Philosophie

„Viel zu lernen du noch hast“

  • 20.06.2017, 22:04
Wer hat behauptet, dass sich Philosophie nur in miefigen Uni-Hörsälen, in zentnerschweren Büchern oder elitären Talk-Runden auf ORF III oder 3sat abspielen muss?

Wer hat behauptet, dass sich Philosophie nur in miefigen Uni-Hörsälen, in zentnerschweren Büchern oder elitären Talk-Runden auf ORF III oder 3sat abspielen muss? Auch in der Pop-Kultur hat sie sich – meist unsichtbar – eingenistet. Das zeigt Philosophin und Kulturjournalistin Catherine Newmark in dem von ihr herausgegebenen und mitgeschriebenen Sammelband: „Viel zu lernen du noch hast. Star Wars und die Philosophie“.

18 AutorInnen analysieren George Lucas’ siebenteilige Science-Fiction-Filmserie nach Denktraditionen von Descartes, Hobbes und Co. – abgepackt in extrem kurze Kapitel, um postmoderne Leser_innen nicht zu überfordern. Dabei werfen sie Fragen auf, die sicher vielen „Star Wars“-Nerds schon Schmerzen in den Gehirnwindungen bereitet haben, wie etwa: Wie ist es eigentlich möglich, dass die menschlichen „Star Wars“-Held_innen so locker flockig mit Chewbacca und R2D2 kommunizieren? Immerhin bestehen deren Sprachen nur aus Brüll- und Pfeiflauten. Und was hätte der Sprachphilosoph Wittgenstein zu diesem Phänomen gesagt? In den frühen Episoden (IV bis VI) treten die Jedi als zurückgezogene und apathische Outcasts auf. Asketisch, nur auf die eigenen Tugenden bedacht, bar jeglichen Anspruchs, die Welt zu ändern. „Sind die Jedi Stoiker?“, fragt sich Catherine Newmark. Das Taschenbuch arbeitet sich aber nicht bloß an den „verstaubten“ Klassiker_innen der Philosophie ab. Auch Gender-Analysen fordern das Weltraum-Märchen heraus. Warum sind fast alle „Star Wars“-Held_innen Männer? Und wieso können Frauen in dieser Chauvi-Veranstaltung nur bestehen, wenn sie ihnen nacheifern und sich beweisen?

Newmarks Buch ist ein Balance-Akt: Von „Star Wars“-affinen Philosophiestudent_innen bis hin zu „Star Wars“-Freaks ohne jeglichen Philosophie- Hintergrund soll für alle etwas dabei sein. Erfolgreich ist sie mit diesem Vorhaben leider nicht immer. Manche Kapitel erfordern sehr viel Vorwissen, an anderer Stelle werden sich philosophisch bewanderte Leser_innen eher langweilen. Aber immerhin: „Viel zu lernen du noch hast“ ist ein intellektueller Appetizer, der streckenweise verdammt unterhaltsam geschrieben ist.

Catherine Newmark
„Viel zu lernen du noch hast. Star Wars und die Philosophie“
12,99 Euro Rowohlt Taschenbuch Verlag

Johannes Mayerhofer studiert Soziologie und Psychologie an der Universität Wien.

Bekenntnisse gegen den jüdischen Staat

  • 12.05.2017, 21:58
Ziva ist seit Jahrzehnten in linken Gruppen engagiert. Doch ihre politische Heimat wird ihr zunehmend fremd

Ziva ist seit Jahrzehnten in linken Gruppen engagiert. Doch ihre politische Heimat wird ihr zunehmend fremd: „I hear so much hatred of Israel, so much hatred of Jews, and I feel like leaving the country. In a way I feel like I can’t be here.“ Ziva ist eine von 30 linken AktivistInnen, die Sina Arnold für ihr Buch über Antisemitismus in der USamerikanischen Linken interviewte. Zivas Position ist außergewöhnlich: Typisch für die Linke in den USA, so Arnold, sei vielmehr eine „Gleichgültigkeit und Empathielosigkeit gegenüber Antisemitismus“. Es gibt kein Problem mit Antisemitismus, lautet der linke Tenor – Antisemitismusvorwürfe seien bloß Versuche, Israelkritik zu diff amieren. Antizionismus, das wird aus Arnolds Studie deutlich, ist für viele amerikanische Linke zum politischen Bekenntnis geworden. Wer dazugehören will, muss sich gegen den jüdischen Staat stellen.

Arnold leitet ihre empirische Forschung mit einem ausführlichen Überblick zur Geschichte des Antisemitismus in den USA, insbesondere in der Linken ein. Ein entscheidender Wandel hat in den 1960ern stattgefunden: Mit dem Aufkommen der New Left, die den traditionellen Marxismus der Old Left gegen Identitäts- und Diskurspolitik eintauschte, wurde Israel als Hassobjekt fi xiert. Die Etablierung des Antizionismus als „ehrbarer Antisemitismus“, die Jean Améry in den 1960ern in der deutschen Linken beobachtete, hat sich in dieser Zeit auch jenseits des Atlantiks vollzogen.

Aus 30 Interviews mit Mitgliedern von 16 politischen Gruppen lässt sich kaum eine lückenlose Analyse der amerikanischen Linken erstellen. In Verbindung mit der historischen Darstellung gibt Arnolds Studie jedoch einen guten und plausiblen Eindruck, wie es die US-Linke mit dem Antisemitismus hält. Befremdlich ist lediglich Arnolds Schluss: Linke Positionen seien bloß „Ermöglichungsbedingungen“ für antisemitische Diskurse. Wer sich antirassistisch und antiimperialistisch betätigt, dem könne schon einmal ein antisemitisches Versehen passieren. Dass es sich vielleicht umgekehrt verhält, dass sich also das Engagement gegen Israel aus dem Antisemitismus ergibt, bestreitet Arnold – obwohl ihr Material diese Vermutung durchaus nahelegt.

Simon Gansinger studiert Philosophie an der Universität Wien.

Trawnys Deutschtümelei

  • 11.05.2017, 09:00
Der Heideggerianer Peter Trawny bläst in seinem knappen Essay Was ist deutsch? einen kleinen Gedanken zum ganz großen auf.

