Dezember 2011

Einfach ein geiles Heft

  • 20.09.2012, 02:13

Sonja Eismann (38) ist ChefInnenredakteurin und Mitgründerin des ersten popfeministischen Magazins im deutschsprachigen Raum. Neben ihrer Tätigkeit beim Missy Magazine arbeitet sie als freie Journalistin und Kulturwissenschaftlerin in Deutschland, der Schweiz und Österreich. Ein Portrait.

Sonja Eismann (38) ist ChefInnenredakteurin und Mitgründerin des ersten popfeministischen Magazins im deutschsprachigen Raum. Neben ihrer Tätigkeit beim Missy Magazine arbeitet sie als freie Journalistin und Kulturwissenschaftlerin in Deutschland, der Schweiz und Österreich. Ein Portrait.

Sonja Eismann lacht, wenn Beth Ditto sich bei Wetten, dass..? auf Hansi Hinterseers Schoß wirft. Außerdem mag sie Tiere mit weichem Fell, bevorzugt bei Interviews persönliche Fragen und findet Fanzines toll. Zu letzterem hat sicherlich ihr Studienaufenthalt in Santa Cruz beigetragen. Dort konnte sie nicht nur die heimische „Do it Yourself “-Szene (kurz: DIY*) für sich entdecken, sondern zudem ihr Interesse für feministische Theorie an der Uni festigen. Auf Kellerkonzerten und in Comicläden lernte sie die Punks und Hippies Kaliforniens kennen und schätzen. An der University of California kam Eismann außerdem mit feministischen Theoretikerinnen wie Angela Davis, Wendy Brown oder Teresa de Lauretis in Berührung und besuchte Seminare zu „marxism and literature“. In Wien, wo sie Vergleichende Literaturwissenschaft studierte, beeinflussten die dort gewonnenen Eindrücke dann die eigenen Projekte: Mit einer Freundin kreierte sie etwa ihre erste eigene DinA6-Zeitung namens Annikafisch. Eismann wusste damals noch nicht, dass diese Erfahrungen maßgeblich zur Schaffung des ersten deutschsprachigen popfeministischen Magazins beitragen würden. „Man muss realistisch sein, das ist nicht möglich“, dachte sich Eismann damals noch. Denn im Zuge ihrer Tätigkeit als Musikjournalistin unter anderem bei dem Popmagazin Intro hatte sie die Erfahrung gemacht, dass selbst auflagenstarke Popzeitschriften mit existenzbedrohlichen finanziellen Problemen zu kämpfen haben. 2008 ging dann Eismanns
Traum vom eigenen feministischen Magazin mit größerer Reichweite in Erfüllung. Mit Stephanie Lohaus und Ladyfestbekanntschaft Chris Köver wurde – den schwierigen Umständen zum Trotz – ein Konzept erarbeitet, das mit gereifter Professionalität feministische Inhalte einer breiten Öffentlichkeit zugänglich machen, also Popkultur und Feminismus verbinden sollte. Im Stil amerikanischer Formate wie Bust oder Bitch sollte das deutschsprachige Pendant geschaffen werden. In Zeiten, in denen oft von der Krise des Printmarkts die Rede ist, galt dies natürlich als waghalsiges und zugleich idealistisches Unterfangen – dies schien Eismann & Co jedoch weder abzuschrecken noch von der Umsetzung abzuhalten. Der Plan ging auf. Das Missy Magazine gilt seit seiner Entstehung als überaus erfolgreich: Es gewann 2008 den Hobnox Evolution Contest und mittlerweile werden sogar schon die ersten Bachelorarbeiten über das Magazin verfasst.

DiY und Unternehmerinnentum. „Ohne es zu wollen, sind wir Unternehmerinnen geworden. Eigentlich wollten wir einfach nur ein geiles Heft machen“, wundert sich Eismann über den Status Quo. Obwohl sie den DIY-Gedanken „schön und gut“ findet, steht sie dem Trend zum „crafting“ und „Kreativ-Kapitalismus“ durchaus skeptisch gegenüber. Angesichts des Ausbruchs kreativer Hypes wie zum Beispiel der Strickmanie der letzten Jahre, die sich oft in Form von Knit-Ins bemerkbar macht, lässt sich eine Entpolitisierung feststellen, die weniger mit der Popularisierung dieser Tätigkeiten, als mit der Reproduktion von unternehmerischem Denken und Strukturen zu tun hat. Diese dienen oft nur noch dem reinen Selbstzweck. Das hat mit Politik und Feminismus nicht mehr viel zu tun. Oftmals handle es sich dabei um eine Form der Selbstausbeutung, die dann auch noch als genussvoll dargestellt werde, meint Eismann. Sie betrachtet das Verschwimmen der Grenzen von Privatem und Beruflichem im DIY-Lebensstil deshalb als kritikwürdig und problematisch. Aber das Missy Magazine muss sich ganz ohne Förderungen über Wasser halten. Und Eismann ist somit ironischerweise selbst Unternehmerin. Anders scheint ein Magazin in dieser Größenordnung heute nämlich nicht mehr realisierbar zu sein.

Das Private ist politisch. Die feministische Haltung, die das Missy Magazine durchzieht, findet auch in Eismanns privatem Leben ihren Platz. So hat sie sich bewusst einen Partner ausgesucht, mit dem die Arbeitsteilung hinsichtlich Kinderbetreuung gut funktioniert und alles gerecht geteilt wird. „Da bin ich schon relativ entschlossen“, stellt Eismann klar. Einen anderen Partner könne sie sich an ihrer Seite auch gar nicht vorstellen. Trotz „toller Kita“ und optimalem Partner lässt sich Beruf und Familie aber nicht immer ganz ohne Probleme unter einen Hut bringen. Als freie Journalistin ist Eismann viel auf Reisen. Wenn sie dann abends nach Hause kommt und eigentlich noch Arbeit ansteht, könne das schon wahnsinnig anstrengend sein. Eismann bleibt aber dennoch lieber – wie sie sagt – „ihre eigene Herrin“. Auch wenn sie die Schattenseiten ihres Berufs kennt und das Leben im Prekariat keinesfalls glorifizieren will – sie macht ihren Job eben gerne. „Ich kann einfach nichts anderes, sonst würde ich das ja auch machen“, sagt sie schmunzelnd.

Auf Achse. Stillstand scheint Eismann jedenfalls nicht zuzusagen. Endgültig will sie sich auch nicht auf den beruflichen Status festlegen lassen. Dazu hat sie nicht den klassischen Ausbildungsweg beschritten und keine typische Karriere durchlaufen, worüber sie auch froh ist: „Wie man da so getrimmt wird, finde ich furchtbar“, sagt sie und meint damit vor allem die herkömmlichen Journalismusschulen. So blickt sie lieber auf zukünftige mögliche Entwicklungen und steckt Energie und Zeit in zahlreiche neue Projekte: Derzeit leitet sie etwa eine Lehrveranstaltung in Basel und ist in diversen Ausstellungsund Buchprojekten involviert. Zukünftig möchte sie verstärkt im universitären Bereich, vor allem in der Schweiz und in Österreich, arbeiten: „Im Journalismus ist leider echt kein Geld zu holen“, sagt Eismann.

Die Autorin studiert Politikwissenschaften in Wien.

* DIY-Feminismus bedeutet, Feminismus selbst zu machen und nicht auf Profis zu warten, die Veränderungen für eine vollbringen. Oft ist die DIY-Bewegung verknüpft mit Graswurzelbewegungen.

 

Vier Quadratmeter

  • 20.09.2012, 01:49

Es war ein Morgen wie jeder andere, als Markus (25) vor sechs Jahren wegen vermuteten Besitzes und Verkaufs von Cannabis ohne Vorwarnung festgenommen und für fast zwei Monate in Untersuchungshaft gesteckt wurde. Im Gespräch mit der PROGRESS-Redaktion erzählte er von schlaflosen Nächten, Sonntagen im Knast und Zeit, die nicht verrann.

"Ich war für sechs Wochen in der Justizanstalt Eisenstadt inhaftiert. Über  Persönliches möchte ich nicht sprechen. Aber über den Alltag kann ich berichten. Am ersten Tag kennst du dich erst mal gar nicht aus. Die erste Woche war ich in Einzelhaft. Die Wärter haben auf mich vergessen beim Spazierengehen. Ich habe den anderen zugesehen, als sie im Hof ihre Runden zogen. Und so bin ich vier Tage nur in der Zelle gesessen. Das war einfach …
In meiner Zelle gab es ein kleines Loch in der Wand. Da konnte man Kopfhörer anstecken und Radio hören. Ö3, Krone Hitradio, Radio Burgenland. Super. Der Kontakt zur Außenwelt ist minimal. Ich habe Briefe bekommen. Die waren immer schon geöffnet und gelesen. In der ersten Woche hatte ich zu niemandem Kontakt, auch Besuch war nicht erlaubt. Der kam erst später und ist immer mit einer Glaswand von dir getrennt. Außerdem steht immer ein Jusstudent daneben und hört zu, damit niemand über den Fall redet. Die Polizei sagt dir, du wirst bald wieder entlassen. Aber schnell realisierst du: Das stimmt nicht.

Handschellen. Verhaftet wurde ich zu Hause, an einem Mittwoch in der Früh, kurz nachdem ich aufgestanden bin. Es hat geläutet, aber ich konnte durch den Spion niemanden erkennen. Ich habe gefragt, wer da ist. „Polizei, aufmachen!“ Ich war versteinert. Es hat gegen die Tür gedonnert. Ich habe aufgemacht, zwei von ihnen haben sich auf mich gestürzt, ich hatte sofort Handschellen am Rücken. Die Polizei hat in meinem Zimmer drei Gramm Gras gefunden. Das war dumm. Sie haben mich mit Anschuldigungen überhäuft, dass ich ein Drogenboss sei. Sie haben mir die Achter um die Handgelenke geschlossen und mich mitgenommen. Für alle sichtbar wurde ich durch die Einkaufsstraße abgeführt. Auf der Wache wurde ich verhört, den ganzen Tag. Sie haben mich angelogen und mich eingeschüchtert. Als sie mir wen geschickt haben, die Vertrauen zu mir aufgebaut hat, bin ich auf sie reingefallen. Sie hat mich zum Reden gebracht. Ich hab mich verhaspelt und bekam Angst. Sie wissen, ein junger Typ, der kennt seine Rechte nicht. Das nutzen sie aus. Ich bin ihnen ins Messer gelaufen. Nach Eisenstadt kommen nur Leute mit kurzen Haftstrafen und Untersuchungshaft. Wer trotzdem länger dort ist, kann auch arbeiten gehen. Als Kugelschreiberabpacker, als Gärtner, als Koch – aber in die Küche kommt man nicht so leicht, da wollen alle hin. Mit der Zeit bekommt man Privilegien. Aber wenn du arbeiten gehst, wirst du erst recht wieder grundlos permanent von den Aufsehern angeschnauzt und musst dich mit ihnen auseinandersetzen. Ich war also nur in der Drogentherapiegruppe. Das war Ablenkung und zugleich ein kleines Kabarett. Ansonsten habe ich mich für alles, was irgendwie gegangen ist, angemeldet. Ich habe mich auch immer zum Arzt einschreiben lassen. Die Tabletten nahm ich aber nicht. Ständig wurde mir etwas verschrieben: Schlaftabletten, Antidepressiva und so. Da kommst du als Kiffer rein und gehst als Tablettensüchtler raus.

