Februar 2013

Banale Kämpfe?

  • 25.02.2013, 17:37

Bereits in seinem Untertitel Perspektiven auf Populärkultur und Geschlecht macht der Sammelband einen Fokus deutlich, dessen Definition in der Politikwissenschaft, Soziologie und Philosophie eigentlich heftig umstritten ist. Denn  meist spaltet sich das Feld der Auseinandersetzung mit Popkultur in die Kritische Theorie, die Pop als kapitalistisch geprägten kulturindustriellen Massenbetrug begreift, und in die Cultural Studies, die im Pop einen Stachel im Fleisch der Hoch- und Volkskultur sehen. Einig ist man sich aber darin, dass sich in der Popkultur nicht nur aktuelle Themen, sondern auch kapitalistische Verwertungslogiken, Geschlechtervorstellungen und Normverschiebungen  widerspiegeln.

Das Herausgeber_innen-Kollektiv rund um Paula- Irene Villa hat eine Reihe ausführlicher Beiträge zusammengetragen, von den Gründer_innen des Missy Magazines, die Popkultur und Dritte-Welle- Feminismus reflektieren, über Ellen  Wesemüller, die die Bedeutung von Haaren für eine Inszenierung geschlechtlicher und sexueller Identitäten diskutiert, is hin zu Demet Lüküslüs‘ Studie der türkischen  HipHop-Szene in Deutschland. Sookie, Tara, Pam und Jessica. Julia Jäckel analysiert in ihrem Artikel Konstruktionen von Weiblichkeit in Bezug auf Agency am Beispiel der Figuren Sookie Stackhouse und Tara Thornton sowie der Vampirinnen Pam und Jessica aus der Fernsehserie True Blood. Der Beitrag überzeugt durch Sprachspiel ebenso wie durch die Anwendung theoretischer Konzepte wie beispielsweise jenem der Maskerade, das sich auf die Verführungs- und damit Handlungsfähigkeit Pams bezieht.

Paula-Irene Villa untersucht unter dem Titel „Pornofeminismus?“, ob (Selbst-)Pornografisierung als eine Form des Empowerments gelesen werden kann. Dabei werden bürgerliche Moralvorstellungen und die feministische Debatte um  Alice Schwarzers Kampagne „PorNO“ sowie Selbstermächtigungen und deren Möglichkeiten diskutiert. Erörtert werden Villas Überlegungen anhand des Beispiels der Performance von Lady Gaga in ihrem aufsehenerregenden Kleid aus  Fleisch, das entweder die Metapher der „Fleischbeschau“ nahelegt – oder deren Skandalisierung. Villa interessiert sich für genau jene Ambivalenz zwischen Kritik und Anpassung, Aneignung und Opferrolle. Insgesamt beinhaltet der  Sammelband eine große thematische Bandbreite auf hohem Niveau. Für TV-Junkies jedenfalls wird eine Reflexion ihrer Lieblingsserien wie True Blood, The L-Word oder 24 auf einer theoretischen Metaebene geliefert, die garantiert  spannende und vor allem neue Einsichten verspricht.

Stecken geblieben

  • 25.02.2013, 17:32

Plötzlich macht es einen Ruck und man steckt fest. Ein Albtraum für viele. Alltag für LiftbefreierInnen.

Plötzlich macht es einen Ruck und man steckt fest. Ein Albtraum für viele. Alltag für LiftbefreierInnen.

Der Aufzug muss genau in Parkposition stehen. Tut er das nicht, genügen oft schon ein paar Zentimeter, damit er stecken bleibt. „Das ist eigentlich die häufigste Ursache“, sagt Leopold Miklos. Er ist seit knapp 21 Jahren Hausbesorger der Stadt Wien, betreut mehrere Stiegen eines Wohnhauses im 22. Wiener Gemeindebezirk und wird von den meisten „Herr Miklos“ genannt. Bei zwei bis fünf Notbefreiungen im Jahr hat er im Zuge seiner 21jährigen Laufbahn rund 200 Menschen aus dem Lift befreit. „Wenn ich jetzt so darüber nachdenke, ist das schon einiges“, lacht Herr Miklos. „Ich hab 124 Wohnungen. Da hab ich jeden schon mal rausgeholt – theoretisch.“