Der Heideggerianer Peter Trawny bläst in seinem knappen Essay Was ist deutsch? einen kleinen Gedanken zum ganz großen auf: Intellektuelle seien ihrer gesellschaftlichen Relevanz beraubt worden. Ausgehend von Theodor W. Adornos Radioessay Auf die Frage: Was ist deutsch entstellt Trawny Adorno regelrecht zur Unkenntlichkeit, nennt ihn kurzerhand den „Spiritus Rector der Bundesrepublik“ und macht ihn posthum zum Säulenheiligen des postnazistischen Deutschland. Adornos Denken und Wirken wäre noch stark genug gewesen, um „die Vertreter eines anderen Deutschland in Schach zu halten.“

Heute sähe das mit Thilo Sarrazin, dem keine nennenswerte Entgegnung widerfahre, anders aus: Es herrsche ein „Diskurs-Vakuum“. Nicht jedoch zu Adornos Lebzeiten, denn dieser hätte nicht nur als „eine Instanz“ gewirkt, er selbst sei aus dem Exil zurückgekehrt, um eine Gesellschaft aufzubauen, „in der es sich nach dem Schrecklichsten wieder leben ließ“. Der Judenmord verkommt schlussendlich nicht nur zum schlecht-abstrakt Schrecklichen, nein, für die wahrlich vernichteten Jüdinnen und Juden ließ es sich nicht mehr in dieser Gesellschaft leben – sie beraubte man der Individualität und befehligte sie ins Massengrab. Dass Adorno jedoch in dem oben genannten Radioessay auch die Anpassungsschwierigkeiten bei seiner Rückkehr hervorhob, ihm jeder Mitmachzwang zuwider war, darüber schweigt Trawny freilich.

Im Weiteren schreibt Trawny über die Verfallsgeschichte der zweiten Generation der Kritischen Theorie eines Jürgen Habermas und von Thilo Sarazzins Deutschland schafft sich ab. Nicht fehlen darf ein „autobiografischer Exkurs“, wo der Autor darstellt, dass er bei sich angesichts von Auschwitz keine Schuldgefühle feststellen kann, da er von der Gnade des Spätgeborenen zehrt. Überhaupt sei die Rede von der Schuld, die er zum „Schuldkomplex“ aufbläht, irreführend, denn dies lenke von der Erinnerung an Auschwitz ab. Beinahe glücklich kann man sich schätzen, dass Trawny nicht auch noch auf die Idee kommt, gegen die lebenden Jüdinnen und Juden vom Leder zu ziehen.

David Hellbrück ist freier Autor und Verleger und studiert u. a. Philosophie in Wien.

Die Hacklerinnen_

  • 23.02.2017, 18:04
Philosophie als Mackerdisziplin? Mit einer untypischen Philosophiepraxis bieten Frauen_ falschen Genies, mühsamen Gesprächskulturen und sinnloser Ghettoisierung die Stirn.

Philosophie als Mackerdisziplin? Mit einer untypischen Philosophiepraxis bieten Frauen_ falschen Genies, mühsamen Gesprächskulturen und sinnloser Ghettoisierung die Stirn.

„Ich fand abstraktes Denken schon immer spannend“, so Karoline Paier. Die 24-Jährige begann nach der Schule Philosophie und Psychologie zu studieren. Damals war noch nicht klar, dass Philosophie ihr Schwerpunkt werden würde. Heute ist Paier Studienassistentin und Tutorin bei mehreren Professor_innen am Institut für Philosophie der Universität Wien und arbeitet in den Bereichen Logik, Wissenschafts- und analytische Philosophie. „Dass ich im akademischen Kontext eine Frau bin, fiel mir erst auf, als in meinen ersten Logik-Lehrveranstaltungen nur Texte von Männern gelesen wurden und ich und höchstens eine andere die einzigen Frauen im Raum waren“, schildert Paier. Persönlich und erkenntnistheoretisch problematisch findet sie die in der Philosophie verbreitete Gesprächskultur des Gegeneinanders und Namedroppings. „Für ein gutes Arbeiten sollten Gruppen Probleme gemeinsam angehen und Gespräche auch so gestalten. Wie ernst philosophische Fragen genommen und behandelt werden, hat viel mit der Kultur, mit der Philosophie praktiziert wird, zu tun“, so Paier. Dass sie trotzdem bei der Philosophie blieb, lag nicht nur an ihrer Faszination logische Schlüsse mit Gesellschaftskritik zu verbinden. „Ich begann früh am Institut zu arbeiten und war Teil des Wiener Forums für Analytische Philosophie, das ich jetzt leite. Dort konnte ich in einem sicheren Umfeld Argumente ausprobieren und Fragen stellen. Das gab mir ein Gefühl von Zugehörigkeit“, so Paier.

ERBE. Immer wieder besucht Paier Vorträge von Philosophinnen_, die im Rahmen der Reihen „Philosophinnen*geschichten“ an das Institut für Wissenschaft und Forschung und „Women in Philosophy“ an das Philosophie-Institut der Karl- Franzens-Universität in Graz eingeladen werden. Studierende mit international renommierten Philosophinnen_ zusammenzubringen, war ein Ausgangspunkt für Amelie Stuart und vier weitere Frauen_, „Women in Philosophy“ überhaupt zu gründen. „Die Vortragsreihe soll den weiblichen Nachwuchs ermutigen und den männlich geprägten Kanon um wichtige Beiträge erweitern“, so Amelie Stuart. Die Frauen_ hinter den Texten live zu erleben hat für die Veranstalterinnen_ drei positive Seiten: Philosophinnen_ können ihre hochwertige Forschung präsentieren, sich vernetzen und als Vorbilder wirken. Das Ziel von „Women in Philosophy“ ist, (junge) Frauen dazu zu motivieren, längerfristig in der Philosophie zu bleiben.