23 Stunden Zelle, 1 Stunde Hofgang. Der Alltag ist im Gefängnis so, dass du relativ früh geweckt wirst. Am Vormittag kann man eine Stunde raus gehen. Dann ist Mittagessen. Und dann macht man die ganze Zeit nichts. Oder man geht zum Arzt. Auch in die Kirche hätte ich gehen können. Nach meiner Einzelhaft wurde ich in eine Fünferzelle verlegt. 20 Quadratmeter, also rund vier für jeden, mit vergitterten Fenstern. Es sind dort nur Männer. Ich war einer der Jüngsten. Jünger war nur ein 14Jähriger, ein 16Jähriger und dann kam schon ich mit meinen 19 Jahren damals. Der Älteste war 74. Er ist auch wegen Gras gesessen. Seine Frau ist gestorben und hat ihm Schulden hinterlassen. Er war Pensionist, hatte keine Arbeit, hat nicht gewusst, wie er die Schulden zurückzahlen soll. Dann hat er Gras angebaut. Was sollte er sonst machen? Ich hatte immer normales Gewand an. In Eisenstadt gibt es keine Anstaltskleidung. Alle hatten normales Gewand an. Duschen konnten wir nur einmal in der Woche. Einmal, als wir zum Arzt gefahren wurden, waren zwei Ungarn mit. Sie wurden von den Aufsehern niedergemacht und als „Ausländer“ und „Scheiß Tschuschen“ beschimpft. Das war sehr heftig. Als Ausländer hast du es überhaupt schwieriger. Du kriegst keinen guten Anwalt, die Anwälte kommen teilweise nicht einmal. Dir wird ständig mit Abschiebung gedroht. Und wenn du Ausländer bist, halten sie dich auf jeden Fall bis zum Prozess in Untersuchungshaft. Viele haben auch gesagt, dass die Gefängnisse in Österreich beispielsweise im Vergleich zu Albanien viel schlimmer seien. Ich bin nicht dafür, dass man Menschen einsperrt – das war ich auch davor nicht. Aber es ist eine schwierige Frage. Vor allem bei MörderInnen, beispielsweise. Man sollte differenzieren: Zwischen Menschen, die anderen schaden, und Dingen wie dem Konsum von Marihuana. Und: Die Ausbildung von PolizistInnen und RichterInnen ist zu schlecht. Es wird viel zu unsorgfältig mit dem Leben von Leuten umgegangen. Wenn ich Geschichten höre, wie dass jemand nach 17 Jahren unschuldig entlassen wird – das darf einfach nicht passieren. Was willst du ihm geben, damit das jemals wieder gut ist? Das Schlimme an der U-Haft ist, dass du nie weißt, was los ist, was draußen passiert, wie lang du noch dort bist. Die Zeit vergeht extrem langsam. Sechs Wochen sind mir vorgekommen wie ein halbes Jahr. Einschlafen ist sehr schwer. Es gibt keine Bewegung, keinen Auslauf. Und auch das Kiffen ist weggefallen. In der Einzelhaft habe ich mich hingelegt, sobald es dunkel war. Dann sind vier Stunden vergangen, bis ich endlich eingeschlafen bin. Das kommt dir wie eine Ewigkeit vor.

Entlassung. Und dann war es aus, dann stehst du da. Was mach ich jetzt? Das war davor immer in weiter Ferne. Mir wurde ja oft gesagt, dass ich schon bald gehen könne. Das hat nie gestimmt. Wenn sowas passiert, hörst du auf, in kleinen Schritten und an die nähere Zukunft zu denken. Meine Entlassung war ganz plötzlich. Es hat geheißen, ich solle aus der Zelle raus, die Richterin möchte mich sehen. Als ich in ihr Büro kam, war sie nicht einmal da. Nur ihre Vertretung. Sie sagte, dass ich entlassen würde. Leiwand! Aber ich war auch völlig überrumpelt. Ich habe nur kurz meine Sachen geholt. Ich bin raus, hab meine Mama angerufen. Die hat’s gar nicht mehr gepackt. Und dann hat mich mein Vater abgeholt. Wir sind nach Hause gefahren. Pizza essen.“

Markus (25), Name von der Redaktion geändert, will anonym
bleiben. Nach der Untersuchungshaft wurde er zu einer
bedingten Haftstrafe verurteilt.

Nachhilfe in: Geschlechtergerechte Erziehung

  • 20.09.2012, 01:32

Im September 2011 bekannte sich die Bundesregierung zu einer nachhaltigen umsetzung von Gender Mainstreaming. Wie wird dieses Bekenntnis umgesetzt und welchen Spielraum gibt es wirklich für geschlechtergerechte Erziehung?

Im September 2011 bekannte sich die Bundesregierung zu einer nachhaltigen umsetzung von Gender Mainstreaming. Wie wird dieses Bekenntnis umgesetzt und welchen Spielraum gibt es wirklich für geschlechtergerechte Erziehung?

Gleichberechtigung in Kinderschuhen. Wer im Kindergarten die kleinen Geschwister oder eigenen Kinder abholt, denjenigen oder diejenige mag die ausgeprägte Präsenz von Fantasiespielen überraschen. Das Mädchen ist Prinzessin, wird von ihrem Spielkameraden, einem Ritter, errettet. Gleich daneben üben sich Mädchen in klassischen Haushaltsaufgaben im „Vater-Mutter-Kind“-Versuch. Kindern beim Spielen zuzusehen, hat eine eigene Faszination, vielleicht weil sie sich ungetrübt mit der Welt beschäftigen, wie es kein Erwachsener kann. Wer jedoch aufmerksam ist, wird feststellen, dass Kinder dabei als unbarmherzige Spiegel gesellschaftliche Strukturen unverzerrt wiedergeben. Kinder nehmen schon im jüngsten Alter gesellschaftspolitische Zustände in ihrer Umwelt, sei durch Familie, FreundInnen oder Medien, auf. Gerade deshalb ist die Auseinandersetzung mit dem Thema Gleichberechtigung eine wichtige.

Karl-Martin Wolffhardt-Cermak ist Kindergärtner in der WUK-Kindergruppe ‚Kinderinsel’. Er ist überzeugt davon, Kinder von Anfang an in ihrer Geschlechtsentwicklung zu begleiten und sich gemeinsam mit den Kindern damit auseinanderzusetzen. „Geschlechtsspezifische Sozialisation ist in unserer Arbeit sehr wesentlich. Geschlechteridentität wird, wie häufig belegt, nicht biologisch, sondern kulturell erworben. Dabei kommt uns als Institution eine besondere Aufgabe zu.“ In der „Kinderinsel“ wird auf einen reflektierten Umgang mit Koedukation geachtet. „Wir beobachten genau, wie welche Räume von den Kindern genutzt werden und setzen da auch immer wieder bewusst Buben-, Mädchenzeiten ein, um Raum für unterschiedliches Nutzungsverhalten zu geben. Möglichst vielfältige Gelegenheiten zu Körper und Sinneswahrnehmungen sind wichtige Voraussetzung für einen entspannten Umgang mit „mir und anderen“, erklärt Wolffhardt-Cermak im Gespräch. Neben einem bewussten Sprachgebrauch im Alltag und pädagogischem Material ist die Vorbildwirkung eine wichtige. Ein gemischtgeschlechtliches PädagogInnenteam, welches in der Erziehung nicht den „klassischen“ Rollenmustern nacheifert, sieht auch der Kindergärtner als erhebliche Förderung geschlechtergerechter Erziehung.

Einmal Genderbrille, bitte. Das Ziel war, sich in Schulen fächerübergreifend verstärkt mit der Frage der Gleichstellung der Geschlechter zu befassen. Das wurde 1994 mit dem Unterrichtsprinzip „Erziehung zur Gleichstellung von Frauen und Männern“ in den Lehrplänen verankert. Trotz klischeehafter Geschlechterdarstellungen und insbesondere der Unterrepräsentation von Frauen in vielen Schulbüchern existiert durchaus eine breite Auswahl an geschlechtersensibler Literatur und Medienmaterialien. Die Vermittlung von geschlechtergerechten Inhalten wird dennoch im Schulalltag weitgehend links liegen gelassen. Die Ergebnisse einer 2007 durchgeführten Studie des BMUKK zu „Gender und Schule“, an der 34 Prozent aller Schulen teilnahmen, erhärtet den Verdacht weitgehend fehlender Umsetzung im Unterricht. So gaben 54 Prozent der LehrerInnen an, „kaum“ oder „nie“ Geschlechterthemen im Unterricht zu behandeln. Vereinzelt werden von Schulen und Kindergärten, oft auch aufgrund von Elterninitiativen, Fortbildungen und Projekte mit ExpertInnen durchgeführt. Doch das fehlende didaktische und pädagogische Wissen der Lehrpersonen ist bezeichnend. Renate Tanzberger, Teammitglied des Vereins EfEU zur Erarbeitung feministischer Erziehungs- und Unterrichtsmodelle, sieht ein großes Problem in der Freiwilligkeit, sich als PädagogIn mit dem Thema auseinanderzusetzen. „Es ist nötig, dass Lehramtsstudierende in ihrer Ausbildung und LehrerInnen im Rahmen von Fortbildungen verpflichtet werden, sich mit der Gender- und Diversitätsthematik auseinanderzusetzen und erfahren, wie Pädagogik im Unterricht umgesetzt werden kann.“

Wir brauchen mehr. Angebote wie der GirlsDay und der BoysDay sowie Frauen in die Technik (FiT) werden von Schulen häufig genutzt und können als erfolgreiche Konzepte betrachtet werden. Im Schulalltag fehlt es aber oft an den nötigen Rahmenbedingungen. Oft fehlen die Ressourcen für langjährige Gendermainstreamingprozesse, sei es in Form eines/einer Genderbeauftragten oder von Gruppenprojekten. Das Konzept einer Ganztagsschule würde durch die Möglichkeit einer flexibleren Gestaltung des Unterrichts einer geschlechtergerechten Erziehung entgegenkommen. Nicht nur fächerübergreifendes Lernen, auch geschlechtersensible Freizeitgestaltung wären leichter möglich. Die jetzige Schulsituation, die hohe Anzahl der SchülerInnen pro Klasse, zu kleine und/oder zu wenig Räumlichkeiten und der starre Umgang mit Zeit machen es den PädagogInnen unmöglich, den Anforderungen einer praxisorientierten gender- wie auch diversitysensiblen Bildung nachzukommen.

Emanzipierte Erziehung. Offenere Rahmenbedingungen bieten mehr Raum, um auf einzelne Kinder einzugehen, um pauschalen Geschlechterzuschreibungen von Seiten Erwachsener entgegenzuwirken und Kindern zu ermöglichen, ihr Geschlecht eigenständig auszuprobieren. Für Tanzberger ist es in Bezug auf die zukünftige Entwicklung einer geschlechtergerechten Pädagogik besonders wichtig, „Geschlechtsrollen und sonstige Zuschreibungen aufzulösen. Zum anderen ist es aber nach wie vor wichtig, Machtverhältnisse zu benennen. Für die Schule kann das heißen, Geschlecht zu dramatisieren, wenn es nötig ist und zu entdramatisieren, wenn es möglich ist.“ Dass im Bildungssystem endlich Platz für eine unbedeckte Evaluierung und den für eine emanzipierte Erziehung notwendigen Ausbau des Bildungssystems gemacht wird, ist aufgrund hartnäckiger ÖVP-Bildungsblockaden fraglich. Die Aufwertung des noch immer frauendominierten Bereichs der Sozial- und Pädagogikarbeit wäre nur eine Maßnahme, um den rostzerfressenen Bildungskahn vor dem Sinken zu bewahren.