Notruf. Das Wiener Aufzugsgesetz von 2007 stellt sicher, dass man eine halbe Stunde nach dem Notruf aus dem Lift befreit werden muss. Dazu sind neben den HausbesorgerInnen nun auch die Aufzugunternehmen selbst verpflichtet. Eines dieser Unternehmen ist die Firma Otis. „Wien hat eines der strengsten Aufzugsgesetze Europas“, erklärt Mario Zistler, Abteilungsleiter im Service Support und Chef der OtisLine. Hier geht im Durchschnitt zwei bis drei  Mal am Tag ein Notruf für eine der 23.000 von Otis betreuten Liftanlagen in ganz Österreich ein. Seit 2007 wurde in allen Aufzügen eine Sprechanlage eingebaut. Wer in die unangenehme Situation gerät, im Aufzug gefangen zu sein, kann so problemlos mit der Zentrale kommunizieren. Man ist also nicht ganz allein im Lift. „Manche reagieren in dieser Situation erst mal etwas panisch“, sagt Mario Zistler: „Aber in der Regel können wir sie schnell wieder beruhigen.“

In der OtisLine sieht man außerdem die genaue Position des Lifts, ob die Lifttüren offen oder geschlossen sind und die Adresse des Gebäudes. So kann oft schon reagiert werden, bevor noch irgendjemandem im Haus aufgefallen ist, dass der Lift steht. Das Schlimmste, das passieren kann, ist, dass eine eingesperrte Person im Aufzug klaustrophobisch wird. „Dann kann es passieren, dass sich die Person versucht selbst zu befreien und sich dabei verletzt. Oder dass sie eine Panikattacke bekommt“, sagt Zistler: „Deswegen rufen wir in solchen Fällen auch gleich Rettung und Feuerwehr dazu. So etwas kommt aber ganz selten vor.“

Sprechanlage. Die Verbindung zur Sprechanlage wird alle drei Tage von der OtisLine kontrolliert. Dadurch kann ein Ausfall fast ganz ausgeschlossen werden. „Es kann nur vorkommen, dass der Hausbesitzer die Telefonrechnung nicht bezahlt hat. Auch die Sprechanlage in den Aufzügen läuft über einen Telekom- Anschluss“, sagt Mario Zistler. Stellt die OtisLine fest, dass die Leitung tot ist, verständigt sie sofort den oder die HausbesitzerIn. Funktioniert eine Sprechanlage nicht, wird der Aufzug von der Wiener Baupolizei gesperrt. Kann ein Aufzug denn auch abstürzen, wie man es in den Filmen sieht? „Ein Aufzug kann nicht abstürzen“, versichert Mario Zistler. Schon 1853 entwickelte Elisha  Graves Otis eine Sicherheitsbremse, die mittels einer Fangvorrichtung den Absturz der Kabine verhindert. „Da bräuchte man schon mehrere Sprengladungen“, sagt Mario Zistler: „Es ist einfacher, das Gebäude umzureißen, als den  Lift zum abstürzen zu bringen.“

Eine weitere Neuerung des Aufzuggesetzes 2007 war der Einbau von automatischen Schiebetüren. Dadurch sind vor allem die schweren Unfälle mit Aufzügen stark zurückgegangen.  „Vielen Leuten ist der Schlüssel in den Spalt  wischen Aufzug und Tür runtergefallen“, erinnert sich Herr Miklos. „Die haben nachgegriffen und sind dann mit der Hand in den Aufzug gekommen. Da sind schwere Unfälle passiert, Wien-weit.“ Besonders ärgern Herrn Miklos die „Einkaufswagerlpartien“. „Die Mieter wollen unbedingt ihre Einkaufswagerl mit in den Aufzug nehmen. Das ist sowas von gefährlich!“ Er erzählt von einem Vorfall vor Einbau der Schiebetüren. Eine ältere Frau nahm den Einkaufswagen  mit in den Aufzug und ein Rad verfing sich in dem Spalt zwischen Türe und Fahrkorb. „Das Wagerl hat sich drinnen verdreht und die Frau hat sich schwer verletzt. Sie hat sich die Rippen gebrochen. Bei kleineren Aufzügen hat man ja  keinen Platz, wenn man mit dem Wagerl drinnen steht und fährt.“