MUNDARBEIT. Anhand der statistischen Daten von unidata des BMWFW zeigt sich, dass am Weg vom Bachelor zum Doktorat immer mehr Frauen_ der Universität den Rücken kehren. Während im Wintersemester 2015 am Institut für Philosophie an der Universität Wien – mit 2.838 Studierenden Österreichs größtes – 43,3 Prozent Frauen_ im Bachelor studierten, waren es im Master 41 Prozent und im Doktorat 33,8 Prozent. Was die Institute in ganz Österreich angeht, wirkt die Verteilung jedoch halbwegs ausgeglichen. Im Wintersemester 2015 studierten an Österreichs öffentlichen Universitäten insgesamt 4.866 Personen im Bachelor, Master und Doktorat Philosophie, davon waren 2.222 Frauen_ (45,6 Prozent). Das Projekt „philosopHER“ der Studierendenvertretung Philosophie und des Referats für feministische Politik der ÖH Uni Graz fragte in einer eigenen Instituts-Umfrage nicht nur nach den Verteilungen, sondern auch nach der Wahrnehmung der Philosophie-Studierenden der Universität Graz. Der Aussage „Männliche Studierende sind in LVs zurückhaltender als weibliche“ stimmten 91 Prozent der Befragten „eher nicht“ oder „gar nicht“ zu. Weiters gaben 84 Prozent der Frauen_, die Philosophie studieren, an, sich „eher ungern“ bis „sehr ungern“ mündlich in Lehrveranstaltungen einzubringen.

SCHWEISS. Die Philosophin Elisabeth Nemeth war bis September Dekanin der Fakultät für Philosophie und Bildungswissenschaft an der Universität Wien und ist Vorstandsmitglied der anerkannten Österreichischen Ludwig Wittgenstein Gesellschaft. Sie findet die statistische Herangehensweise, um Missstände aufzuzeigen, gut, kritisiert aber die Fokussierung auf die Kategorien „Männer“ und „Frauen“. „Wenn man nur von Frauen und Männern redet, sieht man viel dazwischen nicht, damit meine ich keineswegs nur queere Personen, sondern die vielen Lebensentwürfe, die untypisch sind“, so Nemeth. Mit zwei Kindern konnte sie mit Glück und intensiver Arbeit eine philosophische Laufbahn machen – aber es war schwer. „Ich litt darunter, nichts gescheit machen zu können. Wenn ich keine Kinder bekommen hätte, hätte ich noch viel mehr erreicht. Aber ich weiß nicht, ob ich das überhaupt wollte. Eher nicht“, so Nemeth. Aufgrund der großen Unterstützung seitens des Instituts blieb sie im akademischen Bereich. Nemeth hält die Fokussierung auf Frauen_ längerfristig aber für strategisch wenig sinnvoll: „Frauen extra zu betreuen und herauszuheben, birgt die Gefahr der Ghettoisierung und Spezialbehandlung. In der Lehre geht es darum, möglichst klare Arbeitsund Lernbedingungen zu schaffen, damit Personen von ihrem individuellen Standpunkt aus arbeiten können“, betont Nemeth. Dass das nicht selbstverständlich ist, läge in der Vorstellung, Philosophie sei stark mit Genialität und Begabung verbunden. Das sei, laut Nemeth, auch der Grund dafür, warum viele Frauen_, die sich für Philosophie interessieren, trotzdem nicht glauben, ein Philosophiestudium sei etwas für sie. „Die Vorstellung des genialen und begabten Philosophen ist extrem ausschließend. Die einzige Möglichkeit dagegen, ist ein anderes Konzept von Philosophie zu praktizieren. Nämlich alle, Männer und Frauen, dazu zu bringen, Philosophie als Arbeit an Texten und Argumentationsstrukturen wahrzunehmen und nicht als geniales Gequatsche“, schließt Nemeth.

Marlene Brüggemann hat Philosophie an der Universität Wien studiert.

Illusionen in der Wissenschaft

  • 21.06.2016, 22:34
Dem Verhältnis der Wissenschaft zu Bildern und Comics widmet sich „Unflattening“ – eine Doktorarbeit über Comics in der Philosophie, verfasst in Form eines Comics.

Dem Verhältnis der Wissenschaft zu Bildern und Comics widmet sich „Unflattening“ – eine Doktorarbeit über Comics in der Philosophie, verfasst in Form eines Comics.

In der Philosophie wird Wissen und Information vornehmlich über Wort und Text weitergegeben. Es gibt ein lange gehegtes, ja traditionelles Misstrauen gegenüber anderen Medien, vor allem gegenüber Bildern und ihren Mischformen.

Für dieses schlechte Verhältnis der Philosophie zum Bild als Informationsmedium wird oft Plato zur Verantwortung gezogen.

SCHATTEN AN DER WAND. Für ihn zeigt sich die Wirklichkeit nur durch Schatten in der Höhle, in der wir Menschen uns metaphorisch befinden. Nur durch das Denken in Form eines inneren Dialogs könne die Wirklichkeit erkannt werden. Obwohl Plato auch dem geschriebenen Wort als billigem Ersatz für Erinnerung und wahres dialektisches Verstehen misstrauisch gegenüberstand, billigte er es als notwendiges Übel, ganz im Gegensatz zu Bildern und optischen Wahrnehmungen, die für ihn nichts anderes waren als trügerische Illusionen, Schatten von Schatten.

Die Philosophen des Rationalismus im 17. Jahrhundert übernahmen Platos Misstrauen gegenüber Bildern und Sinneswahrnehmungen und versuchten, die Welt zu verstehen, indem sie Phänomene isoliert von diesen trügerischen Wahrnehmungen betrachteten. Dieser Ansatz führte zunächst zu großen Entdeckungen, bestärkte jedoch auch das darauffolgende Aufteilen und Abstecken der Wissenschaften in Teilgebiete. In manchen dieser Teildisziplinen scheint es dieser Tage vor allem darum zu gehen, die für die jeweilige Disziplin reklamierten Methoden und Ideen zu verfeinern und Beobachtetes als „richtig“ zu klassifizieren.

In der Physik etwa, dem Teilgebiet der Wissenschaft, in dem ich mich Expertin nennen darf, scheint es zur Zeit nur noch darum zu gehen die „theory of everything“ zu finden, in der endlich alle Kräfte, alle Phänomene mit einer Kraft, einer Formel beschrieben werden können. Überraschenderweise sind wir mit diesem Ansatz noch nicht so weit gekommen.