Die Autorin studiert Philosophie in Wien.

Die nächste Weltrevolution hat bereits begonnen

  • 20.09.2012, 01:20

Die nächsten Jahre und Jahrzehnte werden aller Voraussicht nach wenig mit dem zu tun haben, was die Generationen der heute 15- bis 45 Jährigen als alltägliche und politische Normalität zu akzeptieren gezwungen waren.

Das Ende der Geschichte ist zu Ende. Als Francis Fukuyama es 1992 ausrief, hatte er damit nichts anderes gemeint, als dass der liberale Kapitalismus alternativlos geworden sei – auf ewig. Es dauerte nicht ewig bis diese Erzählung als bürgerliche Ideologie herausgefordert wurde – 1994 von den Zapatistas in Chiapas, von den Globalisierungsbewegungen 1999 in Seattle, 2001 in Genua –, aber zugleich ließ sich nicht bestreiten, dass sie auch eine Realität beschrieb. Und gerade die Kritik bestätigte das. Zu keinem anderen Zeitpunkt hätte die Parole „Eine andere Welt ist möglich“ Menschen auf die Straße locken können. Während die bewegende Frage zu anderen Zeiten lautete, welche mögliche Welt am wünschenswertesten wäre, lautete die Frage nun, ob es überhaupt eine Alternative zur bestehenden gäbe. Das Ende der Geschichte stellt eine welthistorische Wirklichkeit dar, die nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion eingetreten war und zehn Jahre später am 11.9.2001 nochmals bestätigt wurde. Sie veränderte die zentralen Motive, mit denen sich konkurrierenden Politiken zu legitimieren suchten: An die Stelle der Hoffnung auf eine bessere Zukunft trat die Angst vor der Verschlechterung der Gegenwart. Und diese Gegenwart, die selbst stetig das Leben der Mehrheit verschlechterte, dehnte sich schier ewig aus.

„Die“ und „wir“. Nun ist das Ende der Geschichte selbst Geschichte. Aus der bereits eingetretenen Zukunft betrachtet wird diese historische Epoche 1991 begonnen und genau 20 Jahre bis zum Arabischen Frühling im Jahr 2011 gedauert haben. Als wäre es darum gegangen, die wirkungsvollste Bühne für ein Comeback zu wählen, nahm die Rückkehr der Geschichte ihren Ausgang ausgerechnet in einer Weltregion, der vom Kolonialismus bis zur Neuen Weltordnung Geschichtslosigkeit oder bestenfalls Rückständigkeit zugeschrieben worden war. Fernsehreporterinnen aus dem Nord-Westen der Welt starrten auf die Bilder der kommunikationstechnologisch beschleunigten Revolutionen in Tunesien und Ägypten und erkannten in deren Akteurinnen sich selbst: „Die“ sahen ja aus wie „wir“. Wie in den großen Revolutionszyklen des 20. Jahrhunderts – 1917, 1968 und eingeschränkt auch 1989 – bewegten sich die Revolutionen von Stadt zu Stadt, von Region zu Region, über Staatsgrenzen hinweg. Und wie die vorherigen Zyklen begann auch dieser an der Peripherie der globalen Ordnung, um von dort mehr oder weniger erfolgreich bis ins Zentrum, das „Herz der Bestie“, vorzustoßen. Von Sidi Bouzid nach Kairo und weiter nach Bengazi, Daraa, al-Manama und Sanaa, über Athen, Madrid, Tel Aviv, London, Santiago de Chile und Wisconsin bis nach New York, Frankfurt und Oakland. Jeder der Aufstände war unvorhergesehen, mancher noch unvorhersehbarer als der nächste. Doch so verschieden die Bedingungen der Bewegungen, so unübersehbar auch ihre Bezugnahmen aufeinander. Digitale Mobilisierung, Besetzungen öffentlicher Plätze – Tahrir-Platz, Placa de Sol, Syntagma-Platz, Liberty Square - weitgehend gewaltfreie, antistaatliche und vor allem radikaldemokratische Organisierung, die zentralistische Institutionen wie Parteien ausschließt und zugleich die Forderung nach gesellschaftlicher, das heißt politischer wie ökonomischer Demokratisierung miteinschließt. Bildlich vor Augen stieg die Globalität der revolutionären Bewegung als auf ägyptischen Demonstrationen Plakate auftauchten, die sich mit den streikenden Arbeiterinnen Wisconsins solidarisierten.

Revolution und Reaktion. Die russischen Revolutionärinnen von 1917 waren davon überzeugt, dass sie nur Erfolg haben könnten, wenn sich die Revolution auf die ganze kapitalistische Welt ausdehnen würde, sie setzten alle Hoffnungen auf Deutschland – und wurden enttäuscht. Auch heute spielt Deutschland wieder eine besondere Rolle: jene des konterrevolutionären Zentrums, die ihm historisch so gut steht – Deutschland hat durch seine Deflations- und Niedriglohnpolitik, harte Währung, billigen Exporte die europäische Krise mitverursacht, deren Wirkungen es mit seinen Spardiktaten verschlimmert. Auch heute wird der Erfolg der Revolutionen nicht zuletzt davon abhängen, wie sehr sie sich gegenseitig zu dynamisieren und radikalisieren vermögen. Während die einen der Welt neue Formen des Protestes und der Organisierung lehren, können sie gerade daraus, dass die anderen sie übernehmen, lernen, dass weder der Sturz eines Diktators noch eines Militärrates bereits zu einer Demokratie führt, die diesen Namen verdient. Am deutlichsten wurde dies demonstriert, als der griechische Ministerpräsident Papandreou ein Referendum über die von EZB, EU-Kommission und IWF diktierten Sparpläne ankündigte – und es zwei Tage darauf wieder absagte, nachdem die Regierungschefs von Europas stärksten Wirtschaftsmächten, Merkel und Sarkozy, interveniert hatten. Demokratie, das war die Lehre dieser Machtdemonstration, bleibt unter kapitalistischen Bedingungen begrenzt; sie endet da, wo sie anfangen könnte, Probleme zu bereiten. Deswegen können an die Stelle gewählter Regierungen auch Expertinnen treten, deren Expertise darin besteht, die „ ökonomischen Sachzwänge“ am besten exekutieren zu können. Warum wählen, wenn es nichts zu wählen gibt?

Krise und Kapital. Daher beziehen die Revolutionsbewegungen, so harmlos sie zuweilen noch erscheinen mögen, ihre welthistorische Brisanz: die Weltwirtschaftskrise von 2008 ist die schärfste seit jener von 1929 und sie dehnt sich noch immer weiter aus. In ihr präsentiert der Kapitalismus seine vollendete Unsinnigkeit: In den USA und Spanien müssen Menschen in Zelten wohnen – weil zu viele Häuser gebaut wurden. In Italien wird die hohe Jugendarbeitslosigkeit beklagt – und das Renteneintrittsalter angehoben. In Deutschland steigt die Arbeitsproduktivität, das heißt, es lässt sich das gleiche in kürzerer Zeit herstellen – die Überstunden nehmen zu. Die Herrschenden aber können oder wollen keinen Ausweg finden – nicht zuletzt daran lassen sich bevorstehende Revolutionen erkennen. Während bürgerliche Intellektuelle in Europa, wie Frank Schirrmacher und Charles Moore, danach schreien, dass die Linke den Kapitalismus retten soll, fordert die US-Amerikanische Rechte, durch ihren Propagandakanal FOX News, dass die Schulden für die Bankenrettung nicht von Multimillionären, sondern von den „50 percent poor“ bezahlt werden sollen. Die se Armen, heißt es, seien gar nicht arm, schließlich besäßen sie ja Mikrowellen. Neu daran ist nicht der moralische Skandal, sondern die Unfähigkeit des Kapitals, seine partikularen Interessen zu überschreiten: So lässt sich weder das US-Imperium retten noch die kapitalistische Produktionsweise reproduzieren. Die Krise aber muss gelöst werden. Während die revolutionären Bewegungen wie sämtliche ihrer Vorgängerinnen durch ihre eigene, nicht zuletzt antisemitische, Korrumpierung bedroht sind, stehen weltweit faschistische, reaktionäre, islamistische Bewegungen bereit. Ihre Krisenlösungsstrategien lauten sexistische Segregation, rassistische Exklusion und – historisch am erfolgreichsten – Rüstungskeynesianismus, Ausschaltung von Konkurrenz, ‚produktive‘ Vernichtung von Kapital – das heißt Krieg. Die demokratischen Revolutionen müssen so zugleich das Schlimme beenden und das Schlimmste verhindern. Die ‚ewige‘ Gegenwart des Kapitals aber ist vorerst zu Ende. Noch einmal gibt der historische Augenblick der Zukunft die Chance, die Vergangenheit abzulösen.

Bini Adamczak ist Autorin des Buches „Kommunismus. Kleine Geschichte wie endlich alles anders wird.“, zuletzt erschien von ihr „Gestern Morgen. Über die Einsamkeit kommunistischer Gespenster und die Rekonstruktion der Zukunft“ – im Unrast-Verlag und der Edition Assemblage. Sie war Teil des Performance-Kollektivs „andcompany&co“, das mit der Aufführung „Little Red (Play): ‚Herstory‘“ bei den Wiener Festspielen und mit „time republic“ beim steirischen Herbst in Graz aufgetreten ist. Als Bildende Künstlerin hat sie im WUK und im open space in Wien ausgestellt. Adamczak lebt und publiziert in Berlin.

Protest, Spektakel und Verschwörungstheorien

  • 20.09.2012, 00:57

Die USA sind besetzt – und Tausende demonstrieren seit September für soziale Gerechtigkeit. Doch wer sind die BesetzerInnen eigentlich und was wollen sie? Ein kritischer Blick auf Occupy Wall Street, direkt aus Downtown Manhattan.

"Mic check“, schreit jemand in die Menge. Ein lautes Brüllen und „mic check“ schallt es zurück. Damit ist der provisorische „Soundcheck“ abgeschlossen. Technik nützt nichts am Zuccotti Plaza, nahe der New Yorker Wall Street. Mikrophone und Lautsprecher wurden polizeilich untersagt, also wiederholt die Menge das Gesprochene. Mitten drinnen steht eine der Ikonen der Anti-Globalisierungsbewegung: Naomi Klein. Alles ist bereit für ihren Auftritt. „Ich liebe euch“, repliziert die Menge ihre Worte. Die Journalistin und Autorin (No Logo, The Shock Doctrine – The Rise of Desaster Capitalism) wartet nicht mit viel Neuem auf. Sie ruft: „Wir zahlen nicht für eure Krise!“ Mit „ihr“ ist dabei jenes „eine Prozent“ gemeint, das laut Klein die „globale“ Krise verursacht habe. Dem stellt sie den Leitgedanken der Bewegung „Wir sind die 99 Prozent“ entgegen: Das reiche eine Prozent würde die Krise nutzen, um sich noch mehr zu bereichern und seine Wunschliste – von der Privatisierung der Bildung bis zum Gesundheitssystem – durchzusetzen. Aber: Nun gäbe es glücklicherweise 99 Prozent, die sich dies ab sofort nicht mehr gefallen ließen. „Was heute anders ist als 1999 in Seattle: Damals griffen wir den Kapitalismus auf der Höhe eines Booms an. Heute zum Zeitpunkt der Krise“, erklärt sie den Protestierenden. Es gelte, die Gelegenheit zum Protest zu nutzen – wie 1999 bei den Protesten gegen G8 in Seattle.* Aber nicht nur Klein sprach ihre Solidarität aus. „Star-Philosoph“ Slavoj Zizek, Skandalpublizist Michael Moore, Hollywood-Linke Susan Sarandon – alle kamen sie und sprachen am Liberty Plaza in New York, dem Herzen der Occupy Wall Street-Bewegung.

