Die Bestrafung ist der Freiheitsentzug

  • 20.09.2012, 02:28

Mit dem Ziel, Verantwortung für ihr Handeln zu übernehmen, leben 114 Schwerverbrecher ohne Zellen und Gitter auf der norwegischen Gefängnisinsel Bastøy. Sie können sich auf der zwei Quadratkilometer großen Insel frei bewegen, sofern man von den geregelten Arbeitszeiten, Ausgehsperren und den viermal täglich stattfindenen Zählterminen absieht.

Mit dem Ziel, Verantwortung für ihr Handeln zu übernehmen, leben 114 Schwerverbrecher ohne Zellen und Gitter auf der norwegischen Gefängnisinsel Bastøy. Sie können sich auf der zwei Quadratkilometer großen Insel frei bewegen, sofern man von den geregelten Arbeitszeiten, Ausgehsperren und den viermal täglich stattfindenen Zählterminen absieht.

Der Weg zur Gefängnisinsel Bastøy kann nur mit der kleinen Fähre Vederøy bestritten werden. Diese verlässt jeden Morgen um 8.15 Uhr mit GefängnisarbeiterInnen sowie BesucherInnen an Bord die Kleinstadt Horten. Was früher eine Art Bootcamp für männliche Jugendliche war, ist seit 2007 das erste humanökologische Gefängnis der Welt. Verlässt man die Fähre nach der Ankunft, steht man inmitten des Gefängnisses. „Übungsplatz für Verantwortung“ steht dort geschrieben. Bastøy ist zwei Kilometer lang, einen Kilometer breit und wie ein kleines Dorf organisiert. Mit einem Bus werden die ArbeiterInnen täglich zum Hauptgebäude gebracht. Auf der Insel stehen in großen Abständen zueinander kleine, farbig gestrichene Häuser, in denen jeweils vier bis sieben Männer in einer Wohngemeinschaft zusammenleben. Dazwischen erstrecken sich große, braune und grüne Felder, die von den Insassen selbst bearbeitet werden. „Die Insassen müssen ihren Alltag hier selbst regeln“, erklärt Rolf Hansen, ein Gefängniswärter. „Sie können zwischen Privatsphäre und Gemeinschaft wählen.“ Hansens Job ist es nicht nur, die Gefängnisinsassen zu bewachen, sondern auch, BesucherInnen zu begleiten. Nicht das Beschützen vor Insassen ist hier das Ziel, sondern vielmehr das Vermitteln der Arbeitsweise auf Bastøy. Auf dem gesamten Gefängnisgelände gibt es keine einzige Waffe, nur eine Attrappe im Büro des Gefängnisleiters. Normalerweise müssen alle GefängniswärterInnen in Norwegen eine dreijährige Ausbildung absolvieren. Hansen gehört zu den zehn Prozent der WärterInnen, die über keine formale Ausbildung verfügen. „Der Leiter von Bastøy will dich kennenlernen, und dann entscheiden, ob du hier arbeiten darfst“, erklärt er das Aufnahmeverfahren. Beim Organisieren des Insellebens werden die Insassen von 80 MitarbeiterInnen unterstützt. Diese arbeiten als AufseherInnen, in der Bibliothek, in der Kirche, in der Küche, in der Administration oder bei sonstigen Projekten im Gefängnis.

