Dieter Diskovic

Marea Granate: Raus aus meinen Eierstöcken!

  • 30.04.2014, 13:40

Über Marea Granate, eine Protestbewegung spanischer Migrantinnen und Migranten, und ihren Widerstand gegen die geplante Verschärfung des spanischen Abtreibungsgesetzes.

Über Marea Granate, eine Protestbewegung spanischer Migrantinnen und Migranten, und ihren Widerstand gegen die geplante Verschärfung des spanischen Abtreibungsgesetzes.

Es ist der 8. März, der Internationale Frauentag. Über den Lerchenfelder Gürtel hallt ein Megaphon: „Kathia, 38 Jahre, Ukraine. Verheiratet, vier Kinder. Sie lebt auf dem Land und kann kein weiteres Kind unterhalten. Sie treibt im Haus einer Frau ab, die Abtreibungen in dem Dorf vornimmt. Kathia stirbt an einer Entzündung nach der Abtreibung.“ Eine junge Frau fällt zu Boden.

Foto: Dieter Diskovic
Diese und viele weitere kurze Erzählungen rund um das Thema Abtreibung werden auf Deutsch, Spanisch und Englisch vorgetragen – schließlich soll die Botschaft so viele Menschen wie möglich erreichen. Die im Halbkreis um das Schauspiel stehenden Personen tragen Transparente und Plakate: „Selbstbestimmungsrecht“, „Mein Körper, mein Leben, meine Entscheidung“ oder „Gebären ist ein Recht, keine Auferlegung“.

Die weinrote Flut
Der Hintergrund dieses Schauspiels: Das Recht auf legalen Schwangerschaftsabbruch ist in Spanien massiv bedroht. Der mit absoluter Mehrheit regierende rechtskonservative Ministerpräsident Mariano Rajoy und seine Partido Popular („Volkspartei“) möchten das Abtreibungsgesetz derart verschärfen, dass nur nach Vergewaltigungen oder bei Gefährdung der Mutter abgetrieben werden darf. Raquel López, Aktivistin bei Marea Granate Viena: „97% der Abtreibungen des letzten Jahres wären mit diesem neuen Gesetz illegal. Mit unserer Performance am Internationalen Frauentag möchten wir auf diese Entwicklung aufmerksam machen.“

Marea Granate („Weinrote Flut“) ist eine transnationale Bewegung von Migrantinnen und Migranten aus Spanien, die ihr Herkunftsland meist wegen der wirtschaftlichen und sozialen Krise verlassen mussten: „Unsere Flut ist weinrot wie die Farbe unserer Pässe, als Symbol für erzwungene Migration“. Das Kollektiv entstand rund um andere soziale Bewegungen aus Spanien, zu deren bekanntesten wohl die Indignados („Empörten“) zählen, die noch vor Occupy zentrale Plätze besetzten und Protestcamps errichteten. Die „weinrote Flut“ ist mittlerweile weltweit vernetzt: Nicht nur in Wien, auch in New York, Paris und London, in Montevideo, München oder Montreal kämpfen Aktivist_innen gegen Austeritätspolitik, Korruption und Repressionen und die daraus entstehenden sozialen Ungerechtigkeiten. Da diese Problematiken nicht auf Spanien beschränkt sind, versucht Marea Granate, Brücken zu lokalen Gruppen aufzubauen.

„Freie Frau – kein Schritt zurück!“ Foto: Dieter Diskovic

„Raus aus meinen Eierstöcken!“
Mit ihrem Straßentheaterstück möchte Marea Granate Viena Frauen, die abgetrieben haben, eine Stimme und ein Gesicht geben. Die Gründe, sich für eine Abtreibung zu entscheiden, sind vielfältig: finanzielle Probleme, Krankheit, eine ungesicherte Zukunft, der Wunsch, seine Ausbildung zu beenden oder das Alter. Für Marea Granate sind die Gründe schlussendlich unerheblich – für sie gehört der legale Schwangerschaftsabbruch zum Selbstbestimmungsrecht der Frau. Eine hohe Akzeptanz scheint Ministerpräsident Rajoy mit seiner geplanten Gesetzesverschärfung in der spanischen Bevölkerung nicht zu haben. Laut Umfragen lehnen zwischen 70% und 80% der Spanier_innen den Gesetzesentwurf ab – selbst unter der Wähler_innenschaft der Partido Popular sind es weit über 50%. In Madrid gingen über hunderttausend Menschen auf die Straße und protestierten mit Slogans wie „Abgeordnete und Rosenkränze raus aus meinen Eierstöcken“ gegen die geplante Gesetzesänderung.

Bei einer weiteren Aktion versuchten hunderte Frauen, ihre Körper in das Handelsregister, in dem normalerweise Autos registriert werden, einzutragen – als Zeichen, dass nur sie selbst Eigentümerinnen ihrer Körper sind. Auf der neu gegründeten Plattform Wombastic werden Pro-Choice-Zeichnungen veröffentlicht. Doch was sind die Gründe für diese rückwärtsgewandte Politik? Die Aktivistin Raquel López hält einerseits den großen Einfluss der katholischen Kirche für einen wesentlichen Faktor, andererseits sieht sie auch einen Zusammenhang mit der Krise: „Sie wollen die Arbeiterinnen kontrollieren. Die Frauen, die es sich leisten können, werden es sowieso machen und die Armen, die kein Geld für Abtreibungen haben, werden entweder ihr Leben riskieren oder ein ungewolltes Kind bekommen. Das sind dann die Arbeiter und Arbeiterinnen der Zukunft.“ Eine Kriminalisierung von Abtreibungen kann einerseits zu „Abtreibungstourismus“, andererseits zur gesundheitlichen Gefährdung der betroffenen Frauen durch unprofessionell vorgenommene Abbrüche führen.

Mein Körper, mein Leben, meine Entscheidung!“ Foto: Dieter Diskovic

Europas Abtreibungsgegner_innen machen mobil
Wie sieht es im restlichen Europa aus? Abtreibungsgegner_innen haben eine große Lobby in der Politik. Die EU-Bürgerinitiative One of Us sammelte über eine Million Unterschriften für „den Schutz des menschlichen Lebens und der menschlichen Würde von der Empfängnis an“ und erreichte damit, dass die EU-Kommission den Antrag diskutieren muss. Die Initiative will einen Finanzierungsstopp von Aktivitäten bewirken, welche „zur Tötung menschlicher Embryonen führen“. Dahinter stecken Anti-Abtreibungsgruppen, welche u.a. von Vertreter_innen aus Kirche und Politik unterstützt werden. Über 30.000 Stimmen kamen aus Österreich. Brigitte Hornyik, Juristin und Vorstandsmitglied im österreichischen Frauenring, sieht die Ursache für die massive Unterstützung der Initiative vor allem in katholischer Anti-Abtreibungspropaganda. Selbst in Kirchen, so Hornyik, lagen Unterschriftslisten auf (siehe Interview: „Vögeln musst du, aber Geld hast du keines").

Immer noch gibt es Länder wie Polen, Irland oder Liechtenstein, die sehr restriktive Abtreibungsgesetze haben. In Malta, Andorra und San Marino gibt es sogar ein Totalverbot. In Spanien wurde die Fristenlösung erst 2010 von der damaligen sozialdemokratischen Regierung unter José Luis Rodríguez Zapatero eingeführt. Nur vier Jahre später soll sie nun wieder abgeschafft werden. Ob sich die geplante Gesetzesverschärfung abwenden lässt, ist fraglich. Die konservative und männlich dominierte Volkspartei verfügt im Parlament über eine absolute Mehrheit. Ein Abstimmungstermin steht noch nicht fest.

Manu Banu und Dieter Diskovic studieren Kultur- und Sozialanthropologie an der Universität Wien und engagieren sich bei der Screaming Birds Aktionsgruppe.
 

Sex, Natur und Utopie

  • 25.02.2014, 14:56

Manu Banu und Dieter Diskovic über die Gruppe Fuck For Forest, die mit dem Dreh von Pornos den Regenwald retten will, und ihre historischen Vorgänger_innen an der Schnittstelle von Sexualität, Natur und Utopie.

Manu Banu und Dieter Diskovic über die Gruppe Fuck For Forest, die mit dem Dreh von Pornos den Regenwald retten will, und ihre historischen Vorgänger_innen an der Schnittstelle von Sexualität, Natur und Utopie.

„Sex ist eines der essentiellsten Dinge der Natur. Für uns hat es Sinn gemacht, unsere Natur zu nutzen, um die Natur zu schützen“, so Tommy Hol Ellingsen, Gründungsmitglied von Fuck For Forest, in einem Interview. Seit 2003 betreiben die Umweltaktivist_innen eine Homepage, auf der (häufig im Wald oder in der Öffentlichkeit gedrehte) Do-it-yourself-Pornos gegen Bezahlung angeboten werden. Das Ungewöhnliche daran: Sämtliche Einnahmen sollen Regenwald- und Wiederaufforstungsprojekten zugute kommen. Dabei wählt man Methoden, die mitunter auch auf heftigen Widerspruch stoßen. Freie, „natürliche“ Sexualität, die einerseits zu individueller Befreiung, andererseits zur Veränderung der Welt beitragen soll – dieses Konzept kommt uns bekannt vor. Wir haben uns deshalb auf die Suche nach prominenten und weniger bekannten Vorgänger_innen gemacht, die vergleichbare Utopien entwickelten oder gleich versuchten, diese Utopien zu leben.

Fuck For Forest 2008. Foto: Mutter Erde

„Edle Wilde“ in Utopia

Drehen wir die Zeit um etwa 250 Jahre zurück, in die Mitte des 18. Jahrhunderts, in dem der französische Aufklärer Jean-Jacques Rousseau die Vorstellung des „Edlen Wilden“ entwickelte.  Der „Edle Wilde“ repräsentierte ein Idealbild des von der Zivilisation unverdorbenen „Naturmenschen“ und diente als Gegenpol zur als dekadent empfundenen europäischen Gesellschaft. Parallel dazu ließ die Entdeckung des Südpazifiks durch europäische Seefahrer und teils fiktive Reiseberichte das bis heute existierende Klischee des Südseeparadieses entstehen: friedliche und herrschaftslose Gesellschaften im Einklang mit der Natur, die ihre Sexualität frei und ohne Tabus ausleben. Gegenüber dem vorherrschenden Diskurs von indigenen Gesellschaften als „Barbaren“ war dieses Bild zweifellos ein kleiner Fortschritt, dennoch handelte es sich um Stereotype und Wunschvorstellungen, die auf die Bewohner_innen der Südseeinseln projiziert wurden und deren teils sehr strengen Sexualnormen komplett ignorierten.

Der Frühsozialist Charles Fourier suchte das Paradies hingegen nicht in der Ferne: Bereits Anfang des 19. Jahrhunderts entwickelte er eine Gesellschaftsutopie, für die er exakte Pläne erstellte. Fourier war der Ansicht, dass sich die menschliche Natur nicht ändern lässt, aber zumindest entfalten kann. Da die menschlichen Triebe von der bestehenden, gewalttätigen Gesellschaftsordnung unterdrückt werden, müsse man die Gesellschaftsverhältnisse der menschlichen Natur anpassen. Als Hauptquelle der Unterdrückung sah er den Handel und die monogame Ehe an. Für Fourier war die Befreiung der Arbeit nur mit gleichzeitiger Befreiung der Sexualität möglich, deshalb wollte er die Gesellschaft in selbstverwaltete Großkommunen aufteilen, die sowohl Wirtschafts- als auch Liebesgemeinschaften sein sollten. Sein Ziel war die freie Entfaltung der Individuen, eine Verbindung von Arbeit und Genuss, die die ökonomische Produktivität steigern sollte. Trotz oder wegen vieler origineller und fortschrittlicher Ideen wurde Fourier jahrzehntelang als Spinner angesehen, einige Aspekte seines Werks – etwa surrealistisch anmutende Vorschläge wie die Verwandlung des Meeres in Zitronenlimonade und essbares Gelee – machten es seinen Kritiker_innen leicht. Auch Karl Marx und Friedrich Engels lehnten den utopischen Sozialismus als unwissenschaftlich ab. Dennoch hatte Fourier posthum großen Einfluss auf eine Reihe von Utopien des 20. Jahrhunderts.