SEEING DOUBLE. Viele tausend Jahre nach Plato legt Nick Sousanis in seiner Dissertation „Unflattening“ dar, wie Bilder und Comics neue Perspektiven des Denkens und Verstehens eröffnen. Verfasst in Form eines Comics kann „Unflattening“ auch als Abhandlung über unsere Wahrnehmung verstanden werden. Der Sehprozess, zeichnet und schreibt Sousanis, involviert beide Augen – also zwei Perspektiven – gleichermaßen: „Our stereoscopic vision is the creation and integration of two views. Seeing, much like walking on two feet, is a constant negotiation between two distinct sources.”

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Unseren Augen gleich, ermöglichen uns Comics, aus Text wie Bild bestehend, zwei verschiedene Sichtweisen ineinanderfließen zu lassen. Denn Text ist, seiner Natur gemäß, sequentiell und linear, eine diskrete Abfolge von Wörtern. Ein Bild andererseits präsentiert alles Gezeigte auf einmal, es gibt weder Anfangs- noch Endpunkt. Wie Michael Baxandall schreibt, gibt es keine direkte Entsprechung von Text und Bild. Jede textliche Beschreibung eines Bildes presst dieses in ihre textliche, also lineare und hierarchische Form. Das bedeutet, dass Erkenntnisse und Wahrnehmungen, die sich nicht textlich ausdrücken lassen, weil sie außerhalb dieses sequentiellen Paradigmas stehen, ausgeklammert werden. In Comics aber verschmelzen der textlich sequenzielle und der bildlich simultane Charakter und bilden so eine neue Form des Verstehens, in der nun auch das zuvor Außenstehende einen Platz findet.

Kritische Stimmen mögen an dieser Stelle anmerken, dass zum Beispiel in den empirischen Wissenschaften die Verwendung von Abbildungen gängige Praxis ist, also die Comic-Idee ohnehin schon Praxis sei. Nun stimmt es zwar, dass man beim Durchschauen einer Publikation aus den Naturwissenschaften auf viele Diagramme und Graphen stößt. Es ergibt sich jedoch nicht der dialektische Text-Bild-Zusammenhang, den Sousanis meint. In einem klassischen Graphen wird eine Größe als Funktion der anderen dargestellt, zum Beispiel die Anziehungskraft zweier massiver Körper als Funktion ihres Abstandes oder das Wahlverhalten einer Bevölkerungsgruppe als Funktion ihres Alters.

Wie aus diesen Beispielen ersichtlich, besitzen Graphen ein sehr hohes Abstraktionsniveau. Graphen beantworten eine spezielle und isolierte Frage. So werden sie sogar zum Gegenspieler von Bildern, die alles Beobachtete ungeordnet und simultan preisgeben. Zudem haben Graphen in unserer heutigen Gesellschaft, ganz im Gegensatz zu Bildern, eine extreme Überzeugungskraft. Ihr reduktionistischer Charakter strahlt eine Objektivität aus, der man sich schwer entziehen kann, aber häufiger sollte.

GRAPH 4.3 ZEIGT GAR NICHTS. In den Geisteswissenschaften hingegen, und zwar vor allem in der Philosophie, wird auf Bilder jeder Art verzichtet. Es gibt zwar Philosophiecomics, diese sind allerdings entweder für Kinder oder als Infotainment gedacht. Seriöse akademische Diskussionen werden selbst in Philosophieschulen, die dem Rationalismus kritisch gegenüberstehen, ausschließlich mit Wörtern geführt. Zu sehr riechen Comics nach Anti-Intellektualismus und Reduktionismus.

Nun, wenn es um simple Graphen oder Comics zum Notfallverhalten in Flugzeugen geht, mag der Reduktionismusvorwurf, wie oben besprochen, berechtigt sein. Doch die Textversion des Flugzeugnotfallverhalten- Comics ist auch kein literarisches Meisterwerk. Die Verwendung von Comics in der Wissenschaft steckt noch in den Kinderschuhen. Doch Versuche wie Sousanis Doktorarbeit zeigen, dass das Medium mehr als geeignet ist, komplexe Themen zu bearbeiten und neue Sichtweisen, und zwar solche die einer rein textlichen Darstellung verschlossen bleiben, zu eröffnen.

Carina Karner studiert Physik im Doktorat und baut Computermodelle für die Kristallisation von Kolloiden – Schatten von Schatten.

„Viele Menschen glauben, Philosophie hätte nichts mit dem eigenen Leben zu tun“

  • 07.03.2015, 16:25
Mit dem Ziel Philosophie ihrem akademischen Habitat zu entreißen und sie in den Untergrund zu bringen, wurde das Kollektiv philosophy unbound im Herbst 2014 gegründet. Am 25. März findet ihr nächstes Event zum Thema Feminismus statt.
Mit dem Ziel Philosophie ihrem akademischen Habitat zu entreißen und sie in den Untergrund zu bringen, wurde das Kollektiv philosophy unbound im Herbst 2014 gegründet. Am 25. März findet ihr nächstes Event zum Thema Feminismus statt.

Mit dem Ziel Philosophie ihrem akademischen Habitat zu entreißen und sie in den Untergrund zu bringen, wurde das Kollektiv philosophy unbound im Herbst 2014 gegründet. Am 25. März findet ihr nächstes Event zum Thema Feminismus statt.

„Die Zugänglichkeit des original Unzugänglichen“, so beschreibt Edmund Husserl all jene Erfahrungen, die das Fremde betreffen. Als ein solches abstraktes Unzugängliches wird bei Zeiten auch die Philosophie erachtet. Elitär, antiquiert, ein intellektuelles Konstrukt, das in einer effizienzorientierten Gesellschaft an Nutzen und Wert verloren hat. Dieser Meinung will philosophy unbound dezidiert entgegenwirken.

„Die Idee entstand in Anlehnung an die Vernetzung der Underground-Musikszene“, so Flora Löffelmann, Mitglied von philosophy unbound „Wer sagt, dass Open Stages nur MusikerInnen vorbehalten sind?“ Philosophieren aus dem Untergrund - das ist eine aufrührerische, performative Art der Philosophie, die Barrieren abbaut und einen Raum schafft, der die Grenzen der tradierten Auseinandersetzung mit akademischer Philosophie überschreitet.

