Nach der Haft ist vor der Haft

  • 27.09.2012, 01:49

Der Neubeginn nach einer längeren Gefängnisstrafe ist schwierig. Resozialisierungsmaßnahmen sollen helfen, ehemalige Häftlinge wieder in die Gesellschaft zu integrieren. Die Realität innerhalb und außerhalb der Mauern sieht aber anders aus.

Zehn Jahre lang die gleiche Routine: Aufstehen um sechs Uhr, Frühstück, Arbeitsdienst oder schlichtes Zeittotschlagen. Menüplan bis Kleiderwahl – alles ist geplant und fremdbestimmt. So sieht das Leben in Haft für derzeit mehr als 8700 Menschen in Österreich aus. Doch plötzlich ist alles ganz anders, die Entlassung steht bevor, von nun an ist man wieder auf sich selbst gestellt. Beinahe so schwierig wie das Leben hinter Mauern ist die Neuorientierung danach.
Das Gefängnis steht im klassischen Sinn für Bestrafung und sichere Verwahrung von RechtsbrecherInnen – ein wichtiger Aspekt ist aber auch die Resozialisierung von Häftlingen. Diese wird gegenüber Sicherheitsfragen allerdings oft vernachlässigt. So sieht das auch Arno Pilgram, wissenschaftlicher Leiter des außeruniversitären Wiener Instituts für Rechts- und Kriminalsoziologie: „Es ist natürlich das Risiko für die Vollzugsverwaltung wesentlich größer, kurzfristig bei der Sicherheitsverwirklichung zu versagen, als für ein Versagen bei der langfristigen Resozialisierung zur Verantwortung gezogen zu werden. Eine Flucht etwa ist leichter vorwerfbar und medial skandalisierbar.“

Sicherheit an erster Stelle. Für den Staat steht Sicherheit im Vordergrund, für die Häftlinge sieht es aber ganz anders aus. Im Idealfall beginnt Resozialisierung bereits am ersten Tag der Haft. Laut dem Strafvollzugsgesetz steht jedem Häftling ein Vollzugsplan zu. Dieser legt fest, an welchen Schwächen gearbeitet und welche Ziele erreicht werden sollen. Unter anderem sind eine psychotherapeutische Behandlung, aber auch individuelle Maßnahmen wie zum Beispiel Fremdsprachenkurse oder Computerkurse vorgesehen.
Am besten funktioniere die Umsetzung dieser Ziele bei mittleren Haftstrafen von drei bis fünf Jahren. Schwieriger sei es bei längeren Haftstrafen, weil deren Ende für die Justiz oft schwer vorhersehbar sei, so Pilgram. Bei Menschen, die über zehn Jahre inhaftiert werden, wird so ein Vollzugsplan oft gar nicht erstellt: „Bei Leuten, die unbestimmt angehalten werden, passiert in der Regel zunächst gar nichts. Bei lebenslang Verurteilten schaut man, wie man sie über die Tage bringt, ohne dass sie sich etwas antun oder für den Vollzug zu schwierig werden.“
Dabei wäre ein Vollzugsplan gerade für Menschen mit längerer Haftstrafe wichtig; immerhin müssen im Moment rund 2000 Häftlinge mehr als fünf Jahre im Gefängnis verbringen. Generell besteht für alle Inhaftierten nach dem Strafvollzugsgesetz Arbeitspflicht. Dafür erhalten sie ein Gehalt nach dem HilfsmetallarbeiterInnen-Kollektivvertrag, allerdings werden 75 Prozent dieses Lohns vom Gefängnis einbehalten. Übrig bleiben durchschnittlich fünf Euro pro Tag, wovon die Häftlinge die Hälfte sofort und die Hälfte später erhalten.
Die Realität in Österreichs Gefängnissen sieht allerdings anders aus, erzählt Julia Schütz*, die im Rahmen ihres Studiums der Sozialen Arbeit an der Fachhochschule Campus Wien ein vierwöchiges Praktikum im Sozialen Dienst der Justizanstalt Garsten absolviert hat: „Es ist schon möglich, drinnen zu arbeiten oder eine Lehre zu absolvieren, aber die Plätze sind beschränkt. In Garsten haben rund 50 Prozent der Leute gar nichts gemacht – die warten einfach. Wenn du dann aber 15 Jahre untätig warst, ist es extrem
schwer, wieder Fuß zu fassen.“ Tatsächlich absolvieren in der größten Strafvollzugsanstalt Österreichs in Stein nur sechs von 100 Häftlingen eine Ausbildung.