Einmal Utopie und wieder zurück

Anfang des 20. Jahrhunderts wirbelte die Psychoanalyse um Sigmund Freud und dessen widerspenstigen Schüler Wilhelm Reich, der als Vater der sexuellen Revolution gilt, die bürgerliche Sexualmoral ordentlich durcheinander. Auch gab es einige Enklaven, in denen so etwas wie freie Liebe tatsächlich kurzfristig entstehen konnte, etwa im Berlin der 1920er, der Zeit von Varieté, Marlene Dietrich und einer ausgeprägten Lesbenkultur, oder im Russland nach der Oktoberrevolution 1917, als durch das Wirken der Volkskommissarin Alexandra Kollontaj das Eherecht gelockert, Schwangerschaftsabbruch legalisiert und kollektive Kindererziehung eingeführt wurde. Dieser kurzen Zeit der Freiheit wurde in Berlin durch den Nationalsozialismus, in Russland spätestens durch den Stalinismus ein abruptes Ende gesetzt.

Ein Revival erlebten die sexuellen Utopien in den 1960er Jahren. Es begann eine verstärkte Auseinandersetzung mit der Zeit des Nationalsozialismus, den verbliebenen autoritären Strukturen versuchte man freie Liebe und Persönlichkeitsentfaltung entgegenzusetzen. Die Kämpfe um Bürger_innenrechte und sexuelle Freiheit gaben der Lesben- und Schwulenbewegung Auftrieb.  Parallel dazu entkoppelte die Erfindung der Antibabypille erstmals Geschlechtsverkehr von der Fortpflanzung. Es entstanden hunderte Kommunen, die das Leben in der Kleinfamilie ablehnten und eine hierarchiefreie, offene Gesellschaft etablieren wollten. Zu den bekanntesten zählten die Kommune I in West-Berlin und ab Anfang der 1970er Jahre die AA-Kommune um den Aktionskünstler Otto Muehl, die vom burgenländischen Friedrichshof ihren Ausgang nahm.

Otto Muehl übernahm Rousseaus Aufforderung „Zurück zur Natur!“ und Fouriers Visionen von sexueller Freiheit und kollektiver Lebensweise. In der „Aktionsanalyse“ sollten durch „natürliche“, frei ausgelebte Sexualität, öffentliche Selbstdarstellungen und „Körperbehandlungen“ die individuellen Schädigungen durch die Kleinfamilien-Gesellschaft – „Charakterpanzer“ genannt – überwunden werden. „Seine Mittel reichen vom Streicheln, Abschmusen, Küssen, Kitzeln, Drücken, Kneten zum Zwicken, Schlagen, Anschreien bis zum Anspucken, Speien und Anbrunzen“, wie eine Kommunardin in ihrem Tagebuch vermerkte. Zweierbeziehungen galten als Keimzelle der bürgerlichen Unterdrückung und wurden verboten, durch das Tragen von Glatzen und Latzhosen grenzten sich die Kommunard_innen sowohl vom Bürgertum als auch von den restlichen Protestbewegungen ab.

Die Kommune wollte die Gesellschaft nicht über die Ökonomie, sondern über die Sexualität verändern – diese Weltanschauung machte sie zu einer interessanten Alternative zu marxistischen Gruppen. Zur Hochzeit der Kommune gab es mehr als 600 Mitglieder sowie Zweigstellen in mehreren Ländern. Im Laufe der Jahre kippte die Basisdemokratie in ein faschistoides und streng hierarchisches System, an dessen Spitze Otto Muehl als selbsternannter Monarch stand. 1988 zerbrach die Kommune, Muehl wurde wegen sexuellem Missbrauch und Vergewaltigung Minderjähriger zu sieben Jahren Haft verurteilt. Nicht nur Otto Muehl wurde die vermeintliche „Befreiung der kindlichen Sexualität“ zum Verhängnis, wie man an der Pädophilie-Debatte im letzten deutschen Wahlkampf sehen konnte.

"This is still a demo" - Regenbogenparade 2013. Foto Dieter Diskovic

Von der Abschaffung des Leibes, politischem Lesbianismus und Ökofeminismus

Die sogenannte zweite Frauenbewegung  kritisierte die vermeintliche sexuelle Befreiung jedoch als reine Befreiung der männlichen Sexualität, während es Frauen dem Zwang der permanenten Verfügbarkeit und einem „Orgasmus-Terror“ aussetzte. Auch die konservative Arbeitsteilung innerhalb der Linken wurde angegriffen.

Die radikale Feministin Shulamith Firestone richtete ihre Kritik nicht nur gegen die Kleinfamilie, sondern sah insbesondere in der Reproduktionsfähigkeit der Frau die Basis der Frauenunterdrückung. Nur die Abschaffung des biologischen (gebärenden) Körpers kann die (sexuelle) Befreiung der Frau ermöglichen, weswegen sie auch eine vehemente Befürworterin von Reproduktionstechnologien war – oder in den Worten von Claudia von Werlhof: „Ohne Leib keine Leibeigenschaft“. Firestones ideale Gesellschaft kommt also ohne biologische Familien aus, die Abschaffung der natürlichen Reproduktion soll zur sexuellen Befreiung führen.

Die Forderung nach dem Recht der Frau auf sexuelle Erfüllung war anfangs mit Heterosexualität gleichgesetzt. Durch die Festlegung der Heterosexualität als Norm wurde lesbische Sexualität nicht nur ignoriert, sondern auch als nicht „normal“ und „unnatürlich“ aufgefasst. Dies führte zum lesbischen Feminismus, der die Fragen aufwarf, ob heterosexuelles Begehren von Frauen tatsächlich natürlich sei oder ob dieses nicht in patriarchalen Gesellschaften erzwungen werde. Weibliche Homosexualität wurde weniger mit einer natürlichen Präferenz begründet, sondern als politische Praxis gelebt – unter dem Motto „Feminismus ist die Theorie, Lesbianismus ist die Praxis“.

In den 1980ern entstand – beeinflusst von der Umweltbewegung – der Ökofeminismus, der einen Zusammenhang zwischen der Ausbeutung der Natur und der Frauen herstellte. Aufgrund ihrer Reproduktionsfähigkeit wurden der Frau eine besondere Nähe zur Natur und eine wichtige Rolle für die ökologische Erneuerung unterstellt. Diese Konzepte von einer „natürlichen Weiblichkeit“, die Stereotype begünstigen, konnten sich jedoch innerhalb der feministischen Theorien nicht lange halten. Bereits Mitte der 1980er entstand in der feministischen Theorie die Unterscheidung zwischen sex, dem biologischen Geschlecht, und gender, der Geschlechtsidentität, die durch Sozialisierung entsteht.

Gibt es eine natürliche Sexualität?

Insbesondere die Theorien von Michel Foucault brachten die Vorstellung einer „natürlichen“ Sexualität ins Wanken. Laut Foucault sind unsere heutigen Vorstellungen von Sexualität im 18. und 19. Jahrhundert entstanden, als moderne Staaten begannen, sich für die Reproduktion der Bevölkerung – und damit für ihre Sexualität – zu interessieren. Diese vom Staat betriebene „Bio-Politik“ äußert sich u.a. in Form von Abtreibungsgesetzen, Gesundheitsmaßnahmen oder Geburtenstatistiken. Sexualität ist also historisch und sozial konstruiert und immer mit Machtverhältnissen verbunden. Es gibt daher auch keine naturgegebene „männliche“ oder „weibliche“ Sexualität. Die Philosophin Judith Butler übernahm diesen Gedanken und ging einen Schritt weiter: Butler sieht weder gender noch sex als naturgegebenen an. Das biologische Geschlecht bzw. die Zweigeschlechtlichkeit wird durch die vorherrschende Zwangsheterosexualität hervorgebracht – und hat mit Natur nichts zu tun. 

Dem naturalistischen Modell wurden aber auch zahlreiche kultur- und sozialanthropologische Studien entgegengesetzt. Sie konnten zeigen, dass Sexualität in verschiedenen Gesellschaften unterschiedlich konzipiert wird – es gibt also eine Vielfalt von Sexualitäten anstatt einer natürlichen Sexualität.

Sex sells... Foto: Dieter Diskovic

Was bleibt?
Die sexuelle Revolution hat nachhaltige Spuren hinterlassen, unzählige Tabus und Schranken sind gefallen. Während jedoch die Promiskuität der beruflich erfolgreichen Menschen der Mittel- und Oberschicht gefeiert wird, gilt dies weniger für Menschen der Arbeiter_innenklasse (man vergleiche den Glamour-Sex von Sex and the City und die Figur der Vicky Pollard in Little Britain). Auch ist das neoliberal-kapitalistische System weit davon entfernt, sich von Änderungen der Sexualmoral gefährdet zu fühlen. Vielmehr wurden die subkulturellen Strömungen vereinnahmt, die Sexualität zum großen Geschäft. Gerade die Vorstellung von einer authentischen oder natürlichen Sexualität findet sich in unzähligen Kursen und Ratgebern wieder – die freie Sexualität ist zu einem Markenprodukt geworden.

Auch von einer „Generation Porno“ ist die Rede, also von jungen Menschen, die durch die ständige Verfügbarkeit von pornographischem Material mit den übertriebenen Inszenierungen der Pornoindustrie aufwachsen und dadurch einem sexuellen Leistungsdruck unterliegen. Vermarktbarkeit und Leistungsdruck – damit haben sich die Vorstellungen von Sexualität an die Paradigmen der gegenwärtigen Ökonomie angepasst. Die Kämpfe sexueller Minderheiten um vollständige Anerkennung und Gleichstellung können auf der einen Seite Erfolge vorweisen, auf der anderen Seite ist in vielen Ländern ein reaktionärer Backlash wahrnehmbar, etwa in Spanien, wo das Abtreibungsgesetz wieder verschärft werden soll oder in Russland, wo „homosexuelle Propaganda“ in der Öffentlichkeit verboten wurde. Experimente mit kollektiver Sexualität dienen mittlerweile eher der Selbstfindung oder als hedonistisches Vergnügen. Die Propagierung einer „natürlichen“ Sexualität als gesellschaftsverändernde Praxis hat hingegen ihre politische Relevanz verloren.

 

Manu Banu und Dieter Diskovic studieren Kultur- und Sozialanthropologie an der Universität Wien.

 

 

Lieder für den bosnischen Frühling

  • 11.02.2014, 15:59

Vollkommen unerwartet sind Anfang Februar massive soziale Proteste in Bosnien-Herzegowina ausgebrochen. Vor der bosnisch-herzegowinischen Botschaft in Wien gab es mit einer „öffentlichen Probe“ des Chors HOR 29 NOVEMBAR eine erste Solidaritätskundgebung für den „bosnischen Frühling“. Manu Banu und Dieter Diskovic waren vor Ort und haben Ljubomir Bratić, Chormitglied, Philosoph und Publizist, zur Lage befragt.

Vollkommen unerwartet sind Anfang Februar massive soziale Proteste in Bosnien-Herzegowina ausgebrochen. Vor der bosnisch-herzegowinischen Botschaft in Wien gab es mit einer „öffentlichen Probe“ des Chors HOR 29 NOVEMBAR eine erste Solidaritätskundgebung für den „bosnischen Frühling“. Manu Banu und Dieter Diskovic waren vor Ort und haben Ljubomir Bratić, Chormitglied, Philosoph und Publizist, zur Lage befragt.

Sonntag, 9. Februar, Wien: Vor der Botschaft von Bosnien und Herzegowina im 12. Bezirk stehen etwa fünfzehn Personen aller Altersgruppen und schmettern lautstark Widerstandslieder. Das Repertoire reicht vom jugoslawischen Partisan_innenlied „Po šumama i gorama“ bis zu Ton Steine Scherbens „Macht kaputt, was euch kaputt macht“. In den Händen halten sie ein Transparent mit der Parole „We All Are Bosnian Workers“. Was hat es mit diesem Chor auf sich, was ist der Grund für diese „öffentliche Probe“?

Chor? Kollektiv? Politisches Projekt?

HOR 29 NOVEMBAR wurde am 29. November 2009 gegründet. Genau vierzig Jahre davor entstand in Wien der erste, längst nicht mehr aktive Gastarbeiter_innenverein Mladni Radnik („Junge Arbeiter“). Bratić: „Wir haben uns damals gedacht, man sollte auch einmal an solche verborgenen, versteckten geschichtlichen Ereignisse der Gastarbeit erinnern“. Anfangs als einmaliges Kunstprojekt geplant, hat der Chor mittlerweile an die siebzig Auftritte – vom Ost Klub bis zu den Wiener Festwochen – absolviert. Man definiert sich als selbstorganisiertes, offenes Kollektiv: „Jeder, der singen will, kann mitsingen. Wir haben kein Aufnahmeverfahren. Wir glauben auch, dass jeder singen kann. Das hat damit zu tun, dass wir uns nicht nur als Chor verstehen, sondern als politisch-künstlerisches Projekt. Die egalitäre Komponente ist dabei sehr wichtig“.