Protest-Accessoirs. Von Boston bis Chicago, von Los Angeles bis Miami von Minneapolis bis Portland sprossen weitere Besetzungen aus dem Boden. Der Protest macht sich in den gesamten USA breit. Seit dem 17. September, dem „Constitution Day“, werden Sit-ins, Teach-ins, offene Foren, Kundgebungen, Demonstrationen, Besetzungen organisiert. Ein unüberschaubares Mischmasch aus AnarchistInnen und anderen „linken“ Gruppierungen, kleineren Gewerkschaften, Parteien wie der Revolutionary Communist Party oder den US-Grünen – jedoch primär eine Masse an erstmals aktiven „Unzufriedenen“ bringt sich in den Protest ein. Zeitungen, Flugblätter, Buttons und all die bekannten Protest-Accessoirs – sogar eine People‘s Library – sind vorhanden. Und während das Plenum tagt, geben sich einige Meter weiter die karnevalesken TrommlerInnen frenetisch, ja fast ununterbrochen, ihren Rhythmen hin. Doch wer sind die AktivistInnen? Es ist die selbsternannte „Mittelschicht“, die sich durch die vorherrschende Politik des Landes bedroht fühlt. Dazu Diana Levinson, deklarierte Demokratin: „Jungen Menschen wird die Zukunft geraubt, die Wirtschaft ist in Amerika außer Kontrolle geraten und hat die Mittelschicht zerstört.“ Eine andere Aktivistin fasst den Protest so zusammen: „Die Leute haben es satt, es braucht eine Umverteilung des Reichtums, wir haben die Mittelschicht verloren, Studierende können ihre Ausbildungskosten nicht mehr zurückzahlen, HausbesitzerInnen ihre Hypotheken.“ Wer aber konkret diese Mittelschicht ist, bleibt offen – insbesondere, weil sich jedeR als Mittelschicht bezeichnet.

Kritik an der Protestbewegung. Kritik kommt nicht nur von konservativer Seite. So äußert sich die marxistische US-Theoriegruppe The Platybus Affiliated Society kritisch gegenüber Occupy Wall Street. Diese, kurz Platybus genannt, hat mehrere Versuche gestartet, vor Ort zu intervenieren. Parallel zu zahlreichen und regelmäßig stattfindenden Lesekreisen reagiert die Gruppe mit öffentlichen Diskussionen auf die Proteste. Laurie Rojas von Platybus New York etwa wünscht sich mehr konkrete Kritik. „In der Bewegung besteht eine begrenzte Sichtweise auf die Natur des Kapitalismus“, stellt sie fest. „Occupy Wall Street stellt aber auch eine neue Möglichkeit für die Linke dar.“ Rojas und Platybus sehen allerdings grundlegendere Probleme als die meisten der BesetzerInnen und konstatieren „eine sichtliche Schwäche der Linken“. Die Analyse dieser Schwäche könne aber nicht nur an den letzten Jahren festgemacht werden, sondern müsse eine Untersuchung der gesamten Geschichte der Linken bilden. Ross Wolfe, ebenfalls von Platybus, kritisiert in seinem Blog The Charnel-House: „Das endlose Trommeln, pseudo-tribale Tanzen und Singen, wiederholende Slogans („this is what democracy looks like“ und andere populistische Banalitäten), vorhersehbare Plakate, schwarze Halstücher, anarchistischer Chic – all das riecht ein bisschen zu viel nach dem, was nur zur normalen orgiastischen Post-Neue-Linke-Party- und Protestkultur wurde.“

Die Occupy-Bewegung bildet außerdem keine Ausnahme, was klassisch und vermeintlich „linke“ Verschwörungstheorien, Antisemitismus und verkürzte Kapitalismuskritik angeht. Die Krux beim Protest gegen den Kapitalismus ist, dass er sich oftmals nicht gegen das gesellschaftliche System Kapitalismus wendet, sondern sich Einzelpersonen als vermeintliche Sündenböcke herausnimmt. Dies zeigt sich insbesondere darin, dass einerseits primär die „Zerstörung“ der undefinierbaren Mittelschicht anstatt sozialer Verhältnisse kritisiert werden und auf der anderen Seite „Börsenspekulanten“, Banker und die sogenannten ein Prozent als Verantwortliche an den Pranger gestellt werden. Als „links“ betitelter Protest kippt dann leicht in antisemitische Stereotype, die auch schon die Nazis gegen „die Juden“ bemühten. Stereotype wie die Vorstellung vom „parasitären Finanzkapital“ sind Standard-Repertoire von Antisemitismus, und werden oftmals frisch verpackt in der Occupy- Bewegung artikuliert. Wenn es darum geht, den „corporate Greed“, die Gier, an den Pranger zu stellen, wie dies bei Occupy Wall Street der Fall ist, folgt dann auch meist der Fingerzeig auf bekannte UnternehmerInnen und BankerInnen, wie den Präsidenten von Goldman-Sachs, Lloyd Blankfein. Offen bleibt ohnehin auch die Frage, warum die Wall Street als Zentrum allen Übels dargestellt wird und nicht der Kapitalismus an sich. Auch „die Politik“, also Barack Obama, der gefallene Held vieler Occupier, die Demokratische Partei oder die Republikanische Partei und die ultra-konservative Tea-Party, sind nur Ziele zweiter Wahl. Naomi Klein schlägt vor: „Kümmert euch nicht um die Demokratische Partei.“ Um es mit dem inflationär gebrauchten Präfix „post“ zu sagen: Im Zeitalter der Postdemokratie, eines zunehmend autoritärer werdenden Kapitalismus, ist man eben post-politisch, post-anarchistisch. Man hat das ganze Politikspiel satt, fordert nicht und fordert niemanden heraus, will sich die Welt selbst organisieren und mimt eine zeitgenössische Form von „going west“: Nur in diesem Fall mitten in Downtown Manhattan. Konkrete Kritik ist politisch und was politisch ist, will man nicht. Man ist gegen Gier, Korruption und Ungleichheit. Wie dies alles entsteht, ist aber nicht die Frage. Spekulationen, wer dafür verantwortlich ist, rücken ins Zentrum der Auseinandersetzung. Antisemitische Untertöne bis hin zu offenem Antisemitismus finden in einem solchen Umfeld leicht Platz: von Plakaten wie „Hitler‘s Banker – Wall Street“, diversen antisemitischen bis verschwörungstheoretischen Kommentaren auf Webseiten und Bildern eines aufgespießten Lloyd Blankfein.

Lippenbekenntnisse. Seth Weiss von der Marxist Initiative kritisiert den laschen Umgang mit den vom Plenum beschlossenen „Prinzipien der Solidarität“, welche unter anderem die „Bestärkung untereinander gegen jede Form von Unterdrückung“ miteinschließt. Darüber hinaus halte sich die Linke davon ab, „eine Vision einer befreienden Alternative zum Kapitalismus und seiner Schrecken“ zu entwickeln. Wenngleich sich dennoch zeigt, dass diese Bewegung keineswegs antisemitisch sein will, so zeigt sich genauso, dass ihr dabei die genaue Auseinandersetzung fehlt. Somit verwundert es auch nicht, dass die dringende Frage des Umgangs mit und der Abgrenzung von antisemitischen Elementen unbeachtet im Raum steht. Die Antwort bleibt als Schuld verbucht. „Das Plenum und alle UnterstützerInnen der Wall-Street-Besetzung würden besser daran tun, mehr als ein Lippenbekenntnis dazu abzugeben“, sagt Weiss.

Repression und Repetition. Der Protestalltag birgt bei all dieser notwendigen Reflexion auch praktische Probleme, Grenzen und Gefahren sowie die Frage nach Strategien. Die Protestbewegung ist mit der härtesten Repression seit den Protesten gegen den Vietnamkrieg konfrontiert. Von großangelegten Pfefferspray- und Prügelaktionen durch die Exekutive, Massenverhaftungen bis hin zu brutalen Auflösungen von Besetzungen und Demonstrationen. Die Besetzung im Zuccotti-Park wurde erst im November durch die Polizei aufgelöst. Der Winter kommt, die Proteste schwächeln. Vielleicht war es nur das repetitorische Erwachen der „Linken“, die sich mehr schlecht als recht als symbolische Figur am Leben erhält – ein bisschen nach dem Vorbild der britischen Monarchie: „The left is dead, long live the left“, wie ein Plakat von Platybus New York es ausdrückt? Doch im November 2012 sind PräsidentInnenschaftswahlen und die Zeichen deuten auf heiße Zeiten. Fix ist dabei jedenfalls: Die öffentliche Diskussion hat sich hin zur sozialen Frage verschoben – und das in einem Land, in dem mehr als in jedem anderen persönlicher Erfolg und Scheitern privatisiert sind und einzementiert scheinen. Und das markiert dann doch einen Erfolg der Bewegung.

Der Autor studiert Jus an der Uni Graz und lebt derzeit in New York.

* Im Dezember 1999 kam es am Rande der Welthandels-Konferenzin Seattle zu heftigen Auseinandersetzungen zwischen Protestierenden und der Polizei – viele betrachten diese Demonstration als Geburtsstunde der zweiten Welle der „globalisierungskritischen“ Bewegung. Die Konferenz konnte aufgrund des Protestes nicht abgehalten werden.

Frischer Wind in die alten Talare

  • 19.09.2012, 16:13

Sie studierten 1968 und stellten die Uni auf den Kopf. Sie schlugen sich durch Männerdomänen und kämpften für #unibrennt. Drei Frauen und drei Unigenerationen im Porträt.

Sie studierten 1968 und stellten die Uni auf den Kopf. Sie schlugen sich durch Männerdomänen und kämpften für #unibrennt. Drei Frauen und drei Unigenerationen im Porträt.