Das geringere Übel. „Du siehst hier keine Wärter Innen, wenn du nicht möchtest. Das einzige Gefühl von Gefängnis entsteht durch die Tatsache, dass es eine Insel ist“, kann der 54jährige Ketil Petersson*, der wegen Drogenhandels verurteilt wurde, dem Konzept von Bastøy einiges abgewinnen. Seit einem halben Jahr ist er auf Bastøy, davor war er in einem geschlossenen Gefängnis und verbrachte dort 23 Stunden am Tag in einer Zelle, eine Stunde hatte er Hofgang. Dass er wegen seiner Vergangenheit im Gefängnis sitzen muss, kann er nicht wirklich nachvollziehen. Seiner Meinung nach sollten Drogen legalisiert werden. „Aber was soll’s“, sagt er mit dem Wissen, dass er einen Großteil seiner Strafe schon abgesessen hat. Auch Per Aastan kam aus einem geschlossenen Gefängnis hierher. Sieben Jahre muss der ebenfalls wegen „Drogengeschichten“ verurteilte Vater absitzen, ein Jahr steht ihm noch bevor. Seine Aufgabe hier ist es, sich um die Tiere zu kümmern und mit dem Traktor im Winter Schnee zu räumen. Er mag seine Arbeit und muss dafür täglich vier bis fünf Stunden aufwenden. Seine Entlohnung beträgt, wie die der anderen auch, 50 Kronen (6,50 Euro) pro Tag. An einem typischen Tag steht er um halb sechs in der Früh auf, kümmert sich um seine Tiere, um halb neun wird das erste Mal gezählt: „Ich finde es fair, hier zu sein“, meint Per reumütig: „Ich muss bezahlen für das, was ich getan habe“. Der Unterschied zwischen Bastøy und einem geschlossenen Gefängnis sei wie Tag und Nacht. „Ich glaube schon, dass eine Gesellschaft Gefängnisse braucht, trotzdem müssen sich die Bedingungen in vielen ändern“, sagt Per. Das Ziel von Gefängnissen sei schließlich „die Möglichkeit zu bekommen, wieder zurückzufinden“. Im Sommer sei es besonders schlimm, das Festland zu sehen und Partys und Konzerte unfreiwillig mitzuhören, da sind sich die beiden einig. „Darüber darfst du nicht nachdenken, sonst drehst du durch“, schüttelt Ketil den Gedanken gleich wieder ab. Trotzdem gab es laut Per erst einen, der von Bastøy fliehen wollte, und der wurde am darauffolgenden Tag geschnappt. „Grundsätzlich kannst du aber jeden Tag fliehen, wenn du willst“, sagt Per: „Das wäre aber natürlich dumm, weil nachher alles nur noch schlimmer wird“. Draußen warten seine Frau und eine bestehende Existenz auf ihn, in die er sich nur wieder einfügen muss. „Zurückkehren zur Normalität ist alles, was ich möchte.“

Elitegefängnis. Normalität ist auch das, was Gefängnisleiter Arne Kvernvik Nilsen auf der Insel erzeugen möchte. Der ausgebildete Psychotherapeut ist seit zweieinhalb Jahren der Leiter von Bastøy, seither gab es noch keinen einzigen Zwischenfall. „Das erste, was ich den Insassen sage, wenn sie ankommen, ist Folgendes: Ich werde dir jetzt deine Verantwortung zurückgeben. Das bedeutet einerseits viel Freiheit, andererseits aber auch Möglichkeiten, um Dummes zu tun.“ Das humanökologische Gefängnis basiert für Nilsen auf dem Bewusstsein, dass die Umwelt den Menschen beeinflusst und umgekehrt. „Ein Mensch kann noch so schlimme Sachen getan haben, steckst du ihn in die richtige Umgebung, wird das auf ihn wirken.“ Auf Bastøy werden nur Schwerverbrecher aufgenommen. Die meisten Insassen waren davor in einem geschlossenen Gefängnis und haben sich von dort aus für Bastøy beworben. Nilsen sucht sich den Großteil der Insassen aufgrund der Bewerbung aus, und bevorzugt dabei die schwierigen Fälle. Ein paar werden ihm auch vom Staat zugeteilt. Auf Bastøy wird den Leuten klar gemacht: Wenn du dich nicht an die Regeln hältst, musst du zurück in ein geschlossenes Gefängnis. Dieses Druckmittel besitzen die anderen Gefängnisse nicht. Die Statistiken geben Bastøy Recht. Die Rückfallsquote ehemaliger InsassInnen aus euro-päischen Gefängnissen beträgt im Durchschnitt 70 Prozent, in Skandinavien 30, in Norwegen 20 und jene von Bastøy 16 Prozent. Bei Menschen, die mehrere Male im Gefängnis waren, vervielfacht sich die Wahrscheinlichkeit, wieder reinzukommen. Und: Aufgrund des im Vergleich zu anderen europäischen Ländern geringen Unterschieds zwischen Arm und Reich hat Norwegen eine der niedrigsten Kriminalitätsraten der Welt. „Wie können Leute behaupten, wir seien auf dem falschen Weg?“, fragt Nilsen in Richtung der PolitikerInnen, die gerade in letzter Zeit auch in Norwegen nach härteren Strafen schreien. „Das alles hat mit einer egalitären Gesellschaft zu tun und damit, wie wir die Leute im Gefängnis behandeln“, so Nilsen. Eines Tages müssen diese Leute schließlich wieder in die Gesellschaft zurück.

