Dieter Diskovic

Alles für Alle?

  • 05.11.2015, 14:10

In den letzten Jahren ist als Gegenentwurf zum neoliberalen Wirtschaftssystem eine dynamische und globale Commons-Bewegung entstanden. Im Mai fand das bereits dritte Commons Fest statt – nicht zufällig im von der Wirtschaftskrise schwer getroffenen Athen.

 

Gegen Ende des 20. Jahrhunderts entstanden globalisierungskritische Bewegungen, die hauptsächlich bessere Regulierung und Umverteilung durch den Staat forderten. Über eine Dekade und eine Weltwirtschaftskrise später stellen sich viele Aktivist_innen die Frage, ob nationale Regierungen tatsächlich die richtigen Ansprechpartner_innen sind. Zunehmend versucht man, bestimmte Ressourcen der Kontrolle durch Staat und Markt zu entziehen und der Allgemeinheit zugänglich zu machen.
 

COMMONS – WAS IST DAS ÜBERHAUPT? Fast jeder nutzt Commons bzw. Gemeingüter, häufig ohne sich dieser Tatsache überhaupt bewusst zu sein. Das wohl bekannteste Beispiel dafür ist Wikipedia – ein gemeinsam geschaffenes und kostenfrei nutzbares Onlinelexikon. Digitale Commons wie Wikipedia haben gegenüber anderen Ressourcen einen entscheidenden Vorteil: sie werden durch die Nutzung nicht weniger. Wissen ist die vielleicht einzige Ressource, die sich durch ihre Verwendung sogar vermehrt. Eine Quelle ohne Beschränkungen – was für die einen wie ein Idealzustand wirkt, sorgt in anderen Kreisen für Irritationen. Mit frei zugänglichen und kostenlosen Ressourcen lässt sich auf einem kapitalistischen Markt nämlich kein Gewinn machen, erst durch eine künstliche Verknappung lässt sich Profit erwirtschaften. In der digitalen Welt bedeutet das künstliche Beschränkungen wie Kopierschutz oder Patente.
Foto: Dieter Diskovic

Gemeingüter sind natürlich wesentlich älter als Wikipedia, Linux oder Open Office. Über weite Strecken der Menschheitsgeschichte war Privateigentum ein unbekanntes Konzept, die gemeinschaftliche Nutzung von Ressourcen war eher die Norm als die Ausnahme. Die Entstehung des Kapitalismus in England ist eng mit der Enteignung von gemeinschaftlich genutztem Land verbunden. Dabei wurden zwei Fliegen mit einer Klappe geschlagen: einerseits wurde den Bauern und Bäuerinnen die Existenzgrundlage entzogen, worauf sich viele als Lohnarbeiter_innen in den gerade entstandenen Fabriken verdingten. Andererseits waren die Commons ein Quell von Widerstand und Rebellion und darum den Mächtigen stets ein Dorn im Auge. Der Kampf um das Zur-Ware-machen von nicht dem Markt unterworfenen Bereichen hält bis heute an. Gegenwärtig gibt es kaum etwas, das man nicht mit Geld erwerben könnte: Wasser, Arbeit, Geld, Boden und Bildung, ja sogar Luft (mittels Emissionsrechtehandel) oder Leben (mittels Genpatentierungen) unterliegen dem kapitalistischen Profitstreben. Doch auch die Commoners entwickelten unterschiedliche Praktiken: von Volxküchen, Kostnixläden und Hausbesetzungen über solidarische Landwirtschaft und digitale Commons bis hin zu bewaffneten Kämpfen wie den der Zapatistas in Mexiko.
 

VERNETZUNG DES WIDERSTANDES. Das Ziel des Commons Festes, das vom 15. bis zum 17. Mai in Athen stattfand, war die Verbindung und Vernetzung dieser verschiedenen Ansätze. Auf dem (recht männlich dominierten) Programm standen Vorträge und Diskussionen über die selbstverwaltete Fabrik VIOME, die Alternativwährung Koino, Do-It-Yourself-Energieversorgung und solidarische Landwirtschaft ebenso wie Workshops über freie Soft- und Hardware. Diese Themenvielfalt spiegelt wieder, dass es sich nicht um eine homogene Bewegung handelt, sondern um ein Mosaik an Ideen, Weltanschauungen und Zielen.

Ein allgegenwärtiges Thema war der Umgang mit Staat und Markt. Commons können sich kaum komplett aus dem kapitalistischen System lösen. Ein Beispiel: digitale Commons sind vom Zugang zu Computern und Internet abhängig. Während eine Seite den Kontakt zu Staat und Markt auf ein absolutes Minimum reduzieren will, hält die andere eine gewisse Zusammenarbeit für überlebenswichtig. Peni Travlou, die einen Vortrag über feministische Ansätze des Commoning hielt, sieht eine Kooperation kritisch: „Der neoliberale Kapitalismus hat eine bemerkenswerte Anpassungsfähigkeit, er kann sich verändern und neue Ideen absorbieren. Das hat man bei der Sharing Economy bemerkt. Was als antikapitalistische Praxis begonnen hat, ist nun zu Airbnb und Uber geworden und damit selbst Teil des Kapitalismus.“ Außerdem besteht gerade in Krisenzeiten die Gefahr, dass staatliche Aufgaben wie die Gesundheitsversorgung auf selbstorganisierte Initiativen abgewälzt werden. An das Potential von Commoning glaubt sie dennoch: „Wir müssen uns Schritt für Schritt weiterentwickeln. Revolutionen sind in der Regel gescheitert. Commoning ist ein langsamerer Prozess, aber er hat das Potential, den Kapitalismus von innen aufzubrechen.“

Foto: Dieter Diskovic

Stavros Stavrides, Architekt und sowohl Praktiker als auch Theoretiker der Commons-Bewegung, hält das Warten auf die Revolution für ein quasi-religiöses Konzept. Das Neue soll vielmehr schon jetzt, in der Hülle des alten Systems, entstehen und dieses schließlich ablösen. „Aber Commons sind nicht per se antikapitalistisch. Eine Gated Community, wo sich die Reichen von der Außenwelt abgrenzen, könnte man auch als Common bezeichnen. Deshalb müssen Commons immer offen bleiben. Wenn sie sich vor der Außenwelt abschließen, dann sterben sie – egal wie egalitär sie nach innen sind.“ Das ist in der Praxis nicht immer leicht. Stavrides selbst war bei der Besetzung und Schaffung des Navarino Parks in Athen beteiligt. Bewohner_innen des Stadtviertels Exarchia waren 2009 dem Bau einer Tiefgarage zuvorgekommen und hatten an der geplanten Baustelle selbstorganisiert einen neuen Park geschaffen. „In den Versammlungen gab es viele Konflikte. Die einen wollten den Park zu einer alternativen Festung machen, die anderen wollten einen öffentlichen Raum schaffen, der für Alle zugänglich ist. Glücklicherweise hat sich die zweite Seite durchgesetzt. So ein selbstorganisierter Freiraum hat natürlich wieder andere Probleme. Man muss sich an ungeschriebene Regeln halten, man kann z.B. nicht einfach seine leeren Bierdosen auf den Kinderspielplatz werfen. Das klingt wie ein banales Problem, aber es steht stellvertretend für viele größere Probleme, die es beim Commoning gibt.“

In der Idealform würden Commons Privateigentum, Knappheit, Lohnarbeit, Wettbewerb und Markt ersetzen. In der Realität steht die moderne Praxis des Commoning noch am Anfang ihrer Entwicklung und hat mit zahlreichen Problemen zu kämpfen. Auf der einen Seite versorgt sie das Kapital mit kostenlosen Ressourcen, auf der anderen Seite schaffen sie Freiräume, in denen Widerstand, Alternativen und neue Ideen entwickelt werden können.


Eine gelungene Einführung zum Thema:
Andreas Exner, Brigitte Kratzwald: „Solidarische Ökonomie & Commons“
Mandelbaum-Verlag, 120 Seiten
10 Euro

Dieter Diskovic studiert Kultur- und Sozialanthropologie an der Universität Wien.

Die Fabrik ohne Bosse

  • 23.04.2015, 11:55

Eine Fabrik, die von ArbeiterInnen verwaltet wird – kann das überhaupt funktionieren? Im griechischen Thessaloniki trat man 2009 den Beweis an.

Eine Fabrik, die von ArbeiterInnen verwaltet wird – kann das überhaupt funktionieren? Im griechischen Thessaloniki trat man 2009 den Beweis an.

Mai letzten Jahres am Stadtrand von Thessaloniki: Wir stehen vor dem Eisentor der Fabrik VIOME, klopfen und rufen, um uns bemerkbar zu machen. Wir wollen diesen selbstverwalteten Betrieb, der es bereits zu lokaler Berühmtheit gebracht hat, mit eigenen Augen sehen. Nach einigen Minuten öffnet uns der 47-jährige Alexandros Siderides und bittet uns hinein. BesucherInnen sind hier erwünscht, man sucht ganz bewusst Aufmerksamkeit und Unterstützung. Alexandros führt uns durch die Fabrik, beantwortet geduldig unsere Fragen.

UNGEORDNETER RÜCKZUG. Die Fabrik produzierte seit 1981 Chemikalien für den Bau und war 18 Jahre lang ein profitables Unternehmen. Als jedoch 2009 die Mutterfirma Filgeram-Johnson Pleite ging, sollte auch VIOME geschlossen werden. Die Fabriksleitung entschied sich für den ungeordneten Rückzug: Sie tauchte unter, ließ die ausstehenden Löhne unbezahlt, aber auch die Maschinen an ihrem Platz. Nach dem ersten Schockmoment trafen 24 der 70 ArbeiterInnen die folgenreiche Entscheidung, auf eigene Faust weiter zu produzieren. Die Alternativen hätten bei der gegenwärtigen wirtschaftlichen Situation Griechenlands wohl Langzeitarbeitslosigkeit und Verarmung geheißen. Stattdessen begann man die komplette Produktion an die eigenen Möglichkeiten anzupassen: „Statt Baumaterialien stellen wir nun pflanzliche Reinigungsprodukte her. Das Ausgangsmaterial ist günstig: Wir verwenden Olivenöl, das für den Verzehr nicht gut genug ist. Für die Produktion von Seife ist es jedoch perfekt geeignet. Auch die vorhandenen Maschinen waren für diese Art der Produktion brauchbar.“   

Seifenproduktion <br> Foto: Dieter Diskovic

SOLIDARITÄT. Rechtlich bewegt man sich dabei auf heiklem Terrain. Dass die Fabrik nicht sofort geräumt wurde, ist wohl auch der großen Solidaritätsbewegung zu verdanken: „Um ehrlich zu sein, hatten wir anfangs nicht viel Ahnung von Politik, Sozialismus oder Anarchismus. Darum waren wir von der riesigen Solidarität überrascht. Die Menschen kamen und brachten alle möglichen Dinge, um die Fabrik zu unterstützen.“ Konzerte wurden für VIOME  organisiert, eine Protestkarawane zog durch Griechenland, um sich für die Legalisierung der Fabrik einzusetzen. „Die Solidarität hat VIOME am Leben gehalten. Sie kam aus Griechenland und ganz Europa und half uns auf vielfältige Weise: wirtschaftlich, materiell und psychologisch.” Die hergestellten Produkte konnten anfangs nur auf informellen Wegen, vor allem über besetzte Häuser und soziale Zentren, verkauft werden. Finanziell war man dadurch in einer permanent prekären Lage. Ohne die Unterstützung ihrer Familien hätten viele der ArbeiterInnen wohl nicht durchhalten können. Alexandros: „Es war nicht leicht, meine Familie von meinem Vorhaben zu überzeugen. Sie hielten es nicht für möglich, dass eine Fabrik ohne Bosse funktionieren kann – schließlich ist es jeder gewohnt, immer mit einem Boss über sich zu arbeiten. Ich habe ihnen dann eine Dokumentation über FaSinPat gezeigt. Das ist eine argentinische Fabrik, die seit 2001 selbstverwaltet funktioniert. Damit habe ich sie schließlich überzeugt“.

