Dezember 2011

Die Bestrafung ist der Freiheitsentzug

  • 20.09.2012, 02:28

Mit dem Ziel, Verantwortung für ihr Handeln zu übernehmen, leben 114 Schwerverbrecher ohne Zellen und Gitter auf der norwegischen Gefängnisinsel Bastøy. Sie können sich auf der zwei Quadratkilometer großen Insel frei bewegen, sofern man von den geregelten Arbeitszeiten, Ausgehsperren und den viermal täglich stattfindenen Zählterminen absieht.

Mit dem Ziel, Verantwortung für ihr Handeln zu übernehmen, leben 114 Schwerverbrecher ohne Zellen und Gitter auf der norwegischen Gefängnisinsel Bastøy. Sie können sich auf der zwei Quadratkilometer großen Insel frei bewegen, sofern man von den geregelten Arbeitszeiten, Ausgehsperren und den viermal täglich stattfindenen Zählterminen absieht.

Der Weg zur Gefängnisinsel Bastøy kann nur mit der kleinen Fähre Vederøy bestritten werden. Diese verlässt jeden Morgen um 8.15 Uhr mit GefängnisarbeiterInnen sowie BesucherInnen an Bord die Kleinstadt Horten. Was früher eine Art Bootcamp für männliche Jugendliche war, ist seit 2007 das erste humanökologische Gefängnis der Welt. Verlässt man die Fähre nach der Ankunft, steht man inmitten des Gefängnisses. „Übungsplatz für Verantwortung“ steht dort geschrieben. Bastøy ist zwei Kilometer lang, einen Kilometer breit und wie ein kleines Dorf organisiert. Mit einem Bus werden die ArbeiterInnen täglich zum Hauptgebäude gebracht. Auf der Insel stehen in großen Abständen zueinander kleine, farbig gestrichene Häuser, in denen jeweils vier bis sieben Männer in einer Wohngemeinschaft zusammenleben. Dazwischen erstrecken sich große, braune und grüne Felder, die von den Insassen selbst bearbeitet werden. „Die Insassen müssen ihren Alltag hier selbst regeln“, erklärt Rolf Hansen, ein Gefängniswärter. „Sie können zwischen Privatsphäre und Gemeinschaft wählen.“ Hansens Job ist es nicht nur, die Gefängnisinsassen zu bewachen, sondern auch, BesucherInnen zu begleiten. Nicht das Beschützen vor Insassen ist hier das Ziel, sondern vielmehr das Vermitteln der Arbeitsweise auf Bastøy. Auf dem gesamten Gefängnisgelände gibt es keine einzige Waffe, nur eine Attrappe im Büro des Gefängnisleiters. Normalerweise müssen alle GefängniswärterInnen in Norwegen eine dreijährige Ausbildung absolvieren. Hansen gehört zu den zehn Prozent der WärterInnen, die über keine formale Ausbildung verfügen. „Der Leiter von Bastøy will dich kennenlernen, und dann entscheiden, ob du hier arbeiten darfst“, erklärt er das Aufnahmeverfahren. Beim Organisieren des Insellebens werden die Insassen von 80 MitarbeiterInnen unterstützt. Diese arbeiten als AufseherInnen, in der Bibliothek, in der Kirche, in der Küche, in der Administration oder bei sonstigen Projekten im Gefängnis.

Das geringere Übel. „Du siehst hier keine Wärter Innen, wenn du nicht möchtest. Das einzige Gefühl von Gefängnis entsteht durch die Tatsache, dass es eine Insel ist“, kann der 54jährige Ketil Petersson*, der wegen Drogenhandels verurteilt wurde, dem Konzept von Bastøy einiges abgewinnen. Seit einem halben Jahr ist er auf Bastøy, davor war er in einem geschlossenen Gefängnis und verbrachte dort 23 Stunden am Tag in einer Zelle, eine Stunde hatte er Hofgang. Dass er wegen seiner Vergangenheit im Gefängnis sitzen muss, kann er nicht wirklich nachvollziehen. Seiner Meinung nach sollten Drogen legalisiert werden. „Aber was soll’s“, sagt er mit dem Wissen, dass er einen Großteil seiner Strafe schon abgesessen hat. Auch Per Aastan kam aus einem geschlossenen Gefängnis hierher. Sieben Jahre muss der ebenfalls wegen „Drogengeschichten“ verurteilte Vater absitzen, ein Jahr steht ihm noch bevor. Seine Aufgabe hier ist es, sich um die Tiere zu kümmern und mit dem Traktor im Winter Schnee zu räumen. Er mag seine Arbeit und muss dafür täglich vier bis fünf Stunden aufwenden. Seine Entlohnung beträgt, wie die der anderen auch, 50 Kronen (6,50 Euro) pro Tag. An einem typischen Tag steht er um halb sechs in der Früh auf, kümmert sich um seine Tiere, um halb neun wird das erste Mal gezählt: „Ich finde es fair, hier zu sein“, meint Per reumütig: „Ich muss bezahlen für das, was ich getan habe“. Der Unterschied zwischen Bastøy und einem geschlossenen Gefängnis sei wie Tag und Nacht. „Ich glaube schon, dass eine Gesellschaft Gefängnisse braucht, trotzdem müssen sich die Bedingungen in vielen ändern“, sagt Per. Das Ziel von Gefängnissen sei schließlich „die Möglichkeit zu bekommen, wieder zurückzufinden“. Im Sommer sei es besonders schlimm, das Festland zu sehen und Partys und Konzerte unfreiwillig mitzuhören, da sind sich die beiden einig. „Darüber darfst du nicht nachdenken, sonst drehst du durch“, schüttelt Ketil den Gedanken gleich wieder ab. Trotzdem gab es laut Per erst einen, der von Bastøy fliehen wollte, und der wurde am darauffolgenden Tag geschnappt. „Grundsätzlich kannst du aber jeden Tag fliehen, wenn du willst“, sagt Per: „Das wäre aber natürlich dumm, weil nachher alles nur noch schlimmer wird“. Draußen warten seine Frau und eine bestehende Existenz auf ihn, in die er sich nur wieder einfügen muss. „Zurückkehren zur Normalität ist alles, was ich möchte.“

Elitegefängnis. Normalität ist auch das, was Gefängnisleiter Arne Kvernvik Nilsen auf der Insel erzeugen möchte. Der ausgebildete Psychotherapeut ist seit zweieinhalb Jahren der Leiter von Bastøy, seither gab es noch keinen einzigen Zwischenfall. „Das erste, was ich den Insassen sage, wenn sie ankommen, ist Folgendes: Ich werde dir jetzt deine Verantwortung zurückgeben. Das bedeutet einerseits viel Freiheit, andererseits aber auch Möglichkeiten, um Dummes zu tun.“ Das humanökologische Gefängnis basiert für Nilsen auf dem Bewusstsein, dass die Umwelt den Menschen beeinflusst und umgekehrt. „Ein Mensch kann noch so schlimme Sachen getan haben, steckst du ihn in die richtige Umgebung, wird das auf ihn wirken.“ Auf Bastøy werden nur Schwerverbrecher aufgenommen. Die meisten Insassen waren davor in einem geschlossenen Gefängnis und haben sich von dort aus für Bastøy beworben. Nilsen sucht sich den Großteil der Insassen aufgrund der Bewerbung aus, und bevorzugt dabei die schwierigen Fälle. Ein paar werden ihm auch vom Staat zugeteilt. Auf Bastøy wird den Leuten klar gemacht: Wenn du dich nicht an die Regeln hältst, musst du zurück in ein geschlossenes Gefängnis. Dieses Druckmittel besitzen die anderen Gefängnisse nicht. Die Statistiken geben Bastøy Recht. Die Rückfallsquote ehemaliger InsassInnen aus euro-päischen Gefängnissen beträgt im Durchschnitt 70 Prozent, in Skandinavien 30, in Norwegen 20 und jene von Bastøy 16 Prozent. Bei Menschen, die mehrere Male im Gefängnis waren, vervielfacht sich die Wahrscheinlichkeit, wieder reinzukommen. Und: Aufgrund des im Vergleich zu anderen europäischen Ländern geringen Unterschieds zwischen Arm und Reich hat Norwegen eine der niedrigsten Kriminalitätsraten der Welt. „Wie können Leute behaupten, wir seien auf dem falschen Weg?“, fragt Nilsen in Richtung der PolitikerInnen, die gerade in letzter Zeit auch in Norwegen nach härteren Strafen schreien. „Das alles hat mit einer egalitären Gesellschaft zu tun und damit, wie wir die Leute im Gefängnis behandeln“, so Nilsen. Eines Tages müssen diese Leute schließlich wieder in die Gesellschaft zurück.

Mit dem Ziel, Verantwortung für ihr Handeln zu übernehmen, leben 114 Schwerverbrecher ohne Zellen und Gitter auf der norwegischen Gefängnisinsel Bastøy. Sie können sich auf der zwei Quadratkilometer großen Insel frei bewegen, sofern man von den geregelten Arbeitszeiten, Ausgehsperren und den viermal täglich stattfindenen Zählterminen absieht. päischen Gefängnissen beträgt im Durchschnitt 70 Prozent, in Skandinavien 30, in Norwegen 20 und jene von Bastøy 16 Prozent. Bei Menschen, die mehrere Male im Gefängnis waren, vervielfacht sich die Wahrscheinlichkeit, wieder reinzukommen. Und: Aufgrund des im Vergleich zu anderen europäischen Ländern geringen Unterschieds zwischen Arm und Reich hat Norwegen eine der niedrigsten Kriminalitätsraten der Welt. „Wie können Leute behaupten, wir seien auf dem falschen Weg?“, fragt Nilsen in Richtung der PolitikerInnen, die gerade in letzter Zeit auch in Norwegen nach härteren Strafen schreien. „Das alles hat mit einer egalitären Gesellschaft zu tun und damit, wie wir die Leute im Gefängnis behandeln“, so Nilsen. Eines Tages müssen diese Leute schließlich wieder in die Gesellschaft zurück.