Das Leben danach. Fuß zu fassen, einen Arbeitsplatz und eine Wohnung zu finden – das sind in den ersten Wochen in Freiheit die wichtigsten Schritte zurück ins Leben. Dabei hilft Andreas Zembaty von der Organisation neustart. Dort arbeiten 550 BewährungshelferInnen und 950 ehrenamtliche MitarbeiterInnen. Vor allem nach langen Haftstrafen kann ein Neubeginn schwierig sein, berichtet Zembaty: „Die Menschen drinnen werden zu einem Strafvollzug heranerzogen, der mit den Problemen draußen nichts zu tun hat. Das ist wie bei einem Vogel, dem man das Fliegen in einem Käfig lernen möchte. Dann macht man die Tür auf und wundert sich, dass der Vogel zu Boden stürzt.“ Jeder Schritt im Gefängnis ist vorgegeben, in Freiheit müssen alltägliche Routinen wieder neu gelernt werden. Denn das Leben im Gefängnis hat auch im Umgang miteinander nur wenig mit realen Bedingungen zu tun. Zembaty spricht von der Bildung einer eigenen Gefängnissubkultur, in der strafbare Handlungen an der Tagesordnung stehen: „Gerade in großen Justizanstalten wie Stein oder Garsten sind Häftlinge oft damit beschäftigt, ihr eigenes Überleben zu sichern. Wem muss ich drohen? Mit wem muss ich mich arrangieren? Das sind Verhaltensweisen, die draußen unbrauchbar sind.“ Diese abzulegen, ist harte Arbeit. Die Resozialisierung beginnt meist erst nach der Entlassung.
„Das primäre Ziel des Gefängnisses ist sozialer Ausschluss, Wegschließen, nicht Resozialisierung. Erst wenn sich das Ende der Haft nähert, wird über Resozialisierung nachgedacht“, erklärt Kriminalsoziologe Pilgram. Tatsächlich kommen auf eineN JustizwachebediensteteN nur drei Häftlinge, während einE BewährungshelferIn 45 ehemals Inhaftierte betreuen muss. Dementsprechend schwierig gestaltet sich die Arbeit der SozialarbeiterInnen von neustart mit ihren KlientInnen. Oft kommt es zu Rückfällen, besonders bei langen Haftstrafen. Wenn keine Betreuung in Anspruch genommen wird, liegt die Rückfallsquote bei etwa 80 Prozent und das in den ersten sechs Monaten nach der Entlassung. Bei einer Begleitung durch neustart sinkt die Quote auf 40 Prozent. Diese in Anspruch zu nehmen, ist allerdings nicht verpflichtend. Nur auf Bewährung Entlassene müssen Betreuungstermine wahrnehmen. Allerdings beobachtet der Sozialarbeiter Zembaty bei WiederholungstäterInnen häufig ein Abschwächungssyndrom: „Das heißt, dass auf ein strafrechtlich schwerwiegendes Delikt oft ein leichteres folgt. Zum Beispiel wird aus schwerer Körperverletzung Diebstahl.“
Zembaty, der bereits über 500 KlientInnen betreut hat, ist überzeugt, dass sich Rückfälle im momentanen Strafvollzug nicht gänzlich verhindern lassen. Dazu gebe es zu wenig Handlungsspielraum, trotz engagierter JustizbeamtInnen. Diese Erfahrung hat auch Schütz in Garsten gemacht: „Ich hatte das Gefühl, dass die Handlungsmöglichkeiten sehr eingeschränkt sind. Jede kleine Veranstaltung muss erst vom Bundesministerium genehmigt werden. Das dauert oft ewig und erschwert kreative Ansätze.“ Das mache die Arbeit mit Häftlingen nicht selten frustrierend.
Und der Job als SozialarbeiterIn lässt diese auch an persönliche Grenzen stoßen. Das leugnet auch Zembaty nicht: „Es gibt auch Situationen, wo man einfach verzweifelt ist und nach Hause geht und heult.“ Trotzdem wiegen die Erfolgserlebnisse stärker: „Man muss bereit sein, diese Rührung auf sich zu nehmen und die eigene Betroffenheit zu leben. Um in der Arbeit mit Menschen wirksam zu sein, muss ich mich auch als Mensch einbringen.“