Von den sozialen Unruhen in Bosnien erfuhr der Chor über das Internet: „Wir haben es zuerst gar nicht geglaubt, dass so etwas überhaupt möglich ist, dass es entlang der sozialen Fragen zu Unruhen kommt. Das Nationale, Ethnische stand zwanzig Jahre lang im Vordergrund – und plötzlich kommt es zu sozialen Unruhen! In Tuzla gehen die Arbeiter auf die Straßen und bauen Barrikaden. Und es passiert plötzlich nicht nur in Tuzla, sondern in ganz Bosnien! Das ist für uns, die auf der Seite der Arbeitenden stehen, natürlich sehr interessant.“

Jeder, der singen will, kann bei HOR 29 NOVEMBAR mitsingen. Foto: Dieter Diskovic

Bosnischer Frühling oder ein kurzer Wutausbruch?

Seit Tagen finden in Bosnien und Herzegowina Proteste gegen Armut, Arbeitslosigkeit, Korruption und die derzeitige Politik statt. Ausgangspunkt der landesweiten Proteste war die einst wichtige Industriestadt Tuzla, wo Arbeiter und Arbeiterinnen am Mittwoch gegen die Schließung von vier privatisierten Staatsunternehmen auf die Straße gingen. Anstatt in die Unternehmen zu investieren, wurde ihr Vermögen verkauft und Konkurs angemeldet. Von den Schließungen sind 10.000 Menschen betroffen. Im Zuge der Proteste wurde das Gebäude der Kantonregierung trotz Polizeisperre gestürmt. Bereits am selben Tag kam es zu Protesten in Sarajevo, es folgten Zenica, Mostar, Bihać und anderen Städte.

„Bewerft die Polizisten nicht mit Steinen, da sie sonst Gewalt anwenden werden. Aber sollten sie mit Schlagstöcken auf euch losgehen, dann zeigt Widerstand, werft, zielt, zündet und schmeißt Autos um“, rief einer der Organisatoren der Proteste in Tuzla in sein Megafon. Und tatsächlich kam es zu Auseinandersetzungen mit der Polizei, die Gummigeschosse und Tränengas gegen die Protestierenden richtete. Es gab auf beiden Seiten Verletzte und es kam zu zahlreichen Festnahmen. In Sarajevo sollen in der Nacht von Freitag auf Sonntag Polizisten in Zivil Menschen verprügelt haben. In Zenica landeten Autos von Lokalpolitikern in einem Kanal. In mehreren Städten brannten Gebäude der Kantonalregierungen, Autos von Beamt_innen, in Mostar auch Parteizentralen und in Sarajevo das bosnische Staatspräsidium.

Längst sind nicht nur Arbeiter_innen und Arbeitslose auf den Straßen, die scheinbar apathische Bevölkerung Bosnien-Herzegowinas ist erwacht und ethnische Zugehörigkeiten spielen keine Rolle – zumindest noch nicht.

Das System schlägt zurück

„Dass die Armen, die Arbeiter und Arbeiterinnen hier ein gemeinsames Bewusstsein entwickeln, wird mit Sicherheit ganz stark von allen ethnischen Ecken angegriffen werden“, ist sich Bratić sicher. Tatsächlich versuchen Medien und Politik nun, die Proteste zu diskreditieren. So meinten etwa Nermin Nikšić, Ministerpräsident der Föderation, und Bakir Izetbegović, Mitglied des Staatspräsidiums, dass bei Demonstrierenden in Sarajevo Drogen gefunden worden wären. Der Pressesprecher des Innenministeriums (des Kantons Sarajevo) stellte jedoch klar, dass zwar tatsächlich am Freitag drei Drogendealer festgenommen worden wären, diese jedoch nichts mit den Protesten zu tun hätten. Valentin Inzko, österreichischer Diplomat und „Hoher Repräsentant für Bosnien und Herzegowina“ (oder aber mit den Worten  Bratićs: „Kolonialherr“), drohte gar mit dem Einschreiten von EU-Truppen. Auch von Hooliganismus ist die Rede. Der bosnische Schriftsteller Faruk Šehić sieht in den arroganten Politiker_innen die echten Hooligans – nicht in den jungen Menschen, denen sie die Zukunft geraubt haben. Nicht Hooligans zündeten Gebäude und Autos an, sondern das kollektive Bewusstsein junger Generationen, die ihre aufgestaute Wut auf den Straßen entluden. Laut Šehić war dies die einzige Möglichkeit, um von den echten Hooligans, den Politiker_innen, die schon seit Jahrzehnten Leben zerstören, beachtet zu werden.

Auch Ljubomir Bratić hinterfragt die Definition von Gewalt: „Leider muss es so sein, dass man ein paar Fenster zerschlagen muss, um wahrgenommen zu werden. Aber was ist Gewalt? Die Menschen jahrzehntelang hungern zu lassen und ganze Generationen zu zerstören, ist das keine Gewalt? Gewalt sind ein paar zerschlagene Fenster. Wer definiert das, was Gewalt ist?“

Die Proteste zeigen bereits erste Wirkung: Mittlerweile sind in den Kantonen Tuzla und Zenica-Doboj die Kantonalregierungen zurückgetreten, in Sarajevo und Bihać die Ministerpräsidenten der Kantonalregierungen. Der zurückgetretene Ministerpräsident des Kantons Sarajevo, Suad Zeljković, sieht in den Protesten „Elemente eines Staatsstreichs“, der Innenminister des Kantons, Nermin Pećanac, vermutet bezahlte Gruppen hinter den Protesten.

Dayton - eine komplizierte politische Konstruktion
Das Abkommen von Dayton, das 1995 den dreieinhalbjährigen Krieg in Bosnien und Herzegowina beendete, teilte den Staat in zwei Entitäten auf: die Bosnisch-Kroatische Föderation von Bosnien-Herzegowina und die Republika Srpska, mit jeweils eigener Regierung, eigenem Parlament sowie eigener Exekutive und Legislative (der Distrikt Brčko bildet ein Sonderverwaltungsgebiet). Daneben gibt es auch eine gemeinsame Regierung und ein Parlament für den Gesamtstaat. Das Staatspräsidium setzt sich aus jeweils einem Vertreter der drei konstitutiven Volksgruppen (Bosniak_innen, Kroat_innen und Serb_innen) zusammen, wobei der Vorsitz alle 8 Monate wechselt.

Das Abkommen hat Bosnien-Herzegowina damit nicht nur eine sehr komplizierte, sondern auch sehr teure und dysfunktionale Staatsstruktur auferlegt. Die Wirtschaft des Landes liegt am Boden, die Arbeitslosenrate  beträgt über 40%, ein Fünftel der Bevölkerung lebt in Armut, das Durchschnittseinkommen beträgt 420 Euro. Bratić: „Die Arbeitenden waren die großen Verlierer der Zerschlagung Jugoslawiens. Das Land ist deindustrialisiert, die Menschen leben in Armut, das war früher unvorstellbar. Ich wünsche ihnen, dass aus dieser Revolte eine dauerhafte soziale Kraft von unten entsteht. Das ist die einzige Lösung, die alle diese Ebenen überwinden kann. Aber es muss gelingen, den Angriff der Nationalen, aber auch den Angriff der neokolonialen Kräfte, die ebenfalls am Werk sind, abzuwehren. Die Forderungen der Bewegung sind aber sozial. Das sind keine nationalen oder ethnischen Forderungen. Die Menschen wollen leben - und zwar so gut wie alle anderen.“

HOR 29 NOVEMBAR solidarisiert sich mit den sozialen Kämpfen in Bosnien-Herzegowina. Foto: Dieter Diskovic

Solidarität aus Österreich

Beim Auftritt von HOR 29 NOVEMBAR vor der bosnisch-herzegowinischen Botschaft handelt es sich um eine symbolische Aktion: „Es geht nicht darum, solche Kämpfe hier nach Wien zu tragen, es geht darum, den Menschen dort zu zeigen: Es gibt Menschen außerhalb von Bosnien, außerhalb von Ex-Jugoslawien, die wahrnehmen, was ihr macht, die sich damit solidarisieren und zumindest symbolisch an dem Kampf, der letztendlich auch unser Kampf ist, teilnehmen.“

Im Zuge der Gezi Park-Besetzung war es 2013 auch in Wien zu zahlreichen kreativen Protesten von Teilen der türkischen Community gekommen. Hält Ljubomir Bratić eine ähnlich breite Solidaritätsbewegung der ex-jugoslawischen Community in Österreich für möglich? „Ich wünsche mir natürlich, dass es hier zu einer breiten Solidaritätsbewegung kommt, aber ich halte es für schwierig. Die ethnischen Linien in den ex-jugoslawischen Community sind auch in Wien sehr stark und zusätzlich gibt es noch ausgeprägte Klassenlinien. Es ist gibt eine Trennung zwischen den Hacklern und den bürgerlichen Schichten. Ende der 80er, Anfang der 90er hat es einen Bruch gegeben, als die Gastarbeiter-Kultur in die ethnische Schiene umgekippt ist. Momentan ist es das Wunderliche in Bosnien, dass genau dieses Ethnische verdrängt wird.“

 

Ljubomir  Bratić (geb. 1964) lebt in Wien. Er ist Philosoph, Sozialwissenschaftler, Publizist und Aktivist.

Manu Banu (geb. 1979) lebt in Wien und ist Studentin der Kultur- und Sozialanthropologie und ehrenamtliche Mitarbeiterin bei der NGO EXIT.

Dieter Diskovic (geb. 1979), lebt in Wien. Er ist Student der Kultur- und Sozialanthropologie und als Sozialarbeiter tätig.

Aus den Augen, aus dem Sinn

  • 05.02.2014, 13:21

Die Zeiten für wohnungslose Menschen werden härter. In Ungarn wie auch in Österreich werden Versuche unternommen, Obdachlose durch Vertreibung und Bestrafung aus der öffentlichen Wahrnehmung zu entfernen. Was bedeutet diese Politik der Ausgrenzung für die Betroffenen in Wien und Budapest nun tatsächlich?

Die Zeiten für wohnungslose Menschen werden härter. In Ungarn wie auch in Österreich werden Versuche unternommen, Obdachlose durch Vertreibung und Bestrafung aus der öffentlichen Wahrnehmung zu entfernen. Was bedeutet diese Politik der Ausgrenzung für die Betroffenen in Wien und Budapest nun tatsächlich?

Mitte November 2013 stürmten Obdachlosenaktivist_innen von A város mindenkié („Die Stadt gehört allen“) eine Sitzung des Budapester Stadtrates. Gut zwei Dutzend Menschen bildeten im Plenarsaal eine Menschenkette mit der Absicht, einen Beschluss zu verhindern, der darauf abzielt, den Umgang mit Obdachlosen in Ungarn zu verschärfen. Bereits wenige Wochen zuvor hatte die rechtskonservative Fidesz-Regierung unter Ministerpräsident Viktor Orbán ein Gesetz beschlossen, das es obdachlosen Menschen untersagt, auf Flächen, die als Weltkulturerbe ausgewiesen sind, zu nächtigen (dazu gehört der Bereich im Burgviertel und beim Donauufer). Im Sitzungssaal sollte eine Verordnung durchgeboxt werden, die es auch den verschiedenen Bezirken erlauben soll, Obdachlosensperrzonen gesetzlich festzulegen und „obdachloses Verhalten“ aus ihren Territorien zu verbannen. Wird man in einem als „Sperrzone“ ausgewiesenen Bereich von der Polizei aufgegriffen, können nebst hohen Geldstrafen auch gemeinnützige Arbeit und Arrest drohen. Verhindern konnten die Aktivist_innen den Gesetzesbeschluss aber nicht, sie wurden von der Polizei aus dem Saal getragen, das Gesetz wurde beschlossen. Am meisten Sperrzonen wurden vom Bürgermeister des XIII Bezirks, Tóth József, beantragt – einem Sozialdemokraten.

Leerstehende Wohnungen, gekürzte Subventionen, Kältetote

In ganz Ungarn gibt es etwa 30.000 obdachlose Menschen, in der Hauptstadt Budapest sind es laut Schätzungen 10.000 - und das obwohl landesweit 400.000 Wohnungen leer stehen; alleine in Budapest sind es an die 85.000. Die tatsächliche Anzahl an Obdachlosen ist aber mit Vorsicht zu genießen, denn die wirkliche Zahl dürfte höher liegen.  In der Statistik scheinen nur jene Menschen auf, die sich an öffentlichen Plätzen aufhalten und in Unterkünften leben. Die Regierungspartei Fidesz beweist nun mit dem neuen Gesetz (dem eine Verfassungsänderung vorausgegangen war, die es erst ermöglicht hat, Obdachlosigkeit per Gesetz zu kriminalisieren), dass sie keinen wirkungsmächtigen Plan hat, dem Problem der Obdachlosigkeit konkret entgegenzutreten. Weder gibt es für wohnungslose Menschen genügend (Not-)Unterkünfte, noch erschwingliche Wohnungen. Zwar wurde auch unter den Sozialdemokrat_innen vor 2010 das Problem nicht gelöst, doch seit der Fidesz an der Macht ist, wurde es tatsächlich schlimmer: die staatlichen Förderungen für Tagesplätze, Nacht- und Notunterkünfte wurden seit 2010 um 15 % gekürzt, auch das Wohngeld wurde reduziert.