Guilty as hell. Chris Nyborg und Lars Væring wohnen mit fünf anderen Mitbewohnern im Blueshouse. Für ein Zimmer in der Musiker-WG kann man sich bewerben, wenn man Mitglied der Gefängnisband „Skyldig som faen“ („Guilty as hell“) werden möchte, oder sich einfach für Musik interessiert. Chris ist seit Jänner hier und Bassist der Band. Beigebracht hat sich der 39Jährige das Bassspielen selber. Seit Oktober hatte die Band schon fünfzehn Auftritte, einige davon in Oslo, ein paar in anderen Gefängnissen. „Hier fängt man wieder an, zu leben“, sagt der wegen Totschlag verurteilte Chris, „sogar Mike Gallaher, der Gitarrist von Joe Cocker, hat uns hier schon besucht.“ Einen Großteil des Equipments bekommt die Band von der staatlich finanzierten Musical Study Association, die Gruppen wie Skyldig som faen auch finanziell unterstützt. Auch Chris hat die meiste Zeit seiner Strafe in Eidsberg, einem geschlossenen Gefängnis, abgesessen. Dort hat er in einer Bücherei gearbeitet, trotzdem musste er 23 Stunden am Tag in der Zelle verbringen. „Die meiste Zeit im Gefängnis fühlt man sich nutzlos, die Arbeit ist umsonst“, sagt er rückblickend. „Aber in Bastøy fällt der Druck des Weggesperrtseins weg.“ Das Gefühl der Nutzlosigkeit ist eines der größten Probleme für InsassInnen in herkömmlichen europäischen Gefängnissen, in denen Häftlinge kaum die Möglichkeit haben, einer Arbeit nachzugehen oder Kontakt mit der Außenwelt herzustellen. Das sieht auch Ole Loe Andersen, der Leiter von Wayback, der größten Resozialisierungsorganisation in Norwegen, so. „Die Bestrafung ist der Freiheitsentzug, nicht das Kreieren einer Hölle im Gefängnis“, sagt Andersen, der selbst acht Jahre lang wegen mehrmaligen Bankraubes im Gefängnis saß, zwei Jahre davon auf Bastøy. Die Diskussion um Gefängnisbedingungen findet Andersen oft verfehlt, da sie sich meist auf physische Möglichkeiten beschränkt: „Wenn du im Gefängnis sitzt, geht es nicht in erster Linie darum, ob du eine Toilette in deiner Zelle hast. Wenn nicht, ist das nämlich oft die einzige Möglichkeit am Tag, aus der Zelle rauszukommen.“

Abschied vom alten leben. „Si meg hva betyr adjo?“ ist eine Zeile aus einem Lied des berühmten norwegischen Sängers Jahn Teigen. Sie steht auf einer Wand im Wohnzimmer des Blueshouse geschrieben. „Das bedeutet so viel wie ‚Tell me, what does goodbye really mean?’“, erklärt Lars. Er hat nur mehr zu sechs Freunden draußen Kontakt. „Mit allen anderen war es zu schwierig, Kontakt zu halten. Sie kamen entweder nicht mehr zu Besuch oder waren nicht mehr erreichbar.“ Lars ist seit drei Jahren im Gefängnis und hat erst knapp die Hälfte hinter sich gebracht. Der 26Jährige singt in der Band und jeden Montag im Kirchenchor in Horten. „Wenn du einem 26jährigen Typen in Freiheit sagst, er soll in einem Kirchenchor singen, erklärt er dich für verrückt. Einen im Gefängnis brauchst du das nicht zweimal fragen“, sagt Lars. Die anderen lachen. „Hier im Gefängnis nimmst du alles an, um für kurze Zeit rauszukommen.“ Zehn Kilo Amphetamin und 2000 Stück Ecstasy wollte der damals 23Jährige Lars von Amsterdam nach Oslo schmuggeln. „Ich war völlig stoned, als ich gefragt wurde, ob ich das mit einem gemieteten Auto machen will.“ Er wirkt, als würde er gerne die Zeit zurückdrehen. „Hätten sie mich nicht in Schweden, sondern erst in Norwegen er wischt, hätte ich eine geringere Strafe bekommen“, schildert er, wie ein paar hundert Kilometer sein Leben bis zu seinem 30. Geburtstag entschieden haben.

Chris findet es nachvollziehbar, dass er im Gefängnis sein muss. Trotzdem sieht er Widersprüchlichkeiten bezogen auf die Existenz von Gefängnissen. „Es ist ziemlich barbarisch, Menschen einzusperren. Wenn man das privat machen würde – Menschen gegen ihren Willen einsperren – würde man das als Gewalt bezeichnen. Auf jeden Fall wäre es wichtig, die Gefängnisse mehr in die Gesellschaft zu integrieren, so ähnlich wie es mit Bastøy passiert.“ Für Arne Kvernvik Nilsen, der vor seiner Tätigkeit als Gefängnisleiter jahrelang im Correctional Service tätig war und Experte für alternative Strafmethoden ist, ist das Gefängnis für den Großteil der Häftlinge nicht die richtige Institution. „Ich glaube, auf die meisten Gefängnisse in Norwegen könnten wir verzichten. Obwohl mir natürlich schon bewusst ist, dass es immer Menschen geben wird, die wir in einer Gesundheitseinrichtung oder etwas Ähnlichem verwahren müssen, um sie und die Gesellschaft zu beschützen.“ Ob er auch Anders Breivik aufnehmen würde? „Wir hatten einen sehr schlimmen Sommer in Norwegen. Aber ich glaube, in einigen Jahren wird Breivik auch hier sein.“

* Nachname auf Wunsch des Interviewten geändert.

Die Autorin studiert Philosophie an der Uni Wien.

Als Ausrede benutzt

  • 27.09.2012, 03:08

Bologna-Prozess bezeichnet das Projekt eines einheitlichen Hochschulsystems in 47 Ländern. Ziele sind unter anderem einheitliche Studienabschlüsse, das ECTS-System, studierendenzentriertes Lernen und die soziale Dimension. Darüber diskutieren Barbara Blaha, Friedrich Faulhammer, Eva Blimlinger, Iris Schwarzenbacher sowie Herbert Hrachovec. Unter der Moderation von Dominik Wurnig prallten Welten aufeinander.

Bologna-Prozess bezeichnet das Projekt eines einheitlichen Hochschulsystems in 47 Ländern. Ziele sind unter anderem einheitliche Studienabschlüsse, das ECTS-System, studierendenzentriertes Lernen und die soziale Dimension. Darüber diskutieren die ehemalige ÖH-Vorsitzende Barbara Blaha, Friedrich Faulhammer vom Wissenschaftsministerium, die Rektorin der Akademie der bildenden Künste Wien Eva Blimlinger, die Bologna-Expertin der ÖH Iris Schwarzenbacher sowie Herbert Hrachovec, ehemaliger Leiter der Curricularkommission der Uni Wien. Unter der Moderation von Dominik Wurnig prallten Welten aufeinander.

PROGRESS: Herr Hrachovec, Sie haben in den 60er und 70er Jahren studiert. Würden Sie lieber heute studieren?
HRACHOVEC (lacht): Die Studienbedingungen Ende der 60er-Jahre waren um vieles lockerer, freier, selbstbestimmter. Jetzt hat die Universität Wien 85.000 Studierende. Mehr Orientierung und auch eine größere Durchregulierung sind deshalb notwendig.
SCHWARZENBACHER: Ich als aktuell Studierende sehe das anders. Die große Freiheit, die es vielleicht in den 70er-Jahren gegeben hat, gibt es heute absolut gar nicht mehr. Aber war das wirklich notwendig? Der Bologna-Prozess wurde doch als Ausrede benutzt, um Wahlfreiheiten einzuschränken. Die Studienpläne sind nicht mehr flexibel und es ist zu einer ganz starken Verschulung gekommen.

War es früher also wirklich besser? Hat der Bologna-Prozess Spielräume beschränkt? Wo liegt die Verantwortung für diese Beschränkung von Spielräumen?
BLIMLINGER: Verschulung hat nicht notwendigerweise etwas mit dem Bologna-Prozess zu tun. Die Verantwortung liegt bei den Universitäten selber, die diese Art von Studienplänen genehmigen. Man hätte diese ziemlich frei gestalten können. Das hat man aber leider nicht gemacht.
BLAHA: Dass da vom Ministerium nicht gegengesteuert wurde, ist ein Problem. Zu sagen, da sind die Universitäten schuld, das greift mir zu kurz. Weil es da schon auch eine politische Verantwortung gibt. Da appelliere ich an das Ministerium. Ich wünsche mir jetzt keine Vorgabe. Aber irgendwer muss hier koordinieren, wenn die Universitäten dazu nicht im Stande sind.
HRACHOVEC: In dem Moment, in dem man den Universitäten mehr Kompetenzen zur Regelung gibt, ergreifen sie diese freudig. Und machen das noch um einiges dichter als es das Ministerium je machen konnte.
BLIMLINGER: Das ist doch die Absurdität!