Die Demos, die der Ring Freiheitlicher Studenten auf die Beine gestellt hat, waren gestopft voll. Und es sind alle alten Nazis mitgegangen.“ Die 66jährige Susanne Zanke (siehe Porträt) erinnert sich an ihre Studienzeit in den 1960ern am Institut für Theaterwissenschaften der Uni Wien. Sie selbst war oft auf Demonstrationen und selten zu Hause, auch um im Winter Heizkosten zu sparen. In ihrer Zeit als „68erin“ verbrachte sie viele Stunden auf der Straße und vor Fabriken, wo sie ihre Zeitung „Der Klassenkampf “ verteilte. Heute sitzt die Pensionistin in ihrer wohlgeheizten Wohnung im zweiten Wiener Gemeindebezirk. Umgeben von Büchern und Filmplakaten schwelgt die ehemalige Regisseurin in Erinnerungen an ihre Studienzeit. „Das war eine spannende Zeit. Ich möchte das nicht missen.“ Sie kann gar nicht aufhören zu erzählen. Als Susanne noch Studentin war, klebte der Muff des – von den NationalsozialistInnen ersehnten – Tausendjährigen Reiches unter den Talaren vieler Professoren: Unruhen und antisemitische Vorfälle standen an der Tagesordnung. Im Jahr 1965 erreichten diese ihren entlarvenden Höhepunkt. Auf einer Demonstration gegen den antisemitischen Professor Taras Borodajkewycz ermordete ein Mitglied des RFS den Antifaschisten und KZ-Überlebenden Ernst Kirchweger. Zanke war damals bei den Ausschreitungen vor der Albertina dabei.

Aber nicht nur nationalsozialistische Kontinuitäten gehörten zu ihrem Studienalltag: Als eine von rund 10.000 inskribierten Frauen bei rund 45.000 Studierenden in Österreich gehörte sie zu dem „übersehenen“ Viertel. Erst als in den 70ern die Hochschulen geöffnet, die Studiengebühren für österreichische StaatsbürgerInnen abgeschafft und das seit den 1960ern existierende Beihilfensystem ausgebaut wurde, stieg die Zahl der Studierenden kontinuierlich – von 1945 bis heute hat sie sich gar verhundertfacht: von 3500 auf 350.000. Und je offener die Unis wurden, umso mehr Frauen strömten an die Hochschulen. In den Jahren nach 1945 war Studieren aber vor allem eine Angelegenheit männlicher Kinder aus besserverdienendem Elternhaus. „Uns studierenden Frauen ist gesagt worden, wir würden nie einen Job finden“, erinnert sich Zanke an ihre erste Vorlesung. Der Platz der Frauen war hinterm Herd, im Haus, unter dem Dach der Kleinfamilie oder in Lehrund Erziehungsberufen – den Söhnen wurde eher eine höhere Bildung ermöglicht. Nicht nur Studieren an sich, sondern auch die Hochschulen waren von einer autoritären Struktur geprägt, was sich nicht zuletzt im Umgang miteinander zeigte. Zanke, die selbst den Umbruch mitgestaltete, erinnert sich auch heute noch verschmitzt an Tabubrüche: „Ich weiß noch, wie ein Kollege aufstand und zum Rektor sagte: ,Na, Kollege Kraus.‘ Ich hab gedacht, jetzt fährt der Blitz ein, schließlich war das ‚seine Magnifizenz’.“ Durch das System der sogenannten „Ordinarienuniversität“ geprägt, waren Professoren damals die zentrale Entscheidungsinstanz der Uni. Sie mussten keine anderen Universitätsangehörigen miteinbeziehen und traten wie der Rektor als Herrscher in ihrem Fach auf. Diese Atmosphäre hat sich in vielen Bereichen bis heute nicht geändert.

Faschistische Zustände aufdecken. Es ging aber nicht nur um das Aufbrechen verstaubter Strukturen, sondern auch um Mitbestimmung. StudentInnen wollten die Lehrinhalte mitgestalten. Kritisches Hinterfragen des Lehrkanons und Einbeziehen aktueller gesellschaftlicher Themen waren notwendige Impulse. Und so wurde der Mantel des Schweigens, der die nach wie vor ewiggestrigen Zustände verdeckte, zerrissen: StudentInnen brachten personelle Kontinuitäten und halbherzige Entnazifizierungsverfahren an die Öffentlichkeit. Der Theaterwissenschaftler Heinz Kindermann etwa, der auch Zanke unterrichtete, war schon ab 1933 NSDAP-Mitglied gewesen und während der NS-Zeit Professor am TheWi-Institut. Nach seiner kurzzeitigen Entlassung nach Ende des Zweiten Weltkrieges wurde er ab 1954 erneut Vorstand der Theaterwissenschaft, deren Institut auf Betreiben des „Führers“ der Hitler-Jugend Baldur von Schirach gegründet wurde. Publizistisch tat sich Kindermann vor allem mit Texten über NS-Funktionäre und gegen „undeutsche Literaturprodukte“ hervor. 1966 wurde Kindermann emeritiert und verließ das Institut. An der damaligen Hochschule für Welthandel in Wien (heute WU) konnte sich wiederum der „Historiker“ Taras Borodajkewycz bis zu seiner frühzeitigen Entlassung nach 1965 in seinen Vorlesungen antisemitisch äußern.

Ein Schritt zur Utopie. Die Hochschulreform unter Wissenschaftsministerin Hertha Firnberg (SPÖ) schaffte 1975 Studiengebühren für österreichische StaatsbürgerInnen ab und demokratisierte die universitäre Organisation. Auch angestellte WissenschafterInnen ohne Lehrstuhl sowie StudentInnen konnten nun mitbestimmen. Ein sozialdemokratischer Traum schien auch durch den Ausbau des Stipendiensystems Gestalt anzunehmen: sozialer Aufstieg durch Bildung für alle.
Insbesondere Frauen profitierten von der Universitätsreform und dem gesellschaftlichen Umbruch in den 1970er-Jahren. So waren 2009 schließlich 64,8 Prozent der österreichischen Studierenden weiblich. Doch weiterhin gilt: Je höher die Stufe der wissenschaftlichen Karriereleiter, desto geringer der Frauenanteil. Aufstieg an der Uni bleibt männlich, obwohl die meisten Universitäten Förderprogramme eingeführt haben und „Gender Studies“ in einigen Studienrichtungen durchgesetzt wurde – in Linz sogar universitätsweit. An der Realität der Studentinnen ändert das aber oftmals nur wenig. „Als Frauen waren wir nie Thema, weil wir einfach nie Thema waren“, so Julia Petschinka zu ihrem Studium in den 1990ern. „Es gab nie Geschichten von Physikerinnen, die wir als Vorbilder hätten nehmen können.“ Im Alt Wiener Café Jelinek erinnert sich die 37Jährige, die in ihren Knickerbocker-Hosen und Ringelstulpen eher wie eine Bohèmienne als eine diplomierte Physikerin aussieht, an den mangelnden Frauenanteil in den Naturwissenschaften. Feminismus oder Frauenförderung hätten in ihrem Studium keinen Raum eingenommen.

Diplomstudien in alter Freiheit. In den 1990er- Jahren wurden nicht nur die Hochschulen in ihrer internen Organisation ein weiteres Mal reformiert. Auch Diplomstudiengänge wurden eingeführt, die wesentlich mehr Pflichtveranstaltungen vorsahen als ihre Vorgängerinnen. Sie boten aber weiterhin eine Wahlfreiheit innerhalb des Studiums, die sich Studierende nach dem Bolognaprozess heute nicht einmal in ihren kühnsten Träumen ausmalen können. Auch für Petschinka macht gerade diese Freiheit ein Studium sinnvoll: „Querdenken, vernetzen und mehrere Sachen miteinander verknüpfen, das ist das, was Zukunft hat. Aber genau das wird jetzt verhindert.“ Allerdings waren bereits in den 1990ern die Studienbedingungen durch überfüllte Hörsäle und soziale Kürzungen geprägt. Mit Wintersemes ter 1996/97 wurde beispielsweise die StudentInnenfreifahrt für alle öffentlichen Verkehrsmittel, egal ob mit ÖBB oder Stadtverkehr, abgeschafft. „Ich habe den Eindruck, dass der generelle Blick auf StudentInnen ist, dass das alle nur faule Leute sind, die Zeit vergeuden“, sagt Petschinka. Diese rhetorische Figur begleitete die Medienberichte rund um die umfassenden StudentInnenproteste 1996 und ist auch heute noch gegenwärtig – egal ob Anfang der 2000er-Jahre bei der Einführung der Studiengebühren oder erst vor wenigen Semes tern bei der #unibrennt-Bewegung 2009.

Ab 2000 steil bergab. Überhaupt haben die letzten Jahre die hochschulpolitische Landschaft geprägt wie zuvor nur die 1970er. Es geht Schlag auf Schlag – aber diesmal bergab. 2002 wurden die Studiengebühren eingeführt und gleichzeitig ein Universitätsgesetz beschlossen, das studentische Mitbestimmung stark einschränkt. Die Universitäten wurden in die „Autonomie“ entlassen. Das Rektorat bekam etliche Kompetenzen zugesprochen und einen treuen Wegbegleiter an die Seite gestellt: den Unirat, der an Aufsichtsräte in Unternehmen erinnert. Der Senat, jener Teil der Unileitung, in dem auch Studierende vertreten sind, musste indes abspecken und 2005 wurde der Traum vom offenen Hochschulzugang durch die Einführung erster Zugangsbeschränkungen begraben.

Magdalena Zangerl (28) ärgert sich über die steten Verschlechterungen an den Universitäten und den aktuellen Diskurs rund um Studiengebühren und Co: „Das sind alles unausgegorene Vorschläge von PolitikerInnen, die alle selber gratis und zehn Jahre studieren konnten und keine Ahnung davon haben, wie es ist, jetzt zu studieren.“ Mit ein Grund für die Germanistikstudentin, sich bei #unibrennt zu engagieren und für bessere Hochschulen zu kämpfen. Auf ihre Zeit in der Studierendenbewegung blickt sie heute jedoch skeptisch zurück und fragt sich „wie viel #unibrennt wirklich bewegt hat“. Und heute, knapp zwei Jahre, nachdem StudentInnen das Audimax besetzt hatten, sind wir mit einer „Studieneingangs- und Orientierungsphase“ in allen Bachelorstudien konfrontiert. Diese soll der „besseren Kontrolle“ der Zahl der StudentInnen in den jeweiligen Studienfächern dienen. Gleichzeitig wurde die Bolognastruktur nahezu vollständig umgesetzt (siehe Streitgespräch Seite 8–9). Lernen und Lehren wurden dadurch komplett umgekrempelt. Zangerl schüttelt resigniert den Kopf: „Jede gesetzliche Änderung, die ich in den letzten Jahren mitbekommen habe, zielt darauf ab, die Studierenden dazu zu bringen, möglichst in Mindeststudienzeit zu bleiben, nicht nach links und nicht nach rechts zu schauen, um danach wirtschaftlich gut verwertbar zu sein.“

Vier Quadratmeter

  • 13.07.2012, 18:18

Es war ein Morgen wie jeder andere, als Markus (25) vor sechs Jahren wegen vermuteten Besitzes und Verkaufs von Cannabis ohne Vorwarnung festgenommen und für fast zwei Monate in Untersuchungshaft gesteckt wurde. Im Gespräch mit der PROGRESS-Redaktion erzählte er von schlaflosen Nächten, Sonntagen im Knast und Zeit, die nicht verrann.

