigur Grey konsequent ignoriert und gewalttätige Praktiken wie Stalking und Gaslighting werden glorifiziert und als sexy dargestellt. Laut einer Studie der Michigan State University haben Fifty-Shades- Leserinnen* ein höheres Risiko, in einer missbräuchlichen Beziehung zu leben, was zusammen mit dem Bild, das das Buch von BDSM vermittelt, zu einer Normalisierung häuslicher Gewalt führen könnte.


Monopol
In modernen Demokratien herrscht das sogenannte „Gewaltmonopol“ des Staates. Dieser Begriff stammt vom deutschen Soziologen Max Weber und drückt aus, dass die Mitglieder einer Staatsgemeinschaft darauf verzichten, selbst Gewalt auszuüben, um ihre Rechte durchzusetzen. Einzig die (meist demokratisch legitimierte) Exekutive hat das Recht, mittelbare (physische) oder unmittelbare Gewalt anzuwenden, um „Recht und Ordnung“ durchzusetzen. Lange Zeit galt dieses Gewaltmonopol in jedem Bereich, außer einem: der Familie (vgl. nächste Box). Aber auch Staaten geben gerne Stückchen und Scheibchen ihres Monopols ab: Private Sicherheitsfirmen oder gar Söldner_innen übernehmen Aufgaben des Staates und schrecken dabei – oft nicht ganz legal – vor Gewaltanwendung nicht zurück. Ein besonders schwerwiegender Fall ist das Militärunternehmen Blackwater (heute Academi). Im letzten Irakkrieg haben dessen Mitarbeiter_innen in mehreren Fällen Zivilist_innen getötet und Gefangene misshandelt. In Europa gibt es eine einzige legale Privatarmee: Die Atholl Highlanders stehen im Dienst des schottischen Duke of Atholl und sind heute eine Tourismusattraktion.


ungeschützt
Nicht alle sind gleichermaßen vor Gewalt geschützt. Während dies bei Eigentum und weißen Männern wenig Probleme bereitet, gibt es Personengruppen, die unverhältnismäßig oft Gewalt erleben. Zum Beispiel Kinder: Eltern hatten in Österreich bis 2000 (!) das Recht, zur „Erziehung“ Gewalt gegen ihre Kinder zu verüben. Auch gegen Gewalt in der Ehe, die meist von Männern ausgeht, gibt es erst seit 1997 ein eigenes Schutzgesetz, das Bundesgesetz zum Schutz vor Gewalt in der Familie. In diesem Jahr beschloss die EU eine Kampagne zur „vollständigen Ächtung von Gewalt gegen Frauen“. Auch Gewalt gegen trans*Menschen ist traurige Normalität: Das Transmurder Monitoring Project der NGO Transgender Europe, das systematisch Hassmorde an trans*Menschen analysiert, hat seit Projektbeginn im Jänner 2008 über 1.600 Morde an trans*Personen gezählt.

Joël Adami studiert Umwelt- und Bioressourcenmanagement an der Universität für Bodenkultur Wien.

Mehr im Dossier Gewalt:
Gespenstische Gewalt  Was haben eingeschlagene Scheiben und Burschenschaften mit Gewalt zu tun? progress hat im Gespräch mit Michael Staudigl, Dozent für Philosophie an der Universität Wien, den Weg zu einem differenzierten Gewaltbegriff gesucht.
8 Monate  Rassistische Skandale, Misshandlungen, Eskalation und Repression, die Beobachter_innen und Zeug_innen trifft: eine Bestandsaufnahme österreichischer Polizeigewalt.
Kein Asyl ohne Erektion  Nach dem Mord an der Trans* Frau Hande Öncü wird an den Asylverfahren von LGBTI-Personen scharfe Kritik geübt. Mit der geplanten Einführung von Schnellverfahren droht nun eine weitere Verschlechterung.
The internet is for hate  Wie sich Hass in der Gesellschaft im Internet offenbart.
Achtung, Triggerwarnung!  Ein Foto, eine Filmszene, eine Phrase – sogenannte „Trigger“ können an traumatisierende Erlebnisse erinnern. Die psychischen Auslösereize beeinträchtigen den Alltag von Betroffenen ungemein.
Was bedeutet Gewalt für dich? Sechs Studierende zum Gewaltbegriff in unserer Umfrage.


