„Keep your coins – I want change!“

  • 05.05.2014, 13:17

Dieter Diskovic und Manu Banu waren für progress online bei der Ersten-Mai-Demonstration in Athen und haben einige Impressionen und Stimmungsbilder mitgebracht. Sie zeigen die griechische Hauptstadt zwischen Frustration und Aufbruchsstimmung.

Dieter Diskovic und Manu Banu waren für progress online bei der Ersten-Mai-Demonstration in Athen und haben einige Impressionen und Stimmungsbilder mitgebracht. Sie zeigen die griechische Hauptstadt zwischen Frustration und Aufbruchsstimmung.

Dass der 1. Mai in Athen einen höheren Stellenwert als in Österreich hat, merkt man bereits Tage zuvor an den unzähligen Plakaten, die an den Wänden der Stadt zur Demonstration aufrufen. Die Vielfalt der Gruppierungen ist bemerkenswert: es gibt Veranstaltungen von kommunistischen und trotzkistischen Gruppen, linken Gewerkschaften, Anarchist_innen und Anarchosyndikalist_innen, Autonomen und Antiautoritären.

Die meisten Gruppierungen ziehen von verschiedenen Treffpunkten los, schließen sich aber später zu einem großen Demonstrationszug zusammen. Für einen Tag sind die zahlreichen Meinungsverschiedenheiten vergessen. Nur die PAME, die Gewerkschaft der gestrengen Kommunistischen Partei Griechenlands (KKE), zieht eine eigene Route vor. Die KKE gilt als die letzte stalinistische Partei Europas, das offenere Linksbündnis SYRIZA hat ihr an Wähler_innenstimmen und gesellschaftlicher Relevanz jedoch längst den Rang abgelaufen.

Ein Plakat der PAME. Foto: Dieter Diskovic

Treffpunkt Polytechnikum. Foto: Dieter Diskovic

Schal gegen Tränengas?

Wir verzichten auf die Veranstaltung der PAME und treffen uns um 11 Uhr mit unseren griechischen Freundinnen Maria und Christina vor dem Polytechnikum. Man gibt uns erste Tipps für den Notfall: „Wenn die Polizei angreift, immer den Rucksack vorne tragen – so können sie euch schwerer festhalten. Habt ihr einen Schal gegen das Tränengas dabei?“. Nach einer Stunde setzt sich der Zug mit mehreren tausend Teilnehmer_innen und unzähligen Transparenten, Fahnen und Plakaten in Bewegung. Vor uns skandiert eine trotzkistische Gruppe lauthals ein Ende der Arbeiter_innenausbeutung, während neben uns eine Migrant_innenorganisation ihre Rechte einfordert.

Eine Gruppe türkischer Kommunisten mit beeindruckenden Schnurrbärten und noch beeindruckenderem Stimmvolumen verlangt den Sturz von „Nazi Erdoğan“, während man von hinten anarchistische Parolen gegen Staat und Kapitalismus hört. So vielfältig wie die Slogans, sind die Teilnehmer_innen selbst:  von Kindern bis zu Pensionist_innen sind alle Altersgruppen sowie unzählige Nationalitäten vertreten. Die Stimmung scheint bestens zu sein, doch Christina hat ein ungutes Gefühl: „Ich war schon auf vielen Demonstrationen und es ist immer irgendetwas passiert.“ Bis jetzt läuft jedoch alles friedlich ab, die Polizei hält sich im Hintergrund. Nur in den Seitengassen kann man sie in einiger Entfernung in voller Kampfmontur sehen.

Foto: Dieter Diskovic

Migrant_innenorganisationen fordern ihre Rechte ein. Foto: Dieter Diskovic

Von Kleinkindern bis zu Pensionist_innen sind alle Altersgruppen vertreten. Foto: Dieter Diskovic.

Der große Schock vor vier Jahren

Wir ziehen an einem ausgebrannten Gebäude vorbei. Früher war darin die Marfin-Bank untergebracht, bis sie 2010 bei einer Großdemonstration gegen den IWF in Brand gesteckt wurde. Da ein Generalstreik angesetzt war, hatte niemand damit gerechnet, dass sich darin Menschen aufhalten würden. Als drei Angestellte der Bank in den Flammen umkamen, stand die Protestbewegung lange unter Schock. Christina hat danach Demonstrationen gemieden, auch diesmal nimmt sie eher uns zuliebe teil.