Das Versagen der Politik fordert auch Todesopfer: bis zum 4. Jänner diesen Jahres sind bereits 53 Menschen erfroren, die meisten von ihnen in ihren eigenen, unbeheizten Wohnungen. Kata Amon, Aktivistin bei A város mindenkié, glaubt aber nicht, dass die Situation für Obdachlose in Ungarn hoffnungslos ist: „Die Mehrheit der Ungar_innen ist mit der Kriminalisierung von Obdachlosen nicht einverstanden und sieht darin auch keine Lösung. Die Regierung wird die Ablehnung der Menschen zu den neuen Gesetzen nicht für immer ignorieren können.“ Die Kriminalisierung von Obdachlosen ist freilich kein Alleinstellungsmerkmal Ungarns. Öffentliche Aufmerksamkeit erregte etwa die Verweisung und Bestrafung wohnungsloser Menschen aus dem Wiener Stadtpark im Oktober letzten Jahres.

Herr Friedrich im Wiener Stadtpark. Foto: Dieter Diskovic

Die Vertreibung aus dem Stadtpark

„Am Dienstag, so um 22:00, sind acht Polizeiautos gekommen: ,Räumen! Sofort! Sonst kommt die 48er und nimmt alles mit.‘ Ich zeig ihnen meine Krücken und sage: ,Ich kann ja nicht.‘ ,Du hast eh zwei Freunde da, die sollen dir helfen. Das was ihr nehmen könnt, nehmt – alles andere kommt weg.‘ Die Aktion hat ungefähr eine Stunde gedauert, dann ist die MA 48 gekommen. Alles was man nicht nehmen konnte, Gewand, Schuhe, Schlafsäcke, alles ist weggekommen. Einen von uns hat die Polizei mitgenommen. Während er weg war, haben sie seine Sachen auch weggeworfen.“ Der 56-jährige Herr Friedrich lebt bereits seit drei Jahren im Stadtpark, einige seiner Freunde kommen sogar schon seit Jahrzehnten hierher. Die Vertreibung aus dem Stadtpark im letzten Oktober hat die obdachlosen Menschen vollkommen unvorbereitet getroffen. Von wem die angeblichen Anrainer_innenbeschwerden ausgegangen sind, ist Herrn Friedrich rätselhaft: „Wir haben keinem was gemacht, wir haben uns oft mit den Leuten unterhalten, da ist sogar ein Rechtsanwalt dabei. Wir haben uns immer gut gestellt mit den Anrainern und bei uns war es immer sauber.“ Die Polizei selbst beruft sich auf eine Campierverordnung aus dem Jahre 1985, die unter anderem das Auflegen und Benützen von Schlafsäcken im öffentlichen Raum mit einer Verwaltungsstrafe zwischen 140 und 700 Euro ahndet und ursprünglich gegen Rucksacktourist_innen gerichtet war. Jahrzehntelang galt die Campierverordnung als totes Recht, ihre Wiederauferstehung hatte sie im Dezember 2012, als sie der Auflösung des Refugee-Camps vor der Votivkirche als gesetzliche Rechtfertigung diente.

Die Polizeiaktion im Stadtpark sorgte kurzfristig für ein enormes mediales Interesse. Politisch motivierte Gruppen wie F13 und die youngCaritas organisierten Flashmobs, bei denen sich die Teilnehmer_innen solidarisch in Schlafsäcken an symbolträchtigen Orten wie dem Stadtpark oder dem Stephansplatz niederlegten. Peter Nitsche, Initiator der Facebook-Gruppe Die Obdachlosen aus dem Stadtpark sind auch meine Nachbarn und zahlreicher Flashmobs, erklärt das Konzept: „Die Idee dazu war, das Bewusstsein an konsumorientierten Plätzen, wie hier auf der Mariahilfer Straße, zu schärfen und zu sagen: ,Leute, jeden von uns kann es treffen.‘ Man darf auch nicht vergessen, dass es ein Mensch, der jahrelang auf der Straße gelebt hat, vielleicht gar nicht mehr schafft, von einer Stunde auf die andere in einen begrenzten Raum zu gehen, in einen Raum, der von vier Wänden umgeben ist.“ Tatsächlich gibt die Stadt Wien verhältnismäßig viel Geld für Notschlafstellen und ähnliche Programme aus, Tatsache ist aber auch, dass viele Menschen diese Angebote nicht annehmen können oder wollen. Die Gründe dafür sind vielfältig. Die von Obdachlosigkeit Betroffenen sind eine sehr heterogene Gruppe, viele haben ein erfolgreiches Leben hinter sich und empfinden ein ausgeprägtes Schamgefühl, das sie keine Hilfe annehmen lässt.

Weiters leidet ein großer Teil an psychischen Erkrankungen (wie der bereits genannten Klaustrophobie) oder an Suchtkrankheiten, die sich nicht mit der Abstinenzpflicht in den meisten Einrichtungen vereinbaren lassen. Andere wiederum haben Angst vor Diebstählen oder haben durch ihre Erfahrungen das Vertrauen in die Menschen verloren und wollen so wenig wie möglich mit ihnen zu tun haben. Für die mobilen Sozialarbeiter_innen ist es häufig eine langwierige Angelegenheit, das Vertrauen der Klient_innen zu erreichen. Susanne Peter, Sozialarbeiterin in der Gruft und regelmäßig im Stadtpark unterwegs: „Ich habe mich drei Jahre lang mit einer Klientin nur durch eine Klotüre unterhalten, bis sie das Vertrauen hatte, mir in die Augen zu schauen.“ Durch die Räumung des Stadtparkes hat sich die Situation verschlechtert. Die obdachlosen Menschen sind verunsichert und verstecken sich, für die Sozialarbeiter_innen wird es komplizierter, den Kontakt aufrechtzuerhalten.

Flashmob im Stadtpark. Foto: Dieter Diskovic

Housing First im neunerhaus

Für die Stadt Wien, die stolz auf ihre Sozialleistungen ist, ist es offensichtlich besonders schwierig, öffentlich sichtbare Armut und alternative Wohnformen zu akzeptieren. Die Vertreibung von Randgruppen aus der öffentlichen Wahrnehmung löst allerdings keine Probleme – umso wichtiger ist es, sich alternative Möglichkeiten anzusehen. Ein relativ neuer, aus den U.S.A. stammender Ansatz, nennt sich Housing First. Housing First beruht auf der Idee, dass obdachlose Personen zuallererst eine eigene Wohnung bekommen, während alle weiteren Angelegenheiten erst danach angegangen werden. Dadurch müssen sich obdachlose Menschen nicht erst langwierig über Notschlafstellen und Trainingswohnungen für eine eigene Unterkunft qualifizieren. Die weitere Betreuung basiert auf freiwilliger Basis. Was sich wie ein ausgesprochen teures Projekt anhört, senkt die Folgekosten der Obdachlosigkeit nachweislich enorm. In Österreich steckt dieser Ansatz noch in den Kinderschuhen und wird beispielsweise vom neunerhaus angeboten.

Reiche rein, Arme raus

Besonders schlecht ist die Situation für obdachlose Bürger_innen aus den neuen EU-Ländern. Menschen aus Osteuropa ziehen aufgrund fehlender Perspektiven, eines mangelhaften Sozialsystems oder, wie eingangs erwähnt, des De-facto-Verbotes von Obdachlosigkeit in Ungarn nach Wien. Es gibt auch Pendler_innen, die – häufig von Ausbeutung durch die Arbeitgeber_innen betroffen – unter der Woche ohne Unterkunft in Wien arbeiten und das Wochenende im Herkunftsland verbringen. Diese Menschen fallen gesetzlich in die Kategorie „nicht Anspruchsberechtigte“, wodurch es keine geförderten Notschlafstellen für sie gibt – vor allem die spendenbasierte und stets überfüllte Zweite Gruft kümmert sich zurzeit um dieses Klientel.

Hier stellt sich die Frage nach der Verantwortung der EU. Während man ein Freihandelsabkommen nach dem anderen beschließt und die Immigration hochqualifizierter Arbeitskräfte gerne gesehen wird, versucht man parallel dazu, die Wanderung von armen und weniger gebildeten Menschen zu verhindern. Die negativen Folgen für die Herkunftsländer durch Braindrain bei gleichzeitiger Ablehnung von Armutsmigration werden dabei bewusst ignoriert. Ein möglicher erster Schritt, Armut statt die von Armut betroffenen Menschen zu bekämpfen, wäre die Einführung EU-weiter sozialer Mindeststandards sowie die Aufhebung aller Gesetze, die Obdachlosigkeit kriminalisieren. Auch ein bedingungsloses Grundeinkommen wäre eine Chance, das menschliche Existenzrecht von der Erwerbsarbeit und dem Funktionieren im System zu entkoppeln.

 

Ein Interview mit dem Soziologen Christoph Reinprecht über die politischen Hintergründe der Vertreibung von obdachlosen Menschen aus dem Stadtpark, die zunehmende Kommerzialisierung und Kontrolle des öffentlichen Raumes sowie über mögliche Lösungen, Armut und Obdachlosigkeit wirksam zu bekämpfen, findet ihr hier:

http://www.progress-online.at/artikel/wem-geh%C3%B6rt-die-stadt

 

Gabriel Binder (geb. 1987) lebt in Wien und ist Angestellter und freier Schriftsteller.

Dieter Diskovic (geb. 1979), lebt in Wien. Er ist Student der Kultur- und Sozialanthropologie und als Sozialarbeiter tätig.

Beide engagieren sich bei „Screaming Birds“, einer 2012 gegründeten Gruppe, die sich gesellschaftskritisch und in verschiedenen Formen politischen Themen widmet.

 

Wem gehört die Stadt?

  • 04.02.2014, 18:58

Ein Interview mit dem Soziologen Christoph Reinprecht über die politischen Hintergründe der Vertreibung von obdachlosen Menschen aus dem Stadtpark, die zunehmende Kommerzialisierung und Kontrolle des öffentlichen Raumes sowie über mögliche Lösungen, Armut und Obdachlosigkeit wirksam zu bekämpfen.

Ein Interview mit dem Soziologen Christoph Reinprecht über die politischen Hintergründe der Vertreibung von obdachlosen Menschen aus dem Stadtpark, die zunehmende Kommerzialisierung und Kontrolle des öffentlichen Raumes sowie über mögliche Lösungen, Armut und Obdachlosigkeit wirksam zu bekämpfen.

Christoph Reinprecht. Foto: Dieter Diskovic

progress online: Im Oktober 2013 wurden Obdachlose von der Polizei aus dem Stadtpark vertrieben. Haben Sie eine Vermutung, was die Hintergründe für diese Aktion sein könnten?

Reinprecht: Die Hintergründe der Vertreibung der Obdachlosen aus dem Stadtpark sind sicherlich stadtpolitischer Art. Die Stadt Wien legt relativ viel Wert auf ein breit aufgefächertes sozialpolitisches Programm, insbesondere auch im Bereich der Betreuung und Versorgung von Gruppen, die Schwierigkeiten in unterschiedlichsten Lebensbereichen haben. Die Stadt Wien ist sehr daran interessiert, diese Dinge auch geordnet zu regeln. Aus dieser Perspektive wird wahrscheinlich alles, was öffentlich sichtbar ist, als problematisch angesehen. Das war auch sichtbar an der Reaktion der Stadträtin: „Wir haben unsere Programme, wir haben unsere Einrichtungen und die Leute sollen in diesen Einrichtungen unterkommen. Der Stadtpark hat nicht die Funktion eines Ersatzwohnraumes.“ Das war wahrscheinlich der Hauptgrund für dieses überraschende, starke Eingreifen. Es ist auch im Zusammenhang zu sehen mit einer ganz bestimmten Art und Weise, solche Probleme in Wien zu regeln: zum einen sehr stark integrativ mit Programmen, zum anderen doch mit sanktionierenden Maßnahmen, mit Polizei und Räumung. Diese Doppelstrategie ist sehr charakteristisch und wurde auch hier wieder angewandt. Erstaunlich war sicher die Heftigkeit, mit der das passiert ist.

Es gab früher das Klischee des Obdachlosen, der bärtig und betrunken ist. Die Leute, die wir getroffen haben, entsprechen diesem Klischee teilweise gar nicht. Ist das ein Anzeichen dafür, dass die Obdachlosigkeit jetzt vermehrt auch breitere Gruppen betrifft?