 

Nach Europa über das Meer

  • 05.02.2015, 13:29

Theater-Rezension

Theater-Rezension

„Sechs Tage, das ist doch nichts für den Weg ins Paradies.“ Mit diesem zynischen Satz versucht ein Schleuser in Wolfgang Bauers Reportage „Über das Meer – Mit Syrern auf der Flucht nach Europa“ die Schrecken der Flucht über das Mittelmeer kleinzureden. Zynisch ist der Satz nicht zuletzt deshalb, weil die Flüchtlinge im „Paradies“ Europa weiter ausgebeutet werden: Wer ohne gültige Papiere reist, kann sich nirgendwo beschweren. Im Salzburger Landestheater ist Bauers Text Teil einer Vorstellung zum Thema Migration. Drei Wochen vor der Premiere probt das Ensemble unter der Regie von Carl Philip von Maldeghem das Stück „Nach Europa“ der Französin Marie NDiaye. Darin macht sich die von ihrer Familie verstoßene Khady Demba auf den Weg nach Europa. Sie gerät an einen rätselhaften jungen Mann, der ihr einen gefälschten Pass besorgt. Um zu überleben, geht sie der Sexarbeit nach. Die vier SchauspielerInnen erzählen Dembas Geschichte in einer Mischung aus erzählenden und gespielten Passagen. Mal ist eine der beiden Schauspielerinnen Khady Demba, mal die andere und manchmal beide zugleich. Wer zeigt seine wahre Identität und wem kann ich vertrauen? Für die Flüchtlinge sind diese Fragen mitunter überlebenswichtig. Bauers Bericht bildet den zweiten Teil der Vorstellung. Der Journalist hat sich das Vertrauen einiger Flüchtlinge erarbeitet, indem er selbst versuchte, auf einem Flüchtlingsschiff von Ägypten nach Europa zu gelangen. Sein gescheiterter Versuch ist die Basis seines im Herbst erschienenen Buches, das Maren Zimmermann für die Bühne adaptiert hat. Aktueller könne Theater kaum sein, meint Chefdramaturgin Friederike Bernau. Harte Schnitte prägen den Erzählrhythmus von „Über das Meer“. Für die Flüchtlinge ist das Meer gleichermaßen Ziel und Bedrohung und ihre Flucht besteht nicht zuletzt aus Warten und Frustrationen. Die gespielten Passagen werden im Laufe des Stückes weniger und die Informationen dichter. Inhaltlich und formal keine leichte Kost – aber die Mühe lohnt sich.

Marie NDiaye: „Nach Europa“, Wolfgang Bauer: „Über das Meer“
Regie: Carl Philip von Maldeghem 05.02.2015 bis 05.03.2015
Kammerspiele des Salzburger Landestheaters
6 bis 22 Euro

 

Markus Schüssler hat in Salzburg und Bamberg Germanistik studiert.

Gebündelte Wirklichkeit

  • 05.02.2015, 13:13

Ausstellungs-Rezension

Ausstellungs-Rezension

Es könnte ein griechischer Mythos sein: Unfähig seine Flügel zu schließen, treibt Walter Benjamins „Engel der Geschichte“ mit dem Rücken voran in Richtung Zukunft, den Blick gerichtet auf die Vergangenheit als unaufhörlich wachsender Trümmerhaufen. Anzutreffen ist die geknechtete Himmelsbotin in einem Film von Aura Rosenberg in der Ausstellung „Memory Lab“ im Wiener MUSA. Eröffnet im Rahmen des letztjährigen Europäischen Monats der Fotografie, fragt die Schau nach dem Stellenwert des fotografischen Bildes in der (Re-)Konstruktion von Geschichte und Erinnerung. Aber nicht nur der Vergangenheit selbst, sondern vor allem ihrer steten Präsenz in der Gegenwart widmen sich die gezeigten Werke, die zwischen offizieller Historie und persönlichen Geschichten des 20. Jahrhunderts changieren. So etwa Tanja Boukals „Rewind: Obersalzberg“. Die Künstlerin montierte Tourist_innen neben einen schwarz-weißen Adolf Hitler auf vor Ort gesammelte Schieferplatten. Oder Noro Knaps gespenstisch anmutende Installation „20. April“, in der eine im Jahr 2011 entstandene Videoaufnahme des Platzes vor dem Nationaltheater in Bratislava mit einem Propagandafoto aus 1941 überblendet wird. In Lina Scheynius Fotoserie „Sarajevo“ scheint die Vergangenheit ihren Bildern schon im Moment des Auslösens eingeschrieben zu sein. Und bei Anna Jermolaewa liegt der Beweis einer nicht-eingelösten Zukunftsvision in der Gegenwart: Durch ein zufällig gefundenes Foto erinnert sich die Künstlerin an ein jugendliches Versprechen und macht sich daraufhin auf die Suche nach ihren Kompliz_ innen, mit denen sie damals auf einen kollektiven Selbstmord zum 40. Geburtstag geschworen hat. „Vielleicht hindert uns ein unbezwinglicher Widerstand, an die Vergangenheit, an die Geschichte zu glauben, es sei denn in der Form des Mythos. Die Photographie hat, zum ersten Mal, diesen Widerstand zum Schwinden gebracht“, schrieb Roland Barthes 1980 in „Die helle Kammer“. Eben das, aber vor allem welch vielfältiger Wirklichkeitsgenerator die Fotografie sein kann, zeigt die Ausstellung in eindrucksvoller Weise.