Muss Strafe sein? In einem Punkt sind sich WissenschaftlerInnen und SozialarbeiterInnen einig: Es gibt Verbesserungsbedarf beim Strafvollzug und der anschließenden Resozialisierung. Die Betreuung hinter den Mauern wird durch Überbelegung und nicht vorhandene finanzielle Mittel erschwert. „Belagszahlen zu reduzieren, ist kein kriminalpolitisches Credo. Es lässt sich beobachten, dass immer neue soziale Probleme mit Strafrecht und Haft gelöst werden sollen, ohne Rücksicht darauf, was das für Justiz und Vollzug bedeutet“, bestätigt Pilgram.
Zembaty von neustart wünscht sich generell einen offeneren Vollzug. Denn kein Strafvollzug der Welt könne die Erwartungen der Bevölkerung erfüllen und gleichzeitig Menschenrechte wahren. Deshalb setzt neustart auf diversionelle Erledigungen. Das bedeutet, dass auch Alternativen vor dem Gerichtsverfahren wie ein Ausgleich oder ein TäterIn-Opfer-Gespräch stärker genutzt werden sollen.
„Wir wissen, dass der Rückfall dort am größten ist, wo am strengsten gestraft wird.“ Daher hält Zembaty es sowohl für humaner als auch ökonomisch sinnvoller, Alternativen zur klassischen Haft zu suchen. Denn am Anfang jedes Falls sollte die Frage stehen: Muss Strafe überhaupt sein?
Der Strafvollzug in der Schweiz gilt als liberal. Hier überlegt man, welche Strafe den besten Zweck erfüllt. In der Haft selbst werden die Defizite der Strafgefangenen analysiert und es wird gezielt daran gearbeitet. Wann eine Entlassung auf Bewährung in Frage kommt, entscheidet der Vollzug und nicht die/der RichterIn. Die Rückfallquoten sind dementsprechend geringer.
„Wenn man schon früh ambitionierte alternative Maßnahmen setzt, erspart man sich letztlich einen Vollzug, der bei allem Engagement nicht optimal sein kann“, zeigt sich Zembaty überzeugt. In Österreich wird erst langsam mit diesen Alternativen earbeitet, der elektronische Hausarrest – auch Fußfessel genannt – ist ein umstrittenes Pilotprojekt. „In den 70er-Jahren gab es von sozialdemokratischem Optimismus geprägt die Utopie einer gefängnislosen Gesellschaft“, erklärt der Kriminalsoziologe Pilgram. Doch diese Aufbruchsstimmung war schnell vorüber. Auch Zembaty glaubt nicht an die Verwirklichung dieser Idealvorstellung: „Man wird nicht ganz auf den Strafvollzug verzichten können. Es gibt Leute, für die haben auch wir keine bessere Idee.“
Kritisch sehen aber beide, dass sich das Gefängnis heute wieder mehr in Richtung Verwahrungsanstalt entwickelt. Dadurch werden die Häftlinge immer stärker aus dem Sichtfeld der Gesellschaft gedrängt. Fachhochschulstudentin Schütz kann dem zustimmen: „Mir kommt es so vor, als wäre die Gesellschaft damit zufrieden, dass Menschen hinter Mauern gesperrt und von der Öffentlichkeit nicht mehr wahrgenommen werden. Es interessiert niemanden, was dahinter geschieht oder auch nicht.“

Barbara Wakolbinger und Elisabeth Mittendorfer studieren Journalismus und Medienmanagement an der FH in Wien.

* Name auf Wunsch geändert.

AutorInnen: Barbara Wakolbinger, Elisabeth Mittendorfer