Glöckerlpartie. Neben den manchmal unbelehrbaren MieterInnen machen Herrn Miklos auch die Kinder zu schaffen. Der Aufzug übt auf sie nach wie vor eine große Anziehungskraft aus. „Sie brauchen nur einen Kaugummi beim Kontakt reinpicken, und der Aufzug steht. Da sucht man dann erst mal eineinhalb Stunden nach dem Fehler. Aber wenn man das 21 Jahre lang macht, kennt man schon alle Schmähs der Kinder“, lacht Herr Miklos. „Sie fahren auch gern hin und her spazieren, drücken überall – eine Glöckerlpartie. Das gehört auch ab und zu gemacht, das ist eh klar“, sagt er mit einem Augenzwinkern. Selbst ist Herr Miklos noch nie im Lift stecken geblieben. „Weder in meinen eigenen, noch  irgendwo anders.“

Verkehrte Welt

  • 25.02.2013, 17:25

Die meisten männlichen Attitüden nerven gewaltig. Wir drehen den Spieß mal um.

Breitmachmacker
Öffentlicher Verkehr ist ja eigentlich nicht nur aus stadtplanerischer Sicht unterstützenswert, sondern auch ganz praktisch: Ist man kein Bobo Rich Kid und lässt sich per Taxi durch die Gegend kutschieren, kommt man ja auch nicht drum rum. Abhängig von der Tages- oder Nachtzeit kann das aber mühsam werden: Während der Rush Hour begegnen einer im Gang stehende Kasten, die offensichtlich von den Wiener* Linien persönlich angeheuert wurden, um Türsteher zu spielen und die Sitzplätze hinter sich zu bewachen. Hat man’s an denen mal vorbeigeschafft und einen der begehrten Sitzplätze ergattert, trifft man häufig auf den Typ Breitmachmacker, der nicht nur den eigenen Sitzplatz einnimmt, sondern auch noch die Hälfte des benachbarten. Ob die schon im Kindergarten lernen, ihre Füße in eine Gretsch-Position zu bringen, die man sonst eigentlich nur im Turnunterricht beim Bockspringen braucht? Jedenfalls, ihr Macker: Ihr seid alle nicht so groß, wie ihr glaubt. In Zukunft also bitte normal sitzen, unfreiwilliges Kuscheln in Öffis ist keine so gute Idee. Sonst sitzen wir in Zukunft im Sumoringer-Style.

* insert your city.

Put your hands up!

Illustration: Christina Uhl

Wenn ihr glaubt, wir sehen das nicht: falsch gedacht. Die Hoffnung auf einen unbeobachteten Moment in der FußgängerInnenzone, im Club, im Einkaufszentrum oder an anderen dicht-bevölkerten Örtlichkeiten muss leider enttäuscht  erden. Verlieren kann man das Handy oder die Geldtasche, deswegen zur Beruhigung: Ihr müsst euch nicht die ganze Zeit versichern, dass zwischen euren Beinen noch alles hängt (oder liegt). Wir lümmeln ja auch nicht beim Fußballschauen rum und präsentieren euch unsere Kratzkünste im Intimbereich. Außerdem, ganz ehrlich: Wenn’s da wirklich die ganze Zeit juckt oder falsch liegt, solltet ihr es mal mit einer anderen Unterhose oder einer Dusche probieren.

Pissoirs für alle
Illustration: Christina Uhl

Erstmal: Die Fähigkeit, mal so nebenbei im Freien oder sonstwo stehend zu pinkeln, ist euch nicht angeboren, sondern anerzogen. Grundsätzlich ist das ja auch okay, Pissoirs auf Frauenklos sollten sowieso zur Grundausstattung jeder vernünftigen Lokalität zählen. (Für alle, die sich jetzt fragen, wie das geht: Das Werkzeug heißt Urinella und wirkt Wunder. Es gibt Frauen, die können das auch ohne. Ja wirklich. Das mit dem Anstehen hätte sich dann auch endlich erledigt.) Was das Urinieren im Freien angeht, muss trotzdem gesagt werden: Da gibt’s Grenzen der Zwangsbeglückung. Auf Autobahnraststätten zum Beispiel: Keine gute Idee. In der Innenstadt: njet. Hausmauern müssen nicht gegossen werden. Im Stadtpark: Genau – bitte verschont uns. Also, trotz Weitpinkel-Superchamp-Status: Kein Grund, überall Revier zu markieren, das macht nur die Hunde nervös.

