Als Ausrede benutzt

  • 27.09.2012, 03:08

Bologna-Prozess bezeichnet das Projekt eines einheitlichen Hochschulsystems in 47 Ländern. Ziele sind unter anderem einheitliche Studienabschlüsse, das ECTS-System, studierendenzentriertes Lernen und die soziale Dimension. Darüber diskutieren Barbara Blaha, Friedrich Faulhammer, Eva Blimlinger, Iris Schwarzenbacher sowie Herbert Hrachovec. Unter der Moderation von Dominik Wurnig prallten Welten aufeinander.

Bologna-Prozess bezeichnet das Projekt eines einheitlichen Hochschulsystems in 47 Ländern. Ziele sind unter anderem einheitliche Studienabschlüsse, das ECTS-System, studierendenzentriertes Lernen und die soziale Dimension. Darüber diskutieren die ehemalige ÖH-Vorsitzende Barbara Blaha, Friedrich Faulhammer vom Wissenschaftsministerium, die Rektorin der Akademie der bildenden Künste Wien Eva Blimlinger, die Bologna-Expertin der ÖH Iris Schwarzenbacher sowie Herbert Hrachovec, ehemaliger Leiter der Curricularkommission der Uni Wien. Unter der Moderation von Dominik Wurnig prallten Welten aufeinander.

PROGRESS: Herr Hrachovec, Sie haben in den 60er und 70er Jahren studiert. Würden Sie lieber heute studieren?
HRACHOVEC (lacht): Die Studienbedingungen Ende der 60er-Jahre waren um vieles lockerer, freier, selbstbestimmter. Jetzt hat die Universität Wien 85.000 Studierende. Mehr Orientierung und auch eine größere Durchregulierung sind deshalb notwendig.
SCHWARZENBACHER: Ich als aktuell Studierende sehe das anders. Die große Freiheit, die es vielleicht in den 70er-Jahren gegeben hat, gibt es heute absolut gar nicht mehr. Aber war das wirklich notwendig? Der Bologna-Prozess wurde doch als Ausrede benutzt, um Wahlfreiheiten einzuschränken. Die Studienpläne sind nicht mehr flexibel und es ist zu einer ganz starken Verschulung gekommen.

War es früher also wirklich besser? Hat der Bologna-Prozess Spielräume beschränkt? Wo liegt die Verantwortung für diese Beschränkung von Spielräumen?
BLIMLINGER: Verschulung hat nicht notwendigerweise etwas mit dem Bologna-Prozess zu tun. Die Verantwortung liegt bei den Universitäten selber, die diese Art von Studienplänen genehmigen. Man hätte diese ziemlich frei gestalten können. Das hat man aber leider nicht gemacht.
BLAHA: Dass da vom Ministerium nicht gegengesteuert wurde, ist ein Problem. Zu sagen, da sind die Universitäten schuld, das greift mir zu kurz. Weil es da schon auch eine politische Verantwortung gibt. Da appelliere ich an das Ministerium. Ich wünsche mir jetzt keine Vorgabe. Aber irgendwer muss hier koordinieren, wenn die Universitäten dazu nicht im Stande sind.
HRACHOVEC: In dem Moment, in dem man den Universitäten mehr Kompetenzen zur Regelung gibt, ergreifen sie diese freudig. Und machen das noch um einiges dichter als es das Ministerium je machen konnte.
BLIMLINGER: Das ist doch die Absurdität!

Also mehr Initiative von Seiten des Ministeriums?
FAULHAMMER: Bei der Autonomisierung der Universität hat das Ministerium massiv Einfluss zurückgenommen und den universitären Organen Möglichkeiten zur Regelung übertragen. Ich glaube nicht, dass es jetzt die Lösung sein kann, dass das Ministerium beginnt, Einfluss auf die Curricula zu nehmen.
HRACHOVEC: Bei den letzten beiden Novellen greift das Ministerium aber sehr wohl in die Curricula ein. Und zwar bei der Studieneingangsphase. Das haut uns die gesamte Curricularplanung zusammen.
FAULHAMMER: Sie wissen ganz genau: Das Ministerium wollte eine andere Novelle, die den Universitäten eine Regelung des Zugangs ermöglicht. Und wir werden uns weiterhin bemühen, vor allem in Massenfächern eine Regelung des Zugangs zustandezubringen.
SCHWARZENBACHER: Auch wenn man es immer wieder sagen muss und immer wieder betonen muss: Es gibt in Österreich zu wenig Studierende. Es gibt nicht nur zu wenig Absolventen und Absolventinnen, sondern auch zu wenig StudienanfängerInnen.