Mit dem Ziel, Verantwortung für ihr Handeln zu übernehmen, leben 114 Schwerverbrecher ohne Zellen und Gitter auf der norwegischen Gefängnisinsel Bastøy. Sie können sich auf der zwei Quadratkilometer großen Insel frei bewegen, sofern man von den geregelten Arbeitszeiten, Ausgehsperren und den viermal täglich stattfindenen Zählterminen absieht. päischen Gefängnissen beträgt im Durchschnitt 70 Prozent, in Skandinavien 30, in Norwegen 20 und jene von Bastøy 16 Prozent. Bei Menschen, die mehrere Male im Gefängnis waren, vervielfacht sich die Wahrscheinlichkeit, wieder reinzukommen. Und: Aufgrund des im Vergleich zu anderen europäischen Ländern geringen Unterschieds zwischen Arm und Reich hat Norwegen eine der niedrigsten Kriminalitätsraten der Welt. „Wie können Leute behaupten, wir seien auf dem falschen Weg?“, fragt Nilsen in Richtung der PolitikerInnen, die gerade in letzter Zeit auch in Norwegen nach härteren Strafen schreien. „Das alles hat mit einer egalitären Gesellschaft zu tun und damit, wie wir die Leute im Gefängnis behandeln“, so Nilsen. Eines Tages müssen diese Leute schließlich wieder in die Gesellschaft zurück.

Guilty as hell. Chris Nyborg und Lars Væring wohnen mit fünf anderen Mitbewohnern im Blueshouse. Für ein Zimmer in der Musiker-WG kann man sich bewerben, wenn man Mitglied der Gefängnisband „Skyldig som faen“ („Guilty as hell“) werden möchte, oder sich einfach für Musik interessiert. Chris ist seit Jänner hier und Bassist der Band. Beigebracht hat sich der 39Jährige das Bassspielen selber. Seit Oktober hatte die Band schon fünfzehn Auftritte, einige davon in Oslo, ein paar in anderen Gefängnissen. „Hier fängt man wieder an, zu leben“, sagt der wegen Totschlag verurteilte Chris, „sogar Mike Gallaher, der Gitarrist von Joe Cocker, hat uns hier schon besucht.“ Einen Großteil des Equipments bekommt die Band von der staatlich finanzierten Musical Study Association, die Gruppen wie Skyldig som faen auch finanziell unterstützt. Auch Chris hat die meiste Zeit seiner Strafe in Eidsberg, einem geschlossenen Gefängnis, abgesessen. Dort hat er in einer Bücherei gearbeitet, trotzdem musste er 23 Stunden am Tag in der Zelle verbringen. „Die meiste Zeit im Gefängnis fühlt man sich nutzlos, die Arbeit ist umsonst“, sagt er rückblickend. „Aber in Bastøy fällt der Druck des Weggesperrtseins weg.“ Das Gefühl der Nutzlosigkeit ist eines der größten Probleme für InsassInnen in herkömmlichen europäischen Gefängnissen, in denen Häftlinge kaum die Möglichkeit haben, einer Arbeit nachzugehen oder Kontakt mit der Außenwelt herzustellen. Das sieht auch Ole Loe Andersen, der Leiter von Wayback, der größten Resozialisierungsorganisation in Norwegen, so. „Die Bestrafung ist der Freiheitsentzug, nicht das Kreieren einer Hölle im Gefängnis“, sagt Andersen, der selbst acht Jahre lang wegen mehrmaligen Bankraubes im Gefängnis saß, zwei Jahre davon auf Bastøy. Die Diskussion um Gefängnisbedingungen findet Andersen oft verfehlt, da sie sich meist auf physische Möglichkeiten beschränkt: „Wenn du im Gefängnis sitzt, geht es nicht in erster Linie darum, ob du eine Toilette in deiner Zelle hast. Wenn nicht, ist das nämlich oft die einzige Möglichkeit am Tag, aus der Zelle rauszukommen.“