Reinprecht: Es gibt Klischeevorstellungen der Obdachlosigkeit, insbesondere was den Clochard oder den Bettler betrifft. Das sind Vorstellungen, die gesellschaftlich sehr verankert sind, weil sie mit der Vorstellung von Armut verbunden sind. Was ist ein Armer? Was ist ein Outsider? Heute gibt es eine Diversifizierung der Obdachlosigkeit, teilweise ist auch der Begriff Obdachlosigkeit nicht ganz zutreffend. Wir haben bei Neubeschäftigten zunehmend prekäre oder atypische Erwerbstätigkeit, die nicht dazu reicht, ein Einkommen zu generieren, das zum Leben reicht. Gleichzeitig haben wir zunehmend Veränderungen am Wohnungsmarkt, wo die zugänglichen Segmente weniger werden - die billigen, die vielleicht auch schlechter ausgestatteten, aber zugänglichen Wohnungen. Das Risiko, in eine Situation zu geraten, in der man mit Wohnungslosigkeit oder ungesicherten Wohnverhältnissen konfrontiert ist, nimmt zu. Interessanterweise steigt es nicht nur bei bestimmten klassischen Klischeegruppen, die vielleicht auch in Konsequenz von Veränderungen in der psychiatrischen Versorgung und in anderen Bereichen klassisch den Obdachlosen zugerechnet werden, sondern die Personen kommen aus ganz unterschiedlichen Schichten, Berufsgruppen, Regionen und Milieus. Diese Diversifizierung der Wohnungslosen oder von Obdachlosigkeit bedrohten Menschen ist eine Folge der Differenzierungen und Veränderungen am Arbeits- und Wohnungsmarkt. Und daher finden wir auch Personengruppen, die wir klassisch überhaupt nicht diesem Stereotyp zuordnen und unterordnen können.

Es gibt ja in Wien recht viele Einrichtungen für Obdachlose, aber es gibt nun einmal auch Obdachlose, die in diesen Einrichtungen nicht leben wollen oder können. Was wären denn Lösungsmöglichkeiten, dass diese Leute trotzdem selbstbestimmt leben können?

Reinprecht: Die Schwierigkeit liegt sicher darin, dass die sozialpolitischen Maßnahmen sehr stark von normierten Vorstellungen ausgehen. Was ist Versorgung? Was bedeutet Wohnen? Welche Grundbedürfnisse müssen erfüllt sein? Was sind überhaupt diese Grundbedürfnisse? Das kommt auch daher, dass wir hier in einem Land leben, in dem der geförderte Wohnbau und der soziale Gemeindewohnbau eine starke Stellung haben - und in diesen Bereichen hat man sehr definierte Vorstellungen eines guten Wohnraumes. Diese Dinge werden in Prozessen definiert, in die die Betroffenen nicht einbezogen sind. Heute können wir aber auch beobachten, dass Wohnkonzepte ins Spiel kommen, die mit diesen sehr stark definierten, fixierten Wohnvorstellungen wenig gemein haben. Es gibt ja recht interessante Bewegungen, die zwar klein sind, aber sozialpolitisch meines Erachtens sehr interessant: Das können die Wagenleute sein, das können Leute sein, die Häuser besetzen. Dahinter sind Vorstellungen eines nicht kommodifizierten, vermarkteten Wohnraums, dass Wohnen vielleicht mehr ein kollektives Gut ist, das auch kollektiv genutzt wird und nicht nur privat angeeignet ist. Das ist deshalb so wichtig, weil ja die letzten zwanzig, dreißig Jahre doch durch eine starke Ökonomisierung des Wohnens gekennzeichnet sind. Wohnen wird heute zunehmend auch bei jungen Leuten als ein Gut gesehen, das auch eine Anlage ist, eine Altersversicherung darstellt, das eine Investition repräsentiert und nicht als etwas, das mit der Lebenswelt verbunden ist. Das ist eine wichtige Frage, weil sie das Thema der Wohnungslosigkeit oder Obdachlosigkeit berührt, weil hier ja auch unterschiedliche Wohnvorstellungen aufeinanderprallen. Es ist ganz klar, dass die Notunterkünfte für spezielle Gruppen sinnvoll und angemessen sind. Aber es gibt unter jenen Personen, die im öffentlichen Raum übernachten, sehr unterschiedliche Bedürfnislagen und Lebenssituationen. Daher ist diese standardisierte Form und diese Normierung wahrscheinlich der falsche Weg. Man müsste zum Teil einfach die Zugänge zum Wohnungsmarkt verbessern und die Möglichkeiten auch für vorübergehendes Wohnen öffnen. Man müsste Segmente des Wohnungsmarktes so gestalten, dass Personen, die wenig Einkommen haben oder die vielleicht auch nur vorübergehend in der Stadt sind, auch eintreten können. Man kann beobachten, dass diese Segmente des Wohnungsmarktes, etwa Kategorie D-Wohnungen, immer weniger zur Verfügung stehen. Daher sind viele Leute, die früher in diesen Bereichen des Wohnungsmarktes untergekommen sind, zunehmend angewiesen, alternative Lösungen zu finden, ein Teil davon findet sich auf der Straße. Man bräuchte also mit Sicherheit eine wohnpolitische Lösung. In Bezug auf Versorgungsmaßnahmen und Notschlafstellen sollte man mehr versuchen, die realen und heterogenen Lebenssituationen der Menschen mit einzubeziehen, denn auch hier gibt es extrem normierte Vorstellungen: Wer ist überhaupt unser Klient? Viele, die von Wohnungslosigkeit oder dem Risiko der Wohnungslosigkeit betroffen sind, passen überhaupt nicht in dieses Schema.

Spielen bei diesen Änderungen wirtschaftliche Mechanismen oder Ziele eine Rolle? Ist was dran am „Wettbewerb der Städte“?

Reinprecht: Bei der Gestaltung der Wohlfahrtspolitik spielt die Frage der Positionierung der Stadt eine wichtige Rolle. Das ist allerdings nichts Neues. Nehmen wir das viel besungene Rote Wien zu Beginn des 20. Jahrhunderts: Auch der kommunale Wohlfahrtsstaat des Roten Wien war eine gewisse Positionierung im Konzert der europäischen Städte, die von der Arbeiterbewegung und den damit verbundenen Kämpfen und Konflikten erfasst wurden. Heute ist die Positionierung der Städte weniger auf der Konfliktlinie zwischen Arbeit und Kapital, rechts und links - also politisch - angesiedelt. Vielmehr stellt sich jetzt die Frage: Bin ich eine Global City oder bin ich eher peripher? Es geht hier um Wettbewerbsüberlegungen, um die Attraktivität der Städte in Hinblick auf qualifizierte Arbeitskräfte, auf Standorte von Unternehmen, auf Tourismus. Und selbstverständlich ist die sozialpolitische Gestaltung ein wesentlicher Bestandteil davon. Wien wirbt ja damit, die höchste Lebensqualität der Städte zu haben - und die Sozialpolitik ist ein ganz wesentlicher Pfeiler davon: geförderter Wohnbau, gepflegte Parks, Ausstattung mit Kindergärten etc. Das Thema Obdachlosigkeit ist aber ein Thema, das diese Vorstellung einer perfekt gestalteten Stadt mit hoher Lebensqualität aufbricht, weil sich da plötzlich im öffentlichen Raum Elemente des Nicht-Zugehörigen einnisten, die sich wie eine Störung in diesem wunderschönen perfekten Modell darstellen. Das ist ein Grund, warum Städte sehr viel investieren, um diese Erscheinungen zumindest an der Oberfläche des Stadtraums zu neutralisieren. Ich sage das bewusst sehr hart. Das kann sein, dass man versucht, die Zahl der Obdachlosen zu reduzieren oder dass man sie zumindest in unsichtbare Zonen bringt, damit man sie nicht im Zentrum hat, wo der Tourismus ist, wo vielleicht die Wohlbetuchten oder die qualifizierten Arbeitskräfte angezogen werden sollen. Das kann aber auch sein, dass man das Betteln reguliert oder verbietet, dass man bestimmte Formen des Sichtbaren unsichtbar macht. Diese ganz neue Form der Regulation von Armut ist eine Art der Unsichtbarmachung. Das geschieht teilweise mit sehr diffizilen und subtilen Methoden und nicht immer mit polizeilichen Maßnahmen. Insofern war die Räumung des Stadtparks eher eine Ausnahmeerscheinung. Meistens geschieht das viel subtiler, mit Hilfe von Sozialarbeit und ähnlichen Mitteln. Aber so sehe ich diesen Konnex von Ökonomie, Stadtpolitik, Wettbewerb und einer Sozialpolitik, die dieses Lebensqualitätsmodell auf Hochglanzpapier transportieren möchte.

Öffentlicher Raum? Foto: Dieter Diskovic

Sie haben einiges über den öffentlichen Raum geforscht. Glauben sie, dass die Wiener und Wienerinnen ein Bewusstsein für den öffentlichen Raum haben? Würde sich Protest regen, wenn er zu sehr privatisiert und reguliert wird?

Reinprecht: Der öffentliche Raum entsteht dadurch, dass er gelebt und angeeignet wird und die Menschen ihn für ihre Dinge nutzen. Jetzt ist Wien eine Stadt, in der der öffentliche Raum sehr stark von oben herunter reguliert und gestaltet ist. Die spontane Aneignung des öffentlichen Raumes ist etwas, das hier keine sehr lange Tradition hat oder zumindest nicht sehr verankert ist. Es gibt in den letzten Jahren verstärkte Versuche, den öffentlichen Raum kreativ und spontaner anzueignen, also zu einem wirklichen öffentlichen Raum zu machen. Die Diskussion um die Mariahilfer Straße ist natürlich ein Kristallisationspunkt. Aber an diesem Beispiel zeigt sich auch, dass die Diskussion letztlich sehr stark unter dem Gesichtspunkt ökonomischer Rentabilitätskriterien erfolgt. Es geht nicht so sehr darum, dass hier ein öffentlicher Raum entsteht, sondern primär darum, dass sie eine nette Einkaufsstraße wird. Und das ist charakteristisch für die Wiener Situation: die bekannten Orte, die wir als neue öffentliche Räume zelebrieren oder die zelebriert werden, wie zum Beispiel das Museumsquartier, sind hoch regulierte Orte, die alles andere als öffentlich im Sinne von aneigenbar und zugänglich für jedermann sind. Das ist ein sehr interessanter Aspekt für Wien, daher bin ich nicht so zuversichtlich, dass die ökonomische Aneignung, die Privatisierung, also die Unterordnung des Öffentlichen unter privatökonomische Interessen, auf viel Widerstand stößt. Es ist eher im Gegenteil ganz interessant zu beobachten, wie die sogenannte Belebung des öffentlichen Raums durch Schanigärten, durch das Aufstellen von Weihnachtsmärkten, von Ostermärkten – quasi einer Verhüttelung der Stadt - sehr positiv rezipiert wird. Es gibt hier ein ganz schräges Verständnis des öffentlichen Raums, wo diese folkloristische Art der Nutzung sehr positiv bewertet wird, während etwa die Nutzung, die daraus besteht, dass Menschen diesen Raum etwa als Arbeitsraum aneignen - nehmen wir das Thema Betteln - sehr negativ bewertet wird. Ich sehe eine starke Tendenz einer Folklorisierung des öffentlichen Raums, die ihr Echo im Selbstbild der Stadt und der Menschen findet.

Gibt es die Tendenz, Randgruppen unsichtbar zu machen, auch in anderen Ländern? Könnte man von einer Art Trend sprechen?