Bereut hat Alexandros seine Entscheidung nie – die Selbstbestimmung ist für ihn jede Anstrengung wert: „Früher hatten wir eine Art Zuhälter, der über uns bestimmt hat. Man wurde schlecht bezahlt und hat sich wie ein Sklave gefühlt. Das hat sich komplett geändert. Wir treffen unsere Entscheidungen nun gemeinsam in Versammlungen. Jeder und jede bekommt bei VIOME das gleiche Gehalt, egal ob du putzt, als Wache oder an den Maschinen arbeitest. Außerdem rotieren die Positionen: Heute bin ich Security, morgen Fabriksarbeiter.“

Alexandros Siderides Foto: Dieter Diskovic

LEGALIZE IT! Um VIOME finanziell über Wasser zu halten, war es essentiell, die Produkte zu legalisieren, denn der Verkauf über informelle Wege konnte die Kosten kaum decken. Aus diesem Grund wurde VIOME als Sozialkooperative angemeldet. Damit hat der Betrieb erstmals einen legalen Status und darf seine Produkte offiziell verkaufen. Trotzdem hält man sich von Großvertrieben fern und sucht die Nähe zu kleinen und solidarischen KooperationspartnerInnen: „Wir brauchen unsere eigenen Produktions- und Distributionsmethoden. Das Big Business interessiert uns nicht. Stattdessen wollen wir mit Kleinstunternehmen und alternativen Netzwerken zusammenarbeiten.“ Bewusst versucht man auch, die Preise für die Waren niedrig zu halten: „Unsere Produkte sind sehr günstig. Aber durch die Krise können sich viele Menschen nicht einmal eine Seife um einen Euro leisten. Wir sind deshalb auch von den Exporten abhängig.” Erst seit kurzem – seit der Legalisierung – exportiert VIOME seine rein pflanzlichen und basisdemokratisch produzierten Produkte auch ins Ausland.

Einer sicheren Zukunft schaut VIOME damit allerdings noch nicht entgegen. Die ursprünglichen EigentümerInnen versuchen nun, die Rückgabe der Fabrik und der Maschinen gerichtlich durchzusetzen. VIOME argumentiert, dass die Fabrik immer Gewinn gemacht hat und der Bankrott im Jahre 2009 auf Fehler der EigentümerInnen zurückging. Ein derartiger Prozess ist ein erstmaliger Fall in Griechenland, der Ausgang offen. Ob die neue linksgerichtete Regierung Rückenwind für die Fabrik ohne Bosse bringt, ist noch unklar. Die Solidaritätskarawane der Anfangszeit hat sich bereits wieder formiert. Die ArbeiterInnen von VIOME wollen unabhängig vom Gerichtsurteil in der Fabrik bleiben, denn „die Produktion hält nicht nur die Fabrik am Laufen, sondern sie ermöglicht es uns und unseren Familien, physisch und psychisch durchzuhalten. Sie hilft uns, lebendig zu bleiben, unsere Würde zu behalten und negative Auswirkungen der Langzeitarbeitslosigkeit wie Angst, das Gefühl der Nutzlosigkeit und Depression zu vermeiden.“

 

Dieter Diskovic studiert Kultur- und Sozialanthropologie an der Universität Wien.

 

„Es ist ein bisschen ein Theater“

  • 23.03.2015, 21:21

In der griechischen Hochschulpolitik haben schon viele spätere ParlamentarierInnen ihre Krallen geschärft. Die Studierendenvertretung hat dabei bemerkenswerte Mitsprachemöglichkeiten bei zentralen universitären Themen.

In der griechischen Hochschulpolitik haben schon viele spätere ParlamentarierInnen ihre Krallen geschärft. Die Studierendenvertretung hat dabei bemerkenswerte Mitsprachemöglichkeiten bei zentralen universitären Themen.

Beim Betreten einer griechischen Universität springt sofort die ausgeprägte Politisierung ins Auge: Man findet sich in einem bunten Gewirr aus politischen Plakaten, Transparenten und Graffitis wieder. Im Frühling ist dieses Szenario sogar noch ein wenig auffallender, denn zu dieser Zeit findet der Wahlkampf für die jährlichen Studierendenvertretungswahlen statt. Von fast allen im Parlament vertretenen Fraktionen gibt es Studierendenorganisationen, hinzu kommen unzählige Splitter- und Kleingruppen. An jedem Institut wählen die Studis ihre eigene Interessensvertretung, welche wiederum Teil einer gesamtgriechischen Studierendenunion ist, wobei die Mitgliedschaft in dieser im Gegensatz zu Österreich freiwillig ist.

AUSZÄHLUNG IM AUDIMAX. Im Kampf um die Stimmen kommen verschiedene Strategien zum Einsatz. Giorgos Kokkinis, früher in einer Syriza-nahen Liste an der Universität von Thessaloniki engagiert, erzählt: „Es gibt an jeder Uni permanente Beratungsstände der Fraktionen, dort erledigt man für die Erstsemestrigen den ganzen Papierkram. Nebenbei lädt man die Leute zum nächsten Plenum ein und versucht sie für die politische Sache zu gewinnen.“ Außerdem werden Lernhilfen, Konzerte und Partys organisiert oder man greift zu weniger subtilen Methoden wie Megafon und Wahlplakat.

Ist die Wahl geschlagen, findet die Stimmenauszählung öffentlich im größten Raum der Universität statt. „Dort herrscht eine ganz eigene Stimmung. Die AnhängerInnen der verschiedenen Parteien versuchen sich gegenseitig mit Parolen zu übertönen, manchmal kommt es zu Handgreiflichkeiten. Einmal haben AnarchistInnen den Raum gestürmt und die Wahlurnen gestohlen. Wenn du mich fragst: Das Ganze ist ein bisschen ein Theater“, sagt Kokkinis. Im Unterschied dazu erinnert der Wahlausgang dann meist doch an die österreichische Hochschulpolitik: Die meisten Stimmen erhält in der Regel die konservative Studierendenpartei DAP, was – so munkelt man – den Stimmen der eher unpolitischen Studierenden und dem intensiven Organisieren von Partys zu verdanken ist. Ihr gegenüber stehen mindestens fünf linke Organisationen, die zusammen die DAP überflügeln: von kommunistisch über trotzkistisch bis zu sozialdemokratisch.

(c) Dieter Diskovic

STARKES MITSPRACHERECHT. Die Studierendenvertretung besteht aus zwei Gremien: Auf der einen Seite die Generalversammlung, an der jedes Mitglied der Studierendenunion teilnehmen kann und die der Entscheidungsfindung dienen soll. Sie ist durch Plena und Abstimmungen gekennzeichnet und wird von der jährlichen Wahl kaum beeinflusst. Hier werden Diskussionen, aber auch Proteste und Sit-Ins organisiert. Besetzungen sieht Kokkinis nicht nur positiv: „Sie werden meiner Meinung nach zu häufig eingesetzt, auch bei nebensächlichen Themen. Dadurch werden sie von einigen nicht mehr ernst genommen.“

Die Entscheidungen der Generalversammlung sollen vom gewählten und formelleren Verwaltungsrat umgesetzt werden. Seit einer sozialdemokratischen Reform im Jahr 1981 hat der Rat eine beeindruckende Fülle an Befugnissen und kann beinahe auf gleichberechtigter Basis mit der Fakultät mitbestimmen. Die Mitglieder des Rates können RektorInnen und DekanInnen wählen und an allen administrativen Konferenzen ihrer Universität teilnehmen. Obwohl schon öfter versucht wurde, den Einfluss des Verwaltungsrates zu begrenzen, ist sein universitäres Mitspracherecht im internationalen Vergleich nach wie vor herausragend. Dieses hohe Ausmaß an Mitbestimmungsmöglichkeiten führt dazu, dass die Politik der Studierendenvertretungen für die Parlamentsparteien von höherem strategischen Interesse ist: Wer es schafft, Abstimmungsergebnisse zu beeinflussen, kann loyale KandidatInnen in hohe Positionen hieven.

Kokkinis ist sich dieser Problematik bewusst, trotzdem zieht er eine positive Bilanz: „Die griechische Studierendenpolitik ist aktiv, lebendig und kritisch. Man setzt sich mit wichtigen gesellschaftlichen Themen auseinander und hinterfragt den Status quo. Ohne die Studierenden hätte es keinen so breiten Widerstand gegen die EU-Memoranden gegeben. Die griechische Jugend ist vielleicht eine der politisch engagiertesten in Europa.“

Wer sich in der turbulenten Uni-Politik bewährt, schafft es später nicht selten in das griechische Parlament. Ein aktuelles Beispiel ist der frischgewählte Ministerpräsident Alexis Tsipras. Er hat sein politisches Geschick zuerst in der SchülerInnenpolitik und später am Athener Polytechnikum trainiert.

HISTORISCHE RELEVANZ. Wie kommt die griechische Hochschulpolitik zu diesem überdurchschnittlich großen Einfluss? Für eine mögliche Antwort müssen wir in die Zeit zwischen 1967 und 1974 zurückblicken, als Griechenland von einer Militärdiktatur beherrscht wurde. Nach dem wiederholten Verbot der jährlichen Hochschulwahlen gab es Widerstand an den Universitäten, auf den die Junta mit dem Polizeiknüppel reagierte. Die Studierendenproteste eskalierten und gipfelten schließlich in der Besetzung des Polytechnikums. Das Ziel des Aufstandes waren nun nicht mehr bloß freie Hochschulwahlen: Über einen PiratInnensender wurde zum Sturz des Militärregimes aufgerufen. In der Nacht auf den 17. November 1973 stürmte das Militär mit Panzern die Universität und schlug die Revolte blutig nieder. Bis heute gedenkt man der Opfer dieses Ereignisses mit einem jährlichen Marsch. Für die Junta sollte sich die Niederschlagung der Besetzung bald als Pyrrhussieg entpuppen: Die internationale Unterstützung begann zu schwinden, nur wenige Monate später war das Regime Geschichte. Auf diese Weise haben die verbotenen Hochschulwahlen und die darauf folgenden Studierendenproteste den Übergang von der Diktatur zur Demokratie vielleicht nicht verursacht, bestimmt aber beschleunigt.