Also mehr Initiative von Seiten des Ministeriums?
FAULHAMMER: Bei der Autonomisierung der Universität hat das Ministerium massiv Einfluss zurückgenommen und den universitären Organen Möglichkeiten zur Regelung übertragen. Ich glaube nicht, dass es jetzt die Lösung sein kann, dass das Ministerium beginnt, Einfluss auf die Curricula zu nehmen.
HRACHOVEC: Bei den letzten beiden Novellen greift das Ministerium aber sehr wohl in die Curricula ein. Und zwar bei der Studieneingangsphase. Das haut uns die gesamte Curricularplanung zusammen.
FAULHAMMER: Sie wissen ganz genau: Das Ministerium wollte eine andere Novelle, die den Universitäten eine Regelung des Zugangs ermöglicht. Und wir werden uns weiterhin bemühen, vor allem in Massenfächern eine Regelung des Zugangs zustandezubringen.
SCHWARZENBACHER: Auch wenn man es immer wieder sagen muss und immer wieder betonen muss: Es gibt in Österreich zu wenig Studierende. Es gibt nicht nur zu wenig Absolventen und Absolventinnen, sondern auch zu wenig StudienanfängerInnen.

Welche Konsequenzen hat diese Tendenz zur stärkeren Regulierung in Folge von Bologna konkret für Studierende?
HRACHOVEC: Vor der Bologna-Reform haben die Geisteswissenschaften 40 Prozent ihres Studiums als freie Wahlfächer definiert. Das wurde vom Gesetzgeber geregelt. An der Universität Wien hat das zu den berühmt-berüchtigten Erweiterungscurricula geführt. Das ist stark kritisiert worden.
FAULHAMMER: Aber ich kann mich sehr gut erinnern, wie sehr die Vertreterinnen und Vertreter der Geisteswissenschaften die freien Wahlfächer kritisiert haben, diese breite Wahlmöglichkeit. Die Studierenden hingegen haben das sehr positiv gefunden. SCHWARZENBACHER: Aus Studierendensicht sind die neuen Erweiterungscurricula auch keine Alternative. Durch diese vorgefertigten Pakete kann ich nicht meinen Schwerpunkt setzen, was allerdings die Intention hinter Wahlfreiheit und hinter Wahlfächern sein sollte.
HRACHOVEC: Mit dem alten System konnte man keine vertretbare Gesamtbudgetplanung machen. Weil wir müssen ja dem Ministerium gegenüber sagen: Soundso viel sind unsere Aufwendungen für eine Studentin. Wir können das dem Ministerium so nicht sagen, da wir diese Daten nicht haben.
BLIMLINGER: Entschuldigung, das müsst ihr dem Ministerium Gott sei Dank noch nicht sagen. Das ist eine Studienplatzfinanzierung, hallo! Ihr müsst eine Budgetplanung machen, wo ihr schaut, ob das Curriculum bedeckt ist.

Wie kommt es, dass an manchen Universitäten die Umstrukturierung im Sinne von Bologna so schnell vor sich ging, während sie andernorts gar nicht vorgenommen wurde?
HRACHOVEC: Die Idee der Modularisierung ist stark gepusht worden. Von wem? Von der Bologna-Follow-up-Gruppe. Das Ministerium hat sich zurückgezogen, und gesagt: „Richtet euch danach, was die Bologna-Follow-up-Gruppe macht. Und wenn ihr das nicht macht, dann kriegt ihr kein Geld.“
BLIMLINGER: Das stimmt doch gar nicht.
HRACHOVEC: Selbstverständlich. Wenn wir nicht umstellen, haben wir Schwierigkeiten in der nächsten Budgetverhandlung.
BLIMLINGER: Also, die Akademie [Anm.: Akademie der bildenden Künste Wien] hat nur in der Architektur umgestellt, die Angewandte [Anm.: Universität für angewandte Kunst Wien] hat nicht umgestellt. Und wir haben auch Geld bekommen, oder?
FAULHAMMER: Richtig!

Hatte das keinerlei Konsequenzen?
BLIMLINGER: Nein. Solange ich Rektorin bin und keinen Zwang habe, werden wir an der Bildenden das nicht umstellen. Und ich bin mir sicher, es hat keine Konsequenzen. Wir können auch erklären, warum wir nicht umstellen und warum es nicht sinnvoll ist.
BLAHA: Da ist der Druck vom Rektorat unter Georg Winckler (Anm. d. Redaktion: Rektor der Uni Wien von 1999 bis 2011) vielleicht ein anderer gewesen?
HRACHOVEC: Das war sicher so.

Es wurde viel über die Vergangenheit geredet. Was sollte oder könnte sich vorausschauend ändern?
SCHWARZENBACHER: Ich glaube, dass der Bologna-Prozess in vielen Bereichen verfehlt umgesetzt ist. Die soziale Durchmischung an den Universitäten oder „Student Centered Learning“ sind Arbeitsschwerpunkte im Bologna-Prozess, die de facto von den Nationalstaaten nicht bearbeitet werden.
BLIMLINGER: Zukunftsvision ist für mich die Trennung von ECTS-Punkten und Arbeitsstunden der Lehrenden. Die Bindung der ECTS-Punkte an die Stunden ist ja lediglich dem geschuldet, dass es ein Hochschullehrerdienstrecht gibt, wo nach Stunden bezahlt wird. Weil wir wissen alle, es funktioniert im Grunde so: Wie kommen wir mit den vorhandenen Stunden auf der einen Seite zu den notwendigen ECTSPunkten auf der anderen Seite. Nur, das ist völlig unerheblich, wie viele Stunden der Lehrende dort steht. Der Workload der Studierenden ist das Wichtige. Und einhergehend damit, ist aus meiner Sicht erstrebenswert, dass es auch Möglichkeiten gibt, sich für ein Studium Tätigkeiten außerhalb der Universität – und damit meine ich nicht unbezahlte Praktika –  anrechnen zu lassen.
FAULHAMMER: Aus meiner Sicht hat die Lehre nicht den Stellenwert, den sie haben sollte. Das studierendenzentrierte Lernen, das am Outcome orientiert ist, ist noch nicht wirklich angekommen. Bei der sozialen Dimension habe ich naturgemäß eine andere Auffassung. Sie wissen, dass die soziale Durchmischung im Fachhochschulbereich, wo es Zugangsregelungen und teilweise Studienbeiträge gibt, deutlich besser ist. Wenn es die Zugangsregelungen gibt, können wir gezielte Maßnahmen setzen, um Studierende aus benachteiligten Schichten verstärkt zu berücksichtigen. Wir schauen uns auch das Thema „Affirmative Action“ an, um zu sehen, welche Möglichkeiten es da gibt.
BLAHA: Ich möchte noch den Aspekt des Dualismus von Forschung und Lehre einbringen. Mein Eindruck ist, dass Lehre abseits des Mainstreams, nicht zuletzt auch durch die Kürzung der Wahlfächer, ziemlich unter die Räder gekommen ist. Das hat auch ganz viel damit zu tun, dass sich Forscher und Forscherinnen logischerweise überlegen, wohin ihre Energie und ihre Arbeitszeit gehen. Und das ist dann der Artikel im Journal und nicht die besonders gut aufbereitete Lehrveranstaltung für ein Massenpublikum.
 

Identitätsfindung oder Kinderspiel?

  • 27.09.2012, 02:34

Ein 10jähriges Mädchen, das sich vor ihren neuen FreundInnen als Junge ausgibt. Ein nicht unbedingt brandneues Thema, das der von Filmfestivals hoch gelobte Film Tomboy mit der jungen Zoé Heran in der Hauptrolle, aufnimmt. Vivian Bausch sprach mit der Regisseurin Céline Sciamma bei der diesjährigen Viennale.

Ein 10jähriges Mädchen, das sich vor ihren neuen FreundInnen als Junge ausgibt. Ein nicht unbedingt brandneues Thema, das der von Filmfestivals hoch gelobte Film Tomboy mit der jungen Zoé Heran in der Hauptrolle, aufnimmt. Vivian Bausch sprach mit der Regisseurin Céline Sciamma bei der diesjährigen Viennale.

Der Film handelt von der 10jährigen Laure, die sich aus einem Spiel heraus als Junge ausgibt und sich den Kindern ihrer neuen NachbarInnenschaft als Mikaël vorstellt. Einen Sommer lang passt sie sich ihrer neuen Rolle immer besser an und wird auch von ihren FreundInnen als Mikaël akzeptiert. Bei ihrer Freundin Lisa beginnt diese Fassade allerdings zu bröckeln, denn die beiden kommen einander zunehmend näher. Nur ihrer kleinen Schwester Jeanne vertraut Laure sich an. Zunehmend schwieriger gestaltet es sich im Laufe der Zeit allerdings diese neue Identiät aufrecht zu erhalten, bis durch die Entdeckung des Lügenspiels durch ihre Mutter schließlich ein Familendrama ausbricht. Vivian Bausch sprach bei der Viennale mit der Regisseurin Céline Sciamma.

PROGRESS: Wie war deine Reaktion, als du erfahren hast, dass mehrere KritikerInnen in Tomboy die Behandlung eines „psychologischen Phänomens“ sehen?
Céline Sciamma: Ich habe einige Interpretationen von ZuschauerInnen wahrgenommen und bin auf ein paar widersprüchliche Analysen meines Films gestoßen. Es ist natürlich richtig, dass ich mir mit der psychologischen Frage schwer tue. Der Film gibt keine psychologische Antwort beziehungsweise Analyse der Hauptcharaktere wieder. Er erklärt nicht wirklich, wieso Laure sich als Junge ausgibt. Natürlich kann man aber gesellschaftspolitische Aspekte rauslesen.

Was hat dich inspiriert dieses Projekt zu starten und wie hast du die Idee schließlich filmisch verarbeitet?
Im Prinzip habe ich Geschichten über ein kleines Mädchen, das sich als Junge ausgibt, gelesen. Ich wollte nicht nur einen Film über Kinder drehen. Darüber hinaus haben mich Thematiken wie die Schwierigkeiten zwischenmenschlicher Beziehungen, die Identitätsfrage und das Lügenspiel besonders inspiriert. Im Allgemeinen hat mich einfach diese Spannung der Themen extrem gereizt, da sich all diese Schwierigkeiten vernetzt in einer Geschichte zu einem schönen Ganzen weben lassen.