Reinprecht: Ja. Die soziale Frage, die ja zu Beginn im 19. Jahrhundert eher eine Frage der Arbeit war, wandelt sich in eine Frage der Armut. Der Konnex Arbeit - Armut verschiebt sich, er verändert seine Gestalt. Ein bestimmter Typus von der Gestaltung der Beziehung Arbeit - Armut, das was man als das Zeitalter der Vollbeschäftigung, der goldenen Jahrzehnte des Wohlfahrtsstaates nach dem Zweiten Weltkrieg bezeichnet, dieser hat sich sehr stark gewandelt - und zwar in Richtung eines Modells, das man in der Forschung die „ausschließende Armut“ nennt. Armut wird nicht mehr als Sonderfall wahrgenommen und definiert. Es gibt eine erhebliche größere Zahl an Menschen, die aufgrund der Transformationen am Erwerbsarbeitsmarkt in Armut, Armutsgefährdung oder Prekarisierung leben und Schwierigkeiten haben, am Wohnungsmarkt unterzukommen. Selbst wenn man beschäftigt ist, heißt das nicht, dass man mit seinem Einkommen überleben kann. Die Art, wie die Gesellschaft mit dieser Frage der Inklusion und Exklusion umgeht, hat sich seit den 1960er Jahren extrem gewandelt. Heute gibt es ein viel stärkeres Prinzip der Ausschließung. Man versucht, Armut zu individualisieren, indem man sagt: Du musst selber schauen, dass du hineinkommst, du bist selbst verantwortlich für dein Leben. Man versucht zu aktivieren: Du musst schauen, dass du dich anstrengst. Das Beispiel der Obdachlosigkeit ist in diesem Zusammenhang interessant, weil die Kluft zwischen der Art des Umgangs der Gesellschaft mit diesem Thema und der Präsenz des Phänomens so stark ist. Sie haben einen gesellschaftlichen Diskurs, der immer auf Leistung und Wohlstand und individuelle Glücksbefriedigung hinausläuft, und sie haben auf der anderen Seite eine zunehmende Präsenz von Prekarität, da ist ein großer Widerspruch. Der große Bereich jener, die sich nicht individualisieren, nicht einbinden, nicht aktivieren lassen, der im Widerspruch zum Selbstmodell der Gesellschaft steht, wird tendenziell unsichtbar gemacht. Und das ist etwas, das wir nicht nur in Österreich haben. Diese Veränderung, wie der Wohlfahrtsstaat heute funktioniert, können wir in allen europäischen Ländern weitgehend beobachten.

Durch diese Änderungen im Sozialstaat hat die Armutsmigration innerhalb der EU stark zugenommen. Wie könnte die EU, wie könnte Österreich reagieren? Momentan werden Obdachlose in Ungarn vertrieben und wenn sie nach Österreich kommen, werden sie wieder vertrieben. Gibt es Lösungsansätze, wie man das verhindern könnte?

Reinprecht: Das ist ein extrem interessanter Fall, weil sich am Beispiel der sogenannten Armutsmigration die ganze Frage aufbaut: Was ist überhaupt das Sozialmodell Europa? Es gibt noch kein Sozialmodell Europa. Es gibt keine institutionalisierte Form des Wohlfahrtsstaates auf europäischer Ebene, alles ist nationalstaatlich geregelt. Es gibt zwar zunehmend Versuche, diese Systeme zu verbinden, zu homogenisieren, aber alle diese Versuche waren in der Vergangenheit gewissermaßen aus der Perspektive des Zentrums definiert, also für Mittelschichten, für Beschäftigte in qualifizierten Berufen, die mobil sind und auf Grund dieser Mobilität auch die Systemharmonisierung benötigen. Nun wird aber dieses Prinzip der Freizügigkeit selbstverständlich nicht nur von jenen genutzt, die am Arbeitsmarkt gut integriert sind oder die auch sonst wohlhabend sind - siehe die Pensionisten, die im Alter nach Mallorca übersiedeln - sondern es wird auch von jenen Menschen realisiert, die wenig haben und diese Freizügigkeit als Möglichkeit wahrnehmen, um aus ihren teilweise sehr schwierigen Kontexten im Herkunftsgebiet zu entkommen oder Chancen wahrzunehmen, die sie vielleicht noch gar nicht genau einschätzen können. Durch ihre Wanderung im europäischen Raum konfrontieren sie Europa mit dem eigenen Prinzip der Freizügigkeit bei gleichzeitigem Fehlen eines Sozialmodells. Ich finde das aktuell eine sehr wichtige Phase, weil es die Gelegenheit gibt, dieses Sozialmodell profund zu diskutieren. Es kann nicht sein, dass das Sozialmodell nur eines für die gut integrierten ist und alle anderen in ihren Herkunftsländern bleiben sollen. Das wäre genau dieses Prinzip des Unsichtbarmachens. Im Grunde genommen kann die Lösung nur ein europäisches Sozialmodell sein, das die Frage der Armut integriert betrachtet, als etwas, das aus der Gesellschaft heraus erzeugt wird, durch ungenügende oder ungleiche Chancen im Zugang zum Arbeitsmarkt, zum Wohnungsmarkt etc.

Es gibt verschiedene Ansätze, was eine Neugestaltung des Sozialsystems betrifft. Könnten Mietobergrenzen, wie sie in letzter Zeit diskutiert wurden, eine Lösung sein?

Reinprecht: Wir haben in Österreich seit den 1980er Jahren eine sukzessive partielle Deregulierung des Wohnungsmarktes. Der Wohnungsmarkt in Österreich war sehr reguliert, auch was die Mieten betrifft. Vor allem in Wien war er durch einen hohen Anteil an Sozialwohnungsbau, Gemeindebau und öffentlich gefördertem Wohnbau geprägt. Insofern hat man die Probleme am Wohnungsmarkt lange nicht sehr ernst genommen. Die Effekte von Reformen sind ja nicht sofort sichtbar. Wenn eine Reform stattfindet, ist der Effekt erst zehn, fünfzehn Jahre später wirklich spürbar. Etwa die langfristigen Effekte der Stadterneuerung: Der Wohnraum wurde besser, aber teurer in der Weitervermietung. Noch in den 1980er Jahren gab es in Wien viel schlecht ausgestatteten Wohnungsbestand. Heute kommen in Zyklen neue und neu renovierte Wohnungen auf hohem Standard auf den schwach regulierten Markt. Die Chancenungleichheit im Zugang zum Wohnungsmarkt nimmt dadurch stark zu. Eine Deckelung der Mieten wäre daher eine ganz logische Konsequenz. Die jetzigen Mechanismen sind einfach zu weich, aus der Mieter und Mieterinnenperspektive ist die Situation sehr schwierig geworden. Wenn man diese längerfristigen Effekte der Wohnungsreformen, der Deregulierung sieht, dann wäre eine Re-Regulierung in diesem Sinn sicher sehr wünschenswert. 

Wäre das Bedingungslose Grundeinkommen einen Versuch wert?

Reinprecht:  Das Bedingungslose Grundeinkommen wäre sicherlich eine interessante Lösung, allerdings müssten meines Erachtens zwei Dinge berücksichtigt werden. Das Erste ist: es müsste darauf geachtet werden, dass es nicht an Bedingungen geknüpft ist - darum heißt es ja bedingungsloses Grundeinkommen. Ich sage das deshalb, weil die Ansätze, die es im europäischen Raum gibt, etwa das RSA (Revenu de Solidarité active) in Frankreich, zu Leistungen wie Aktivierung, Arbeitsplatzsuche und Ähnlichem verpflichtet. Der zweite wichtige Punkt wäre allerdings: das Bedingungslose Grundeinkommen ändert so lange nichts, so lange wir nicht massiv versuchen, den Arbeitsbegriff neu zu definieren. Ein Schlamassel der Gesellschaft besteht ja darin, dass das Erwerbsarbeitskonzept nach wie vor so zentral ist. Nun ist aber die Erwerbsarbeit in den letzten zwanzig, dreißig Jahren durch die Veränderung technologischer und organisatorischer Art in einer Weise strukturiert, dass sie zunehmend jene Elemente niedrig hält, die gesellschaftliche Integration über den reinen Einkommenserwerb gewährleisten. Was ich damit sagen will: Erwerbsarbeit wird zunehmend nur unter Effizienzkriterien gesehen, unter dem Gesichtspunkt der ökonomischen Rationalität und immer weniger unter dem Gesichtspunkt der Kommunikation, der Solidarität, der Gemeinschaft oder der gemeinschaftlichen Interessen. Diese entsolidarisierende Funktion der Erwerbsarbeit ist eigentlich ganz grotesk, weil es ja früher genau das Gegenteil war: da war Erwerbsarbeit das integrative Element. Heute ist Erwerbsarbeit gewissermaßen das spaltende Element und das weist darauf hin, wie wichtig es wäre, den Arbeitsbegriff vom Erwerbsarbeitsbegriff herauszulösen und die Debatte um das Bedingungslose Grundeinkommen an die Redefinition des Arbeitsbegriffes zu knüpfen. Ich halte das für ganz, ganz entscheidend, denn nur dann gelingt es auch, aus all jenen, die ein Grundeinkommen beziehen, aber nicht am Erwerbsarbeitsmarkt integriert sind, nicht wieder stigmatisierte, marginalisierte Out-Groups zu machen. Es geht um eine Redefinition: Was ist überhaupt der Kern der gesellschaftlichen Eingliederung? Und das kann nicht nur und sollte nicht nur die Erwerbsarbeit sein.

 

Christoph Reinprecht ist Soziologe an der Universität Wien. Seine Forschungsschwerpunkte sind Sozialstruktur und soziale Ungleichheit, politische Soziologie, Soziologie der Migration und Stadtsoziologie.

Das Interview führte Dieter Diskovic. Er hat Kultur- und Sozialanthropologie studiert und engagiert sich bei der Screaming Birds Aktionsgruppe.

 

God loves Uganda

  • 22.12.2013, 12:41

Im Rahmen des Menschenrechtsfilmfestivals This Human-World stellte Regisseur Roger Ross Williams seinen neuen Dokumentarfilm „God Loves Uganda“ vor. Ein Film über den Einfluss der amerikanischen christlichen Rechten auf die ausufernde gesellschaftliche und politische Homophobie in Uganda.

Im Rahmen des Menschenrechtsfilmfestivals This Human-World stellte Regisseur Roger Ross Williams seinen neuen Dokumentarfilm „God Loves Uganda“ vor. Ein Film über den Einfluss der amerikanischen christlichen Rechten auf die ausufernde gesellschaftliche und politische Homophobie in Uganda.

Uganda ist ein Land, in dem beinahe 50% der Menschen jünger als fünfzehn Jahre alt sind, 85% einer christlichen Glaubensgemeinschaft angehören und das tendenziell pro-westlich eingestellt ist. Diese Fakten machen den kleinen ostafrikanischen Staat zu einem strategisch wichtigen Ziel für evangelikale Missionare aus den Vereinigten Staaten. Während viele von ihnen den Kampf um streng christlich-konservative Werte in den USA für verloren halten, sehen sie in Uganda das Potential für einen christlichen Gottesstaat. Nach dem Sturz des Diktators Idi Amin im Jahr 1979 entstand ein Machtvakuum, das bald von evangelikalen Kirchen gefüllt wurde.

„Kill the Gays“ - der Hass auf nicht-heterosexuelle Lebensentwürfe

Der US-amerikanische Regisseur Roger Ross Williams hatte bereits einige Jahre in Zimbabwe seine Oscar-gekrönte Kurzdokumentation „Music by Prudence“ gedreht, als er den enormen Einfluss des fundamentalistischen Evangelismus auf dem Kontinent und die daraus entstandene Intoleranz gegenüber andersgläubigen und homosexuellen Menschen bemerkte. Obwohl es etliche afrikanische Staaten gibt, die eine noch strengere Gesetzgebung gegen Homosexualität haben, entschied er sich für Uganda, das wegen der geplanten* Verabschiedung der Uganda Anti-Homosexuality Bill – gemeinhin auch „Kill the Gays Bill“ genannt – im Mittelpunkt der internationalen Aufmerksamkeit stand.
Für „God Loves Uganda“ folgt der vierzigjährige Regisseur einer Gruppe junger Mitglieder des  „International House of Prayer“ auf ihrer ersten Auslandsmission, bei der Andersgläubige bekehrt, Homosexuelle geheilt und einheimische Missionare ausgebildet werden sollen. „Ich glaube, sie sind einfach fehlgeleitet, sie glauben, dass Gott sie lenkt. Aber wenn man sich mit ihnen hinsetzt, sind sie echt nett. Das war mir wichtig, diese Leute nicht zu verteufeln.“ Weitere Protagonist_innen sind Lou Engle, ein führender Kopf der amerikanischen evangelikalen Rechten, Pastor Scott Lively, Autor des Buches „The Pink Swastika - Why and How to Defeat the Gay Movement“, in dem Homosexuellen die Schuld am Nationalsozialismus gegeben wird, sowie der ugandische Pastor Martin Ssempa, der durch seine fanatischen und bizarren Reden bereits zu einer Youtube-Berühmtheit geworden ist („Eat da Poo Poo“).
Roger Ross Williams lässt die Schlüsselfiguren ausführlich in Interviews und scheinbar beiläufigen Gesprächen zu Wort kommen, er zeigt sie bei ihren Bekehrungsversuchen, Predigten und beim ekstatischen Zungenreden. Die mitreißenden Bilder und die extremistischen Statements der Protagonist_innen sprechen für sich und machen jeden Off-Kommentar überflüssig. Manche Szenen haben durchaus humoristisches Potential, etwa wenn Pastor Martin Ssempa vermeintlich typisch schwule Praktiken anhand von SM-Bildern vorführt, das Lachen bleibt einem jedoch spätestens in der Kehle stecken, wenn die Gesichter seiner fanatisierten Kirchengemeinde in das Blickfeld der Kamera rücken. Oder, wie es ein Bürgerrechtler ausdrückt: „Wenn sie in Uganda predigen, dürfen sie nicht vergessen, dass die Leute hier das Gesetz in die eigene Hand nehmen“.