Der Weg zum Bier

Illustration: Christina Uhl
Es gibt ja so ganz harte Typen, bei denen der Gedanke, ihr Bier mit einem Flaschenöffner aufzumachen, unter ihrer Würde liegt. Da müssen dann schon mal das Kiefer oder die hoffentlich schon gewachsenen Weisheitszähne herhalten. Oder die sogenannte Augenhöhle, die bei der Öffnungstechnik mindestens so strapaziert wird, wie das Oberkiefer und die Beißerchen. Weil das Ganze nicht wirklich als erstrebenswert, sondern eher als strunzdumm zu bewerten ist, erklären wir hier lieber die Bier-mit-dem-Feuerzeug-Öffnungstechnik. Die ist nämlich wirklich praktisch, und wer möchte schon immer zum nächststehenden Typ rennen, nur um in den Genuss eines Biers zu kommen? Und zwar geht das so: Man umschließe mit einer Hand den Flaschenhals knapp unter dem Verschluss, und zwar so, dass man zwischen Zeigefinger (oder wahlweise Daumen) und Verschluss noch ein Feuerzeug dazwischenkriegt. Dann mit dem  Zeigefinger (oder Daumen) das Feuerzeug gegen den Deckel drücken und das andere Ende des Feuerzeuges Richtung Boden drücken. Wichtig: Fest zudrücken, die Hand darf nicht verrutschen – den Rest erledigt die Hebelwirkung. Prost!

Take that!

Illustration: Christina Uhl

Wer kennt das nicht: Im Uni-Seminar, abends bei einer netten Party oder in der linken Politgruppe der eigenen Wahl – den Besserwissern kommt man nirgends aus. Die existieren zwar beiderlei Geschlechts, die Ausprägung bei den Männern dürfte aber um einiges schwerwiegender sein. Wer genug hat von ewigen Monologen, die ohnehin keinen Sinn ergeben, der seien hier Standardwortklötze empfohlen. Einfach drüberstreuen, und schon wirkt alles tiefsinniger: Ökonomie, vulgär, destruktiv, androzentristisch, progressiv, Proletariat, klassenlose Gesellschaft, Implikation, Diskurs, Bourgoisie. Und wer euch immer noch nicht glauben will, ein super Totschlagargument ist immer: „Politik ist feministisch, oder sie ist nicht links.“ (F. Haug) Nämlich.

Kritisch sozial arbeiten

  • 25.02.2013, 17:12

In der täglichen Arbeit, aber auch schon während des Studiums wollen sich angehende und fertig ausgebildete SozialarbeiterInnen einen kritischen Zugang zu ihrer Arbeit bewahren. Das ist in der Praxis nicht immer einfach.

In der täglichen Arbeit, aber auch schon während des Studiums wollen sich angehende und fertig ausgebildete SozialarbeiterInnen einen kritischen Zugang zu ihrer Arbeit bewahren. Das ist in der Praxis nicht immer einfach.

In der Zahnarztpraxis im neunerhaus im fünften Wiener Gemeindebezirk sitzen heute drei Personen im Wartezimmer. Aus dem Raum nebenan hört man das leise Rascheln eines Saugers, der wohl einem der beiden die Zahnbehandlung ausharrenden Patienten aus dem Mundwinkel hängt. Auch als die Tür aufgeht und sich eine grüngewandete Assistentin Unterlagen vom Empfang holt, unterscheidet sich weder der etwas angespannte Gesichtsausdruck des Patienten, an dem auf dem Stuhl gerade gewerkt wird, noch der leichte und doch eindringliche Geruch nach Desinfektionsmittel, der aus dem Behandlungsraum strömt, vom typischen, erwartbaren Szenario. Und doch ist es hier anders. Heute im Speziellen: „Es ist ein ganz ruhiger Tag“, sagt die Frau am Empfang, Susanne Schremser. Meistens sei das Wartezimmer voll, manchmal sogar überfüllt.