Wieso hast du dich für den Titel „Tomboy“ entschieden?
Tomboy weist vordergründig auf die Rolle von Mädchen in der Gesellschaft hin, auf das Phänomen, dass Jungs und Mädchen unterschiedlich erzogen werden und einen anderen Zugang zur Öffentlichkeit haben. Ich meine, natürlich gibt es Unterschiede zwischen Männern und Frauen, aber wir sollten dieses typische Muster von Vorurteilen gegenüber dem einen oder dem anderen Geschlecht tiefgründig hinterfragen.

Was wird man in Zukunft von dir sehen?
Zukünftig würde ich gerne eher Fernsehprojekte starten. Ich möchte mich in nächster Zeit auf die Produktion von Serien konzentrieren, da ich mich gerne länger mit spezifischen Charakteren beschäftigen möchte, um diese ausbauen und individualisieren zu können.

Gangster Girls als Expertinnen des Strafvollzugs

  • 27.09.2012, 02:21

In dem außergewöhnlichen Dokumentarfilm Gangster Girls (2008), der während des Gefängnistheaterprojekts Medea zum Trotz mit Häftlingen aus dem Frauengefängnis Schwarzau sowie der Jugendstrafanstalt Gerasdorf entstand, wird ein vielschichtiges Bild der Institution Gefängnis gezeigt.

In dem außergewöhnlichen Dokumentarfilm Gangster Girls (2008), der während des Gefängnistheaterprojekts Medea zum Trotz mit Häftlingen aus dem Frauengefängnis Schwarzau sowie der Jugendstrafanstalt Gerasdorf entstand, wird ein vielschichtiges Bild der Institution Gefängnis gezeigt. Die moderne Adaption des Mythos der Außenseiterin, Kämpferin und Kindsmörderin Medea ist an die wahren Geschichten der Insassinnen angelehnt, die sich selbst in Szene setzen, um diese Geschichten, aber auch vom Gefängnisalltag zu erzählen. Kritik am Strafvollzug steht dabei nicht explizit im Vordergrund, sondern verdeutlicht sich zwischen den Bildern selbst. Im Interview spricht die Regisseurin Tina Leisch über den Freiraum, den die Mitwirkenden für sich nutzen konnten und darüber, was aus den Protagonistinnen geworden ist.

PROGRESS: Das Theaterprojekt bot Freiraum für die Schauspielerinnen. Wie konnten die jungen Frauen diesen Raum für sich nutzen?

TINA LEISCH: Im Gefängnis gibt es für die Gefangenen zwei Regelsysteme, denen sie gleichzeitig unterworfen sind, deren Anforderungen sich aber diametral widersprechen. Zum einen das Reglement der Anstalt, welches Unterordnung, Gehorsam, Anpassung und Reue vorsieht, zum anderen das Regelsystem der Häftlingsgemeinschaft, das von Gefängnis zu Gefängnis und von Gruppe zu Gruppe anders ist, aber in dem man die entgegengesetzten Verhaltensweisen zeigen muss, um sozialen Status unter den Mitgefangenen zu erlangen. Das produziert einen Doublebind, der kaum Raum lässt für eigensinnige, eigenständige Entwicklung und ist einer der Mechanismen, durch die Gefängnisse Kriminalität und Kriminelle produzieren. Theater zu spielen schafft da einen Freiraum, in dem Kommunikationen möglich sind, die sich keinem der beiden Reglements unterwerfen.

Inwiefern ist das Gefängnis selbst ein Thema des Films?

Wir hatten uns von Anfang an dafür entschieden, davon auszugehen, dass die ExpertInnen dafür, was Gefängnis mit den Menschen macht, die Gefangenen sind; dass wir also ausschließlich ihnen das Wort und das Bild erteilen möchten. Wir wollten wissen, warum so wenige versuchen auszubrechen, wie das Zuckerbrot-und-Peitsche-System aus Versprechen von Vollzugslockerung und vorzeitiger Entlassung bzw. Strafen von Ausgangssperre bis Absonderung funktioniert.

Was wurde aus den Protagonistinnen, mit denen du zusammengarbeitet hast?

Zum Glück waren die meisten schon zur Premiere des Filmes entlassen. Inzwischen sitzt nur noch eine, die demnächst entlassen wird. Eine suchtkranke Frau ist erneut straffällig geworden und wartet nun in U-Haft auf ihren Prozess. Wir haben zu fast allen Kontakt, telefonieren ab und zu, einige wenden sich immer wieder an uns, wenn sie Rat und Hilfe brauchen. Mein Eindruck ist, dass für die meisten die Teilnahme am Film und die Teilnahme an Podiumsdiskussionen und Debatten als Expertinnen für Strafvollzug eine sehr positive Wirkung hatte in der harten ersten Zeit nach der Entlassung.

Nach der Haft ist vor der Haft

  • 27.09.2012, 01:49

Der Neubeginn nach einer längeren Gefängnisstrafe ist schwierig. Resozialisierungsmaßnahmen sollen helfen, ehemalige Häftlinge wieder in die Gesellschaft zu integrieren. Die Realität innerhalb und außerhalb der Mauern sieht aber anders aus.

Zehn Jahre lang die gleiche Routine: Aufstehen um sechs Uhr, Frühstück, Arbeitsdienst oder schlichtes Zeittotschlagen. Menüplan bis Kleiderwahl – alles ist geplant und fremdbestimmt. So sieht das Leben in Haft für derzeit mehr als 8700 Menschen in Österreich aus. Doch plötzlich ist alles ganz anders, die Entlassung steht bevor, von nun an ist man wieder auf sich selbst gestellt. Beinahe so schwierig wie das Leben hinter Mauern ist die Neuorientierung danach.
Das Gefängnis steht im klassischen Sinn für Bestrafung und sichere Verwahrung von RechtsbrecherInnen – ein wichtiger Aspekt ist aber auch die Resozialisierung von Häftlingen. Diese wird gegenüber Sicherheitsfragen allerdings oft vernachlässigt. So sieht das auch Arno Pilgram, wissenschaftlicher Leiter des außeruniversitären Wiener Instituts für Rechts- und Kriminalsoziologie: „Es ist natürlich das Risiko für die Vollzugsverwaltung wesentlich größer, kurzfristig bei der Sicherheitsverwirklichung zu versagen, als für ein Versagen bei der langfristigen Resozialisierung zur Verantwortung gezogen zu werden. Eine Flucht etwa ist leichter vorwerfbar und medial skandalisierbar.“

Sicherheit an erster Stelle. Für den Staat steht Sicherheit im Vordergrund, für die Häftlinge sieht es aber ganz anders aus. Im Idealfall beginnt Resozialisierung bereits am ersten Tag der Haft. Laut dem Strafvollzugsgesetz steht jedem Häftling ein Vollzugsplan zu. Dieser legt fest, an welchen Schwächen gearbeitet und welche Ziele erreicht werden sollen. Unter anderem sind eine psychotherapeutische Behandlung, aber auch individuelle Maßnahmen wie zum Beispiel Fremdsprachenkurse oder Computerkurse vorgesehen.
Am besten funktioniere die Umsetzung dieser Ziele bei mittleren Haftstrafen von drei bis fünf Jahren. Schwieriger sei es bei längeren Haftstrafen, weil deren Ende für die Justiz oft schwer vorhersehbar sei, so Pilgram. Bei Menschen, die über zehn Jahre inhaftiert werden, wird so ein Vollzugsplan oft gar nicht erstellt: „Bei Leuten, die unbestimmt angehalten werden, passiert in der Regel zunächst gar nichts. Bei lebenslang Verurteilten schaut man, wie man sie über die Tage bringt, ohne dass sie sich etwas antun oder für den Vollzug zu schwierig werden.“
Dabei wäre ein Vollzugsplan gerade für Menschen mit längerer Haftstrafe wichtig; immerhin müssen im Moment rund 2000 Häftlinge mehr als fünf Jahre im Gefängnis verbringen. Generell besteht für alle Inhaftierten nach dem Strafvollzugsgesetz Arbeitspflicht. Dafür erhalten sie ein Gehalt nach dem HilfsmetallarbeiterInnen-Kollektivvertrag, allerdings werden 75 Prozent dieses Lohns vom Gefängnis einbehalten. Übrig bleiben durchschnittlich fünf Euro pro Tag, wovon die Häftlinge die Hälfte sofort und die Hälfte später erhalten.
Die Realität in Österreichs Gefängnissen sieht allerdings anders aus, erzählt Julia Schütz*, die im Rahmen ihres Studiums der Sozialen Arbeit an der Fachhochschule Campus Wien ein vierwöchiges Praktikum im Sozialen Dienst der Justizanstalt Garsten absolviert hat: „Es ist schon möglich, drinnen zu arbeiten oder eine Lehre zu absolvieren, aber die Plätze sind beschränkt. In Garsten haben rund 50 Prozent der Leute gar nichts gemacht – die warten einfach. Wenn du dann aber 15 Jahre untätig warst, ist es extrem
schwer, wieder Fuß zu fassen.“ Tatsächlich absolvieren in der größten Strafvollzugsanstalt Österreichs in Stein nur sechs von 100 Häftlingen eine Ausbildung.