Während der Zeit des Filmdrehs wurde der prominente Schwulenaktivist David Kato mit einem Hammer erschlagen, nachdem eine ugandische Zeitung die Fotos, Namen und Adressen von hundert angeblich homosexuellen Menschen veröffentlicht hatte. Bei Katos Begräbnis, einem traurigen Höhepunkt des Films, kommt es zum Eklat, als ein anglikanischer Priester das Wort ergreift und gegen Homosexualität wettert. Nach einer Auseinandersetzung wird ihm das Mikrofon entrissen, die Predigt wird schließlich von einer weiteren Schlüsselfigur des Films, Bischof Christopher Senyonjo, der wegen seines Kampfes für LGBTI-Rechte bereits exkommuniziert wurde, gehalten.

Unafrikanische Homosexualität?

Dabei war die Situation in Uganda für nicht-heterosexuelle Lebenskonzepte bereits wesentlich besser. Jahrzehntelang wurden Schwulenbars toleriert, die Buganda, die größte Ethnie Ugandas, hatte sogar einen offen schwulen König. Die geplante Uganda Anti-Homosexuality Bill sieht die Todesstrafe für gewisse homosexuelle Aktivitäten vor, Angehörige und Freunde müssten mit sieben Jahren Gefängnis rechnen, wenn sie Homosexuelle nicht denunzieren. Dieser Gesetzesentwurf geht auf eine Initiative amerikanischer Evangelikaler zurück. Vor allem Pastor Scott Lively, der in den USA eher als wenig einflussreicher Sonderling gilt, hat in Uganda ein neues Betätigungsfeld entdeckt. Er hielt im Parlament von Uganda eine vierstündige Rede, in der er vor den Gefahren der Homosexualität warnte. Bei der Wahl seiner „Argumente“ war er nicht wählerisch: das Hauptziel der „homosexuellen Lobby“ ist die Zerstörung der ugandischen Gesellschaft durch die Rekrutierung und „Homosexualisierung“ von Kindern.
Aber auch in einer anderen Hinsicht hat der Einfluss der amerikanischen Evangelikalen fatale Auswirkungen. In den neunziger Jahren hatte Uganda mit 18% die höchste AIDS-Rate Afrikas. Durch ehrgeizige und kostenintensive Aufklärungsprogramme der amerikanischen und ugandischen Regierung unter dem Motto „Abstinenz, Treue und Kondome“ konnte die Zahl bis zum Jahr 2000 auf erstaunliche fünf Prozent gesenkt werden. Unter George W. Bush wurde dieses Projekt aus ideologischen Gründen geändert: die Bewerbung von Kondomen wurde mit dem Einfrieren von staatlichen Fördergeldern geahndet, der Fokus lag nun ausschließlich auf Abstinenz – ein Konzept, das die Lebensrealität der Menschen ignoriert und das ehemalige Vorzeigeland der AIDS-Bekämpfung weit zurückwarf.

Regisseur Roger Ross Williams. Foto: Dieter Diskovic.

Laut Regisseur Roger Ross Williams ist Uganda für die amerikanischen christlichen Fundamentalist_innen bloß ein Testlauf für eine Ausweitung der Missionierung auf andere afrikanische Staaten. Umso wichtiger ist die Aufklärung über diese international nur wenig bekannte Entwicklung. „God Loves Uganda“ wurde auf die Oscar-Shortlist für die beste Dokumentation 2014 gesetzt. Ein Erfolg ist Roger Ross Williams nicht nur wegen der aufklärerischen Effekte zu wünschen, sondern auch, weil ihm mit „God Loves Uganda“ ein fesselnder und zugleich verstörender Film gelungen ist, der die Zuseher_innen noch lange nach dem Filmende beschäftigt.

* Nachtrag: Nach jahrelanger Debatte wurde am 20. Dezember 2013 der Uganda Anti-Homosexuality Bill verabschiedet. Statt mit der geplanten Todesstrafe werden homosexuelle Handlungen mit lebenslanger Haft bestraft.

 

Der Autor (geb. 1979), lebt in Wien. Er hat Kultur- und Sozialanthropologie studiert und engagiert sich bei der Screaming Birds Aktionsgruppe.

Wer hat uns verraten? - Proteste gegen die Regierungsangelobung

  • 17.12.2013, 18:20

Gegen die Auflösung eines eigenen Wissenschaftsressorts durch die neue Regierung entsteht breiter Widerstand. Dieter Diskovic berichtet von der Demonstration gegen die Regierungsangelobigung und die Trauerkundgebung der ÖH vor dem Wissenschaftsministerium.

Gegen die Auflösung eines eigenen Wissenschaftsressorts durch die neue Regierung entsteht breiter Widerstand. Die Regierungsangelobung der Koalition aus SPÖ und ÖVP in der Wiener Hofburg wurde von einem gellenden Pfeifkonzert begleitet. Anschließend wurde die freie Wissenschaft von Aktivist_innen vor dem  Wissenschaftsministerium symbolisch begraben. Weitere Proteste sind geplant.

„Wer hat uns verraten? Sozialdemokraten! Wer war mit dabei? Die Volkspartei!“ und „Heinzi! Tuas ned!“ - das waren heute die zwei beliebtesten Slogans der Demonstrant_innen am Ballhausplatz. Seit dem schwarz-blauen Experiment gab es keinen so großen Widerstand gegen die Angelobung einer neuen Regierung. Die Hofburg selbst war vorsorglich weitläufig abgeriegelt worden. Die lautstarken Proteste dürften in den Gehörgängen der Politiker_innen zwar angekommen sein, das Ziel der Kundgebung wurde jedoch – wenig überraschend – nicht erreicht: begleitet von einer Blasmusikkapelle wurde die neue Regierung von Bundespräsident Heinz Fischer angelobt.  

Foto: Dieter Diskovic

Anschließend rief die ÖH zu einer Begräbniszeremonie auf. Vor dem (ehemaligen?) Bundesministerium für Wissenschaft und Forschung wurde die freie Wissenschaft in einem Sarg symbolisch zu Grabe getragen. Neben Grabkerzen und Blumenschmuck konnten sich die Trauergäste in ein überdimensionales Kondolenzbuch eintragen. Auch einige Personen, die zu diesem Zeitpunkt gerade das Wissenschaftsministerium verließen, hinterließen der freien Wissenschaft spontan eine letzte Widmung.

Foto: Dieter Diskovic

Ein universitärer Schulterschluss?

Ein Ende der Proteste ist damit freilich noch lange nicht zu erwarten. Bemerkenswert ist vielmehr die ungewohnte Einigkeit zwischen der Österreichischen Hochschülerschaft und den Rektor_innen. Zahlreiche Universitäten erklärten den 17. Dezember zum vorlesungsfreien Tag, um den Studierenden die Teilnahme an den geplanten Großdemonstrationen zu ermöglichen, die Universitätenkonferenz beschloss, als Zeichen des Protests für den Verlust des eigenständigen Wissenschaftsministeriums die Unis schwarz zu beflaggen. Der ehemalige Wissenschaftsminister Karlheinz Töchterle beklagte in einem Interview den brutalen Umgang der Politik mit der Wissenschaft, auch Christoph Badelt, der Rektor der Wirtschaftsuniversität, sparte nicht mit Kritik. Selbst die VP-nahe AktionsGemeinschaft (AG) forderte in einem offenen Brief an Wirtschafts- und Neo-Wissenschaftsminister Reinhold Mitterlehner von der ÖVP die Wiedereinrichtung eines eigenen Wissenschaftsressorts. Auch außerhalb von Universitäten und Politik formiert sich breiter Widerstand: die Facebook-Gruppe „Österreich braucht ein Wissenschaftsministerium“ erreichte innerhalb weniger Tage über 50.000 „Gefällt mir“-Angaben – eine Zahl von der die Koalitionspartner nur träumen können.

Foto: Dieter Diskovic

Wissenschaftsministerium: gegründet 1970 von Bruno Kreisky, aufgelöst 2013 von Werner Faymann

Es ist schwer zu sagen, ob hinter der Auflösung des Wissenschaftsministeriums ein größerer Plan steht oder ob die Umstrukturierung hauptsächlich aus den für die große Koalition typischen Machtkämpfen um unzählige Partikularinteressen verschiedener Landesgruppen und Lobbys entstanden ist. Tatsache ist jedoch, dass neben der verheerenden Symbolik auch eine reale Gefahr von dieser Fusion ausgeht. Bereits in den letzten Jahren war eine Unterordnung der Universitäten und der Wissenschaft unter Wirtschaftsinteressen klar erkennbar: sei es durch eine Verschulung der Universitäten, dem finanziellen Aushungern von Sozial- und Geisteswissenschaften, das bis zur Auflösung des systemkritischen Bachelor-Lehrgangs „Internationale Entwicklung“ reicht, oder der Benennung der neuen WU-Räumlichkeiten nach ihren Sponsoren („Red Bull Auditorium“, „Siemens-Auditorium“ etc.).  Oder, wie es die ehemalige Studierendenvertreterin und Neoabgeordnete (Die Grünen) Sigrid Maurer auf ihrem Blog ausdrückt: „Die Aufgabe der Hochschulen und der Wissenschaft liegt aber nicht in der Sicherstellung ökonomischen Wachstums. [...] Es ist aber sehr wohl Aufgabe eines dem Anspruch nach demokratischen Staates, die Rahmenbedingungen für kritische Wissenschaft zu gewährleisten.“

Foto: Dieter Diskovic

Das Thema ist mitnichten ein Neues. Schon die im Jahr 2009 entstandene „Uni brennt!“-Bewegung kritisierte unter dem Motto „Bildung statt Ausbildung“ die Ökonomisierung der Universitäten. Die beherrschenden Themen waren der Bologna-Prozess, Studiengebühren und der freie Hochschulzugang. Auf die Solidarität der Rektor_innen konnte die Bewegung damals nicht zählen.  Bereits im Jänner 2010 waren alle besetzten Räumlichkeiten – auch auf Anweisung der Rektor_innen – von der Polizei geräumt. 

Foto: Dieter Diskovic

Diesmal steht der Protest auf breiteren Beinen. Es bleibt abzuwarten, ob die Regierung den Protest, der zu einem beträchtlichen Teil auch aus den eigenen Reihen kommt, ernst nimmt oder wieder auf die altbewährte Taktik des „Aussitzens“ setzt.

Foto: Dieter Diskovic

Dieter Diskovic (geb. 1979) studiert Kultur- und Sozialanthropologie an der Universität Wien und engagiert sich bei der Screaming Birds Aktionsgruppe.

Alle böse außer uns. Ungarns nationalistischer Umbruch

  • 02.12.2013, 20:43

Marschierende Paramilitärs, ein repressives Mediengesetz, „Zwangsarbeit“ für Arbeitslose, der Versuch, Obdachlosigkeit per Dekret abzuschaffen und zig andere bedenkliche Gesetzes- und Verfassungsänderungen sind Teil einer besorgniserregenden politischen und gesellschaftlichen Entwicklung in Ungarn.

Marschierende Paramilitärs, ein repressives Mediengesetz, „Zwangsarbeit“ für Arbeitslose, der Versuch, Obdachlosigkeit per Dekret abzuschaffen und zig andere bedenkliche Gesetzes- und Verfassungsänderungen sind Teil einer besorgniserregenden politischen und gesellschaftlichen Entwicklung in Ungarn. Nach den Wahlen 2010 inszeniert sich die ungarische Politik immer häufiger mit Folklore und geschichtlich belasteter Symbolik. Wie ein Vogel und das Trauma von einem zerbrochenen Reich den ungarischen Nationalismus stärken.

Miklós Horthy, ehemaliger ungarischer Reichsverweser und Verbündeter Adolf Hitlers, kommt in Ungarn in den letzten Jahren wieder in Mode. Anfang November dieses Jahres wurde ihm ein weiteres Andenken gesetzt: Am Szabadság Platz, vor der reformierten Kirche, inszenierte die faschistische Jobbik-Partei mit Unterstützung des rechtsextremen Pastors Lóránt Hegedüs vor etwa hundert Sympathisant_innen eine Zeremonie und enthüllte eine Statue jenes Mannes, unter dem 1920 mit einem Numerus Clausus für jüdische Student_innen das erste antisemitische Gesetz im Nachkriegseuropa eingeführt wurde. Die Einweihung der Statue ist indes nur ein weiterer Mosaikstein im Vorhaben der nationalkonservativen Fidesz-Regierung unter Ministerpräsident Viktor Orbán, das Land nach ihren Vorstellungen zu positionieren und auszurichten: ein Ungarn ausschließlich für die Ungar_innen, gedacht als grenzüberschreitende Nation mit Rückbesinnung auf christlich-konservative Werte und Stärkung des „Magyarentums“.