"Ich war für sechs Wochen in der Justizanstalt Eisenstadt inhaftiert. Über  Persönliches möchte ich nicht sprechen. Aber über den Alltag kann ich berichten. Am ersten Tag kennst du dich erst mal gar nicht aus. Die erste Woche war ich in Einzelhaft. Die Wärter haben auf mich vergessen beim Spazierengehen. Ich habe den anderen zugesehen, als sie im Hof ihre Runden zogen. Und so bin ich vier Tage nur in der Zelle gesessen. Das war einfach …
In meiner Zelle gab es ein kleines Loch in der Wand. Da konnte man Kopfhörer anstecken und Radio hören. Ö3, Krone Hitradio, Radio Burgenland. Super. Der Kontakt zur Außenwelt ist minimal. Ich habe Briefe bekommen. Die waren immer schon geöffnet und gelesen. In der ersten Woche hatte ich zu niemandem Kontakt, auch Besuch war nicht erlaubt. Der kam erst später und ist immer mit einer Glaswand von dir getrennt. Außerdem steht immer ein Jusstudent daneben und hört zu, damit niemand über den Fall redet. Die Polizei sagt dir, du wirst bald wieder entlassen. Aber schnell realisierst du: Das stimmt nicht.

Handschellen.

Verhaftet wurde ich zu Hause, an einem Mittwoch in der Früh, kurz nachdem ich aufgestanden bin. Es hat geläutet, aber ich konnte durch den Spion niemanden erkennen. Ich habe gefragt, wer da ist. „Polizei, aufmachen!“ Ich war versteinert. Es hat gegen die Tür gedonnert. Ich habe aufgemacht, zwei von ihnen haben sich auf mich gestürzt, ich hatte sofort Handschellen am Rücken. Die Polizei hat in meinem Zimmer drei Gramm Gras gefunden. Das war dumm. Sie haben mich mit Anschuldigungen überhäuft, dass ich ein Drogenboss sei. Sie haben mir die Achter um die Handgelenke geschlossen und mich mitgenommen. Für alle sichtbar wurde ich durch die Einkaufsstraße abgeführt. Auf der Wache wurde ich verhört, den ganzen Tag. Sie haben mich angelogen und mich eingeschüchtert. Als sie mir wen geschickt haben, die Vertrauen zu mir aufgebaut hat, bin ich auf sie reingefallen. Sie hat mich zum Reden gebracht. Ich hab mich verhaspelt und bekam Angst. Sie wissen, ein junger Typ, der kennt seine Rechte nicht. Das nutzen sie aus. Ich bin ihnen ins Messer gelaufen. Nach Eisenstadt kommen nur Leute mit kurzen Haftstrafen und Untersuchungshaft. Wer trotzdem länger dort ist, kann auch arbeiten gehen. Als Kugelschreiberabpacker, als Gärtner, als Koch – aber in die Küche kommt man nicht so leicht, da wollen alle hin. Mit der Zeit bekommt man Privilegien. Aber wenn du arbeiten gehst, wirst du erst recht wieder grundlos permanent von den Aufsehern angeschnauzt und musst dich mit ihnen auseinandersetzen. Ich war also nur in der Drogentherapiegruppe. Das war Ablenkung und zugleich ein kleines Kabarett. Ansonsten habe ich mich für alles, was irgendwie gegangen ist, angemeldet. Ich habe mich auch immer zum Arzt einschreiben lassen. Die Tabletten nahm ich aber nicht. Ständig wurde mir etwas verschrieben: Schlaftabletten, Antidepressiva und so. Da kommst du als Kiffer rein und gehst als Tablettensüchtler raus.

23 Stunden Zelle, 1 Stunde Hofgang

. Der Alltag ist im Gefängnis so, dass du relativ früh geweckt wirst. Am Vormittag kann man eine Stunde raus gehen. Dann ist Mittagessen. Und dann macht man die ganze Zeit nichts. Oder man geht zum Arzt. Auch in die Kirche hätte ich gehen können. Nach meiner Einzelhaft wurde ich in eine Fünferzelle verlegt. 20 Quadratmeter, also rund vier für jeden, mit vergitterten Fenstern. Es sind dort nur Männer. Ich war einer der Jüngsten. Jünger war nur ein 14Jähriger, ein 16Jähriger und dann kam schon ich mit meinen 19 Jahren damals. Der Älteste war 74. Er ist auch wegen Gras gesessen. Seine Frau ist gestorben und hat ihm Schulden hinterlassen. Er war Pensionist, hatte keine Arbeit, hat nicht gewusst, wie er die Schulden zurückzahlen soll. Dann hat er Gras angebaut. Was sollte er sonst machen? Ich hatte immer normales Gewand an. In Eisenstadt gibt es keine Anstaltskleidung. Alle hatten normales Gewand an. Duschen konnten wir nur einmal in der Woche. Einmal, als wir zum Arzt gefahren wurden, waren zwei Ungarn mit. Sie wurden von den Aufsehern niedergemacht und als „Ausländer“ und „Scheiß Tschuschen“ beschimpft. Das war sehr heftig. Als Ausländer hast du es überhaupt schwieriger. Du kriegst keinen guten Anwalt, die Anwälte kommen teilweise nicht einmal. Dir wird ständig mit Abschiebung gedroht. Und wenn du Ausländer bist, halten sie dich auf jeden Fall bis zum Prozess in Untersuchungshaft. Viele haben auch gesagt, dass die Gefängnisse in Österreich beispielsweise im Vergleich zu Albanien viel schlimmer seien. Ich bin nicht dafür, dass man Menschen einsperrt – das war ich auch davor nicht. Aber es ist eine schwierige Frage. Vor allem bei MörderInnen, beispielsweise. Man sollte differenzieren: Zwischen Menschen, die anderen schaden, und Dingen wie dem Konsum von Marihuana. Und: Die Ausbildung von PolizistInnen und RichterInnen ist zu schlecht. Es wird viel zu unsorgfältig mit dem Leben von Leuten umgegangen. Wenn ich Geschichten höre, wie dass jemand nach 17 Jahren unschuldig entlassen wird – das darf einfach nicht passieren. Was willst du ihm geben, damit das jemals wieder gut ist? Das Schlimme an der U-Haft ist, dass du nie weißt, was los ist, was draußen passiert, wie lang du noch dort bist. Die Zeit vergeht extrem langsam. Sechs Wochen sind mir vorgekommen wie ein halbes Jahr. Einschlafen ist sehr schwer. Es gibt keine Bewegung, keinen Auslauf. Und auch das Kiffen ist weggefallen. In der Einzelhaft habe ich mich hingelegt, sobald es dunkel war. Dann sind vier Stunden vergangen, bis ich endlich eingeschlafen bin. Das kommt dir wie eine Ewigkeit vor.

Entlassung.

Und dann war es aus, dann stehst du da. Was mach ich jetzt? Das war davor immer in weiter Ferne. Mir wurde ja oft gesagt, dass ich schon bald gehen könne. Das hat nie gestimmt. Wenn sowas passiert, hörst du auf, in kleinen Schritten und an die nähere Zukunft zu denken. Meine Entlassung war ganz plötzlich. Es hat geheißen, ich solle aus der Zelle raus, die Richterin möchte mich sehen. Als ich in ihr Büro kam, war sie nicht einmal da. Nur ihre Vertretung. Sie sagte, dass ich entlassen würde. Leiwand! Aber ich war auch völlig überrumpelt. Ich habe nur kurz meine Sachen geholt. Ich bin raus, hab meine Mama angerufen. Die hat’s gar nicht mehr gepackt. Und dann hat mich mein Vater abgeholt. Wir sind nach Hause gefahren. Pizza essen.“


Markus (25), Name von der Redaktion geändert, will anonym
bleiben. Nach der Untersuchungshaft wurde er zu einer
bedingten Haftstrafe verurteilt.

Die Bestrafung ist der Freiheitsentzug

  • 13.07.2012, 18:18

Mit dem Ziel, Verantwortung für ihr Handeln zu übernehmen, leben 114 Schwerverbrecher ohne Zellen und Gitter auf der norwegischen Gefängnisinsel Bastøy. Sie können sich auf der zwei Quadratkilometer großen Insel frei bewegen, sofern man von den geregelten Arbeitszeiten, Ausgehsperren und den viermal täglich stattfindenen Zählterminen absieht.

Der Weg zur Gefängnisinsel Bastøy kann nur mit der kleinen Fähre Vederøy bestritten werden. Diese verlässt jeden Morgen um 8.15 Uhr mit GefängnisarbeiterInnen sowie BesucherInnen an Bord die Kleinstadt Horten. Was früher eine Art Bootcamp für männliche Jugendliche war, ist seit 2007 das erste humanökologische Gefängnis der Welt. Verlässt man die Fähre nach der Ankunft, steht man inmitten des Gefängnisses. „Übungsplatz für Verantwortung“ steht dort geschrieben. Bastøy ist zwei Kilometer lang, einen Kilometer breit und wie ein kleines Dorf organisiert. Mit einem Bus werden die ArbeiterInnen täglich zum Hauptgebäude gebracht. Auf der Insel stehen in großen Abständen zueinander kleine, farbig gestrichene Häuser, in denen jeweils vier bis sieben Männer in einer Wohngemeinschaft zusammenleben. Dazwischen erstrecken sich große, braune und grüne Felder, die von den Insassen selbst bearbeitet werden. „Die Insassen müssen ihren Alltag hier selbst regeln“, erklärt Rolf Hansen, ein Gefängniswärter. „Sie können zwischen Privatsphäre und Gemeinschaft wählen.“ Hansens Job ist es nicht nur, die Gefängnisinsassen zu bewachen, sondern auch, BesucherInnen zu begleiten. Nicht das Beschützen vor Insassen ist hier das Ziel, sondern vielmehr das Vermitteln der Arbeitsweise auf Bastøy. Auf dem gesamten Gefängnisgelände gibt es keine einzige Waffe, nur eine Attrappe im Büro des Gefängnisleiters. Normalerweise müssen alle GefängniswärterInnen in Norwegen eine dreijährige Ausbildung absolvieren. Hansen gehört zu den zehn Prozent der WärterInnen, die über keine formale Ausbildung verfügen. „Der Leiter von Bastøy will dich kennenlernen, und dann entscheiden, ob du hier arbeiten darfst“, erklärt er das Aufnahmeverfahren. Beim Organisieren des Insellebens werden die Insassen von 80 MitarbeiterInnen unterstützt. Diese arbeiten als AufseherInnen, in der Bibliothek, in der Kirche, in der Küche, in der Administration oder bei sonstigen Projekten im Gefängnis.

Das geringere Übel.