„Memory Lab. Photography Challenges History“ bis 21.3.2015 MUSA Museum Startgalerie Artothek, Wien Kuratorin: Gunda Achleitner

 

Flora Schausberger studiert Critical Studies an der Akademie der bildenden Künste in Wien.

Superheldin in Zivil

  • 05.02.2015, 13:02

Comic-Rezension

Comic-Rezension

Da geht’s rund, dêh! In der Graphic Novel „Aya“ von Marguerite Abouet wird das Leben der jungen Aya in Yop City an der Elfenbeinküste erzählt. Mit allen Ecken und Kanten – differenziert und detailreich in Farbe bebildert von Clément Oubrerie. Es wäre eine klassische Coming-of-Age- Geschichte mit partywütigen Teenies, Herzschmerz und Missverständnissen, wenn da nicht auch Aya wäre, die sich ihr Leben anders vorstellt. Sie will nach ihrem Schulabschluss Medizin studieren. Schmusen im Hotel der Sterne? Keine Zeit. Heiraten? No way. Aber Aya ist keine egozentrische Streberin. Mit Weitblick und Gerechtigkeitssinn hilft sie nicht nur ihren Freund_innen Bintou und Adjoua aus der Patsche, sondern auch vielen anderen in Yop City. In einer Stadt, in der es wie in einer Telenovela zugeht, ist das keine leichte Aufgabe. Aya unterstützt nicht nur Bintou dabei, sich ein Leben als Alleinerzieherin aufzubauen, als diese unerwartet schwanger wird, und verhilft dem schüchternen Hérve zu Selbstvertrauen und einem Job als Automechaniker; sie wird auch die Vertraute des schwulen Innocent, der mit seiner homophoben Umgebung kämpft. Als ob das nicht schon genug wäre, organisiert sie eine Rettungsaktion, um Félicité, die von ihrem Vater ins Dorf verschleppt wird, wieder nach Yop City zurückzubringen und spürt mit Adjoua die heimlichen Affären ihrer Liebhaber auf. Aya, die Superheldin in Zivil. Als sich Aya jedoch gegen ihren Biologie-Prof wehrt, der seine Student_innen vergewaltigt, droht er ihr die Zukunft als Ärztin zu zerstören. Scham und Hilflosigkeit setzen Aya stark zu, alles wird zuviel – sie kann nicht mehr und wird krank. Nun sind ihre Freund_innen am Zug und sie lassen Aya nicht hängen. Vor allem die wütende Adjoua sorgt dafür, dass Ayas Biologie-Prof schlussendlich verhaftet wird. Abouets und Oubreries Graphic Novel rechnet auch mit eurozentristischen Vorurteilen gegenüber Afrika ab. Mit vielfältigen Charakteren, aufwendigkonkreter Bildsprache und Geschichten über Alltag und Abenteuer schenken sie den Leser_innen eine Alternative zum kolonialistischen Blick auf ein Leben an der Elfenbeinküste.

Marguerite Abouet, Clément Oubrerie: „Aya“ und „Aya: Leben in Yop City“ Reprodukt, 360 und 364 Seiten jeweils 39 Euro

 

Marlene Brüggemann studiert Philosophie an der Uni Wien.