 

Dieter Diskovic studiert Kultur- und Sozialanthropologie an der Universität Wien.

 

 

Das Recht auf Faulheit

  • 21.03.2015, 15:05

Paul Lafargues 1880 veröffentlichte Streitschrift „Das Recht auf Faulheit“ provozierte damals wie heute. Vor kurzem neu aufgelegt, scheint sie sogar noch an Aktualität und subversivem Potential gewonnen zu haben.

Paul Lafargues 1880 veröffentlichte Streitschrift „Das Recht auf Faulheit“ provozierte damals wie heute. Vor kurzem neu aufgelegt, scheint sie sogar noch an Aktualität und subversivem Potential gewonnen zu haben.

Massenelend, Kinderarbeit und ein Leben in unvorstellbaren Ausbeutungsverhältnissen – vor diesem Hintergrund entsteht dieser ebenso kurze wie polemische Essay. Der französische Sozialist Paul Lafargue ist kein Freund der leisen Zwischentöne: Schon der Titel ist eine provokative Umkehrung des Rechts auf Arbeit, das während der Revolution 1848 gefordert wurde. Lafargue attackiert den Arbeitskult des Proletariats, der doch immer nur der Bourgeoisie zugutekommt. Hirngewaschen von puritanischer Moral und kapitalistischer Propaganda werden die ArbeiterInnen zu den TotengräberInnen ihrer eigenen Unabhängigkeit und Selbstachtung.  

3 STUNDEN ARBEIT. Lafargues Utopie ist simpel: drei Stunden Arbeit pro Tag sind ausreichend, Mehrarbeit soll sogar unter Strafe stehen. Die Paläste der Reichen bleiben ungebaut und unnütze Warenanhäufungen gehören der Vergangenheit an. Durch ein verbessertes Arbeitsklima bleibt trotzdem mehr als genug für alle. Beschleunigt wird dieser Umschwung durch zwei Entwicklungen: einerseits durch eine Übersättigung des Arbeitsmarktes, andererseits durch die zunehmende Mechanisierung, die den Menschen von unangenehmer Arbeit befreit. In den ArbeiterInnen selbst kann Lafargue kein revolutionäres Potential erkennen – durch ihre Arbeitssucht sind sie zu starren Maschinenmenschen geworden.

Wenig überraschend stießen diese Thesen überwiegend auf Ablehnung. Es waren jedoch nicht nur die KapitalistInnen, die im „Recht auf Faulheit“ einen Affront sahen: Lafargues Werk widersprach in grundsätzlichen Fragen den Theorien seines streitbaren Schwiegervaters Karl Marx. In der Sowjetunion war das „Das Recht auf Faulheit“ lange verboten, in der DDR unveröffentlicht. „Untergrabung der Arbeitsmoral“, so lautete der Befund.

Die zwischen Tirade und Satire angesiedelte Schrift ist dabei mehr als ein Zeitdokument. Die Maschine wurde nicht zum „Erlöser der Menschheit“ und die Arbeitsbedingungen haben sich seit der Zeit Lafargues grundlegend gewandelt. Sieht man sich die gegenwärtige Situation jedoch genauer an, drängen sich einige Fragen auf: Kann man steigende Arbeitslosigkeit bei gleichzeitig wachsender Produktivität nicht auch als Erfolg sehen? Wäre eine radikale Neubewertung und Umverteilung der Arbeit nicht genau im Sinne Lafargues? Haben sich die Arbeitsbedingungen wirklich verbessert oder sind die Arbeitshäuser des 19. Jahrhunderts zu den heutigen Sweatshops in Bangladesch geworden?

ERSATZRELIGION. An der gesellschaftlichen Bewertung der Lohnarbeit hat sich wenig geändert: Sie ist eine Ersatzreligion, die keinen Widerspruch duldet. Egal wie sinnlos uns unsere Tätigkeiten auch vorkommen mögen, sollen sie uns Identität und Halt geben. Während ein Teil der Bevölkerung unter Zeitdruck, Burnout und Überstunden leidet, wird ein anderer Teil vom Arbeitsprozess ausgeschlossen. Vollbeschäftigung und Wirtschaftswachstum – zwei Slogans, die unhinterfragt von PolitikerInnen wiederholt werden, während man gleichzeitig Arbeitslose als SchmarotzerInnen stigmatisiert.

Mit dem Bedingungslosen Grundeinkommen oder der Wachstumskritik gibt es jedoch auch aktuelle Konzepte, die in der Tradition Lafargues stehen. Die Neuauflage von „Das Recht auf Faulheit“ von 2014 schließt an die gegenwärtigen Diskurse an: Im Vorwort klopft der deutsche Soziologe Stephan Lessenich das Werk auf seine heutige Relevanz ab, während im Anhang ein Interview mit dem sozialkritischen Filmemacher Konstantin Faigle zu finden ist („Frohes Schaffen – Ein Film zur Senkung der Arbeitsmoral“).

„Das Recht auf Faulheit“ ist vielleicht kein theoretisches Meisterwerk und Paul Lafargue mag die systemischen Zwänge der ArbeiterInnenklasse ausgeblendet haben – seinen eigentlichen Zweck erfüllt das 95 Seiten dünne Büchlein jedoch auch heute noch: Es ist die geistreiche, anregende und provokante Demontage einer kaum hinterfragten Ideologie.

Stephan Lessenich, Paul Lafargue: „Das Recht auf Faulheit"
LAIKA-Verlag, 96 Seiten
9,90 Euro

 

Dieter Diskovic studiert Kultur- und Sozialanthropologie an der Universität Wien.

Endlich ein Grund zur Panik

  • 06.02.2015, 20:34

25. Jänner 2015. Während in Griechenland eine neue Regierung gewählt wird, versammeln sich in Wien Unterstützer_innen der griechischen Linkspartei SYRIZA, um den prognostizierten Wahlsieg per Livestream mitzuerleben.

25. Jänner 2015. Während in Griechenland eine neue Regierung gewählt wird, versammeln sich in Wien  Unterstützer_innen der griechischen Linkspartei SYRIZA, um den prognostizierten Wahlsieg per Livestream mitzuerleben.

Über 200.000 Griech_innen haben ihr Land seit Beginn der Krise verlassen, viele hat es auch nach Österreich verschlagen – bei der Wahlparty im Café 7*Stern sind sie dennoch in der Minderheit. Das hat vor allem einen Grund: Eine Briefwahl ist im griechischen Wahlrecht nicht vorgesehen. Wer es sich leisten kann, nimmt eine Reise nach Griechenland auf sich. Die Zuhausegebliebenen warten nun mit Hochspannung auf die erste Hochrechnung.

HOFFNUNGSTRÄGER_INNEN. Seit Jahren ist die griechische Wirtschaft in einer Abwärtsspirale, selbst konservative Ökonom_innen räumen mittlerweile ein, dass das auferlegte Sparprogramm die Negativentwicklung noch beschleunigt hat. Seit Beginn der Krise sind die Durchschnittseinkommen um 40 Prozent zurückgegangen, dreieinhalb Millionen Griech_innen haben keinen Zugang mehr zum öffentlichen Gesundheitssystem, 300.000 Familien leben ohne Strom, da sie sich die Kosten nicht leisten können. Die Jugendarbeitslosigkeit liegt bei 50 Prozent, wobei dieser Wert ohne die massive Auswanderung noch höher wäre. Die Koalition aus Konservativen (Nea Dimokratia) und Sozialdemokraten (PASOK) steht für viele Griech_innen stellvertretend für diese Entwicklung. Dabei war die PASOK Anfang der 1980er Jahre eine ähnliche Hoffnungsträgerin wie heute die SYRIZA. 1981 hatte sie als erste linke Partei die Regierung gebildet und einige wichtige gesellschaftspolitische Erneuerungen, etwa die Zivilehe, eingeführt. Nach einigen Jahren an der Macht fiel man eher durch Klientelpolitik und Korruption auf, spätestens mit der Unterstützung der Sparpolitik war die Partei vollkommen diskreditiert. Viele Wähler_innen wanderten zur SYRIZA ab, von der man nun eine Beendung der wirtschaftlichen und sozialen Katastrophe erhofft. SYRIZA, eine Vereinigung aus dreizehn Organisationen aus dem linken Spektrum, möchte einen Schuldenschnitt ausverhandeln, durch Investitionen die Wirtschaft ankurbeln und die Rückzahlung der Kredite an das Wirtschaftswachstum koppeln. Auch ein Programm mit Sofortmaßnahmen wurde ausgearbeitet: Der Erstwohnsitz soll nicht mehr verpfändbar sein, die 300.000 ärmsten Haushalte sollen mit kostenlosen Strom versorgt und ein Mindestlohn von 751 Euro eingeführt werden. Finanzieren will man das unter anderem mit der Besteuerung Vermögender, der Reformierung des Staatsapparates und dem Schließen von Steuerschlupflöchern. Während viele westeuropäische Medien und Politiker_innen vor einer Regierung durch die „Linksradikalen“ warnten und den endgültigen Kollaps der griechischen Wirtschaft prognostizierten, finden die Anwesenden im Café 7*Stern nur wenig Radikales im Programm. Sofia, eine junge Karikaturistin, die bereits seit einigen Jahren in Österreich lebt: „Was die Linken in Griechenland sagen, unterscheidet sich nicht sehr von dem, was die SPÖ noch in den 80er Jahren gesagt hat. Die Sozialdemokraten haben aber in den letzten Jahren viel von ihrer Identität verloren und unterscheiden sich kaum mehr von den rechten Parteien.“

EINE KOALITION MIT RECHTS. Kaum steht fest, dass der SYRIZA auf die absolute Mehrheit zwei Mandate fehlen, präsentiert Parteichef Alexis Tsipras auch schon die zukünftige Koalitionspartnerin: die rechtpopulistische ANEL (Unabhängige Griechen). Diese offensichtlich bereits im Vorhinein abgesprochene Entscheidung sorgt bei vielen Unterstützer_innen für reichlich Irritation. Die Kleinpartei steht für Nationalismus, Konservativismus, unterhält gute Beziehungen zur orthodoxen Kirche und fiel bereits durch Fremdenfeindlichkeit und bizarre Verschwörungstheorien auf. Im Internet feiern rechte Blogger wie Jürgen Elsässer die  „Querfront“-Koalition aus Linken und Rechten, andere wittern Verrat an den linken Idealen. Eine dritte Gruppe wiederum zeigt sich solidarisch und möchte die neue Regierung an ihren Taten messen

Tatsächlich hatte die SYRIZA nur wenige Koalitionsmöglichkeiten. Die erste Wahl Tsipras, die Kommunistische Partei Griechenlands (KKE), hatte wiederum ihrerseits eine Koalition strikt abgelehnt. Ihr war das Programm der SYRIZA zu reformistisch und zu wenig radikal. Die potentiellen Koalitionspartner_innen beschränkten sich auf zwei Parteien, die beide noch sehr neu im politischen Geschäft sind: einerseits die neoliberale To Potami, die sich mit SYRIZAs Politik am ehesten gesellschaftspolitisch trifft, andererseits die rechtpopulistische ANEL, die sich 2012 von der konservativen Regierungspartei Nea Dimokratia abspaltete und mit SYRIZA die strikte Ablehnung der Austeritätspolitik, sonst aber wenige Ansätze teilt. Schlussendlich war es eine Frage der Prioritätensetzung – und die hieß: Schuldenschnitt und ein Ende der neoliberalen Sparpolitik.