 

Die Wahlen 2010 als Spiegelbild der eigenen Geschichte

Im Frühjahr 2010 erreichte der rechtskonservative Fidesz (Ungarischer Bürgerbund) 53% der Wähler_innenstimmen und regiert dank des Mehrheitswahlrechts mit einer parlamentarischen Zweidrittelmehrheit. Mit knapp 17 % Stimmenanteil errang die neofaschistische Jobbik („Die Besseren“/Die „Rechteren“) 12 % der Mandate und zog sieben Jahre nach ihrer Gründung erstmals ins Abgeordnetenhaus ein. Die zuvor regierenden Sozialdemokrat_innen (MSZP) wurden mit nur 19 % der Wähler_innenstimmen regelrecht von ihren Regierungsposten gejagt. Hauptgrund für dieses schlechte Abschneiden war die  berühmt gewordene „Lügenrede“ des damaligen Ministerpräsidenten Ferenc Gyurcsány, bei der dieser zugab, ein Budgetloch bewusst verschwiegen zu haben, um bei den Wahlen 2006 als Sieger vom Platz gehen zu können. Als vierte Partei sicherten sich noch die Grünen mit knapp 7,5 % der Stimmen ihren Verbleib in Ungarns höchster politischer Spielklasse.

Büste von Miklós Horthy (Foto: Mindenki joga)

Die Jobbik unter Parteichef Gabor Voná kündigte bereits kurz nach den Wahlen an, im Land „aufräumen zu wollen“ - wozu ihnen auch der Einsatz einer paramilitärischen und optisch an die nationalsozialistischen Pfeilkreuzler (unter ihnen wurde eine halbe Million ungarische Juden und Jüdinnen deportiert) angelehnten „Ungarischen Garde“ recht ist. Die Garde dient dazu, durch Aufmärsche und Gewalttaten Angst unter politischen Gegner_innen und gesellschaftlichen Minderheiten zu verbreiten. Ideologisches Bindeglied ist der Opfermythos rund um den Trianon-Vertrag von 1920, der zum Spielball der Politik geworden ist. Durch diesen Vertrag verlor Ungarn 2/3 seiner Staatsgebiete, der Grenzverlauf wurde von den Siegermächten ohne Einbeziehung Ungarns und der in Ungarn lebenden Menschen gezogen. Die Rückgabe der verloren Gebiete ist eine ständige Forderung der ungarischen Rechten.

Auch die Regierungspartei Fidesz ist den großungarischen Ansprüchen nicht abgeneigt und unterstreicht ihre Haltung durch eine Staatsbürger_innenschaftsreform, die auch „ungarischstämmigen“ Menschen außerhalb der Staatsgrenzen einen ungarischen Pass garantieren soll. Die Latte, um die ungarische Staatsbürgerschaft zu ergattern, ist nicht sonderlich hoch gelegt. So genügt es vorzuweisen, dass man vor 1920 oder zwischen 1938 und 1945 zumindest einen verwandten Vorfahren mit ungarischem Pass hatte. Die oftmals angesprochenen „fließenden Ungarischkenntnisse“ entpuppen sich bei genauerer Betrachtung als Farce: so genügt es häufig, nur ein paar wenige Floskeln Ungarisch zu beherrschen, um an den begehrten Pass des EU-Mitgliedslandes zu gelangen.

Die Stärkung nach außen geht mit der Schaffung eines inneren Feindes einher, so hetzen Fidesz wie Jobbik seit Jahren gegen Roma, Juden und Jüdinnen, Linke sowie Liberale und seit den letzten Monaten vermehrt auch gegen Obdachlose - es muss sauber sein im Land, jegliche Zeichen eines Makels gilt es unsichtbar zu machen und aus dem öffentlichen Raum zu verdrängen. Mit einer Verfassungsänderung schuf das ungarische Parlament 2013 die gesetzliche Grundlage dafür, dass Kommunen „obdachloses Verhalten“ per se als kriminell erklären und sanktionieren dürfen. Doch der Wandel hin zu einem speziell völkisch geprägten Nationalismus geschah nicht über Nacht.

Rechtsradikale Paramilitärs (Foto: Dieter Diskovic)

Turan Turan – rechte Ideologie und Neopaganismus

Das in weiten Teilen der ungarischen Bevölkerung verwurzelte rechte Gedankengut ist Produkt einer jahrzehntelangen Entwicklung, mitnichten kann man von einem plötzlichen „Rechtsruck“ sprechen. Selbst in der Ära des so genannten „Gulaschkommunismus“ ab 1956 versuchte sich die Regierung mit positivem Bezug auf den ungarischen Nationalismus Legitimität in der Bevölkerung zu verschaffen. Das völkische Denken ist heute in großem Ausmaß bei der nationalkonservativen Regierungspartei Fidesz und bei der neofaschistischen Oppositionspartei Jobbik vorhanden, jedoch selbst bei Teilen der tendenziell liberalen bis links stehenden Parteien wie der sozialdemokratischen MSZP und den Grünen anzutreffen. Das völkische Denken zeichnet sich durch einen ausschließenden Nationalismus, den Glauben an eine ethnisch-homogene Abstammungsgemeinschaft und eine Abgrenzung gegen vermeintliche innere und äußere Feinde aus.

Neben den allgegenwärtigen Bezügen auf die ungarische Nation und das Christentum hat sich in den letzten Jahren in Teilen der Bevölkerung eine Rassentheorie aus dem 19. Jahrhundert etabliert: der Turanismus. Diese Ideologie geht von einer gemeinsamen Abstammung von Ungarn, Türken, Esten, Finnen, Mongolen, Mandschuren und Jakuten aus, in manchen Auslegungen soll sich die „turanide Rasse“ gar bis Japan erstrecken. Der Turanismus, der unter anderem auch von den rechtsextremen türkischen Grauen Wölfen vertreten wird, steht in Ungarn für eine Abwendung von Westeuropa hin zu den asiatischen Ursprüngen der ungarischen Zivilisation. Auf zahlreichen völkischen Festivals feiern hunderttausende Besucher_innen ein Magyarentum, das mit der historischen Realität nur wenig zu tun hat. Unterstützt von den Abstammungslehren zweifelhafter rechter „Historiker_innen“ inszeniert man sich als wildes, edles und vor allem verfolgtes Reitervolk aus dem Osten.

Das Symbol des Turanismus ist der Turul, ein mythischer Vogel zwischen Adler und Falke, der die Magyaren von Asien nach Europa gebracht haben soll. Welche identitätsstiftende Bedeutung dieses Fabelwesen für die ungarische Rechte mittlerweile hat, zeigt der Kampf um eine 2005 errichtete Turul-Statue im 12. Budapester Gemeindebezirk. Die Figur des Turul wurde in der Zeit des Zweiten Weltkrieges von den faschistischen Pfeilkreuzlern intensiv verwendet und ist deshalb massiv vorbelastet. Dennoch ließ es sich der Bezirksvorsteher der heutigen Regierungspartei Fidesz im Jahr 2005 nicht nehmen, eine mit faschistischen Symboliken gespickte und von der damaligen links-liberalen Stadtverwaltung Budapests nicht genehmigte Turul-Statue aufzustellen. In den folgenden Jahren versuchte die Budapester Stadtregierung immer wieder, diese illegal errichtete Skulptur abreißen zu lassen, was durch Aufmärsche der paramilitärischen und rechtsextremen Ungarischen Garde wiederholt abgewehrt werden konnte. 2008 wurde die Statue sogar von Vertretern christlicher Kirchen gesegnet. 2010 war es eine der ersten Maßnahmen der neu gewählten Fidesz-Regierung, diesen mittlerweile „heiligen“ Turul durch ein eigenes Gesetz legalisieren zu lassen.

Turul (Bild: Dieter Diskovic)

Aber selbst damit nahm das Trauerspiel um das bronzene Fabeltier noch kein Ende. 2009 wollte die britische Künstlerin Liane Lang auf die antisemitische und rassistische Symbolik der Statue aufmerksam machen und fotografierte den Turul mit einer Plastikhand im Schnabel. Die Reaktion folgte nur einen Tag später: das Budapester Holocaust-Mahnmal „Schuhe am Donauufer“, das an die Ermordung ungarischer Jüdinnen und Juden durch Pfeilkreuzler erinnern soll, wurde von Unbekannten geschändet. Die bis heute nicht gefassten Täter_innen hatten blutige Schweinshaxen in die Schuhe gesteckt.

Ungarn – das „Palästina Europas“?

Die ungarische extreme Rechte ist aufgrund ihrer Gebietsforderungen an alle Nachbarländer international isoliert, die Suche nach östlichen Bündnispartnern hat also durchaus auch strategische Gründe. Die Jobbik etwa sieht den Iran als „Brudervolk“, der dort weit verbreitete Antizionismus deckt sich auch mit der eigenen Ideologie. Im ungarischen rechtsextremen Milieu sieht man sich als beständiges Opfer äußerer Einflüsse, in politischen Ansprachen stellt man sich gar als das „Palästina Europas“ dar.. Der Fidesz, zwar auch Teil der ungarischen Rechten, doch minder ausgegrenzt, stellt mit Viktor Orbán seit 2002 sogar den Vizepräsidenten der Europäischen Volkspartei und wird auch von Österreichs höchstem kirchlichen Würdenträger geschätzt. So ließ es sich Kardinal Christoph Schönborn 2012 nicht nehmen, die ungarische Regierung ob ihrer Standhaftigkeit zu den christlichen Werten zu loben (im Gegenzug wurde ihm im ungarischen Parlament das „Großkreuz für Verdienste um den Staat Ungarn“ verliehen).

Zusätzlich zu völkischem Gedankengut und Turanismus gibt es ein weiteres Element, das nur auf den ersten Blick dem stets betonten Christentum widerspricht: eine mythische Erhöhung der ungarischen Nation, die nicht selten einen neopaganistischen Charakter aufweist. Ein Höhepunkt dieser Entwicklung ist der „Tempel Karpatenheimat“ in Veröce, in dem statt Gott das Magyarentum, die Stephanskrone und der Turul angebetet werden. Selbst in das Parlament hat es der Schamanismus bereits geschafft: im März 2012 wurde ein schamanisches Tanzritual zum Schutz der „Heiligen ungarischen Krone“ abgehalten. Im gleichen Jahr war bereits die neue Verfassung in Kraft getreten, der ein „nationales Glaubensbekenntnis“ vorangestellt wurde.

Bei den kommenden Wahlen im Frühjahr 2014 dürfte sich in Ungarn aber nur wenig ändern. Jüngste Umfragen sehen den Fidesz bei 45 – 50 %, wobei auch ein Wiedererlangen der parlamentarischen 2/3 Mehrheit nicht undenkbar ist. Möglich macht das auch eine Wahlrechtsreform des Fidesz, in der verschiedene Wahlbezirke zugunsten der Regierungspartei zusammengelegt wurden. Von der (liberalen) Opposition ist nicht viel zu sehen, anstatt eigene Programme zu forcieren und dadurch das Profil zu schärfen, begnügt man sich mit Anti-Orbán-Rhetorik. Das hat verheerende Auswirkungen: die sozialdemokratische MSZP stagniert bei etwa 22 %, gefolgt von der rechtsextremen Jobbik (14 %) an der dritten und dem liberalen Wahlbündnis „Gemeinsam 2014“ (8 %) an der vierten Stelle. Die restlichen Parteien, darunter die Grünen und die Demokratische Koalition (DK) des ehemaligen Ministerpräsidenten Ferenc Gyurcsány, können als „ferner liefen“ eingestuft werden.

Einen Wandel zu einem wirklich demokratischen Ungarn können aber nur die Ungar_innen selbst erreichen. Trotz vieler kleiner oppositioneller Initiativen, häufig außerhalb des Parteienspektrums, dürfte es bis dahin noch ein weiter Weg sein.

 

Als weiterführende Lektüre empfehlen wir:

KOOB, Andreas et al. 2013. Mit Pfeil, Kreuz und Krone. Nationalismus und autoritäre Krisenbewältigung in Ungarn. Unrast Verlag.

Dieter Diskovic (geb. 1979), lebt in Wien. Er ist Student der Kultur- und Sozialanthropologie, Sozialarbeiter und Musiker bei der Band Collapsing New People.

Gabriel Binder (geb. 1987), lebt in Wien und ist Angestellter und freier Schriftsteller.

Beide engagieren sich bei „Screaming Birds“, einer 2012 gegründeten Gruppe, die sich gesellschaftskritisch und in verschiedenen Formen politischen Themen widmet.

 

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