NENNEN WIR ES PHILOSOPHIE. Eine kurze Rückschau. Der Abend des 15. Jänners 2015, das Spektakel Theater 2.0 ist bis auf den letzten Platz besetzt. Es ist heiß, es ist eng, hier passiert gerade Etwas. Mit der Veranstaltung philosophy unbound #1 präsentiert sich das Kollektiv erstmalig der Öffentlichkeit.

Neben einer Tanzperformance, einem Poetry Slam und einer Lesung von Kilian Jörg, dem gedanklichen Initiator von philosophy unbound, ist das Publikum vordergründig mit Einem konfrontiert: dem unbändigen Enthusiasmus der Veranstalter_innen. Das Kollektiv schafft es, die Stimmung auf die Zuseher_innen zu übertragen. Begeisterter Beifall, das Unheil ist angerichtet. philosophy unbound hat sich in den Köpfen der Zusehenden etabliert.

„Es ist unfassbar. Wer hätte schon damit gerechnet, dass eine Philosophieveranstaltung auf solch eine Resonanz und einen derartigen Publikumsandrang stoßen würde?“, so Theresa Thomasberger, eine der Mitgestaltenden von philosophy unbound. „Unser Anliegen war es, einen Raum für Philosophie zu schaffen, der von keinem elitären Image durchdrungen ist. Viele Menschen glauben, Philosophie hätte nichts mit dem eigenen Leben zu tun und verspüren ihr gegenüber eine Schwellenangst.“ philosophy unbound versteht sich als Plattform, die philosophisch Interessierte miteinander vernetzen und aufzeigen will, dass Philosophie mehr sein kann, als ein Text oder eine Vorlesung an der Universität.

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FEMINISMUS. Dieses „Mehr“ nimmt in Form von Veranstaltungen Gestalt an, die alle zwei Monate stattfinden sollen, und Interessierte einladen, selbst auf der Bühne tätig zu werden. Das Kollektiv will somit einem Bedürfnis nach performativ-philosophischen Diskurs nachkommen, das die akademische Philosophie nicht abdeckt.

Das nächste Event wird am 25. März stattfinden. Erneut laden philosophy unbound in das Spektakel Theater, um sich diesmal dem Themenschwerpunkt „Feminismus“ zu widmen. Dass es sich hierbei um einen Gegenstand handelt, der von großer gesellschaftlicher Relevanz und Brisanz zeugt, steht für die Mitglieder außer Frage. „Gerade Formen der künstlerischen Artikulation sollen aufzeigen, welche performative Kraft philosophisch-feministischen Themen innewohnt. Dadurch, dass die Auseinandersetzungen mit dem Feminismus wegführt von einer vermeintlichen Opposition, bei der alles Weibliche körperlich und alles Männliche geistig konnotiert ist, möchten wir auf die Handlungsvielfalt hinweisen, die einer thematischen Bearbeitung des Feminismus auf der Bühne zur Verfügung steht,“ so Flora.

Hierbei verstehen sich die beiden Kuratorinnen des Abends nur als rahmengebende Instanz. „Eines unserer Augenmerke setzt auf die Diversität der inhaltlichen Gestaltung. Wer also zeigen will, wie feministische Themen die Bühne erobern können -in welcher Form auch immer- melde sich gerne vor dem 25.3. bei uns.“

 

Sonja Riegler studiert Philosophie und Komparatistik an der Uni Wien.

Am 25. März findet ihr nächstes Event zum Thema Feminismus statt.

„Die Zugänglichkeit des original Unzugänglichen“, so beschreibt Edmund Husserl all jene Erfahrungen, die das Fremde betreffen. Als ein solches abstraktes Unzugängliches wird bei Zeiten auch die Philosophie erachtet. Elitär, antiquiert, ein intellektuelles Konstrukt, das in einer effizienzorientierten Gesellschaft an Nutzen und Wert verloren hat. Dieser Meinung will philosophy unbound dezidiert entgegenwirken.

„Die Idee entstand in Anlehnung an die Vernetzung der Underground-Musikszene“, so Flora Löffelmann, Mitglied von philosophy unbound „Wer sagt, dass Open Stages nur MusikerInnen vorbehalten sind?“ Philosophieren aus dem Untergrund - das ist eine aufrührerische, performative Art der Philosophie, die Barrieren abbaut und einen Raum schafft, der die Grenzen der tradierten Auseinandersetzung mit akademischer Philosophie überschreitet.

NENNEN WIR ES PHILOSOPHIE. Eine kurze Rückschau. Der Abend des 15. Jänners 2015, das Spektakel Theater 2.0 ist bis auf den letzten Platz besetzt. Es ist heiß, es ist eng, hier passiert gerade Etwas. Mit der Veranstaltung philosophy unbound #1 präsentiert sich das Kollektiv erstmalig der Öffentlichkeit.

Neben einer Tanzperformance, einem Poetry Slam und einer Lesung von Kilian Jörg, dem gedanklichen Initiator von philosophy unbound, ist das Publikum vordergründig mit Einem konfrontiert: dem unbändigen Enthusiasmus der Veranstalter_innen. Das Kollektiv schafft es, die Stimmung auf die Zuseher_innen zu übertragen. Begeisterter Beifall, das Unheil ist angerichtet. philosophy unbound hat sich in den Köpfen der Zusehenden etabliert.

„Es ist unfassbar. Wer hätte schon damit gerechnet, dass eine Philosophieveranstaltung auf solch eine Resonanz und einen derartigen Publikumsandrang stoßen würde?“, so Theresa Thomasberger, eine der Mitgestaltenden von philosophy unbound. „Unser Anliegen war es, einen Raum für Philosophie zu schaffen, der von keinem elitären Image durchdrungen ist. Viele Menschen glauben, Philosophie hätte nichts mit dem eigenen Leben zu tun und verspüren ihr gegenüber eine Schwellenangst.“ philosophy unbound versteht sich als Plattform, die philosophisch Interessierte miteinander vernetzen und aufzeigen will, dass Philosophie mehr sein kann, als ein Text oder eine Vorlesung an der Universität.