Einen Tag später wird die neue Regierung bereits angelobt. Finanzminister wird mit dem Starökonomen Yanis Varoufakis wenig überraschend ein strikter Gegner der Austeritätspolitik. Für viel Unverständnis sorgt wiederum die Entscheidung, dem Vorsitzenden der ANEL, Panos Kammenos, ausgerechnet das Verteidigungsministerium zu überlassen – immerhin war Griechenland 1967 Schauplatz eines rechten Militärputsches, der sich tief in das kollektive Gedächtnis eingebrannt hat. Auch die rein männliche Besetzung der Ministerposten wird überwiegend negativ kommentiert. Unbeeindruckt von der Kritik beginnt die neue Koalition sofort mit der Arbeit: Die Zusammenarbeit mit der Troika, also dem Kontrollgremium aus Vertreter_innen der Europäischen Kommission, der Europäischen Zentralbank und dem Internationalen Währungsfond, wird aufgekündigt, zahlreiche laufende Privatisierungen gestoppt. Geplant sind außerdem ein Schusswaffenverbot für die stark von rechts unterwanderte Polizei bei Demonstrationen sowie die versprochene Anhebung des Mindestlohnes auf das Vorkrisenniveau.

In der zweiten Woche der Regierungsperiode reisen Ministerpräsident Tsipras und Finanzminister Varoufakis durch Europa und werben um Unterstützung für ihren Kurs. Unerwartete Unterstützung bekommen sie dabei von Barack Obama, der in einem Interview eine Wachstumsstrategie für Griechenland anregt. Auch Teile der europäischen Sozialdemokratie scheinen sich langsam mit der Idee eines Kurswechsels anzufreunden. Scharfer Gegenwind an der Grenze zur Verleumdungskampagne kommt hingegen vom Großteil der deutschsprachigen Medien. Von der deutschen Regierung wird bisher jedes Entgegenkommen abgelehnt, die konservative Europäische Volkspartei fordert gar eine Resolution gegen die griechische Regierung "wie die gegen Haider in Österreich" im Jahr 2000. Auch die Europäische Zentralbank erhöht den Druck auf die griechische Regierung und verschlechtert die Regelungen für griechische Staatsanleihen. Man zweifle am Erfolg des griechischen Spar- und Reformprogramms, so die Begründung. Dass nach dieser Entscheidung zehntausende Griech_innen für und nicht gegen die amtierende Regierung protestierten, hat Seltenheitswert und lässt auf ausreichenden Rückhalt in der Bevölkerung schließen. Dennoch warten auf die SYRIZA noch zähe Verhandlungen mit unsicherem Ausgang. Eines wurde aber bereits erreicht: Im Diskurs um den Umgang mit der Wirtschaftskrise werden endlich auch Gegenpositionen zur alles dominierenden Sparpolitik wahrgenommen.

 

Dieter Diskovic studiert Kultur- und Sozialanthropologie an der Universität Wien.

Revolution in den Köpfen

  • 26.01.2015, 13:38

Spithari, wie sich das kleine Dorf nennt, liegt nordöstlich von Athen versteckt auf einem kleinen Berg. Photis, einer der Bewohner der ersten Stunde, holt mich auf seinem Motorrad ab und wir fahren auf einem steinigen Bergweg durch eine karge Landschaft. Hier hatte ein großer Waldbrand vor einigen Jahren die Vegetation vollständig zerstört, langsam erholt sich die Natur wieder. Irgendwo im Nirgendwo tauchen plötzlich einige Wohnwägen und Container, ein paar Maschinen und bizarre Kuppeln aus Holz und Plastik auf. Zwei Hunde bewachen den Ort. Spithari ist noch Mitten im Aufbau, statt einer Ökoidylle findet man hier viel Halbfertiges und Improvisiertes, aber auch viel Raum für Experimente.

Spithari, wie sich das kleine Dorf nennt, liegt nordöstlich von Athen versteckt auf einem kleinen Berg. Photis, einer der Bewohner der ersten Stunde, holt mich auf seinem Motorrad ab und wir fahren auf einem steinigen Bergweg durch eine karge Landschaft. Hier hatte ein großer Waldbrand vor einigen Jahren die Vegetation vollständig zerstört, langsam erholt sich die Natur wieder. Irgendwo im Nirgendwo tauchen plötzlich einige Wohnwägen und Container, ein paar Maschinen und bizarre Kuppeln aus Holz und Plastik auf. Zwei Hunde bewachen den Ort. Spithari ist noch Mitten im Aufbau, statt einer Ökoidylle findet man hier viel Halbfertiges und Improvisiertes, aber auch viel Raum für Experimente.

Die Idee für das Ökodorf entstand während der Besetzung des Athener Syntagma-Platzes im Jahr 2011. Unzählige kleine Gruppen und politisch interessierte Menschen hatten damals vor dem griechischen Parlament eine Zeltstadt aufgebaut und ihren Unmut über Entdemokratisierung, Sparpolitik und die Zerstörung des ohnehin schwachen Sozialstaates kundgetan. Obwohl diese griechische Variante von Occupy bald polizeilich aufgelöst wurde, diente sie als Katalysator für unzählige alternative Projekte und Initiativen. Aus den massiven Auswirkungen der Krise und dem Misstrauen gegen den dysfunktionalen Staat entstand vielfach der Wunsch nach neuen Wegen. 

Die Gründer_innen von Spithari haben sich das Ziel gesetzt, sich ihre Nahrung, ihren Wohnraum und ihre Energieversorgung selbstständig zu erarbeiten. Der knatternde Benzinmotor von Photis’ Fahrzeug erinnert daran, wie viele Hürden einer vollständigen Autarkie im Weg stehen. In Spithari selbst hat man die Energieversorgung dank zweier Windturbinen und der Nutzung von Sonnenenergie bereits gut im Griff: „Wir haben jetzt endlich genug Energie und können uns auf die Nahrungsproduktion konzentrieren. Wir wollen schließlich wissen, was wir essen, und unabhängig von den Konzernen sein. Und wir wollen beweisen, dass ein nachhaltiges Leben möglich ist.“

Der erste Blick auf das entstehende Ökodorf.

Für Spithari hat der studierte Soziologe Photis sein ganzes Leben umgekrempelt. Statt sechs Wochentage arbeitet er nur noch ein bis zwei Tage in einem Lieferservice: „Ich habe fast keine Fixkosten mehr, bloß die Krankenversicherung und meine Zigaretten. Aber vielleicht bauen wir einmal unseren eigenen Tabak an.“ Lachend ergänzt er: „Oder ich höre zu rauchen auf.“

Die Bewohner_innen des Ökodorfes sind zwischen 35 und 49, Photis ist der Älteste. Alle von ihnen sind in der Stadt aufgewachsen, ihre Hintergründe sind unterschiedlich: „Wir haben einen Computertechniker, eine Englischlehrerin und zwei Schauspielerinnen unter uns. Diese Berufe geben ihnen die Möglichkeit, häufig hier zu sein. Ein Vollzeitjob mit fixen Arbeitszeiten verträgt sich nicht mit unseren Anforderungen. Aber das Ziel ist es natürlich, dass wir hier permanent leben und arbeiten können.“

Photis führt mich durch das kleine Dorf, erklärt mir die Strukturen. In einem Container wird gerade das Mittagessen zubereitet, ein Kühlschrank dient als Samenbank für die künftige Züchtung seltener Pflanzen. Die sogenannten „geodätischen Kuppeln“ aus Holz und Plastik werden zur Produktion von Biomasse und zum Anbau, aber auch als Wohnraum genutzt. Sie sind leicht und günstig herzustellen und benötigen keine Genehmigung der Regierung. „Wir experimentieren viel und einiges davon geht in die Hose. Wir teilen unsere Erfahrungen aber im Internet und so können Andere von unseren Erfolgen und Misserfolgen profitieren.“ Spithari ist Teil eines Netzwerkes ökologischer Projekte und nimmt selber öfters die Hilfe anderer Communitys in Anspruch: „Das eine Ökodorf hat sich auf den Anbau von Weizen spezialisiert, das andere kennt sich mit dem Bau von Windturbinen aus. Man besucht und hilft sich gegenseitig und veröffentlicht sein Wissen als Creative Commons. Es geht uns nicht um eine Abschottung von der Gesellschaft.“

Eine geodätische Kuppel.

Ein besonders wichtiger Punkt auf der Agenda der kleinen Gemeinschaft ist die Kommunikation: „Es ist relativ leicht, eine Windturbine zu bauen, aber verdammt schwer, mit einer Gruppe so zu kommunizieren, dass man gemeinsam auf ein Ziel hinarbeiten kann. Wir wollen hier auch die zwischenmenschlichen Beziehungen verbessern.“ Man beschäftigt sich mit dem Konzept der Gewaltfreien Kommunikation, Entscheidungen werden basisdemokratisch und nach dem Konsensprinzip getroffen. Von einer strikten Arbeitsaufteilung und starren Regeln hat man sich bald abgewandt: „Es funktioniert einfach nicht, denn das hier ist unser Leben, nicht einfach unser Job! Mit der Zeit ist jeder von uns draufgekommen, was er oder sie gerne tut. Ich liebe es, mit Steinen zu arbeiten und zu kochen. Für technische Dinge bin ich wiederum der Falsche.“ Durch diese Freiheit hat sich Photis’ Auffassung von Arbeit stark verändert: „Ich hatte früher viele Ideen, aber sie waren nur in meinem Kopf. Jetzt verbinden sich diese Ideen aus meinem Kopf mit der Arbeit meiner Hände, es gibt eine größere Verbindung zwischen meinem Verstand und meinem Herzen. Heutzutage haben viele Menschen keinen emotionalen Bezug mehr zur eigenen Arbeit. Dass ist ein Grund, warum so viele im Kapitalismus unglücklich sind.“

Prinzipiell ist die Ökocommunity offen für neue Bewohner_innen. Wer jedoch in Spithari leben will, muss zuerst ein paar Wochen im Dorf verbringen und ein selbstgewähltes Projekt, das der Gemeinschaft dient, fertigstellen. Anschließend wird gemeinsam entschieden, ob die  Person mit der Gruppe, ihrer Philosophie und Lebensweise harmoniert, „denn wie kannst du wissen, ob du für diese Art von Leben geeignet bist, wenn du es nie ausprobiert hast?“ Manche der Anwärter_innen gründeten in der Folge auch ihre eigenen Projekte und werden von Spithari so gut wie möglich dabei unterstützt.