Das Leben danach. Fuß zu fassen, einen Arbeitsplatz und eine Wohnung zu finden – das sind in den ersten Wochen in Freiheit die wichtigsten Schritte zurück ins Leben. Dabei hilft Andreas Zembaty von der Organisation neustart. Dort arbeiten 550 BewährungshelferInnen und 950 ehrenamtliche MitarbeiterInnen. Vor allem nach langen Haftstrafen kann ein Neubeginn schwierig sein, berichtet Zembaty: „Die Menschen drinnen werden zu einem Strafvollzug heranerzogen, der mit den Problemen draußen nichts zu tun hat. Das ist wie bei einem Vogel, dem man das Fliegen in einem Käfig lernen möchte. Dann macht man die Tür auf und wundert sich, dass der Vogel zu Boden stürzt.“ Jeder Schritt im Gefängnis ist vorgegeben, in Freiheit müssen alltägliche Routinen wieder neu gelernt werden. Denn das Leben im Gefängnis hat auch im Umgang miteinander nur wenig mit realen Bedingungen zu tun. Zembaty spricht von der Bildung einer eigenen Gefängnissubkultur, in der strafbare Handlungen an der Tagesordnung stehen: „Gerade in großen Justizanstalten wie Stein oder Garsten sind Häftlinge oft damit beschäftigt, ihr eigenes Überleben zu sichern. Wem muss ich drohen? Mit wem muss ich mich arrangieren? Das sind Verhaltensweisen, die draußen unbrauchbar sind.“ Diese abzulegen, ist harte Arbeit. Die Resozialisierung beginnt meist erst nach der Entlassung.
„Das primäre Ziel des Gefängnisses ist sozialer Ausschluss, Wegschließen, nicht Resozialisierung. Erst wenn sich das Ende der Haft nähert, wird über Resozialisierung nachgedacht“, erklärt Kriminalsoziologe Pilgram. Tatsächlich kommen auf eineN JustizwachebediensteteN nur drei Häftlinge, während einE BewährungshelferIn 45 ehemals Inhaftierte betreuen muss. Dementsprechend schwierig gestaltet sich die Arbeit der SozialarbeiterInnen von neustart mit ihren KlientInnen. Oft kommt es zu Rückfällen, besonders bei langen Haftstrafen. Wenn keine Betreuung in Anspruch genommen wird, liegt die Rückfallsquote bei etwa 80 Prozent und das in den ersten sechs Monaten nach der Entlassung. Bei einer Begleitung durch neustart sinkt die Quote auf 40 Prozent. Diese in Anspruch zu nehmen, ist allerdings nicht verpflichtend. Nur auf Bewährung Entlassene müssen Betreuungstermine wahrnehmen. Allerdings beobachtet der Sozialarbeiter Zembaty bei WiederholungstäterInnen häufig ein Abschwächungssyndrom: „Das heißt, dass auf ein strafrechtlich schwerwiegendes Delikt oft ein leichteres folgt. Zum Beispiel wird aus schwerer Körperverletzung Diebstahl.“
Zembaty, der bereits über 500 KlientInnen betreut hat, ist überzeugt, dass sich Rückfälle im momentanen Strafvollzug nicht gänzlich verhindern lassen. Dazu gebe es zu wenig Handlungsspielraum, trotz engagierter JustizbeamtInnen. Diese Erfahrung hat auch Schütz in Garsten gemacht: „Ich hatte das Gefühl, dass die Handlungsmöglichkeiten sehr eingeschränkt sind. Jede kleine Veranstaltung muss erst vom Bundesministerium genehmigt werden. Das dauert oft ewig und erschwert kreative Ansätze.“ Das mache die Arbeit mit Häftlingen nicht selten frustrierend.
Und der Job als SozialarbeiterIn lässt diese auch an persönliche Grenzen stoßen. Das leugnet auch Zembaty nicht: „Es gibt auch Situationen, wo man einfach verzweifelt ist und nach Hause geht und heult.“ Trotzdem wiegen die Erfolgserlebnisse stärker: „Man muss bereit sein, diese Rührung auf sich zu nehmen und die eigene Betroffenheit zu leben. Um in der Arbeit mit Menschen wirksam zu sein, muss ich mich auch als Mensch einbringen.“

Muss Strafe sein? In einem Punkt sind sich WissenschaftlerInnen und SozialarbeiterInnen einig: Es gibt Verbesserungsbedarf beim Strafvollzug und der anschließenden Resozialisierung. Die Betreuung hinter den Mauern wird durch Überbelegung und nicht vorhandene finanzielle Mittel erschwert. „Belagszahlen zu reduzieren, ist kein kriminalpolitisches Credo. Es lässt sich beobachten, dass immer neue soziale Probleme mit Strafrecht und Haft gelöst werden sollen, ohne Rücksicht darauf, was das für Justiz und Vollzug bedeutet“, bestätigt Pilgram.
Zembaty von neustart wünscht sich generell einen offeneren Vollzug. Denn kein Strafvollzug der Welt könne die Erwartungen der Bevölkerung erfüllen und gleichzeitig Menschenrechte wahren. Deshalb setzt neustart auf diversionelle Erledigungen. Das bedeutet, dass auch Alternativen vor dem Gerichtsverfahren wie ein Ausgleich oder ein TäterIn-Opfer-Gespräch stärker genutzt werden sollen.
„Wir wissen, dass der Rückfall dort am größten ist, wo am strengsten gestraft wird.“ Daher hält Zembaty es sowohl für humaner als auch ökonomisch sinnvoller, Alternativen zur klassischen Haft zu suchen. Denn am Anfang jedes Falls sollte die Frage stehen: Muss Strafe überhaupt sein?
Der Strafvollzug in der Schweiz gilt als liberal. Hier überlegt man, welche Strafe den besten Zweck erfüllt. In der Haft selbst werden die Defizite der Strafgefangenen analysiert und es wird gezielt daran gearbeitet. Wann eine Entlassung auf Bewährung in Frage kommt, entscheidet der Vollzug und nicht die/der RichterIn. Die Rückfallquoten sind dementsprechend geringer.
„Wenn man schon früh ambitionierte alternative Maßnahmen setzt, erspart man sich letztlich einen Vollzug, der bei allem Engagement nicht optimal sein kann“, zeigt sich Zembaty überzeugt. In Österreich wird erst langsam mit diesen Alternativen earbeitet, der elektronische Hausarrest – auch Fußfessel genannt – ist ein umstrittenes Pilotprojekt. „In den 70er-Jahren gab es von sozialdemokratischem Optimismus geprägt die Utopie einer gefängnislosen Gesellschaft“, erklärt der Kriminalsoziologe Pilgram. Doch diese Aufbruchsstimmung war schnell vorüber. Auch Zembaty glaubt nicht an die Verwirklichung dieser Idealvorstellung: „Man wird nicht ganz auf den Strafvollzug verzichten können. Es gibt Leute, für die haben auch wir keine bessere Idee.“
Kritisch sehen aber beide, dass sich das Gefängnis heute wieder mehr in Richtung Verwahrungsanstalt entwickelt. Dadurch werden die Häftlinge immer stärker aus dem Sichtfeld der Gesellschaft gedrängt. Fachhochschulstudentin Schütz kann dem zustimmen: „Mir kommt es so vor, als wäre die Gesellschaft damit zufrieden, dass Menschen hinter Mauern gesperrt und von der Öffentlichkeit nicht mehr wahrgenommen werden. Es interessiert niemanden, was dahinter geschieht oder auch nicht.“

Barbara Wakolbinger und Elisabeth Mittendorfer studieren Journalismus und Medienmanagement an der FH in Wien.

* Name auf Wunsch geändert.

Algeriens Frühlingserwachen auf Raten

  • 27.09.2012, 01:15

Keime der Proteste gegen Langzeitpräsidenten Abdel Aziz Bouteflika gehen im größten Staat Afrikas in Zeitlupe auf. Die junge Generation und eine zersplitterte Opposition fordern Demokratie und die faire Verteilung der Erdöl- und Gaseinnahmen. Das Regime löscht den drohenden Flächenbrand mit Almosen in Milliardenhöhe.