Abschied vom alten leben. „Si meg hva betyr adjo?“ ist eine Zeile aus einem Lied des berühmten norwegischen Sängers Jahn Teigen. Sie steht auf einer Wand im Wohnzimmer des Blueshouse geschrieben. „Das bedeutet so viel wie ‚Tell me, what does goodbye really mean?’“, erklärt Lars. Er hat nur mehr zu sechs Freunden draußen Kontakt. „Mit allen anderen war es zu schwierig, Kontakt zu halten. Sie kamen entweder nicht mehr zu Besuch oder waren nicht mehr erreichbar.“ Lars ist seit drei Jahren im Gefängnis und hat erst knapp die Hälfte hinter sich gebracht. Der 26Jährige singt in der Band und jeden Montag im Kirchenchor in Horten. „Wenn du einem 26jährigen Typen in Freiheit sagst, er soll in einem Kirchenchor singen, erklärt er dich für verrückt. Einen im Gefängnis brauchst du das nicht zweimal fragen“, sagt Lars. Die anderen lachen. „Hier im Gefängnis nimmst du alles an, um für kurze Zeit rauszukommen.“ Zehn Kilo Amphetamin und 2000 Stück Ecstasy wollte der damals 23Jährige Lars von Amsterdam nach Oslo schmuggeln. „Ich war völlig stoned, als ich gefragt wurde, ob ich das mit einem gemieteten Auto machen will.“ Er wirkt, als würde er gerne die Zeit zurückdrehen. „Hätten sie mich nicht in Schweden, sondern erst in Norwegen er wischt, hätte ich eine geringere Strafe bekommen“, schildert er, wie ein paar hundert Kilometer sein Leben bis zu seinem 30. Geburtstag entschieden haben.

Chris findet es nachvollziehbar, dass er im Gefängnis sein muss. Trotzdem sieht er Widersprüchlichkeiten bezogen auf die Existenz von Gefängnissen. „Es ist ziemlich barbarisch, Menschen einzusperren. Wenn man das privat machen würde – Menschen gegen ihren Willen einsperren – würde man das als Gewalt bezeichnen. Auf jeden Fall wäre es wichtig, die Gefängnisse mehr in die Gesellschaft zu integrieren, so ähnlich wie es mit Bastøy passiert.“ Für Arne Kvernvik Nilsen, der vor seiner Tätigkeit als Gefängnisleiter jahrelang im Correctional Service tätig war und Experte für alternative Strafmethoden ist, ist das Gefängnis für den Großteil der Häftlinge nicht die richtige Institution. „Ich glaube, auf die meisten Gefängnisse in Norwegen könnten wir verzichten. Obwohl mir natürlich schon bewusst ist, dass es immer Menschen geben wird, die wir in einer Gesundheitseinrichtung oder etwas Ähnlichem verwahren müssen, um sie und die Gesellschaft zu beschützen.“ Ob er auch Anders Breivik aufnehmen würde? „Wir hatten einen sehr schlimmen Sommer in Norwegen. Aber ich glaube, in einigen Jahren wird Breivik auch hier sein.“

* Nachname auf Wunsch des Interviewten geändert.

Die Autorin studiert Philosophie an der Uni Wien.

AutorInnen: Vanessa Gaigg