Beeinflusst von anarchistischem Gedankengut versucht Spithari, eine Alternative zum Kapitalismus aufzubauen. Als typischer Revolutionär sieht sich Photis nicht: „Wir haben kein Interesse daran, die Gesellschaft zu zerstören oder Häuser anzuzünden. Wir versuchen ein effizientes, nachhaltiges Gesellschaftsmodell zu entwickeln. Wir versuchen nicht, die Gesellschaft durch Proteste zu verändern, denn die wahre Revolution findet in unseren Köpfen statt. Wenn ich mich selbst verändere, kann ich dich ändern. Und du kannst wiederum wen anderen verändern.“ Photis bemerkt eine langsam wachsende Akzeptanz für Projekte wie Spithari: „Vor einigen Jahren hätte man mich für vollkommen verrückt gehalten, heute denken die meisten wenigstens darüber nach. Dass liegt einerseits an der Krise, andererseits glaube ich an ein langsames globales Umdenken.“

Eine Werkstätte.

Spithari ist ein Teil dieses Prozesses und dabei kein abgeschottetes und nostalgisches „Zurück zur Natur“-Projekt. Man verwendet und erfindet neue Techniken in Wohnbau, Nahrungsmittelproduktion und Kommunikation. Obwohl den Bewohner_innen klar ist, dass ihr Lebensstil kein Modell für Alle ist, verbreiten sie ihre Ideen auf Festivals, Konferenzen und Internetplattformen. Der Weg zur vollständigen Autarkie ist dabei noch ein weiter. Trotz aller Widersprüche ist Spithari ein Ort der Freiheit und des Experimentierens, der eine post-kapitalistische Welt vorwegnimmt. Auch für Menschen, für die ein Leben in einer Ökokommune unvorstellbar ist, ist eine nähere Betrachtung lohnenswert, denn was hier in einer ganz speziellen Situation getestet wird, könnte bald von allgemeinem Interesse sein.

Dieter Diskovic studiert Kultur- und Sozialanthropologie an der Universität Wien und engagiert sich bei der Screaming Birds Aktionsgruppe.

„Unsere Zukunft ist so schwarz wie der Bildschirm“

  • 15.10.2014, 06:48

Vor über einem Jahr wurde der staatliche griechische Rundfunk von einem Tag auf den anderen geschlossen - ein Novum in der Geschichte der EU. Was ist seitdem geschehen? Dieter Diskovic hat sich über die Hintergründe und Auswirkungen der Schließung, die Protestbewegung und die aktuelle griechische Medienlandschaft informiert.

Vor über einem Jahr wurde der staatliche griechische Rundfunk von einem Tag auf den anderen geschlossen - ein Novum in der Geschichte der EU. Was ist seitdem geschehen? Dieter Diskovic hat sich über die Hintergründe und Auswirkungen der Schließung, die Protestbewegung und die aktuelle griechische Medienlandschaft informiert.

11. Juni 2013. Die griechische Bevölkerung ist fassungslos: Soeben hat Regierungssprecher Simos Kedikoglou in einer Fernsehansprache angekündigt, den staatlichen Rundfunk ERT, das griechische Äquivalent zum ORF, innerhalb der nächsten Stunden zu schließen. Sofort strömen tausende wütende Bürger_innen zur Rundfunkstation in Athen, singen Widerstandslieder, versuchen diesen beispiellosen Akt der Regierung irgendwie zu verhindern. Ohne Erfolg: Um 23 Uhr wird das Signal gekappt, die Bildschirme werden schwarz.

„Wie in Zeiten der Militärdiktatur“

Die Mitarbeiter_innen, die dieses Vorgehen vollkommen unvorbereitet getroffen hat, geben jedoch nicht auf: Sie okkupieren die Rundfunkstationen, senden trotz Drohungen der Regierung weiterhin ein Notprogramm – erst über den Kanal der kommunistischen Partei, später mit Unterstützung der Europäischen Rundfunkunion.

In den nächsten Tagen formiert sich eine breite Protestbewegung: Neben einem Streik der Journalist_innen und einem 24-stündigen Generalstreik verurteilen die Generaldirektor_innen wichtigster europäischer öffentlich-rechtlicher Rundfunkanstalten – u.a. ZDF, ARD, ORF und der Schweizer RTS –  die Aktion als „undemokratisch und unprofessionell“. Um das nach wie vor besetzte Hauptgebäude von ERT finden zahlreiche Solidaritätskonzerte statt. Viele Menschen können es noch immer nicht glauben: „Es ist, als würden wir wieder die Zeit der Militärdiktatur erleben“, sagt eine Demonstrantin in einem Interview. „Unsere Zukunft ist so schwarz wie der Bildschirm.“ Andere erwarten einen baldigen Rückzieher der Regierung. Doch diese bleibt hart: Sämtliche 2.656 Mitarbeiter_innen von ERT werden entlassen. Gleichzeitig bedeutet dies das Ende von fünf Fernsehprogrammen, 29 nationalen und regionalen Radiostationen, einer Zeitschrift, einem Internetportal und drei der besten Orchester und Chöre des Landes.

Als der Oberste Gerichtshof die Schließung des öffentlichen Rundfunks für verfassungswidrig erklärt, zieht sich die Regierung mit einem Taschenspielertrick aus der Affäre: Ab Oktober werden aus einem angemieteten Studio unter dem Namen EDT (Hellenisches Öffentliches Fernsehen) nonstop alte Filme aus den 50er und 60er Jahren gezeigt, Nachrichtensendungen gibt es keine.

Die Schlachtung der heiligen Kuh

Die Schließung von ERT war ein Alleingang von Ministerpräsident Antonis Samaras und seiner rechtspopulistischen Nea Dimokratia. Nicht einmal die sozialdemokratischen Koalitionspartner waren informiert, die DIMAR (Demokratische Linke) verließ aus Protest gegen diese Vorgehensweise die Regierungskoalition. Regierungssprecher Simos Kedikoglou begründete die drastische Maßnahme mit der schlechten Führung und den hohen Kosten des Senders. Tatsächlich war ERT jedoch einer der wenigen öffentlichen Unternehmen, die Gewinne erwirtschafteten. Etwa 120 Millionen des Gewinns flossen jährlich in die Staatskasse, die Schließung des Senders brachte also keine finanziellen Vorteile. Die Regierung hatte sich jedoch gegenüber der Troika verpflichtet, weitere 2.000 Staatsbedienstete zu entlassen. Mit der Schließung von ERT konnte diese Vorgabe auf einen Schlag erfüllt werden, dem nächsten Hilfspaket stand nichts mehr im Weg.

Katerina Anastasiou, Aktivistin und Mitglied von Solidarity4all Vienna, sieht jedoch auch andere Motive: „Die Schließung hatte vor allem politische Hintergründe: ERT galt als linker Sender, war offen für Bewegungen von unten und sendete großartige, kritische Dokumentationen. ERT war eine heilige Kuh, und nach ihrer Schlachtung hatte die Regierung die Medien komplett unter ihrer Kontrolle.“ Schon vor der Schließung war ERT der Regierung ein Dorn im Auge: Während die privaten Sender weitgehend auf Regierungslinie waren, kritisierte ausgerechnet der öffentliche Rundfunk staatliche Austeritätspolitik, Misswirtschaft und Polizeigewalt. Noch im Jahr vor der Einstellung des Senders hatte man kritische Journalist_innen entlassen und durch Parteisoldat_innen in „Beraterpositionen“ mit teils exorbitanten Gehältern ersetzt.

Protesttransparente gegenüber eines ERT-Gebäudes. Foto: Dieter Diskovic

Die Stürmung des „Widerstandszentrums“

7. November 2013: Spezialeinheiten der griechischen Polizei stürmen das Gebäude des ehemaligen Staatsrundfunks in Athen, das bereits seit fünf Monaten von Beschäftigten besetzt gehalten wird. Sämtliche Büros werden geräumt und etwa 200 Besetzer_innen auf die Straße gedrängt. Laut Regierungssprecher Simos Kedikoglou wurde die Räumung angeordnet, um Recht und Gesetz wiederherzustellen: „Sie hatten das Rundfunkgebäude in eine Art Widerstandszentrum gegen die Regierungsentscheidungen verwandelt".

ERT Open, wie sich der selbstverwaltete Sender der ehemaligen ERT-Mitarbeiter_innen nennt, sendet unterdessen von anderen Orten weiter. Anastasiou: „ERT Open ist besser als es ERT jemals war, das belegen auch die Zuschauerzahlen. Generell hat sich die Qualität seit der Selbstverwaltung enorm gesteigert. Die Ressourcen werden jedoch immer weniger, denn die Leute arbeiten ohne Gehalt. Trotzdem hat dieses Projekt Auswirkungen auf die gesamte griechische Medienlandschaft: Es entstehen neue selbstverwaltete und basisdemokratische Medienströmungen als Gegenpol zur Regierungspropaganda.“

NERIT - Der Sender, den keiner will

4. Mai 2014: Nachdem die Rundfunkeinrichtungen wieder in den Händen der Regierung sind, geht der neue, verschlankte staatliche Rundfunk Griechenlands, NERIT, erstmals auf Sendung. Katerina Anastasiou hält davon wenig: „Der neue Fernsehsender ist viel weniger kritisch und wurde dubios besetzt.“ Mit dieser Meinung steht sie nicht alleine da. Die größte Oppositionspartei Syriza erkennt NERIT nicht an, verweigert Interviews und jede Zusammenarbeit. Die Journalist_innen stehen nun vor der Wahl, ohne Maulkorb, aber mehr oder weniger unentgeltlich für ERT Open zu arbeiten, oder sich beim neuen Sender NERIT zu bewerben. Die meisten der Journalist_innen stehen inhaltlich ERT Open näher, für viele ist es jedoch eine Frage der finanziellen Machbarkeit. Während die Entschädigungen noch nicht voll ausgezahlt wurden, ist die einjährige Arbeitslosenhilfe bereits ausgelaufen. Die Journalist_innengewerkschaft unterstützt ERT Open mit Lebensmittelpaketen und Geldern aus Streikfonds. Auch viele einfache Bürger_innen, besonders in kleinen Städten, helfen ihren regionalen Sendern mit Geld und Sachspenden aus. Das ist besonders für die Motivation der Mitarbeiter_innen wichtig.

Flashmob am ersten Jahrestag der Schließung im Wiener Resselpark. Foto: Dieter Diskovic

Am ersten Jahrestag der Schließung des öffentlichen Rundfunks kommt es in zahlreichen Städten Griechenlands, aber auch in anderen Ländern, zu den bislang letzten großen Demonstrationen gegen die Schließung von ERT. Während man in Athen vor dem Rundfunk-Hauptgebäude protestiert, gibt es auch im Wiener Resselpark einen Flashmob. Die Regierung soll daran erinnert werden, dass man noch lange nicht vergessen und schon gar nicht vergeben hat.