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Das nächste Event wird am 25. März stattfinden. Erneut laden philosophy unbound in das Spektakel Theater, um sich diesmal dem Themenschwerpunkt „Feminismus“ zu widmen. Dass es sich hierbei um einen Gegenstand handelt, der von großer gesellschaftlicher Relevanz und Brisanz zeugt, steht für die Mitglieder außer Frage. „Gerade Formen der künstlerischen Artikulation sollen aufzeigen, welche performative Kraft philosophisch-feministischen Themen innewohnt. Dadurch, dass die Auseinandersetzungen mit dem Feminismus wegführt von einer vermeintlichen Opposition, bei der alles Weibliche körperlich und alles Männliche geistig konnotiert ist, möchten wir auf die Handlungsvielfalt hinweisen, die einer thematischen Bearbeitung des Feminismus auf der Bühne zur Verfügung steht,“ so Flora.

Hierbei verstehen sich die beiden Kuratorinnen des Abends nur als rahmengebende Instanz. „Eines unserer Augenmerke setzt auf die Diversität der inhaltlichen Gestaltung. Wer also zeigen will, wie feministische Themen die Bühne erobern können -in welcher Form auch immer- melde sich gerne vor dem 25.3. bei uns.“

 

Sonja Riegler studiert Philosophie und Komparatistik an der Uni Wien.

Familienprobleme

  • 20.03.2014, 17:16

 

Die Familie gab stets Anlass zum Kopfzerbrechen, im Leben wie in der Literatur. Sie fordert dazu heraus über das Verhältnis von Generationen, Einzelnen und Gesellschaft nachzudenken.

Familien sind überall. Im Fernsehen sind sie himmlisch und schrecklich, haben kleine Farmen und Anwesen in Bel Air. Auch jenseits der Fiktion sind sie nicht unterrepräsentiert, es gibt ein Ministerium für Familie und Jugend sowie eigene Familiensprecherinnen und -sprecher bei den großen Parteien. Die ersten Assoziationen zu Familie betreffen das traute Heim, die (verlogene) Idylle und die (erzwungene) Harmonie. Eigentlich steht die Familie aber im Zentrum gesellschaftlicher Konflikte und ist Austragungsort zahlreicher Kämpfe. Sie nimmt eine Scharnierfunktion zwischen Privatem und Öffentlichem ein.

Sozialtümpel. Die Familie bildet deshalb ein äußerst reizvolles Experimentierfeld für die Literatur. In ihr verdichtet sich Gesellschaft, sie ist Kulminationspunkt abstrakter Verhältnisse und macht diese greifbar. Darüber hinaus ermöglicht die Auseinandersetzung mit den Eltern einen persönlichen Zugang zur Vergangenheit. Das motivierte etwa die sogenannten „Väterbücher“, in denen sich, beginnend mit den 1970er-Jahren, eine ganze Reihe von Autoren und einige Autorinnen mit ihren gestorbenen Vätern auseinandersetzten. Peter Henischs „Die kleine Figur meines Vaters“ und Elisabeth Plessens „Mitteilung an den Adel“ sind Beispiele für diese Art der Vergangenheitsbewältigung. Bis heute erfreut sich diese Form der Kontaktaufnahme mit den toten Ahnen gewisser Beliebtheit. So legte Erich Hackl gerade einen Band voll dichter Prosa vor, die sich vorsichtig dem Leben seiner Mutter im Waldviertel annähert. Charakteristisch für diese Art der Literatur ist ein einfühlsamer Stil, der sich Wertungen enthält. Dennoch idealisiert Hackl das Landleben keinesfalls, sondern schildert verhältnismäßig nüchtern auch dessen Grausamkeiten; etwa wenn es um den Umgang mit Abtreibung geht.

Pars pro toto. Bereits 2010 hatte Hackl einen anderen Familienroman vorgelegt. Er beschreibt die Geschichte der Familie Salzmann über drei Generationen. So behutsam das Buch mit dem Untertitel „Erzählung aus unserer Mitte“ die individuelle und genau recherchierte Geschichte der Figuren erzählt, so sehr ist es auch ein Buch über gesellschaftliche Kontinuität und das Fortleben von Antisemitismus und autoritärem Charakter. Es ist ein Buch über eine Familie, aber auch ein Buch über Postnazismus. Noch der Enkel des Kommunisten und Widerstandskämpfers Hugo Salzmann und der in Ravensbrück ermordeten Juliana Salzmann wird an seinem Arbeitsplatz bei der Grazer Gebietskrankenkasse antisemitisch gemobbt und 1997 schließlich entlassen.

Diese Verbindung des Erzählens über einzelne Personen und Familien auf der einen Seite und über eine Gesellschaft als Ganze auf der anderen Seite könnte als widersprüchlich verstanden werden. Schließlich hat das Leben einer eingewanderten Hilfsarbeiterin mit dem einer erfolgreichen Anwältin aus eingesessener Familie zunächst scheinbar wenig zu tun. Aber kreuzen sich die Wege dieser Bewohnerinnen unterschiedlicher Welten nicht dennoch, und sind ihre Positionen nicht im Grunde voneinander abhängig?

Solche Zusammenhänge kann ein Roman in einer Situation zuspitzen. Die Herausforderung liegt darin, Beispiele auszuwählen, die nicht einfach als Einzelfälle abgetan werden können. Dazu müssen sie mehr sein, als ein Beleg für ein Problem. Sie müssen etwas Zwingendes erhalten, das es ihnen erlaubt, sich ein Stück weit zu verselbstständigen. Solche Geschichten sind wahr, ohne dafür auf historischer Wahrheit beruhen zu müssen.

Verwandtes. Die Probleme, die der Familien- und Generationenroman aufwirft, gehen somit über die Sphäre der Verwandtschaft hinaus. Zentral ist dabei der Gegensatz zwischen den Einzelnen und der Gesellschaft. Dieses Verhältnis kann sehr unterschiedlich gedacht werden. Auch über völkischrechte Kreise hinaus ist die Vorstellung von Gesellschaft als Organismus, dessen Zellen die einzelnen Menschen seien, weit verbreitet. In dieser Vorstellung wird das Ganze hoch bewertet, die Einzelnen werden jedoch zu funktionalen Rädchen und Schrauben herabgesetzt.