„Du siehst hier keine Wärter Innen, wenn du nicht möchtest. Das einzige Gefühl von Gefängnis entsteht durch die Tatsache, dass es eine Insel ist“, kann der 54jährige Ketil Petersson*, der wegen Drogenhandels verurteilt wurde, dem Konzept von Bastøy einiges abgewinnen. Seit einem halben Jahr ist er auf Bastøy, davor war er in einem geschlossenen Gefängnis und verbrachte dort 23 Stunden am Tag in einer Zelle, eine Stunde hatte er Hofgang. Dass er wegen seiner Vergangenheit im Gefängnis sitzen muss, kann er nicht wirklich nachvollziehen. Seiner Meinung nach sollten Drogen legalisiert werden. „Aber was soll’s“, sagt er mit dem Wissen, dass er einen Großteil seiner Strafe schon abgesessen hat. Auch Per Aastan kam aus einem geschlossenen Gefängnis hierher. Sieben Jahre muss der ebenfalls wegen „Drogengeschichten“ verurteilte Vater absitzen, ein Jahr steht ihm noch bevor. Seine Aufgabe hier ist es, sich um die Tiere zu kümmern und mit dem Traktor im Winter Schnee zu räumen. Er mag seine Arbeit und muss dafür täglich vier bis fünf Stunden aufwenden. Seine Entlohnung beträgt, wie die der anderen auch, 50 Kronen (6,50 Euro) pro Tag. An einem typischen Tag steht er um halb sechs in der Früh auf, kümmert sich um seine Tiere, um halb neun wird das erste Mal gezählt: „Ich finde es fair, hier zu sein“, meint Per reumütig: „Ich muss bezahlen für das, was ich getan habe“. Der Unterschied zwischen Bastøy und einem geschlossenen Gefängnis sei wie Tag und Nacht. „Ich glaube schon, dass eine Gesellschaft Gefängnisse braucht, trotzdem müssen sich die Bedingungen in vielen ändern“, sagt Per. Das Ziel von Gefängnissen sei schließlich „die Möglichkeit zu bekommen, wieder zurückzufinden“. Im Sommer sei es besonders schlimm, das Festland zu sehen und Partys und Konzerte unfreiwillig mitzuhören, da sind sich die beiden einig. „Darüber darfst du nicht nachdenken, sonst drehst du durch“, schüttelt Ketil den Gedanken gleich wieder ab. Trotzdem gab es laut Per erst einen, der von Bastøy fliehen wollte, und der wurde am darauffolgenden Tag geschnappt. „Grundsätzlich kannst du aber jeden Tag fliehen, wenn du willst“, sagt Per: „Das wäre aber natürlich dumm, weil nachher alles nur noch schlimmer wird“. Draußen warten seine Frau und eine bestehende Existenz auf ihn, in die er sich nur wieder einfügen muss. „Zurückkehren zur Normalität ist alles, was ich möchte.“

Elitegefängnis.

Normalität ist auch das, was Gefängnisleiter Arne Kvernvik Nilsen auf der Insel erzeugen möchte. Der ausgebildete Psychotherapeut ist seit zweieinhalb Jahren der Leiter von Bastøy, seither gab es noch keinen einzigen Zwischenfall. „Das erste, was ich den Insassen sage, wenn sie ankommen, ist Folgendes: Ich werde dir jetzt deine Verantwortung zurückgeben. Das bedeutet einerseits viel Freiheit, andererseits aber auch Möglichkeiten, um Dummes zu tun.“ Das humanökologische Gefängnis basiert für Nilsen auf dem Bewusstsein, dass die Umwelt den Menschen beeinflusst und umgekehrt. „Ein Mensch kann noch so schlimme Sachen getan haben, steckst du ihn in die richtige Umgebung, wird das auf ihn wirken.“ Auf Bastøy werden nur Schwerverbrecher aufgenommen. Die meisten Insassen waren davor in einem geschlossenen Gefängnis und haben sich von dort aus für Bastøy beworben. Nilsen sucht sich den Großteil der Insassen aufgrund der Bewerbung aus, und bevorzugt dabei die schwierigen Fälle. Ein paar werden ihm auch vom Staat zugeteilt. Auf Bastøy wird den Leuten klar gemacht: Wenn du dich nicht an die Regeln hältst, musst du zurück in ein geschlossenes Gefängnis. Dieses Druckmittel besitzen die anderen Gefängnisse nicht. Die Statistiken geben Bastøy Recht. Die Rückfallsquote ehemaliger InsassInnen aus euro-päischen Gefängnissen beträgt im Durchschnitt 70 Prozent, in Skandinavien 30, in Norwegen 20 und jene von Bastøy 16 Prozent. Bei Menschen, die mehrere Male im Gefängnis waren, vervielfacht sich die Wahrscheinlichkeit, wieder reinzukommen. Und: Aufgrund des im Vergleich zu anderen europäischen Ländern geringen Unterschieds zwischen Arm und Reich hat Norwegen eine der niedrigsten Kriminalitätsraten der Welt. „Wie können Leute behaupten, wir seien auf dem falschen Weg?“, fragt Nilsen in Richtung der PolitikerInnen, die gerade in letzter Zeit auch in Norwegen nach härteren Strafen schreien. „Das alles hat mit einer egalitären Gesellschaft zu tun und damit, wie wir die Leute im Gefängnis behandeln“, so Nilsen. Eines Tages müssen diese Leute schließlich wieder in die Gesellschaft zurück.

Mit dem Ziel, Verantwortung für ihr Handeln zu übernehmen, leben 114 Schwerverbrecher ohne Zellen und Gitter auf der norwegischen Gefängnisinsel Bastøy. Sie können sich auf der zwei Quadratkilometer großen Insel frei bewegen, sofern man von den geregelten Arbeitszeiten, Ausgehsperren und den viermal täglich stattfindenen Zählterminen absieht. päischen Gefängnissen beträgt im Durchschnitt 70 Prozent, in Skandinavien 30, in Norwegen 20 und jene von Bastøy 16 Prozent. Bei Menschen, die mehrere Male im Gefängnis waren, vervielfacht sich die Wahrscheinlichkeit, wieder reinzukommen. Und: Aufgrund des im Vergleich zu anderen europäischen Ländern geringen Unterschieds zwischen Arm und Reich hat Norwegen eine der niedrigsten Kriminalitätsraten der Welt. „Wie können Leute behaupten, wir seien auf dem falschen Weg?“, fragt Nilsen in Richtung der PolitikerInnen, die gerade in letzter Zeit auch in Norwegen nach härteren Strafen schreien. „Das alles hat mit einer egalitären Gesellschaft zu tun und damit, wie wir die Leute im Gefängnis behandeln“, so Nilsen. Eines Tages müssen diese Leute schließlich wieder in die Gesellschaft zurück.

Guilty as hell.

Chris Nyborg und Lars Væring wohnen mit fünf anderen Mitbewohnern im Blueshouse. Für ein Zimmer in der Musiker-WG kann man sich bewerben, wenn man Mitglied der Gefängnisband „Skyldig som faen“ („Guilty as hell“) werden möchte, oder sich einfach für Musik interessiert. Chris ist seit Jänner hier und Bassist der Band. Beigebracht hat sich der 39Jährige das Bassspielen selber. Seit Oktober hatte die Band schon fünfzehn Auftritte, einige davon in Oslo, ein paar in anderen Gefängnissen. „Hier fängt man wieder an, zu leben“, sagt der wegen Totschlag verurteilte Chris, „sogar Mike Gallaher, der Gitarrist von Joe Cocker, hat uns hier schon besucht.“ Einen Großteil des Equipments bekommt die Band von der staatlich finanzierten Musical Study Association, die Gruppen wie Skyldig som faen auch finanziell unterstützt. Auch Chris hat die meiste Zeit seiner Strafe in Eidsberg, einem geschlossenen Gefängnis, abgesessen. Dort hat er in einer Bücherei gearbeitet, trotzdem musste er 23 Stunden am Tag in der Zelle verbringen. „Die meiste Zeit im Gefängnis fühlt man sich nutzlos, die Arbeit ist umsonst“, sagt er rückblickend. „Aber in Bastøy fällt der Druck des Weggesperrtseins weg.“ Das Gefühl der Nutzlosigkeit ist eines der größten Probleme für InsassInnen in herkömmlichen europäischen Gefängnissen, in denen Häftlinge kaum die Möglichkeit haben, einer Arbeit nachzugehen oder Kontakt mit der Außenwelt herzustellen. Das sieht auch Ole Loe Andersen, der Leiter von Wayback, der größten Resozialisierungsorganisation in Norwegen, so. „Die Bestrafung ist der Freiheitsentzug, nicht das Kreieren einer Hölle im Gefängnis“, sagt Andersen, der selbst acht Jahre lang wegen mehrmaligen Bankraubes im Gefängnis saß, zwei Jahre davon auf Bastøy. Die Diskussion um Gefängnisbedingungen findet Andersen oft verfehlt, da sie sich meist auf physische Möglichkeiten beschränkt: „Wenn du im Gefängnis sitzt, geht es nicht in erster Linie darum, ob du eine Toilette in deiner Zelle hast. Wenn nicht, ist das nämlich oft die einzige Möglichkeit am Tag, aus der Zelle rauszukommen.“

Abschied vom alten leben.

„Si meg hva betyr adjo?“ ist eine Zeile aus einem Lied des berühmten norwegischen Sängers Jahn Teigen. Sie steht auf einer Wand im Wohnzimmer des Blueshouse geschrieben. „Das bedeutet so viel wie ‚Tell me, what does goodbye really mean?’“, erklärt Lars. Er hat nur mehr zu sechs Freunden draußen Kontakt. „Mit allen anderen war es zu schwierig, Kontakt zu halten. Sie kamen entweder nicht mehr zu Besuch oder waren nicht mehr erreichbar.“ Lars ist seit drei Jahren im Gefängnis und hat erst knapp die Hälfte hinter sich gebracht. Der 26Jährige singt in der Band und jeden Montag im Kirchenchor in Horten. „Wenn du einem 26jährigen Typen in Freiheit sagst, er soll in einem Kirchenchor singen, erklärt er dich für verrückt. Einen im Gefängnis brauchst du das nicht zweimal fragen“, sagt Lars. Die anderen lachen. „Hier im Gefängnis nimmst du alles an, um für kurze Zeit rauszukommen.“ Zehn Kilo Amphetamin und 2000 Stück Ecstasy wollte der damals 23Jährige Lars von Amsterdam nach Oslo schmuggeln. „Ich war völlig stoned, als ich gefragt wurde, ob ich das mit einem gemieteten Auto machen will.“ Er wirkt, als würde er gerne die Zeit zurückdrehen. „Hätten sie mich nicht in Schweden, sondern erst in Norwegen er wischt, hätte ich eine geringere Strafe bekommen“, schildert er, wie ein paar hundert Kilometer sein Leben bis zu seinem 30. Geburtstag entschieden haben.

Chris findet es nachvollziehbar, dass er im Gefängnis sein muss. Trotzdem sieht er Widersprüchlichkeiten bezogen auf die Existenz von Gefängnissen. „Es ist ziemlich barbarisch, Menschen einzusperren. Wenn man das privat machen würde – Menschen gegen ihren Willen einsperren – würde man das als Gewalt bezeichnen. Auf jeden Fall wäre es wichtig, die Gefängnisse mehr in die Gesellschaft zu integrieren, so ähnlich wie es mit Bastøy passiert.“ Für Arne Kvernvik Nilsen, der vor seiner Tätigkeit als Gefängnisleiter jahrelang im Correctional Service tätig war und Experte für alternative Strafmethoden ist, ist das Gefängnis für den Großteil der Häftlinge nicht die richtige Institution. „Ich glaube, auf die meisten Gefängnisse in Norwegen könnten wir verzichten. Obwohl mir natürlich schon bewusst ist, dass es immer Menschen geben wird, die wir in einer Gesundheitseinrichtung oder etwas Ähnlichem verwahren müssen, um sie und die Gesellschaft zu beschützen.“ Ob er auch Anders Breivik aufnehmen würde? „Wir hatten einen sehr schlimmen Sommer in Norwegen. Aber ich glaube, in einigen Jahren wird Breivik auch hier sein.“


* Nachname auf Wunsch des Interviewten geändert.


Die Autorin studiert Philosophie an der Uni Wien.

Protest, Spektakel und Verschwörungstheorien

  • 13.07.2012, 18:18

Die USA sind besetzt – und Tausende demonstrieren seit September für soziale Gerechtigkeit. Doch wer sind die BesetzerInnen eigentlich und was wollen sie? Ein kritischer Blick auf Occupy Wall Street, direkt aus Downtown Manhattan.