In der griechischen Medienlandschaft schaut es derweil nicht allzu rosig aus: Man hat nun einen relativ unkritischen staatlichen Sender, dem die Mehrheit der Bevölkerung misstraut, einige private Sender, die allesamt in der Hand der reichsten griechischen Familien sind und sich aus dem politischen Geschehen weitgehend raushalten, und selbstverwaltete Medien wie ERT Open, die kritisch und unabhängig, aber in einer finanziell äußerst prekären Lage sind. So gibt es für ERT Open drei mögliche Szenarien: die Auflösung aus Mangel an Ressourcen, die Umwandlung in einen kommerziellen Privatsender oder der Weiterbestand durch ausreichende lokale und internationale Unterstützung. Die Vorbehalte gegen den neuen staatlichen Sender NERIT haben sich derweil als begründet erwiesen: Im September traten der Direktor und sein Stellvertreter zurück. Regierungschef Samaras hatte interveniert, um die Übertragung einer Rede von Oppositionsführer Alexis Tsipras (Syriza) zu verhindern.

Dieter Diskovic studiert Kultur- und Sozialanthropologie an der Universität Wien und engagiert sich bei der Screaming Birds Aktionsgruppe.

 

Exarchia: Terrornest oder gelebte Utopie?

  • 22.05.2014, 12:53

Um keinen anderen Teil Griechenlands ranken sich so viele moderne Mythen wie um Exarchia, einem anarchistisch geprägten Viertel in Athen. Was ist Exarchia nun tatsächlich: Terrornest oder gelebte Utopie? Manu Banu und Didi Diskovic vermitteln unseren Lesern für progress-online einen Einblick in das „Anarchoviertel“ Athens und dessen Bewohner_innen.

Um keinen anderen Teil Griechenlands ranken sich so viele moderne Mythen wie um Exarchia, einem anarchistisch geprägten Viertel in Athen. Was ist Exarchia nun tatsächlich: Terrornest oder gelebte Utopie? Manu Banu und Didi Diskovic vermitteln unseren Lesern für progress-online einen Einblick in das „Anarchoviertel“ Athens und dessen Bewohner_innen.

Fünfzehn Jahre lang hatte die Athener Regierung versprochen, ein leerstehendes und mit Bauzäunen abgesperrtes Gelände im Stadtviertel Exarchia zu einem Park zu machen. Als es schließlich zu einer Parkgarage werden sollte, reichte es den Einwohner_innen: am 7. März 2009 rissen sie die Absperrungen nieder, bohrten Löcher in den Beton und pflanzten Bäume. Die Aktion wurde quer durch alle Altersgruppen mitgetragen, bei der Entstehung des Parks halfen Student_innen, Arbeiter_innen und Arbeitslose, Jugendliche, Familien und Pensionist_innen mit.

Dieser breiten Solidarität konnten weder Regierung noch Polizei etwas entgegensetzen: Heute ist der Navarino-Park der erste selbstverwaltete Park Griechenlands, eine kleine Oase im ansonsten dichtverbauten Athen. Im Mai 2014 wurde sein fünfjähriges Jubiläum gefeiert: mit Theater, Live-Musik, Tanz und einer Menge Wein.

Fünfjahresfeier im Navarino-Park. Foto: Dieter Diskovic

Kindertheater im Navarino-Park. Foto: Dieter Diskovic

Geschichten aus dem Widerstand
Diese Episode steht nur stellvertretend für die Widerständigkeit von Exarchia, die ihm auch den Spitznamen „Anarchia“ eingebracht hat. Seinen Ruf erwarb sich der kleine Stadtteil bereits in den frühen 1970er Jahren, als das kleine, an das Polytechnio (Technische Universität) grenzende und studentisch geprägte Viertel zu einem Ort des Widerstandes gegen die Diktatur der rechtsgerichteten Militärjunta wurde. Am 14. November 1973 verbarrikadierten sich Student_innen am Hochschulgelände, installierten einen Radiosender und riefen zum Kampf auf.

Drei Tage später durchbrach ein Panzer des Obristenregimes das Eingangstor, Soldaten stürmten das Polytechnio. Die Niederschlagung des Aufstandes kostete 24 Zivilist_innen das Leben und war gleichzeitig der Anfang des Endes der Diktatur, die nach diesem Gewaltexzess auch die letzte Unterstützung verloren hatte und nur wenige Monate später stürzte.

Denkmal für die Opfer des Aufstands vom November 1973 im Polytechnion. Foto: Dieter Diskovic

Ein weiteres Kapitel in der Geschichte des Stadtteils wurde am 6. Dezember 2008 geschrieben, als der 15-jährige Alexandros Grigoropoulos in Exarchia von einem Polizisten erschossen wurde. In der Folge kam es zu einer spontanen Revolte in Athen, die sich bald auf ganz Griechenland ausweitete. Unzählige Polizeistationen, Luxusboutiquen und Banken gingen in Flammen auf. Getragen wurde der Aufstand zu einem großen Teil von Schüler_innen, die sich davor noch nie politisch betätigt hatten.

Nach etwa drei Wochen, kurz vor Weihnachten, beruhigte sich die Lage wieder. Der Mörder wurde später zu lebenslanger Haft verurteilt. Alexandros Grigoropoulos wurde zu einer Art Ikone der griechischen Anarchist_innen, sein Bild ist auf den Wänden Athens allgegenwärtig.  

Gedenktafel für Alexandros Grigoropoulos. Foto: Dieter Diskovic

Selbstorganisation, Solidarität und Nachbarschaftshilfe

Exarchia ist aber weit mehr als die Aufzählung seiner Kämpfe. Es gehört vielleicht nicht zu den schicksten, aber zu den lebendigsten Gegenden Athens. Wer durch die Straßen Exarchias geht, findet zahlreiche kleine Buchhandlungen neben Tavernen und Bars, unzählige Stekia (soziale Zentren), politische Räume und sogar ein veganes Geschäft – Letzteres eine Rarität in Griechenland. Gegen die vermeintlichen Segnungen der neoliberalen „Stadtteilaufwertung“ hat man sich bis jetzt erfolgreich gewehrt: Luxusbauten, große Supermärkte oder Geldautomaten sucht man hier vergeblich.

Der Mittelpunkt des Viertels ist der Platia Exarchion, wo häufig Open-Air-Konzerte und Solidaritäts-Veranstaltungen stattfinden. Zu jeder Tageszeit sitzen hier junge und nicht mehr ganz so junge Menschen, plaudern und trinken Bier. In der Luft liegt ein süßlicher Geruch. Die Arbeitslosigkeit ist, wie überall in Griechenland, hoch – doch gerade während der Wirtschaftskrise wurde Exarchia zu einem Paradebeispiel für Solidarität und Nachbarschaftshilfe.

Solidaritätskonzert am Platia Exarchion für die selbstverwaltete Fabrik VioMe. Foto: Dieter Diskovic

Beim Platia Exarchion. Foto: Dieter Diskovic

Wer sich von der rot-schwarzen Anarcho-Flagge über dem Eingang des Nosotros nicht abschrecken lässt, kommt in den Genuss der vielbesungenen griechischen Gastfreundschaft und kann sich zwischen Essen zum Selbstkostenpreis, Lesungen, Konzerten und Yoga entscheiden. Im VOX, einem besetzten ehemaligen Kino, können sich Menschen ohne Krankenversicherung kostenlos untersuchen lassen. Das Initiativen-Komitee der Anrainer_innen Exarchias (C.I.R.E.) wiederum kümmert sich um Projekte wie die Betreuung des Navarino-Parks oder die Organisation von Tausch- und Schenkbazaren. Ihre erste Aktion erfolgte vor einigen Jahren, als Telefonanbieter zahlreiche legale und illegale Antennen in Exarchia anbrachten.

Nach einer Krisensitzung montierten Mitglieder des Komitees vier Antennen, die sich in der Nähe von Wohnhäusern und Schulen befanden, kurzerhand wieder ab – dieser Fall wurde von einem Gericht zugunsten von C.I.R.E. entschieden. Heute kümmert sich das Komitee weiterhin um die alltäglichen Probleme der Nachbarschaft, die in regelmäßigen offenen Versammlungen besprochen werden. Selbstorganisation wird in Exarchia groß geschrieben.

„Hände weg, Madame!“ Foto: Dieter Diskovic

Nazifreie Zone

Jeder Zentimeter der Hauswände ist mit Plakaten, Grafitti und politischen Botschaften übersäht – die widerständige Geschichte Exarchias hat sich in das Straßenbild eingeschrieben. Aber auch die Migration hat das Bild Exarchias stark geprägt. „Die Migrant_innen haben das Nachbarschaftsgefühl zurückgebracht. Sie haben einfach ihre Stühle vor die Haustür gestellt, um mit den Mitmenschen zu kommunizieren“, wie ein Einwohner Exarchias erzählt. Diese Nachbarschaftlichkeit erweist sich in der Krise als großer Vorteil: Während in anderen Gegenden Athens rassistischen „Straßensäuberungen“ durch Polizei und rechtsextreme Gruppierungen stattfinden, ist man in hier auf sicherem Terrain. „Hier ist man geschützt, denn den Nazis ist klar: Wenn sie in Exarchia auftauchen, sitzen sie tief in der Scheiße“.

Auch die notorisch rechtslastige Polizei lässt sich hier kaum blicken. Noch vor wenigen Jahren, nach dem Aufstand im Dezember 2008, befand sich Exarchia in einer Art Belagerungszustand: Sämtliche Zufahrtstraßen zum Viertel wurden von Polizisten in Kampfmontur bewacht, Razzien waren an der Tagesordnung. Heute kann davon, von einigen Provokationen und Scharmützeln abgesehen, keine Rede mehr sein. Diese relative Sicherheit zieht viele neue Einwanderer_innen in diesen Stadtteil. Das Diktyo, ein Netzwerk für Immigrant_innen und Flüchtlinge, bietet ihnen neben sozialer und rechtlicher Betreuung auch kostenlose Griechisch- und Computerkurse an. Weiters stehen im „Immigrant_innen-Steki“ regelmäßig Feste, kollektives Kochen oder Theateraufführungen am Programm.

Streetart in Exarchia. Foto: Dieter Diskovic

Streetart in Exarchia. Foto: Dieter Diskovic

Terrornest oder gelebte Utopie?

Aber nicht nur das freundschaftliche Zusammenleben von Menschen unterschiedlicher Herkunft scheint hier zu funktionieren, auch die Durchmischung aller Altersgruppen ist auffallend. In Lokalen, Squats, Stekia und im Park findet man gleichermaßen Teenager wie auch ältere Menschen. „Als die Polizei hier gegen junge Anarchisten vorging, hat eine Oma aus ihrem Fenster einen Kübel Wasser auf die Polizisten geschüttet und ihnen nachgerufen, sie sollen die Kinder in Frieden lassen“, erzählt eine Bewohnerin Exarchias.

Alle scheinen sich hier zu kennen. Schon nach wenigen Tagen fühlt man sich irgendwie zu Hause und hat sein Stammlokal. „Wenn wir etwas Neues erleben wollen, gehen wir auf die gegenüberliegende Seite des Platzes“, scherzt die 28-jährige Katerina, die schon seit ihrer Kindheit hier lebt. Allem revolutionären Gestus zum Trotz kann Exarchia auch das Flair eines Dorfes haben. Es ist weder das Terrornest, zu dem es von rechtskonservativen Medien gerne hochstilisiert wird, noch eine Realität gewordene Utopie. Inspirierend sind die Kreativität, die Solidarität und die Widerständigkeit der Einwohner_innen allemal.  