In einer anderen Sicht, die mitunter von Teilen der modernen Sozialwissenschaft vertreten wird, stellt sich Gesellschaft als die Summe ihrer Teile vor. Auf eine Gesellschaftstheorie verzichten VertreterInnen dieses Weltbilds. Die Forschung beschränkt sich dann darauf, die Reaktionen der Menschen auf gewisse Impulse aufzuzeichnen und Prognosen für zukünftiges Verhalten zu treffen. Aussagen über ein gesellschaftliches Ganzes scheinen aus dieser Perspektive spekulativ und unseriös.

Gesellschaft ist jedoch weder ein für sich selbst existierendes Wesen, noch einfach ein Sammelbegriff für einen Haufen unzusammenhängender Einzelteile. Eher müsste sie als das Verhältnis der Menschen zueinander gedacht werden. Sie ist zwar als eigenständige Dynamik beschreibbar, aber nicht als von einzelnen Menschen und Geschichten unabhängig existierende Wesenheit. Walter Benjamin hat einmal das Bild der Sternenkonstellation bemüht, um seine Theorie von Wahrheit zu erklären. Die Analogie funktioniert auch hier. So wie der „Große Wagen“ eine bestimmte Anordnung von Sternen ist, so ist Gesellschaft eine bestimmte Konstellation von handelnden und denkenden Menschen. Eine Konstellation übrigens, die sich durchaus ändern ließe, würde der Wagen nicht allzu tief im Schlamm stecken.

Vielleicht besteht aber Hoffnung. Schließlich ist das Verhältnis zur Elterngeneration zunächst rebellisch und unangepasst. Deutet der Umstand, dass sich Wolfgang Herrndorfs Roman „Tschick“, der sich um einen jugendlichen Ausreißer dreht, beständig auf den Bestsellerlisten hält, auf die Lebendigkeit dieses Potentials hin? Oder mündet die Rebellion der Jungen am Ende doch in der Anpassung an die Werte der Eltern?

 

Simon Sailer studiert im Master Art and Science an der Universität für angewandte Kunst Wien

Eine Frage der Zeit

  • 07.04.2013, 22:47

Was Zeit mit Prestige, Genuss und Freiheit zu tun hat, erklärt die Philosophin Gabriele Geml bei einem ausgedehnten Spaziergang durch Wien. Ganz ohne Stress.

Was Zeit mit Prestige, Genuss und Freiheit zu tun hat, erklärt die Philosophin Gabriele Geml bei einem ausgedehnten Spaziergang durch Wien. Ganz ohne Stress.

15.10 Uhr. Safari kann die Seite nicht öffnen, weil keine Verbindung zum Internet besteht. Ich sitze im Cafe Schottenstift, warte auf  meine Interviewpartnerin, Gabriele Geml und auf Empfang.

16.35 Uhr. Philosophie, Literaturwissenschaft, Politikwissenschaft und Geschichte hat sie studiert, lese ich von meinem Notizblock  ab. Zeit. Was ist das überhaupt und warum habe ich sie nie, frage ich mich schließlich mit dem Blick auf die digitale Handuhr.

17.00 Uhr. Schließlich kommt sie, jene Frau, die all unsere Fragen zum Thema Zeit beantworten soll. Zeit. Zerrinnt in unseren Händen, aber was sie ist, wissen wir nicht, obwohl sie doch ständiger Wegbegleiter ist. Dauer, nennt Philosophin Gabriele Geml es.

Gabriele Geml: Es ist augenfällig, dass Zeit in unserer gegenwärtigen Gesellschaft primär unter dem Aspekt der Dauer in den Blick  gerät. Wir fragen uns, wie viele Termine sich an einem Nachmittag ausgehen oder wie viel Zeit ein bestimmtes Studium in Anspruch nehmen wird. Was Zeit heute für uns bedeutet, ist untrennbar mit der Ökonomisierung des Lebens verbunden.
Wie das Geld ist die Zeit ein Symbol geworden, das unterschiedlichste Leistungen miteinander vergleichbar macht. In möglichst wenig Zeit möglichst viel zu schaffen, ist unsere Devise und eine Grundformel für soziale Anerkennung. Das mündet zwangsläufig  in einen Beschleunigungswahn. Vergleichsweise geringe Aufmerksamkeit widmen wir einem anderen Aspekt von Zeit, nämlich der  Vergänglichkeit. Endlichkeit und Tod werden in der leistungsorientierten Gesellschaft verdrängt, sie rentieren sich nicht.

17.30 Uhr. Wir verlassen das Café, schlendern Richtung Volksgarten. Woher kommt die Sehnsucht nach Entschleunigung?

Man spürt, dass es einem nicht gut tut, wenn man von einer Sache zur nächsten hetzt und keinen zeitlichen Raum mehr zum  Genießen und Verweilen findet. Genuss ist langsam. Es sind gegenwärtig allerdings zwei gegenläufige Tendenzen beobachtbar: Auf  der einen Seite scheint es eine tiefe Sehnsucht nach Entschleunigung zu geben, zugleich aber eine erhebliche Angst vor ihr. Dass  wir Zeiten, in denen der Ereignisdruck nachlässt, als eine Art Drohung wahrnehmen, zeigt sich darin, dass wir eigentlich gar nicht  mehr zur Ruhe kommen können. Das hat natürlich mehrere Ursachen. Hervorheben möchte ich ein eher nebensächliches Phänomen,  nämlich dass es zu einem Statussymbol geworden ist, keine Zeit zu haben. Symptomatisch ist der Griff zum Handy,  sobald sich die geringste Ereignispause einstellt. Entscheidend dafür, dass es so schwer ist, zur Ruhe zu kommen, ist natürlich der  gesellschaftlich auf uns lastende Druck, die Zeit möglichst effizient zu nutzen.

17.40 Uhr. Geht das nicht auch sehr gegen unsere inneren Bedürfnisse?

Ja. Es ist ja heute viel diskutiert, dass Stress pathogen und ein Faktor für depressive Erkrankungen ist. Die Weltgesundheitsorganisation spricht von der Depression bereits als Volkskrankheit in den Industrieländern. Das ist indirekt ein  recht ernüchterndes  Urteil über die sogenannte „Freiheit“ in unserer Gesellschaft. Einer Praxis, die aus der Einsicht, dass Stress  krank macht, Konsequenzen zieht, steht allerdings die Angst vor Arbeitslosigkeit und sozialem Prestigeverlust entgegen.