Der 15. Oktober 2011 ist der Tag, den Protestbewegungen rund um den Erdball für die „Globale Revolution“ reserviert hatten. In Oran, der zweitgrößten, angeblich weltoffensten Stadt Algeriens, wo, wenn die Sonne sich hebt, im Uni-Viertel noch tiefe Bässe aus dem Rai-Club hämmern, wenn der Muezzin zum Samstagsgebet ruft, mit seiner großen Universität, herrscht Ruhe. Die Tageszeitungen, wie El Watan, titelten mit den „Empörten“, die „eine neue Welt einfordern“, aber wie in Albert Camus Roman „La Peste“, für den Oran trefflich die urbane Vorlage bot, wirkt die von Bergen umringte Hafenmetropole mit ihren knapp 700.000 EinwohnerInnen, als wäre sie unter Quarantäne gestellt – wie das gesamte Land, das sich mit seinen 33 Millionen EinwohnerInnen über das Siebenfache der Fläche Frankreichs erstreckt.
„So Gott es will, wird es uns bald besser gehen“, sagt Nordin A. (25), der Wirtschaft studiert hat und nun bei der Hafenverwaltung einen Teilzeitjob hat: „Wir Algerier sind nun mal arm. Mein Onkel hat das Land auf illegalem Weg verlassen und arbeitet nun in Deutschland. Er wollte, dass ich nachkomme.“ Aber er sei seit dem Tod seines Vaters das Familienoberhaupt, habe fünf Geschwister, und trage die Verantwortung. „Ich liebe Algerien zu sehr, um ihm den Rücken zu kehren, wie es viele wagen.“
Hamadi K. (20), der dieses Jahr Informatik zu studieren beginnt, und neben der Schule in einem Internetcafe arbeitet, nickt. Über Facebook vernetzt, verfolgen Nordin und er auch die algerische Demokratiebewegung, die sich stark aus ihrer Generation formiert. Obacht sei geboten, wie Hamadi betont. GeheimpolizistInnen würden im Internet, und nicht nur dort, jungen Aufbegehrenden folgen. Festnahmen von der BloggerInnenszene, über KarikaturistInnen – wie Ali Dilem, der neun Jahre seines Lebens im Gefängnis verbrachte, und wiederholt mit Morddrohungen seitens radikaler IslamistInnen konfrontiert war – bis hin zu JournalistInnen, die nach Aufhebung des seit 1992 währenden Ausnahmezustands im Februar über Demonstrationen berichtet haben, sind keine Einzelfälle. Nordin und Hamadi haben einen Job, wenn auch prekär. Über die Hälfte ihrer AltersgenossInnen hat den nicht. Das Gros sieht sich neben der wirtschaftlichen auch der privaten Zukunft beraubt. Für ihre Hoffnungslosigkeit und Empörung ist Rapmusik ein Ventil und Spiegel. Die „Schuldigen“ der Misere hat der Künstler Solo Montana, in J’accuse im Establishment des „Militärs und des Marionettenpräsidenten“ festgemacht. Nach mehreren Angriffen und Todesdrohungen lebt der Musiker seit dem Frühjahr 2011 im kanadischen Exil. Just als die Welle der Proteste der arabischen Welt Anfang dieses Jahres auch in Algerien gipfelte. Dem ersten Aufbegehren gegen Weizenmehlpreise auf Höchstniveau bereits im vergangenen Dezember, folgte Anfang Jänner die Errichtung eines „Nationalen Rates für Demokratische Änderungen“. Begleitet von Selbstverbrennungen, mobilisierte sich mehr Widerstand. Zehntausende gingen, parallel zu und inspiriert von den revolutionären Bewegungen Tunesiens, den Protesten der Gruppe des „20. Februar“ Marokkos sowie den BesetzerInnen von Kairos Tahrir-Platz auf die Straßen Algeriens.
Im Grunde ist es das Militär, weniger der Präsident und dessen quasi Einheitspartei, die Front de Libération Nationale (FLN), das dieses Land kontrolliert. Demonstriert haben die Sicherheitskräfte dies deutlich, als sie mit 30.000 Gendarmen eine für den 12. Februar angesetzte, knapp 10.00 Protestierende zählende, Versammlung umringten. Ein weiterer friedlicher Protest in Algier wurde am 12. April niedergeknüppelt, ein Vorgehen, das 170 Verletzte forderte. Im laufenden Jahr waren bereits über 800 Verletzte und mindestens fünf Todesopfer zu beklagen.
Unter dem Druck der Straße kündigte Bouteflika sukzessive Verfassungsänderungen, wie beim Wahlrecht, an, forderte Staatsmedien zur Meinungspluralität auf, und öffnete den Geldhahn, um die Wut des Volkes zu bändigen. Der Gerontokrat, 1937 im heute marokkanischen Oujda geboren, ist seit 1999 an die Macht, begleitet von Manipulationsgerüchten und stilisierte sich zum „Friedensbringer“ gegen die Milizen der Islamistischen Heilsfront (FIS), der selbst keinerlei Widerspruch zulässt. 2009 wurde er mit über 90 Prozent der Stimmen wieder gewählt, wobei die Opposition zum Boykott aufrief. Das algerische Staatsvermögen ist immens, dank der Einkünfte aus Erdöl- und Erdgasvorkommen, die Europa laben. Was sich nicht nur darin zeigt, dass Oran einen Stadtteil hat, der gar Frankfurts Bankencity ähnelt, wo die Wolkenkratzer der Energiegiganten stehen.
Reich an Erdgas und Erdöl, konnte Algerien Preisschwankungen bei Grundnahrungsmitteln abfedern. Der Benzinpreis beträgt weniger als ein Zehntel von dem, was wir EuropäerInnen zu berappen haben. Es gibt in Algerien Arbeitslosengeld und eine Fixpension für jedeN, und zuletzt wurden großzügig Gehälter, auch die der UniversitätsprofessorInnen, deutlich angehoben. „Jene, im Sozialismus fußende Elemente“ sind aus der Sicht des saharauischen Politologen und Menschenrechtsaktivisten der NGO Afapredesa, Abdeslar Omar, „das Haar, an dem die Stabilität hängt.“ Wer arbeitslos ist, kaum etwas besitzt, könne sich ernähren, hätte ein Dach über dem Kopf und Anrecht auf Gesundheitsversorgung. So das Ideal, in der Realität trifft man nicht nur nachts Menschen, die in Mülltonnen mit Ratten um Essbares konkurrieren.
Vielmehr ein Revolutionshemmnis ist die letzte, gescheiterte demokratische Etappe, die zwischen 1988 und 1992 in eine Dekade des Bürgerkriegs mündete. Vielen, auch jungen Algeriern wiegen Traumata der Blutvergießen, die rund 100.000 Todesopfer forderten, schwer. Heute noch liefern sich bewaffnete Gruppen Gefechte mit dem Militär. BerberInnenstämme in der Region Kabylei im Osten für ihre Autonomie, radikal-islamistische Milizen und Terroristen der Al Qaida des Islamischen Maghreb verüben Bombenattentate primär gegen Kasernen, aber auch gegen westliche Einrichtungen, wie zuletzt gegen Büros der UNO 2007 in Algiers.
Das Land gleicht einer Baustelle, mit einer Vielzahl chinesischer Bagger. Dem einsetzenden regionalen Wandel, mit gestärkten Demokratien, der sich abzeichnet, wird es sich nicht verschließen können. Doch beweist beginnendes Tauwetter mit Marokko, dass sich Autokraten wie Bouteflika und König Mohammed VI. von Feinden zu Brüdern wandeln. Wenn ihre Macht zu wackeln droht, geben sie nur Häppchen von ihr ab. So bleibt der algerischen Opposition wohl vorerst nur die Hoffnung auf den Artikel 88 der Verfassung, der die Absetzung eines Staatschefs aufgrund von Krankheit fordert, und eine teilweise politische Entmachtung des Militärs.

Der Autor studiert im Doktorat Kommunikationswissenschaften.
Seit 2007 lebt er als freier Journalist in Granada.

Webtipp: Rap von Solo Montana, J’accuse … („Ich beschuldige…”):
www.youtube.com/watch?v=dQ52peh9EFI

Dilems Karikaturen in der Tageszeitung Liberté, auf
http://www.liberte-algerie.com/

 

Die kulinarische Kodifizierung des Terrors

  • 26.09.2012, 01:57

Die Behörden des deutschen Innenministeriums können sich erst nach einer Serie rechtsextremer Morde und Gewalttaten zum öffentlichen Eingeständnis durchringen, dass rechtsextremer Gewalt zu wenig Gefahrenpotential beigemessen wurde.

Die Behörden des deutschen Innenministeriums können sich erst nach einer Serie rechtsextremer Morde und Gewalttaten zum öffentlichen Eingeständnis durchringen, dass rechtsextremer Gewalt zu wenig Gefahrenpotential beigemessen wurde. Die Verstrickungen und personellen Überschneidungen von Verfassungsschutz, Polizei und Neonazis leisten dazu ihren Beitrag und behindern die Aufklärungsarbeit. So erweist sich der in die Jahre gekommene Gemeinplatz, dass auf die Behörden kein Verlass sei, wenn es um antifaschistische Arbeit geht, als krisensicher und brandaktuell. Und nicht nur das: Die Nazi-Connection beim Verfassungsschutz ist seit mindestens zehn Jahren bekannt, und wird noch immer nicht in Frage gestellt.

Strategien der Verharmlosung. Ob die Schuldeingeständnisse, Reuebekundungen und Entschädigungsankündigungen der Justiz und der Polizei mehr als bloße Lippenbekenntnisse sind, wird noch zu zeigen sein. Was jedoch von Anfang an, im schlechtesten Sinne und in besonderer Deutlichkeit, zu Tage trat, sind die Versuche, rechtsextreme Gewalt zu verharmlosen: Zwei spezifische Phänomene, die im Zusammenhang mit der Neonazi-Mordserie häufig zur Geltung kommen, verweisen auf weitaus allgemeinere gesellschaftliche Probleme als „bloß“ kriminalistische Mängel. Es ist die rassistische Rede von „Döner-Morden“, die den Opfern noch den letzten Rest an Würde und Betrauerbarkeit nimmt. Indem die Opfer dieser rassistisch motivierten Morde mit einem kulturalistisch kodifizierten Gegenstand (Döner) gewaltsam identifiziert werden, verlieren sie ihren Status als Menschen. Sie sind tot. Und Döner lassen sich nicht betrauern. In dieser leichtfertigen Rhetorik zeichnen sich bereits die Konturen einer Strategie ab, die sowohl von Rechtsextremen, als auch von denen, die vor deren Auftreten, deren Gewalt, die Augen verschließen und verstummen, angewandt wird.

Alibi. Doch das Entsetzen und die Erschrockenheit über die Details, die nach und nach ans Tageslicht geraten, sind oft vor allem eines: Ausdruck der deutschen Normalität und Zeichen der Verharmlosung der menschenverachtenden Ideologie von Neonazis, NationalistInnen und Rechtsextremer aller Couleur, nicht nur in Deutschland, sondern in ganz Europa. In Österreich hingegen, wo sich die Elite der europäischen Rechten alljährlich in der Hofburg, wohl nicht nur zum Tanze, versammelt, gibt es, wie man meint, keine Probleme mit „diesen“ Rechtsextremen, sitzen sie doch domestiziert im Parlament und in anderen großen Häusern – gleich nebenan. Aber verstellt der Blick auf diese „RepräsentantInnen“ nicht gerade die Sicht auf die, die sie repräsentieren?