"Mic check“, schreit jemand in die Menge. Ein lautes Brüllen und „mic check“ schallt es zurück. Damit ist der provisorische „Soundcheck“ abgeschlossen. Technik nützt nichts am Zuccotti Plaza, nahe der New Yorker Wall Street. Mikrophone und Lautsprecher wurden polizeilich untersagt, also wiederholt die Menge das Gesprochene. Mitten drinnen steht eine der Ikonen der Anti-Globalisierungsbewegung: Naomi Klein. Alles ist bereit für ihren Auftritt. „Ich liebe euch“, repliziert die Menge ihre Worte. Die Journalistin und Autorin (No Logo, The Shock Doctrine – The Rise of Desaster Capitalism) wartet nicht mit viel Neuem auf. Sie ruft: „Wir zahlen nicht für eure Krise!“ Mit „ihr“ ist dabei jenes „eine Prozent“ gemeint, das laut Klein die „globale“ Krise verursacht habe. Dem stellt sie den Leitgedanken der Bewegung „Wir sind die 99 Prozent“ entgegen: Das reiche eine Prozent würde die Krise nutzen, um sich noch mehr zu bereichern und seine Wunschliste – von der Privatisierung der Bildung bis zum Gesundheitssystem – durchzusetzen. Aber: Nun gäbe es glücklicherweise 99 Prozent, die sich dies ab sofort nicht mehr gefallen ließen. „Was heute anders ist als 1999 in Seattle: Damals griffen wir den Kapitalismus auf der Höhe eines Booms an. Heute zum Zeitpunkt der Krise“, erklärt sie den Protestierenden. Es gelte, die Gelegenheit zum Protest zu nutzen – wie 1999 bei den Protesten gegen G8 in Seattle.* Aber nicht nur Klein sprach ihre Solidarität aus. „Star-Philosoph“ Slavoj Zizek, Skandalpublizist Michael Moore, Hollywood-Linke Susan Sarandon – alle kamen sie und sprachen am Liberty Plaza in New York, dem Herzen der Occupy Wall Street-Bewegung.

Protest-Accessoirs.

Von Boston bis Chicago, von Los Angeles bis Miami von Minneapolis bis Portland sprossen weitere Besetzungen aus dem Boden. Der Protest macht sich in den gesamten USA breit. Seit dem 17. September, dem „Constitution Day“, werden Sit-ins, Teach-ins, offene Foren, Kundgebungen, Demonstrationen, Besetzungen organisiert. Ein unüberschaubares Mischmasch aus AnarchistInnen und anderen „linken“ Gruppierungen, kleineren Gewerkschaften, Parteien wie der Revolutionary Communist Party oder den US-Grünen – jedoch primär eine Masse an erstmals aktiven „Unzufriedenen“ bringt sich in den Protest ein. Zeitungen, Flugblätter, Buttons und all die bekannten Protest-Accessoirs – sogar eine People‘s Library – sind vorhanden. Und während das Plenum tagt, geben sich einige Meter weiter die karnevalesken TrommlerInnen frenetisch, ja fast ununterbrochen, ihren Rhythmen hin. Doch wer sind die AktivistInnen? Es ist die selbsternannte „Mittelschicht“, die sich durch die vorherrschende Politik des Landes bedroht fühlt. Dazu Diana Levinson, deklarierte Demokratin: „Jungen Menschen wird die Zukunft geraubt, die Wirtschaft ist in Amerika außer Kontrolle geraten und hat die Mittelschicht zerstört.“ Eine andere Aktivistin fasst den Protest so zusammen: „Die Leute haben es satt, es braucht eine Umverteilung des Reichtums, wir haben die Mittelschicht verloren, Studierende können ihre Ausbildungskosten nicht mehr zurückzahlen, HausbesitzerInnen ihre Hypotheken.“ Wer aber konkret diese Mittelschicht ist, bleibt offen – insbesondere, weil sich jedeR als Mittelschicht bezeichnet.

Kritik an der Protestbewegung.

Kritik kommt nicht nur von konservativer Seite. So äußert sich die marxistische US-Theoriegruppe The Platybus Affiliated Society kritisch gegenüber Occupy Wall Street. Diese, kurz Platybus genannt, hat mehrere Versuche gestartet, vor Ort zu intervenieren. Parallel zu zahlreichen und regelmäßig stattfindenden Lesekreisen reagiert die Gruppe mit öffentlichen Diskussionen auf die Proteste. Laurie Rojas von Platybus New York etwa wünscht sich mehr konkrete Kritik. „In der Bewegung besteht eine begrenzte Sichtweise auf die Natur des Kapitalismus“, stellt sie fest. „Occupy Wall Street stellt aber auch eine neue Möglichkeit für die Linke dar.“ Rojas und Platybus sehen allerdings grundlegendere Probleme als die meisten der BesetzerInnen und konstatieren „eine sichtliche Schwäche der Linken“. Die Analyse dieser Schwäche könne aber nicht nur an den letzten Jahren festgemacht werden, sondern müsse eine Untersuchung der gesamten Geschichte der Linken bilden. Ross Wolfe, ebenfalls von Platybus, kritisiert in seinem Blog The Charnel-House: „Das endlose Trommeln, pseudo-tribale Tanzen und Singen, wiederholende Slogans („this is what democracy looks like“ und andere populistische Banalitäten), vorhersehbare Plakate, schwarze Halstücher, anarchistischer Chic – all das riecht ein bisschen zu viel nach dem, was nur zur normalen orgiastischen Post-Neue-Linke-Party- und Protestkultur wurde.“

Die Occupy-Bewegung bildet außerdem keine Ausnahme, was klassisch und vermeintlich „linke“ Verschwörungstheorien, Antisemitismus und verkürzte Kapitalismuskritik angeht. Die Krux beim Protest gegen den Kapitalismus ist, dass er sich oftmals nicht gegen das gesellschaftliche System Kapitalismus wendet, sondern sich Einzelpersonen als vermeintliche Sündenböcke herausnimmt. Dies zeigt sich insbesondere darin, dass einerseits primär die „Zerstörung“ der undefinierbaren Mittelschicht anstatt sozialer Verhältnisse kritisiert werden und auf der anderen Seite „Börsenspekulanten“, Banker und die sogenannten ein Prozent als Verantwortliche an den Pranger gestellt werden. Als „links“ betitelter Protest kippt dann leicht in antisemitische Stereotype, die auch schon die Nazis gegen „die Juden“ bemühten. Stereotype wie die Vorstellung vom „parasitären Finanzkapital“ sind Standard-Repertoire von Antisemitismus, und werden oftmals frisch verpackt in der Occupy- Bewegung artikuliert. Wenn es darum geht, den „corporate Greed“, die Gier, an den Pranger zu stellen, wie dies bei Occupy Wall Street der Fall ist, folgt dann auch meist der Fingerzeig auf bekannte UnternehmerInnen und BankerInnen, wie den Präsidenten von Goldman-Sachs, Lloyd Blankfein. Offen bleibt ohnehin auch die Frage, warum die Wall Street als Zentrum allen Übels dargestellt wird und nicht der Kapitalismus an sich. Auch „die Politik“, also Barack Obama, der gefallene Held vieler Occupier, die Demokratische Partei oder die Republikanische Partei und die ultra-konservative Tea-Party, sind nur Ziele zweiter Wahl. Naomi Klein schlägt vor: „Kümmert euch nicht um die Demokratische Partei.“ Um es mit dem inflationär gebrauchten Präfix „post“ zu sagen: Im Zeitalter der Postdemokratie, eines zunehmend autoritärer werdenden Kapitalismus, ist man eben post-politisch, post-anarchistisch. Man hat das ganze Politikspiel satt, fordert nicht und fordert niemanden heraus, will sich die Welt selbst organisieren und mimt eine zeitgenössische Form von „going west“: Nur in diesem Fall mitten in Downtown Manhattan. Konkrete Kritik ist politisch und was politisch ist, will man nicht. Man ist gegen Gier, Korruption und Ungleichheit. Wie dies alles entsteht, ist aber nicht die Frage. Spekulationen, wer dafür verantwortlich ist, rücken ins Zentrum der Auseinandersetzung. Antisemitische Untertöne bis hin zu offenem Antisemitismus finden in einem solchen Umfeld leicht Platz: von Plakaten wie „Hitler‘s Banker – Wall Street“, diversen antisemitischen bis verschwörungstheoretischen Kommentaren auf Webseiten und Bildern eines aufgespießten Lloyd Blankfein.

Lippenbekenntnisse.

Seth Weiss von der Marxist Initiative kritisiert den laschen Umgang mit den vom Plenum beschlossenen „Prinzipien der Solidarität“, welche unter anderem die „Bestärkung untereinander gegen jede Form von Unterdrückung“ miteinschließt. Darüber hinaus halte sich die Linke davon ab, „eine Vision einer befreienden Alternative zum Kapitalismus und seiner Schrecken“ zu entwickeln. Wenngleich sich dennoch zeigt, dass diese Bewegung keineswegs antisemitisch sein will, so zeigt sich genauso, dass ihr dabei die genaue Auseinandersetzung fehlt. Somit verwundert es auch nicht, dass die dringende Frage des Umgangs mit und der Abgrenzung von antisemitischen Elementen unbeachtet im Raum steht. Die Antwort bleibt als Schuld verbucht. „Das Plenum und alle UnterstützerInnen der Wall-Street-Besetzung würden besser daran tun, mehr als ein Lippenbekenntnis dazu abzugeben“, sagt Weiss.

Repression und Repetition.

Der Protestalltag birgt bei all dieser notwendigen Reflexion auch praktische Probleme, Grenzen und Gefahren sowie die Frage nach Strategien. Die Protestbewegung ist mit der härtesten Repression seit den Protesten gegen den Vietnamkrieg konfrontiert. Von großangelegten Pfefferspray- und Prügelaktionen durch die Exekutive, Massenverhaftungen bis hin zu brutalen Auflösungen von Besetzungen und Demonstrationen. Die Besetzung im Zuccotti-Park wurde erst im November durch die Polizei aufgelöst. Der Winter kommt, die Proteste schwächeln. Vielleicht war es nur das repetitorische Erwachen der „Linken“, die sich mehr schlecht als recht als symbolische Figur am Leben erhält – ein bisschen nach dem Vorbild der britischen Monarchie: „The left is dead, long live the left“, wie ein Plakat von Platybus New York es ausdrückt? Doch im November 2012 sind PräsidentInnenschaftswahlen und die Zeichen deuten auf heiße Zeiten. Fix ist dabei jedenfalls: Die öffentliche Diskussion hat sich hin zur sozialen Frage verschoben – und das in einem Land, in dem mehr als in jedem anderen persönlicher Erfolg und Scheitern privatisiert sind und einzementiert scheinen. Und das markiert dann doch einen Erfolg der Bewegung.


Der Autor studiert Jus an der Uni Graz und lebt derzeit in New York.


* Im Dezember 1999 kam es am Rande der Welthandels-Konferenzin Seattle zu heftigen Auseinandersetzungen zwischen Protestierenden und der Polizei – viele betrachten diese Demonstration als Geburtsstunde der zweiten Welle der „globalisierungskritischen“ Bewegung. Die Konferenz konnte aufgrund des Protestes nicht abgehalten werden.

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