Exarchia 1899. Im Vordergrund: Archäologisches Nationalmuseum. Foto: Dieter Diskovic

Exarchia 2014. Foto: Dieter Diskovic

Dieter Diskovic und Manu Banu studieren Kultur- und Sozialanthropologie an der Universität Wien und engagieren sich bei der Screaming Birds Aktionsgruppe. In den nächsten Wochen werden sie noch ausführlich über die Situation in Griechenland und die solidarischen Initiativen der Griech_innen berichten.

 

„Keep your coins – I want change!“

  • 05.05.2014, 13:17

Dieter Diskovic und Manu Banu waren für progress online bei der Ersten-Mai-Demonstration in Athen und haben einige Impressionen und Stimmungsbilder mitgebracht. Sie zeigen die griechische Hauptstadt zwischen Frustration und Aufbruchsstimmung.

Dieter Diskovic und Manu Banu waren für progress online bei der Ersten-Mai-Demonstration in Athen und haben einige Impressionen und Stimmungsbilder mitgebracht. Sie zeigen die griechische Hauptstadt zwischen Frustration und Aufbruchsstimmung.

Dass der 1. Mai in Athen einen höheren Stellenwert als in Österreich hat, merkt man bereits Tage zuvor an den unzähligen Plakaten, die an den Wänden der Stadt zur Demonstration aufrufen. Die Vielfalt der Gruppierungen ist bemerkenswert: es gibt Veranstaltungen von kommunistischen und trotzkistischen Gruppen, linken Gewerkschaften, Anarchist_innen und Anarchosyndikalist_innen, Autonomen und Antiautoritären.

Die meisten Gruppierungen ziehen von verschiedenen Treffpunkten los, schließen sich aber später zu einem großen Demonstrationszug zusammen. Für einen Tag sind die zahlreichen Meinungsverschiedenheiten vergessen. Nur die PAME, die Gewerkschaft der gestrengen Kommunistischen Partei Griechenlands (KKE), zieht eine eigene Route vor. Die KKE gilt als die letzte stalinistische Partei Europas, das offenere Linksbündnis SYRIZA hat ihr an Wähler_innenstimmen und gesellschaftlicher Relevanz jedoch längst den Rang abgelaufen.

Ein Plakat der PAME. Foto: Dieter Diskovic

Treffpunkt Polytechnikum. Foto: Dieter Diskovic

Schal gegen Tränengas?

Wir verzichten auf die Veranstaltung der PAME und treffen uns um 11 Uhr mit unseren griechischen Freundinnen Maria und Christina vor dem Polytechnikum. Man gibt uns erste Tipps für den Notfall: „Wenn die Polizei angreift, immer den Rucksack vorne tragen – so können sie euch schwerer festhalten. Habt ihr einen Schal gegen das Tränengas dabei?“. Nach einer Stunde setzt sich der Zug mit mehreren tausend Teilnehmer_innen und unzähligen Transparenten, Fahnen und Plakaten in Bewegung. Vor uns skandiert eine trotzkistische Gruppe lauthals ein Ende der Arbeiter_innenausbeutung, während neben uns eine Migrant_innenorganisation ihre Rechte einfordert.

Eine Gruppe türkischer Kommunisten mit beeindruckenden Schnurrbärten und noch beeindruckenderem Stimmvolumen verlangt den Sturz von „Nazi Erdoğan“, während man von hinten anarchistische Parolen gegen Staat und Kapitalismus hört. So vielfältig wie die Slogans, sind die Teilnehmer_innen selbst:  von Kindern bis zu Pensionist_innen sind alle Altersgruppen sowie unzählige Nationalitäten vertreten. Die Stimmung scheint bestens zu sein, doch Christina hat ein ungutes Gefühl: „Ich war schon auf vielen Demonstrationen und es ist immer irgendetwas passiert.“ Bis jetzt läuft jedoch alles friedlich ab, die Polizei hält sich im Hintergrund. Nur in den Seitengassen kann man sie in einiger Entfernung in voller Kampfmontur sehen.

Foto: Dieter Diskovic

Migrant_innenorganisationen fordern ihre Rechte ein. Foto: Dieter Diskovic

Von Kleinkindern bis zu Pensionist_innen sind alle Altersgruppen vertreten. Foto: Dieter Diskovic.

Der große Schock vor vier Jahren

Wir ziehen an einem ausgebrannten Gebäude vorbei. Früher war darin die Marfin-Bank untergebracht, bis sie 2010 bei einer Großdemonstration gegen den IWF in Brand gesteckt wurde. Da ein Generalstreik angesetzt war, hatte niemand damit gerechnet, dass sich darin Menschen aufhalten würden. Als drei Angestellte der Bank in den Flammen umkamen, stand die Protestbewegung lange unter Schock. Christina hat danach Demonstrationen gemieden, auch diesmal nimmt sie eher uns zuliebe teil.

Foto: Dieter Diskovic

„Entlassene zurück an die Arbeitsplatze - Streichung der Schulden – Arbeiter_innenkontrolle! Regierung, EU-Memoranden und Neonazis rauswerfen!“ Foto: Dieter Diskovic

Foto: Dieter Diskovic

Hier brannte am 5. Mai 2010 die Marfin-Bank aus. Foto: Dieter Diskovic

Gasmasken und Adolf Merkel

Die diesjährige Demonstration hat jedoch beinahe Volksfestcharakter. Am Straßenrand werden Wasserflaschen und Sesamringe verkauft. Die Menge zieht lautstark zum Syntagma-Platz, wo die mit Schildern und Gasmasken ausgerüstete Polizei das Parlament und Luxushotels abriegelt. Da niemand an einer Eskalation interessiert zu sein scheint, schützen die Masken die Polizist_innen nur gegen den Rauch des Straßengrills. Auf dem Gehsteig steht ein älterer Mann und präsentiert zwei Bilder. In der linken Hand hält er eine Fotomontage, auf dem der deutsche Finanzminister Wolfgang Schäuble in Naziuniform zu sehen ist. Auf dem zweiten Bild ist der Demonstrant selbst zu sehen – ein Bild von Angela Merkel mit Hitlerbärtchen in den Händen.

„Heute ist es so ruhig, weil die Regierung die Demonstrationsgesetze verschärft hat. Wenn es Ausschreitungen gibt, kann man dich ins Gefängnis stecken, auch wenn du persönlich gar nichts gemacht hast“, erklärt uns Christina. Nur ein sehr junger „Koukouloforos“ (ein „Vermummter“, wie Politik und Medien die Anarchist_innen abschätzig nennen) lässt seine überschüssige Energie an einem Plakat der kommunistischen Gewerkschaft aus. Nach etwa zwei Stunden ist die Demonstration zu Ende, die Menge zerstreut sich. Viele gehen nach Exarchia, einem anarchistisch geprägten Viertel, und lassen den Tag bei Kaffee, Bier oder Raki ausklingen.

Foto: Dieter Diskovic

Am Straßenrand werden Wasserflaschen und Sesamringe verkauft. Foto: Dieter Diskovic

Foto: Dieter Diskovic

Foto: Dieter Diskovic

Foto: Dieter Diskovic

"Ich will Veränderung und kein Asthma!"

Es gibt eine Menge Gründe, um in Griechenland auf die Straße zu gehen. Nachdem Griechenland der Troika, einem Kontrollgremium mit Vertreter_innen der EU-Kommission, des Internationalen Währungsfonds und der Europäischen Zentralbank, unterstellt wurde, ist es de facto kein souveräner Staat mehr. Allen Protesten zum Trotz wurde eine brutale Austeritätspolitik durchgesetzt. Die Wirtschaft befindet sich in einer Abwärtsspirale, die Jugendarbeitslosigkeit liegt bei über 60 Prozent, während gleichzeitig der ohnehin schwache Sozialstaat kahlgeschlagen wurde. Mittlerweile fühlen sich manche Demonstrant_innen erschöpft und desillusioniert: „Früher waren wir auf fast jeder Demonstration. Wir sind Kilometer um Kilometer marschiert und am Ende haben wir immer eine Ladung Tränengas ins Gesicht bekommen. Politisch verändert hat sich nichts. Irgendwann beginnst du, den Sinn der Sache zu bezweifeln. Ich will Veränderung und kein Asthma!“

Das griechische Parlament. Foto: Dieter Diskovic

Foto: Dieter Diskovic

Kaum jemand glaubt daran, die Situation durch Demonstrationen alleine grundlegend verändern zu können. Gleichzeitig sind immer weniger Griech_innen dazu bereit, die triste Wirtschaftslage als unabwendbares Schicksal hinzunehmen. Da man das Vertrauen in den Staat und in die Politik schon lange verloren hat, versuchen viele, ihre Zukunft in die eigenen Hände zu nehmen. Dabei ist man für neue Wege jenseits des etablierten Wirtschaftssystems offen und organisiert sich immer öfter in einer der zahlreichen solidarischen Initiativen, die in den letzten Jahren entstanden sind. In Zeitbanken, Tauschbörsen, Alternativwährungen oder  Lebensmittelkooperativen finden viele Griech_innen neben rein materieller Hilfe ein längst verloren geglaubtes Solidaritätsgefühl. Oder wie es an einer Wand in Exarchia plakatiert war: „Keep your coins – I want change!“

Ein Plakat in Exarchia. Foto: Dieter Diskovic

 

Dieter Diskovic und Manu Banu studieren Kultur- und Sozialanthropologie an der Universität Wien und engagieren sich bei der Screaming Birds Aktionsgruppe. In den nächsten Wochen werden sie noch ausführlich über die Situation in Griechenland und die solidarischen Initiativen der Griech_innen berichten.

„Vögeln musst du, aber Geld hast du keines“

  • 30.04.2014, 14:10

Ein Interview mit Brigitte Hornyik, Verfassungsrechtlerin, Vorstandsmitglied im Österreichischen Frauenring und Mitbegründerin der Facebook-Gruppe Schwangerschaftsabbruch raus aus dem Strafrecht, über den Schwangerschaftsabbruch und die immer noch vorhandenen Hürden.

Ein Interview mit Brigitte Hornyik, Verfassungsrechtlerin, Vorstandsmitglied im Österreichischen Frauenring und Mitbegründerin der Facebook-Gruppe Schwangerschaftsabbruch raus aus dem Strafrecht, über den Schwangerschaftsabbruch und die immer noch vorhandenen Hürden.

Über vierzig Jahre ist es nun her, dass Frauengruppen mit Slogans wie „Mein Bauch gehört mir“ das Recht auf Schwangerschaftsabbruch verstärkt zum Thema gemacht haben und gegen Abtreibungsverbote auf die Straße gegangen sind. Damals waren Abtreibungen gemäß Paragraph 144 des Strafgesetzbuchs mit schwerem Kerker zu bestrafen (übrigens ein Relikt aus der Zeit Maria Theresias). Erst 1974 hat sich die Fristenlösung trotz heftigen Widerstands der ÖVP, der FPÖ, der Katholischen Kirche sowie der „Aktion Leben“, durchgesetzt. Die „Aktion Leben“ initiierte mit Unterstützung konservativer und katholischer Kreise sogar ein Volksbegehren zum „Schutz des menschlichen Lebens“, welches mit fast 900.000 Stimmen das vierterfolgreichste Volksbegehren der Republik Österreich war.