Foto: Dieter Diskovic

„Entlassene zurück an die Arbeitsplatze - Streichung der Schulden – Arbeiter_innenkontrolle! Regierung, EU-Memoranden und Neonazis rauswerfen!“ Foto: Dieter Diskovic

Foto: Dieter Diskovic

Hier brannte am 5. Mai 2010 die Marfin-Bank aus. Foto: Dieter Diskovic

Gasmasken und Adolf Merkel

Die diesjährige Demonstration hat jedoch beinahe Volksfestcharakter. Am Straßenrand werden Wasserflaschen und Sesamringe verkauft. Die Menge zieht lautstark zum Syntagma-Platz, wo die mit Schildern und Gasmasken ausgerüstete Polizei das Parlament und Luxushotels abriegelt. Da niemand an einer Eskalation interessiert zu sein scheint, schützen die Masken die Polizist_innen nur gegen den Rauch des Straßengrills. Auf dem Gehsteig steht ein älterer Mann und präsentiert zwei Bilder. In der linken Hand hält er eine Fotomontage, auf dem der deutsche Finanzminister Wolfgang Schäuble in Naziuniform zu sehen ist. Auf dem zweiten Bild ist der Demonstrant selbst zu sehen – ein Bild von Angela Merkel mit Hitlerbärtchen in den Händen.

„Heute ist es so ruhig, weil die Regierung die Demonstrationsgesetze verschärft hat. Wenn es Ausschreitungen gibt, kann man dich ins Gefängnis stecken, auch wenn du persönlich gar nichts gemacht hast“, erklärt uns Christina. Nur ein sehr junger „Koukouloforos“ (ein „Vermummter“, wie Politik und Medien die Anarchist_innen abschätzig nennen) lässt seine überschüssige Energie an einem Plakat der kommunistischen Gewerkschaft aus. Nach etwa zwei Stunden ist die Demonstration zu Ende, die Menge zerstreut sich. Viele gehen nach Exarchia, einem anarchistisch geprägten Viertel, und lassen den Tag bei Kaffee, Bier oder Raki ausklingen.

Foto: Dieter Diskovic

Am Straßenrand werden Wasserflaschen und Sesamringe verkauft. Foto: Dieter Diskovic

Foto: Dieter Diskovic

Foto: Dieter Diskovic

Foto: Dieter Diskovic

"Ich will Veränderung und kein Asthma!"

Es gibt eine Menge Gründe, um in Griechenland auf die Straße zu gehen. Nachdem Griechenland der Troika, einem Kontrollgremium mit Vertreter_innen der EU-Kommission, des Internationalen Währungsfonds und der Europäischen Zentralbank, unterstellt wurde, ist es de facto kein souveräner Staat mehr. Allen Protesten zum Trotz wurde eine brutale Austeritätspolitik durchgesetzt. Die Wirtschaft befindet sich in einer Abwärtsspirale, die Jugendarbeitslosigkeit liegt bei über 60 Prozent, während gleichzeitig der ohnehin schwache Sozialstaat kahlgeschlagen wurde. Mittlerweile fühlen sich manche Demonstrant_innen erschöpft und desillusioniert: „Früher waren wir auf fast jeder Demonstration. Wir sind Kilometer um Kilometer marschiert und am Ende haben wir immer eine Ladung Tränengas ins Gesicht bekommen. Politisch verändert hat sich nichts. Irgendwann beginnst du, den Sinn der Sache zu bezweifeln. Ich will Veränderung und kein Asthma!“

Das griechische Parlament. Foto: Dieter Diskovic

Foto: Dieter Diskovic

Kaum jemand glaubt daran, die Situation durch Demonstrationen alleine grundlegend verändern zu können. Gleichzeitig sind immer weniger Griech_innen dazu bereit, die triste Wirtschaftslage als unabwendbares Schicksal hinzunehmen. Da man das Vertrauen in den Staat und in die Politik schon lange verloren hat, versuchen viele, ihre Zukunft in die eigenen Hände zu nehmen. Dabei ist man für neue Wege jenseits des etablierten Wirtschaftssystems offen und organisiert sich immer öfter in einer der zahlreichen solidarischen Initiativen, die in den letzten Jahren entstanden sind. In Zeitbanken, Tauschbörsen, Alternativwährungen oder  Lebensmittelkooperativen finden viele Griech_innen neben rein materieller Hilfe ein längst verloren geglaubtes Solidaritätsgefühl. Oder wie es an einer Wand in Exarchia plakatiert war: „Keep your coins – I want change!“

Ein Plakat in Exarchia. Foto: Dieter Diskovic

 

Dieter Diskovic und Manu Banu studieren Kultur- und Sozialanthropologie an der Universität Wien und engagieren sich bei der Screaming Birds Aktionsgruppe. In den nächsten Wochen werden sie noch ausführlich über die Situation in Griechenland und die solidarischen Initiativen der Griech_innen berichten.

AutorInnen: Manu Banu, Dieter Diskovic