An Tagen wie diesem

  • 26.09.2012, 01:45

Am 27. Jänner 2012 ist der 67. Jahrestag der Befreiung des Konzentrations- und Vernichtungslagers Auschwitz-Birkenau durch sowjetische Truppen. Weltweit wird an diesem Tag der Opfer der nationalsozialistischen Vernichtungsmaschinerie gedacht. In Österreich jedoch findet ein anderes Ereignis statt

Am 27. Jänner 2012 ist der 67. Jahrestag der Befreiung des Konzentrations- und Vernichtungslagers Auschwitz-Birkenau durch sowjetische Truppen. Weltweit wird an diesem Tag der Opfer der nationalsozialistischen Vernichtungsmaschinerie gedacht. In Österreich jedoch findet ein anderes Ereignis statt: In der Hofburg, in den Prunksälen der Republik, feiert sich der Wiener Korporationsring (WKR) anlässlich seines alljährlichen Balles – unter Vorstand der Burschenschaft Olympia. Diese wird vom Dokumentationsarchiv Österreichischen Widerstands (DÖW) als rechtsextrem und revisionistisch eingestuft.
Am letzten Freitagabend im Jänner hat sich in der Wiener Innenstadt eine ungewöhnliche Tradition eingebürgert: Sie gleicht einer Geisterstadt, der oberirdische öffentliche Verkehr kommt zum Erliegen und ihre einzigen legitimen BewohnerInnen scheinen Polizeikräfte und schlagende Burschenschafter samt Begleitung zu sein. Dieses Jahr hat die dafür verantwortliche Veranstaltung einen besonders schalen Beigeschmack: Der Balltermin überschneidet sich mit dem internationalen Holocaust-Gedenktag, der seit dem Beschluss der UN-Generalversammlung im Jahr 2005 auf den 27. Jänner fällt.
An diesem Tag gelang es der sowjetischen Armee Auschwitz-Birkenau zu befreien, wo Schätzungen zufolge über eine Million Menschen, hauptsächlich Jüdinnen und Juden aus Ungarn, ums Leben kamen. Die sowjetische Armee fand jedoch nur mehr rund 7000 Inhaftierte im Lager vor. Unter den Befreiten befand sich auch Otto Frank, Anne Franks Vater. Weitere 60.000 waren in den Tagen und Wochen zuvor auf Todesmärsche in Richtung Westen geschickt worden.
An diesem Jahrestag wird der schlagende Burschenschafter und Klubchef der Wiener FPÖ Johann Gudenus wohl in der Hofburg tanzen. Für ihn stellt das kein Problem dar, denn er sieht deutschnationale Burschenschaften als bürgerliche Bewegungen. Die dem WKR vorsitzende Verbindung Olympia, welcher auch der dritte Nationalratspräsident Martin Graf angehört, zeigt allerdings mit ihrer Einladungspolitik mit Faible für prominente Holocaustleugner eindeutig, welchen Geistes Kind sie ist. Auf der Gästeliste standen bereits der wohl bekannteste revisionistische Historiker David Irving, der 2005 auf dem Weg zu einer Veranstaltung der Olympia in Wien festgenommen und später wegen Wiederbetätigung verurteilt wurde, sowie die rechtsextremen Liedermacher und NPD-Politiker Michael Müller („(...) mit sechs Millionen Juden fängt der Spaß erst richtig an“).
Hinter der bürgerlichen Fassade sind die antisemitischen und revisionistischen Botschaften leicht auszumachen. Und den schlagenden Verbindungen wird mit dieser Veranstaltung einmal mehr ermöglicht, ihre menschenverachtende Ideologie zu inszenieren. 2013 wird der WKR Ball nach momentanem Stand nicht in der Hofburg feiern dürfen. Damit reagierten die GesellschafterInnen der Hofburg auf den öffentlichen Druck, der sich in den letzten Jahren verstärkte.

Unbescholtenheit schützt nicht vor Haft

  • 20.09.2012, 16:39

Fehlurteile oder strittige Terrorismusparagraphen können für Unschuldige Gefängnis bedeuten. Auch Menschen, die in Österreich Schutz vor Verfolgung suchen, sind davon immer wieder betroffen: Schubhaft.

"In Tschetschenien wurde ich zwei Jahre lang im Gefängnis gefoltert. Nachdem ich mit Hilfe meiner Familie freigekommen bin, habe ich das Land verlassen“, erzählt der 32Jährige Lukas Kerimov*. Anfang 2007 hat er Österreich erreicht, um Schutz vor Verfolgung zu suchen. Sein erster Asylantrag wurde negativ beschieden, kurz darauf wurde er in Haft genommen ohne ein Verbrechen begangen zu haben.
Österreichweit befanden sich 2010 laut Angaben des Innenministeriums rund 6000 Personen in Schubhaft. Diese Form der Haft wird etwa dann verhängt, wenn die Republik Schutz vor Verfolgung verweigert. Kritik an der Schubhaft-Praxis ist vielschichtig und kommt nicht nur von (ehemaligen) Inhaftierten sondern auch von Hilfs- und Menschenrechtsorganisationen. Judith Ruderstaller vom Verein Asyl in Not stellt fest: „Das ist keine Strafhaft, diese Menschen haben nichts angestellt. Deswegen sollte man sie auch nicht wie Strafgefangene behandeln“.

Rudstaller weiß einiges über die Zustände in diesen Gefängnissen zu berichten: „KlientInnen beschweren sich zum Beispiel regelmäßig über die Gesundheitsversorgung. Einer hatte in der Haft einen Bandscheibenvorfall mit sehr starken Schmerzen. Von Woche zu Woche ist es ihm schlechter ergangen. Er hat mir gesagt: Die Amtsärztin macht nichts. Sie hilft mir nicht.“ Auch der österreichische Menschenrechtsbeirat kritisiert Mängel bei der medizinischen Versorgung von Schubhäftlingen und beklagt insbesondere, dass es immer noch zu wenig qualifiziertes ärztliches und psychologisches Personal gäbe.

„Freiwillige“ Rückkehr. Als ihn die Polizei abholte um ihn in das Schubhaftgefängnis am Hernalser Gürtel in Wien zu bringen, verstand Kerimov zunächst gar nicht, warum das geschah. „Ich wollte einfach nur raus, nicht abgeschoben werden“. Ruderstaller stand mit ihm eine Zeit lang in engem Kontakt und vermittelte für ihn bei Verfahrensangelegenheiten. Sie beklagt besonders die Betreuungssituation der Menschen in Schubhaft: „Bei der Betreuung ist der Verein Menschenrechte das größte Problem. Sie schreiben eigentlich kaum Schubhaftbeschwerden, sondern machen ausschließlich Rückkehrberatung. Das entspricht nicht der EU-Richtline. Nach dieser müsste es eine Rechtsberatung in den Anstalten geben. Das hat dieser Verein in der Vergangenheit aber kaum oder mangelhaft gemacht“. Der Verein Menschenrechte Österreich wird, unter anderem, vom Innenministerium finanziert und betreut in dessen Auftrag österreichweit rund 92 Prozent der Schubhäftlinge. Seit 1. Dezember gibt es auch in Österreich eine verpflichtende Rechtsberatung für Schubhäftlinge. Auf die Frage, ob sie sich von der Praxis des Vereins Besserung erwartet, da es nun eine verpflichtende rechtliche Beratung gebe, bekräftigt Ruderstaller ihre Kritik: „Ich befürchte, sie werden wahrscheinlich die gleichen Leute wie vorher nehmen, die zumeist keine juristische Ausbildung haben.“

Kritik des UNHCR. Die mangelhafte Rechtsberatung in den Schubhaftanstalten hat in der Vergangenheit immer wieder dazu geführt, dass die Interessen von AsylwerberInnen keine angemessene Vertretung bekommen haben. Auch Kerimov war damit konfrontiert: Im Schubhaftgefängnis wollte er eigentlich eine Beschwerde gegen seinen negativen Asylbescheid und seine Inhaftierung einlegen. Anstatt von den zuständigen BetreuerInnen Unterstützung zu bekommen, wurde ihm die freiwillige Rückkehr nach Tschetschenien nahegelegt. „Sie wollten, dass ich etwas unterschreibe. Ich habe nicht gewusst, was ich unterschreiben sollte. Sie sagten, ich muss unterschreiben. Später habe ich dann erfahren, dass sie wollten, dass ich freiwillig zurückkehre.“ Die Praxis der Rückkehr- und Rechtsberatung des Vereins Menschenrechte Österreich wird auch von der UNHCR (Hohes Flüchtlingskommissariat der Vereinten Nationen) kritisiert: Für einen Bericht aus dem Jahr 2008 wurden österreichweit Einzelgespräche mit SchubhaftInsassInnen geführt. Es stellte sich heraus, dass sämtliche Befragten, die vom Verein betreut wurden, nicht wussten, warum sie in Schubhaft genommen worden waren.