Seit dem 1. Jänner 1975 ist eine Abtreibung innerhalb der ersten drei Schwangerschaftsmonate straffrei, sofern diese von einem Arzt bzw. einer Ärztin durchgeführt wird und vorher eine ärztliche Beratung stattgefunden hat. Ab dem vierten Monat ist ein Schwangerschaftsabbruch nur bei medizinischer Indikation erlaubt. Diese Kompromissregelung aus den 1970er Jahren besteht auch heute unverändert weiter. Der Schwangerschaftsabbruch ist also nach wie vor strafgesetzlich verboten, unter bestimmten Bedingungen wird jedoch von einer Strafe abgesehen.

progress online: Seit 100 Jahren ist der Kampf um das Recht auf Schwangerschaftsabbruch bereits Teil der Frauenbewegungen. Wofür müssen wir heute noch kämpfen? Welche Forderungen müssen an die Politik gestellt werden?

Ich finde es problematisch, dass der Abbruch an sich verboten ist, aber der Vater Staat gnädig ein Äuglein zudrückt, wenn die Frau sich vorher beraten lässt und ihn  innerhalb der ersten drei Monate von einem Arzt vornehmen lässt. Eine ungewollte Schwangerschaft ist nicht lustig, da ist frau bereits in einer Konfliktsituation und muss sich dann auch noch sagen lassen: „Das ist eigentlich verboten und rechtswidrig und du wirst nur gnadenhalber nicht eingesperrt, wenn du dich für einen Abbruch entscheidest“. Was uns auch noch wichtig ist: Man könnte es den Frauen ganz pragmatisch leichter machen, man könnte Schwangerschaftsabbrüche vermehrt in öffentlichen Spitälern durchführen, man könnte Preisregelungen einführen, man könnte das entweder über die Krankenkasse finanzieren oder einen Fonds einrichten. Auch Empfängnisverhütungsmittel sind teuer, auch das gehört finanziell unterstützt. Wenn wir alle diese pragmatischen Forderungen stellen, dann kommt die Gegenseite mit dem Argument: „Der Staat kann nicht etwas finanzieren oder unterstützen, das doch eigentlich strafrechtlich verboten ist“. Da beißt sich die Katze leider wieder in den Schwanz. Auch deshalb gibt es unsere Forderung „Schwangerschaftsabbruch raus aus dem Strafrecht!“.

Wir wollen die Verankerung eines Selbstbestimmungsrechts der Frauen in der Verfassung und wir wollen auch einen Satz drinnen haben, dass Familienplanung bzw. Empfängnisverhütung, aber auch andere Maßnahmen, nach Maßgabe der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit der Frauen staatlich unterstützt werden sollten.

Brigitte Hornyik Foto: Dieter Diskovic

Welchen Stellenwert hat dieses Thema für die Politik?

Wir hatten von der Plattform 20000 Frauen aus im vergangenen Frühling einen Termin beim Gesundheitsminister Stöger und haben mit ihm über das Thema Schwangerschaftsabbruch geredet. Es war ein sehr freundliches Gespräch in sehr angenehmer Atmosphäre und der Herr Minister hat uns in allem Recht gegeben. Aber im Endeffekt hat er uns nur erklärt, warum das alles nicht geht: „Mit dem Koalitionspartner…“ und „Österreich ist ein katholisches Land“ und „Das geht einfach nicht“. Da denke ich mir: Wir haben seit vierzig Jahren die Fristenlösung, vor vierzig Jahren war es der einzig mögliche politische Kompromiss, aber vielleicht könnte man im Jahr 2014 auch politisch darüber hinaus denken.

Man könnte um einiges mutiger sein und ehrlich gesagt finde ich die Haltung der SPÖ sehr enttäuschend. Wien ist Jahrzehnte lang von der SPÖ allein regiert worden. Da wäre eine Wiener Lösung möglich gewesen, den Abbruch entweder ganz billig anzubieten oder über einen Fonds Zuschüsse zu zahlen. Vielleicht wäre das ein bisschen eine Vorreiterrolle für andere Bundesländer gewesen.

Aber das ist ein politisches Spiel. Die einen preschen vor, wie kürzlich wieder Ewald Stadler und Rudolf Gehring, und sagen „Die Fristenlösung gehört rückgängig gemacht und verboten“. Wir wollen nicht mit dem Herrn Stadler diskutieren, aber wir gehen mit unseren eigenen Forderungen hinaus. Wir fordern „Schwangerschaftsabbruch raus aus dem Strafrecht!“ nicht unmittelbar deswegen, weil wir glauben, dass es nächstes Monat oder im nächsten Jahr tatsächlich beschlossen werden wird, aber wir wollen das Thema wieder in die öffentliche Diskussion einbringen, wir wollen thematisieren, dass Frauen im Grunde nach wie vor kriminalisiert werden.

Warum eigentlich muss dieser Schwangerschaftsabbruch, der so eine intime Entscheidung von Menschen ist, überhaupt rechtlich geregelt und gar mit Strafe bedroht werden? Vertrauen wir doch den Frauen, vertrauen wir der Gewissensentscheidung der Frauen, denn keine Frau geht leichtfertig abtreiben. Ich halte Frauen für verantwortungsbewusste Menschen, die in der Lage sind, ihre eigenen Gewissensentscheidungen zu treffen.

Wie ist der Zugang zu Schwangerschaftsabbrüchen in Österreich?
Das ist in Österreich leider bundesländerweit ziemlich verschieden. In Wien ist für Frauen tatsächlich ein relativ guter Zugang zum Schwangerschaftsabbruch gewährleistet. Es gibt in Wien einige Ambulatorien, die Abbrüche durchführen, das bekannteste und älteste ist der Fleischmarkt. Außerdem gibt es die Möglichkeit, einen Abbruch auch in einem öffentlichen Spital vornehmen zu lassen, das ist für die Frauen vielleicht vom Zugang her angenehmer, weil leider vor den bekannteren Ambulatorien wie Gynmed oder Fleischmarkt die selbsternannten „Lebensschützer“ stehen. Das kann manchmal ein Spießrutenlauf sein, zwischen den Rosenkranzmurmelnden oder denen, die grausliche gefakte Bilder verteilen, von zerstückelten Babyleichen, die sie irgendwo in einem Kriegsgebiet aufgenommen haben und die mit dem in der elften, zwölften Woche durchgeführten Schwangerschaftsabbruch absolut gar nichts zu tun haben. Das ist in den großen Wiener Spitälern natürlich nicht der Fall, dort stehen sie nicht.

Aber im Großen und Ganzen kann man sagen, dass es uns in Wien noch relativ gut geht. Was schon da ist, ist die finanzielle Hürde, in den Ambulatorien zahlt man jetzt schon fast 500 Euro. Eine Abtreibung ist nicht billig und finanzielle Unterstützung gibt es nicht. Für die künstliche Befruchtung gibt es eine finanzielle Unterstützung, da gibt es diesen In-Vitro-Fertilisations-Fonds. Für den Schwangerschaftsabbruch gibt es das nicht. Allenfalls über das Sozialamt. Aber da musst du nachweisen, dass du wirklich nichts hast. Und wenn du Pech hast, hast du irgendeine nette Beamtin oder einen netten Beamten, der dich von oben herab behandelt und dir das Gefühl gibt: „Vögeln musst du, aber Geld hast du keines“. Das ist keine angenehme Erfahrung.

Im Westen Österreichs ist die Situation eher dramatisch, in Tirol oder Vorarlberg gibt es weder ein Ambulatorium noch ein öffentliches Spital, das bereit ist, Abbrüche durchzuführen. Da bist du auf die Privatordinationen und die dementsprechende Preisgestaltung angewiesen. Im Süden von Österreich schaut es auch nicht wahnsinnig gut aus. Dieses Schlagwort, das mir eigentlich nicht so wahnsinnig gut gefällt, aber von dem alle wissen, was man darunter zu verstehen hat, also dieser „Abtreibungstourismus“ ist nach wie vor aufrecht. Aus den westlichen Bundesländern eher in die Schweiz und aus den übrigen Bundesländern herrscht ein gewisser Zug nach Wien. 

Glauben Sie, dass die österreichische Bevölkerung eine Krankenkassenfinanzierung von Schwangerschaftsabbrüchen befürworten würde?

In der Schweiz ist über die Frage der Krankenkassenfinanzierung kürzlich abgestimmt worden und es haben fast 70% zugestimmt, dass die Krankenkassenfinanzierung von Abbrüchen beibehalten wird. Ich glaube, für die österreichische Bevölkerung wäre das kein großes Problem, aber die Sozialversicherungsträger, die Krankenkassen, die schreien angeblich furchtbar, wenn man mit diesen Ideen kommt, Verhütungsmittel auf Krankenschein oder Abtreibung auf Krankenschein. Das hat uns auch Alois Stöger gesagt: „Nein, das können wir uns nicht leisten, wir wollen keine zusätzlichen Kosten übernehmen“. Wie gesagt, in der Bevölkerung wären die Widerstände wahrscheinlich nicht besonders groß.

Die Fristenlösung als solche ist in Österreich breitest akzeptiert. Es werden immer wieder Umfragen gemacht: sowohl in der Bevölkerung als auch unter Politikerinnen und Politikern ist die Fristenlösung unumstritten. Für mich stellt sich dann eher die Frage: Nehme ich das so hin? Lassen wir die Dinge wie sie sind oder gehen wir vielleicht einmal einen Schritt weiter?

Wie sieht es in Österreich mit Schutzzonen aus?

Die Schutzzonen, so wie wir uns das gedacht hätten, nämlich dass man einen bestimmten Bereich im Umkreis des Ambulatoriums schützt, sind nicht umgesetzt worden. Im Innenausschuss im Parlament haben sie gemeint: „Naja, das können doch die Länder regeln“. Die Länder haben wiederum gesagt „Das soll doch der Bund regeln“. Und dann haben wir die beliebte österreichische Pattsituation, einer redet sich auf den anderen aus und es geschieht gar nichts. Das war's mit den Schutzzonen. Aber die Forderung ist an sich da. Wir stellen diese Forderung immer wieder und sie wird auch von Betreibern der Ambulatorien immer wieder gestellt. Das ist schon eine Frage des politischen Willens und deswegen haben wir immer in all unseren Pressemeldungen dazugesagt, dass es Dinge gibt, die nicht eine Frage des rechtlichen Könnens, sondern des politischen Wollens sind.

 

Manu Banu und Dieter Diskovic studieren Kultur- und Sozialanthropologie an der Universität Wien.

Einen Artikel über die Aktivistinnen von Marea Granate und deren Kampf gegen das spanische Abtreibungsgesetz könnt ihr hier lesen: Marea Granate: Raus aus meinen Eierstöcken!

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