Plattenkiste: Madame Baheux

  • 05.02.2015, 12:36

Plattenrezension / Zweimal hingehört

Plattenrezension / Zweimal hingehört

Kati: Madame Baheux waren bisher als unmerkbare Aneinanderreihung der Nachnamen der vier Musikerinnen unterwegs – Popržan/Jokić/Neuner/Petrova. Nun haben sie sich zum Glück endlich einen Bandnamen überlegt, den ich nicht sofort wieder vergesse und dazu gleich ein selbstbetiteltes Album herausgebracht. Gute Idee. Bosnien, Serbien, Bulgarien und Wien finden sich zusammen in einer Kombination aus Jazz, Balkan-Sound, Brecht und Wienerlied. Die Coverversionvon Georg Kreislers antikapitalistischem Spottgesang „Meine Freiheit, deine Freiheit“ bekommt, von Jelena Popržan gesungen, noch eine zusätzliche Ebene. Und die langen, rein instrumentalen Teile der Nummern sind live nochmal schöner als zuhause. Seeräuber-Jenny meets Balkan.

Katja: Wir sind ein bisschen late to the party mit dieser Besprechung, da die Platte bereits im September letzten Jahres erschienen ist. Aber besser spät als nie bieten wir dieser Band eine Plattform. Aufmerksam wurden wir auf sie, als sie den Austria World Music Award gewonnen hat. Obwohl wir„Weltmusik“ für eine unsäglich furchtbare Bezeichnung halten, nicht nur in Bezug auf Madame Baheux. Wahr ist, dass die fünf Musikerinnen in irgendeiner Form Verbindungen zum Balkan haben – außer Lina Neuner, die aus Klosterneuburg stammt und intern liebevoll Gastarbajterka genannt wird. Musik und Texte klingen tatsächlichstark nach Balkan, was an den typischen Streichinstrumenten und den teilweise auf Serbisch gesungenen Lyrics liegt. Das leicht zugängliche Highlight des Albums ist aber wohl die Coverversion von Georg Kreislers „Meine Freiheit, deine Freiheit“, welche zu einer „Frechheit“ wird. Die musikalische Energie und die Geschwindigkeit der Songs springen eine_n an und lassen so schnell nicht mehr los. Ein beeindruckendes und abwechslungsreiches Debutalbum.

 

Katja Krüger und Kati Hellwagner studieren Gender Studies an der Universität Wien.

Plattenkiste: Lime Crush - 7’’

  • 05.02.2015, 12:22

Plattenrezension / Zweimal hingehört

Plattenrezension / Zweimal hingehört

Katja: Die erste Veröffentlichung 2015 aus dem traditionsreichen Hause fettkakao legt die Latte für Wiener Bands mal wieder sehr hoch. In knapp fünf Minuten ist die Platte durchgehört– drei Songs mit je eineinhalb Minuten Spielzeit, DAS ist Punkrock. Die vier Bandmitglieder sind allesamt bekannte Gesichter. Für wen Aivery, Tirana oder Plaided keine Fremdwörter sind, der oder die hat die eine oder andere Musikerin schon einmal gehört oder gesehen. Zusammen sind sie also eine Art Supergroup und bringen mitwitzigen, lockerleichten Punksongs frischen Wind in die Konzertszene. Hier ist nichts verklemmt oder Kunstpunk, sondern alles original DIY. Punkfans, die eine Back-To-The-Wurzelbehandlung des Genres ersehnen, dürften mitdieser Platte extrem glücklich werden.

Kati: „I know the rules, but I don’t follow“ – diesmal sind wir mit beiden Rezensionen ganz regional und abseits des Mainstreams unterwegs. Lime Crush haben ihre erste 7-Inch Platte auf dem großartigen Wiener Label fettkakao veröffentlicht. Label-Betreiber Andi traut sich endlich selbst auf die Bühne, bleibt aber eher im Hintergrundund lässt die drei Musikerinnen Panini, Nicoletta und Veronika, die wir von anderen Projekten wie Plaided oder Tirana kennen, laut sein. Die beste Musik entsteht mitunter, wenn die Leute, die sie machen, sich selbst nichtzu ernst nehmen. „I went out to playping pong, but all I got was a honktonk!“ Ich mein, wer kennt das nicht? Das Ergebnis sind drei Nummern, die punkig sind und Spaß machen. Zeitgemäßer Riot-Grrrl Moshpit. Sowas kann wohl nur unterstützt werden – mehr davon!

 

Katja Krüger und Kati Hellwagnerstudieren Gender Studies an der Universität Wien.

Seiten