17.50 Uhr. Würden Sie sagen, dass der Stress durch die Medien zugenommen hat?

Der Stress hat durch unsere gesamte Lebensform zugenommen. Das ist mit anderen Aspekten des Lebens, vor allem mit  ökonomischen Motiven verflochten und lässt sich schwer isolieren.

18.00 Uhr. Sind die Veränderungen der Kommunikationswege wirklich eine Erleichterung?

Angesichts unserer technischen Hilfsmittel stellt sich die Frage, wo ist die Zeit, die ich mir durch sie erspart habe? Mit den Haushaltsgeräten fängt es an. Sie nehmen uns Arbeit ab, wir brauchen weniger Zeit für gewisse Arbeiten – doch inwiefern kommen  wir wirklich in den Genuss dieser sogenannten Zeitersparnis? Die Erleichterung durch die veränderten  Kommunikationsmöglichkeiten ist zwiespältig: Die Zeitersparnis, die sie zweifelsohne gewährleisten, wird relativiert durch eine  Verdichtung der Kommunikation. Es ist weniger aufwändig, eine Email zu schreiben als einen Brief, also schreiben wir mehr. Hinzu  kommt der psychische Druck, der durch die dauernde Erreichbarkeit entsteht.

18.10 Uhr. Wie sehen Sie den Umgang mit Zeitstrukturen in der Zukunft?

 Sehr ambivalent. Durch die gegebene Arbeitsunsicherheit ist einerseits der Leistungsdruck immens, das verstärkt die  Beschleunigungslogik. Man muss auch einmal darauf achten, wie wichtig Begriffe wie „Vorankommen“, „Fortschritte-Erzielen“  „Vorwärtsgehen“ und so weiter in der gegenwärtigen Rhetorik von Unternehmen sind. Die damit verbundenen Vorstellungen nehmen  den Charakter eines Selbstzwecks an. Gerade auch Universitäten sind vom Beschleunigungsdruck betroffen, etwa indem  die Kürze der Studiendauer ein wesentlicher Erfolgsindikator ist. Auf der anderen Seite gibt es aber – und zwar in einem zunehmenden Maß, wie ich hoffe – jene Sehnsucht nach Entschleunigung, die Sie angesprochen haben. Man will nicht nur Erfolg,  sondern irgendwann auch einmal Erfüllung. Erfolg ist eine gewisse Voraussetzung für Erfüllung, kann aber auch zu einer Methode werden, sich um selbige zu bringen. Analog ist es wichtig, Fortschritte zu machen, aber es bedarf auch der Zeit, sich ihrer zu  vergewissern und sie sinnvoll zu organisieren, so dass sie den Menschen zuträglich werden. Mitunter ist es gut, einmal stehen zu bleiben und innezuhalten. Dann sieht man, dass eigentlich schon ziemlich viel da wäre, wofür man sich einmal die Zeit nehmen  können sollte.

Banale Kämpfe?

  • 25.02.2013, 17:37

Bereits in seinem Untertitel Perspektiven auf Populärkultur und Geschlecht macht der Sammelband einen Fokus deutlich, dessen Definition in der Politikwissenschaft, Soziologie und Philosophie eigentlich heftig umstritten ist. Denn  meist spaltet sich das Feld der Auseinandersetzung mit Popkultur in die Kritische Theorie, die Pop als kapitalistisch geprägten kulturindustriellen Massenbetrug begreift, und in die Cultural Studies, die im Pop einen Stachel im Fleisch der Hoch- und Volkskultur sehen. Einig ist man sich aber darin, dass sich in der Popkultur nicht nur aktuelle Themen, sondern auch kapitalistische Verwertungslogiken, Geschlechtervorstellungen und Normverschiebungen  widerspiegeln.

Das Herausgeber_innen-Kollektiv rund um Paula- Irene Villa hat eine Reihe ausführlicher Beiträge zusammengetragen, von den Gründer_innen des Missy Magazines, die Popkultur und Dritte-Welle- Feminismus reflektieren, über Ellen  Wesemüller, die die Bedeutung von Haaren für eine Inszenierung geschlechtlicher und sexueller Identitäten diskutiert, is hin zu Demet Lüküslüs‘ Studie der türkischen  HipHop-Szene in Deutschland. Sookie, Tara, Pam und Jessica. Julia Jäckel analysiert in ihrem Artikel Konstruktionen von Weiblichkeit in Bezug auf Agency am Beispiel der Figuren Sookie Stackhouse und Tara Thornton sowie der Vampirinnen Pam und Jessica aus der Fernsehserie True Blood. Der Beitrag überzeugt durch Sprachspiel ebenso wie durch die Anwendung theoretischer Konzepte wie beispielsweise jenem der Maskerade, das sich auf die Verführungs- und damit Handlungsfähigkeit Pams bezieht.

Paula-Irene Villa untersucht unter dem Titel „Pornofeminismus?“, ob (Selbst-)Pornografisierung als eine Form des Empowerments gelesen werden kann. Dabei werden bürgerliche Moralvorstellungen und die feministische Debatte um  Alice Schwarzers Kampagne „PorNO“ sowie Selbstermächtigungen und deren Möglichkeiten diskutiert. Erörtert werden Villas Überlegungen anhand des Beispiels der Performance von Lady Gaga in ihrem aufsehenerregenden Kleid aus  Fleisch, das entweder die Metapher der „Fleischbeschau“ nahelegt – oder deren Skandalisierung. Villa interessiert sich für genau jene Ambivalenz zwischen Kritik und Anpassung, Aneignung und Opferrolle. Insgesamt beinhaltet der  Sammelband eine große thematische Bandbreite auf hohem Niveau. Für TV-Junkies jedenfalls wird eine Reflexion ihrer Lieblingsserien wie True Blood, The L-Word oder 24 auf einer theoretischen Metaebene geliefert, die garantiert  spannende und vor allem neue Einsichten verspricht.