Welche Konsequenzen hat diese Tendenz zur stärkeren Regulierung in Folge von Bologna konkret für Studierende?
HRACHOVEC: Vor der Bologna-Reform haben die Geisteswissenschaften 40 Prozent ihres Studiums als freie Wahlfächer definiert. Das wurde vom Gesetzgeber geregelt. An der Universität Wien hat das zu den berühmt-berüchtigten Erweiterungscurricula geführt. Das ist stark kritisiert worden.
FAULHAMMER: Aber ich kann mich sehr gut erinnern, wie sehr die Vertreterinnen und Vertreter der Geisteswissenschaften die freien Wahlfächer kritisiert haben, diese breite Wahlmöglichkeit. Die Studierenden hingegen haben das sehr positiv gefunden. SCHWARZENBACHER: Aus Studierendensicht sind die neuen Erweiterungscurricula auch keine Alternative. Durch diese vorgefertigten Pakete kann ich nicht meinen Schwerpunkt setzen, was allerdings die Intention hinter Wahlfreiheit und hinter Wahlfächern sein sollte.
HRACHOVEC: Mit dem alten System konnte man keine vertretbare Gesamtbudgetplanung machen. Weil wir müssen ja dem Ministerium gegenüber sagen: Soundso viel sind unsere Aufwendungen für eine Studentin. Wir können das dem Ministerium so nicht sagen, da wir diese Daten nicht haben.
BLIMLINGER: Entschuldigung, das müsst ihr dem Ministerium Gott sei Dank noch nicht sagen. Das ist eine Studienplatzfinanzierung, hallo! Ihr müsst eine Budgetplanung machen, wo ihr schaut, ob das Curriculum bedeckt ist.

Wie kommt es, dass an manchen Universitäten die Umstrukturierung im Sinne von Bologna so schnell vor sich ging, während sie andernorts gar nicht vorgenommen wurde?
HRACHOVEC: Die Idee der Modularisierung ist stark gepusht worden. Von wem? Von der Bologna-Follow-up-Gruppe. Das Ministerium hat sich zurückgezogen, und gesagt: „Richtet euch danach, was die Bologna-Follow-up-Gruppe macht. Und wenn ihr das nicht macht, dann kriegt ihr kein Geld.“
BLIMLINGER: Das stimmt doch gar nicht.
HRACHOVEC: Selbstverständlich. Wenn wir nicht umstellen, haben wir Schwierigkeiten in der nächsten Budgetverhandlung.
BLIMLINGER: Also, die Akademie [Anm.: Akademie der bildenden Künste Wien] hat nur in der Architektur umgestellt, die Angewandte [Anm.: Universität für angewandte Kunst Wien] hat nicht umgestellt. Und wir haben auch Geld bekommen, oder?
FAULHAMMER: Richtig!

Hatte das keinerlei Konsequenzen?
BLIMLINGER: Nein. Solange ich Rektorin bin und keinen Zwang habe, werden wir an der Bildenden das nicht umstellen. Und ich bin mir sicher, es hat keine Konsequenzen. Wir können auch erklären, warum wir nicht umstellen und warum es nicht sinnvoll ist.
BLAHA: Da ist der Druck vom Rektorat unter Georg Winckler (Anm. d. Redaktion: Rektor der Uni Wien von 1999 bis 2011) vielleicht ein anderer gewesen?
HRACHOVEC: Das war sicher so.

Es wurde viel über die Vergangenheit geredet. Was sollte oder könnte sich vorausschauend ändern?
SCHWARZENBACHER: Ich glaube, dass der Bologna-Prozess in vielen Bereichen verfehlt umgesetzt ist. Die soziale Durchmischung an den Universitäten oder „Student Centered Learning“ sind Arbeitsschwerpunkte im Bologna-Prozess, die de facto von den Nationalstaaten nicht bearbeitet werden.
BLIMLINGER: Zukunftsvision ist für mich die Trennung von ECTS-Punkten und Arbeitsstunden der Lehrenden. Die Bindung der ECTS-Punkte an die Stunden ist ja lediglich dem geschuldet, dass es ein Hochschullehrerdienstrecht gibt, wo nach Stunden bezahlt wird. Weil wir wissen alle, es funktioniert im Grunde so: Wie kommen wir mit den vorhandenen Stunden auf der einen Seite zu den notwendigen ECTSPunkten auf der anderen Seite. Nur, das ist völlig unerheblich, wie viele Stunden der Lehrende dort steht. Der Workload der Studierenden ist das Wichtige. Und einhergehend damit, ist aus meiner Sicht erstrebenswert, dass es auch Möglichkeiten gibt, sich für ein Studium Tätigkeiten außerhalb der Universität – und damit meine ich nicht unbezahlte Praktika –  anrechnen zu lassen.
FAULHAMMER: Aus meiner Sicht hat die Lehre nicht den Stellenwert, den sie haben sollte. Das studierendenzentrierte Lernen, das am Outcome orientiert ist, ist noch nicht wirklich angekommen. Bei der sozialen Dimension habe ich naturgemäß eine andere Auffassung. Sie wissen, dass die soziale Durchmischung im Fachhochschulbereich, wo es Zugangsregelungen und teilweise Studienbeiträge gibt, deutlich besser ist. Wenn es die Zugangsregelungen gibt, können wir gezielte Maßnahmen setzen, um Studierende aus benachteiligten Schichten verstärkt zu berücksichtigen. Wir schauen uns auch das Thema „Affirmative Action“ an, um zu sehen, welche Möglichkeiten es da gibt.
BLAHA: Ich möchte noch den Aspekt des Dualismus von Forschung und Lehre einbringen. Mein Eindruck ist, dass Lehre abseits des Mainstreams, nicht zuletzt auch durch die Kürzung der Wahlfächer, ziemlich unter die Räder gekommen ist. Das hat auch ganz viel damit zu tun, dass sich Forscher und Forscherinnen logischerweise überlegen, wohin ihre Energie und ihre Arbeitszeit gehen. Und das ist dann der Artikel im Journal und nicht die besonders gut aufbereitete Lehrveranstaltung für ein Massenpublikum.
 

AutorInnen: Dominik Wurnig