Hungerstreik. Nicht nur Hilfs- und Menschenrechtsorganisationen protestieren gegen Schubhaft und die Bedingungen in den Anstalten, vor allem die SchubhaftinsassInnen selbst greifen immer wieder zu drastischen Mitteln, um gegen ihre Inhaftierung zu kämpfen. Hungerstreiks sind keine Seltenheit. Manche Schubhaftgefängnisse haben eigene Räumlichkeiten für Hungerstreikende eingerichtet, die Anstalt am Hernsalser Gürtel sogar ein eigenes Stockwerk. Auch Kerimov ist kurz nach seiner Inhaftierung in Hungerstreik getreten. Er wurde aufgrund des bedrohlichen Verlusts an Körpergewicht für haftunfähig erklärt. Kurze Zeit nach seiner Entlassung hat er mit Hilfe von Judith Ruderstaller und dem Verein Asyl in Not Beschwerde gegen seinen negativen Asylbescheid eingelegt.
Als Alternativen zur Schubhaft haben die Behörden seit 2005 eine weitere Befugnis bekommen: das „Gelindere Mittel“. Dieses kann im Ermessen der Behörden anstatt einer Schubhaft verhängt werden und übergibt AsylwerberInnen, etwa wenn sie einen negativen Asylbescheid bekommen haben, in betreute Einrichtungen, in denen sie sich frei bewegen können. Sie können diese auch verlassen, müssen sich aber regelmäßig bei der Polizei oder einer Betreuungsperson melden. Laut Innenministerium wurde das Gelindere Mittel 2010 bereits in ca. 1400 Fällen angewandt. Den Menschen in diesen Einrichtungen droht aber nach wie vor die Abschiebung. Das „Gelindere Mittel“ ist kein Ersatz für ein faires Asylverfahren, das der Genfer Flüchtlingskonvention entsprechen würde.

Der Beschwerde von Lukas Kerimov wurde schließlich Recht gegeben. Seit 2009 hat er eine gültige Aufenthaltsbewilligung. In ungefähr sechs Jahren möchte er die österreichische StaatsbürgerInnenschaft beantragen.

Der Autor studiert Internationale Entwicklung.

* Die Angaben zur Person wurden auf Wunsch von der
Redaktion geändert.

Grenz(t)räume

  • 20.09.2012, 15:36

Täglich machen sich tausende Menschen aus Zentralamerika in der Hoffnung auf ein besseres Leben auf den Weg in Richtung USA. Doch die meisten von ihnen kommen niemals dort an. Laut Amnesty International ist die Migrationsreise durch das Transitland Mexiko eine der gefährlichsten der Welt.

Täglich machen sich tausende Menschen aus Zentralamerika in der Hoffnung auf ein besseres Leben auf den Weg in Richtung USA. Doch die meisten von ihnen kommen niemals dort an. Laut Amnesty International ist die Migrationsreise durch das Transitland Mexiko eine der gefährlichsten der Welt.

Es ist ruhig an den Gleisen in der Nähe von Arriaga, einer Kleinstadt im südmexikanischen Bundesstaat Chiapas. Die Sonne geht langsam auf, Grillen zirpen unter dem morgenroten Himmel. Doch plötzlich erscheint ein helles Licht am Horizont. Das Rattern des Güterzuges durchbricht die friedliche Stille. Wie ein Monster schiebt sich der Zug träge durch die Landschaft. Erst auf den zweiten Blick werden hunderte Menschen auf den Dächern der Waggons sichtbar.

Der Traum vom Norden. Jeden Tag brechen tausende Menschen ohne Papiere aus den zentralamerikanischen Ländern Honduras, El Salvador, Guatemala und Nicaragua auf, um in den USA Arbeit zu suchen. Gründe für die Migration gibt es viele: Die wirtschaftliche Situation in den zentralamerikanischen Ländern ist katastrophal. Dazu kommen noch die kaputte soziale Infrastruktur, das Erbe der ehemaligen BürgerInnenkriegsländer sowie politische Systeme, von denen die Mehrheit der Menschen ausgeschlossen ist. Die Bedrohung durch Maras, brutale Jugendbanden, ist ein weiterer häufiger Migrationsgrund. Auch die Flucht aus gewalttätigen Eheverhältnissen oder Diskriminierung aufgrund der sexuellen Orientierung spielen eine Rolle. Für viele MigrantInnen ist die Reise nach Norden der einzige Ausweg aus einem Leben in Armut und Gewalt und die einzige Möglichkeit, durch Geldrücksendungen das Überleben der Familie zu sichern.

Eine der gefährlichsten Reisen der Welt. Doch die Reise durchs Transitland Mexiko ist gefährlich, laut Amnesty International eine der gefährlichsten der Welt. Immer rigidere Visabestimmungen machen es für die Mehrheit der ZentralamerikanerInnen unmöglich, auf legalem Weg in die USA einzureisen. Durch die von der US-Regierung forcierten Migrationskontrollen, die zunehmend von der Grenze ins Inland verlagert werden, wird die Reise durchs Transitland Mexiko immer riskanter. Die Kollaboration der mexikanischen Behörden wird durch die wirtschaftliche Abhängigkeit durch das NAFTA-Freihandelsabkommen sichergestellt [Anm.: NAFTA ist ein Freihandelsabkommen zwischen den USA, Mexiko und Kanada, durch das zahlreiche Zölle abgeschafft wurden. Es wurde 1994 begründet.] Die Landstraßen Südmexikos sind mit US-finanzierten Migrationskontrollposten überzogen. Da Reisebusse und Autos nach ZentralamerikanerInnen durchsucht werden, bleibt der Güterzug das einzige Verkehrsmittel. Als blinde Passagiere reisen MigrantInnen auf den Dächern der Züge bis zu 3.000 Kilometer von einer Grenze zur anderen. „La bestia“ – die Bestie – wird der Zug genannt, wegen der Menschenleben, die er frisst. Um die 1000 Menschen sterben jährlich auf der Migrationsroute, unzählige werden verletzt. Für Frauen ist die Reise besonders gefährlich: Jeder zweite weibliche Flüchtling wird Opfer von sexueller Gewalt. Viele Frauen nehmen Vergewaltigungen in Kauf und setzen sich vor der Reise Verhütungsspritzen, damit sie wenigstens nicht schwanger werden. Oft wird der eigene Körper als Zahlungsmittel eingesetzt. Entführungen, Überfälle und Morde durch das mächtige Drogenkartell Los Zetas stehen auf der Tagesordnung. Und die Situation der MigrantInnen hat sich unter der rechten Regierung des amtierenden Präsidenten Felipe Calderón (PAN) noch verschlechtert. „Das ist die Phase, in der es uns am schwersten gemacht wird“, sagt Donar. Der Honduraner hat beim Aufspringen auf den Zug beide Beine verloren. „Es ist die schmutzigste Phase mit den meisten Toten. Früher wurden nicht so viele Leute umgebracht und entführt.“ Die mexikanische Migrationspolizei ist in die kriminellen Machenschaften verstrickt und nutzt den illegalisierten Status der MigrantInnen aus, um von diesen Reisegeld zu erpressen. Und nach mehreren Wochen Reise stellt schließlich die mexikanische Nordgrenze, deren Überwachung durch die restriktive Migrationspolitik der USA immer weiter ausgebaut wird, ein praktisch unüberwindbares Hindernis dar.

Das Ende des Traumes. Doch für viele MigrantInnen endet der amerikanische Traum schon einige tausend Kilometer vorher. „Eigentlich war ich am Weg nach Norden, aber so ist das nun“, sagt Marixa. Die junge Frau aus Honduras lächelt traurig und schaut auf ihre Wunde hinab. Wo vorher noch ein gesundes Bein war, ist jetzt ein verbundener Stumpf. Die alleinerziehende Mutter ist aus Honduras aufgebrochen, um ihrem Sohn die Schulbildung finanzieren zu können. Am Dach des Zuges ist sie eingeschlafen und hinuntergestürzt. Nun sitzt Marixa in ihrem Rollstuhl im Garten der MigrantInnenherberge Buen Pastor im südmexikanischen Tapachula. Ihre Situation ist schlimmer denn je. „Ich wusste schon vorher, dass es schwierig werden wird, die Grenze zu überqueren. Aber durch die Not, die wir haben, versuchen wir es trotzdem“, sagt Marixa. In der Herberge, die von der mutigen Doña Olga Sánchez ins Leben gerufen wurde, warten täglich Menschen auf ihre Prothese. „Ein Junge hier ist erst sechzehn und hat beide Beine verloren. Ich weiß, dass mein Leben nie wieder normal werden wird, aber stell dir vor! Er ist nur mehr ein Stück Körper, nichts weiter!“, erzählt Marixa entsetzt. Die Herberge ist nicht nur Schutzraum für MigrantInnen, sondern hat auch eine wichtige soziale Funktion: Hier können sich Menschen mit dem gleichen Schicksal kennenlernen und vernetzen. Marixas Geschichte ist kein Einzelfall, an der Außengrenze des Wirtschaftsblocks NAFTA bleiben viele MigrantInnen hängen. Einige, weil sie sich auf der Reise verletzen, andere, weil wegen Überfällen das Geld für die Weiterreise fehlt. Die mexikanische Grenzstadt Tapachula ist nicht nur Knotenpunkt für die zahlreichen Abschiebungen, sondern auch ein wichtiger Zwischenstopp für viele MigrantInnen am Weg nach Norden. Neben der Sexarbeit, die tief in der Gesellschaft der Grenzregion verwurzelt ist, werden auch die prekäre Arbeit auf der Müllhalde der Stadt sowie die gesamte Kaffeeernte von MigrantInnen übernommen. „Wenn jemand eine Arbeit hat, um das tägliche Brot zu verdienen, und ein Dach über dem Kopf, würde er sich nicht auf die Reise einlassen“, sagt Marixa. Die MigrantInnen sind sich der Risiken, die sie auf der Suche nach einem besseren Leben eingehen, durchaus bewusst. Doch solange sich die Situation in den zentralamerikanischen Ländern nicht ändert, werden weiterhin Menschen gezwungen sein, die gefährliche Reise nach Norden anzutreten.

Die Autorin studiert Politikwissenschaft, Internationale Entwicklung und Romanistik in Wien. Im Rahmen einer politischen Reise des IAK Berlin bereiste die Autorin im September und Oktober 2011 die südmexikanische Grenzregion und begleitete zentralamerikanische MigrantInnen ein Stück weit auf ihrem Weg nach Norden. (www.iak-net.de/category/reiseblogs/mexiko-blog-2011)
 

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