Aber auch generell: In der Praxis werden obdachund wohnungslose Menschen kostenlos versorgt – und zwar von ehrenamtlich tätigen ZahnärztInnen. Auch Schremsers Arbeit unterscheidet sich von jener am Empfangstresen in anderen Praxen. Hier geht es nicht nur um Terminvereinbarungen, e-Card oder Sozialversicherungsdaten. Letztere spielen überhaupt keine so große Rolle, weil hier Menschen mit, aber auch Menschen ohne Versicherung behandelt werden. Die 43jährige Susanne Schremser ist hier als Sozialarbeiterin tätig, bis zum kommenden Juni noch in berufsbegleitender Ausbildung – mit einem kritischen Ansatz. Das bedeutet hier in der Praxis: Sie ist nicht nur erste Ansprechpartnerin und versucht, den Leuten die Angst vor der Behandlung zu nehmen. Sie nimmt sich – falls gewünscht – Zeit für längere Gespräche: „Viele haben sehr schlechte Erfahrungen mit dem regulären Gesundheitswesen gemacht“, sagtSchremser. Oft geht es deshalb darum, dass KlientInnen überhaupt erst wieder Vertrauen zu ÄrztInnen und ins System gewinnen, um solche Leistungen wieder in Anspruch nehmen zu wollen. Bei der kritischen Sozialarbeit wird den KlientInnen nichts aufgedrängt. Man ist nicht verlängerter Arm des Staates. Die Entscheidung, wobei, inwieweit undwann Unterstützung benötigt wird, liegt bei den wohnungs- und obdachlosen Menschen selbst.

Niederschwellige Angebote. Schremser und ihre KollegInnen gehen während der Wartezeit direkt auf die PatientInnen zu. Sie klärt über rechtliche oder finanzielle Ansprüche auf, die jeder habe, aber von denen nicht jeder wisse – sofern das Gegenüber daran Interesse hat. Sie unterhält sich zum Beispiel mit Christian, der wegen eines ausgebrochenen Zahns in die Praxis gekommen ist. Angst hat er heute keine mehr, man hat ihm bereits angekündigt, dass bei der Behandlung an diesem Tag nichts Schmerzhaftes mehr ansteht. Bei Christian gehe es außerhalb der Zahnarztpraxis nun um die „aktive Jobsuche“, sagt er. Eine Gemeindewohnung hat er seit Kurzem. Die Zeit, als er im Männerwohnheim, später bei Freunden gewohnt hat, ist nun vorbei. Die PatientInnen können solche Gespräche aber auch ablehnen: „Ich sage eben, was ich kann, und wenn du willst, kann ich was für dich tun. Es geht auch ums Zuhören“, meint Schremser – wenn jemand aus der Vergangenheit erzählt, Ungewöhnliches, Normales, Lustiges oder auch von Depressionen. Wenn jemand will, vermittelt Schremser auch PsychologInnen. Das Du wird hier immer angeboten – und man kann auch das ablehnen. Es ist ein niederschwelliger Zugang: Kritische SozialarbeiterInnen bevormunden oder erziehen nicht. Im Gegenteil, sie versuchen Schwellen kleinzuhalten und Barrieren abzubauen – also den Zugang zu Leistungen zu erleichtern. Sie zeigen Möglichkeiten auf und unterstützen – falls notwendig.

Das sei bei allen Angeboten des neunerhauses so, erklärt Elisabeth Hammer, die fachliche Leiterin der sozialen Arbeit: in den drei Häusern mit Wohneinheiten für 250 Menschen, in den zehn betreuten Startwohnungen, bei der tiermedizinischen Versorgung genauso wie in der Zahnarzt- und der Arztpraxis. Insgesamt arbeiten rund 60 Personen im neunerhaus. Sie werden von etwa 70 Ehrenamtlichen und mehreren Zivildienern unterstützt. Die Grundsätze einer kritischen sozialen Arbeit fließen überall mit ein. „Es geht dabei um die Grundhaltung gegenüber den Klienten und Klientinnen“, erklärt Hammer, die sich neben ihrer Arbeit im neunerhaus auch beim Verein Kritische Soziale Arbeit, kurz kriSo, engagiert: „Wir sehen unsere Gegenüber nicht als EmpfängerInnen von mildtätigen Leistungen, sondern als Menschen, die über ihre Lebensgestaltung autonom entscheiden.“ Ein Ziel oder ein allgemeingültiger Weg wird von kritischen SozialarbeiterInnen dabei bewusst nicht vorgegeben.

Normen durchbrechen. Die Entscheidungen der Menschen müssen nicht mit gesellschaftlichen Normen konform gehen. Solche Normen seien schließlich nicht naturwüchsig gegeben, sondern von Menschen gemacht. Die kritische Sozialarbeit und ihre KlientInnen dürfen, können und wollen sie verändern: „Wir erarbeiten mit den Wohnungslosen gemeinsam Perspektiven, damit sie ihre Kompetenzen dazu nutzen können, sich selbst Gehör zu verschaffen.“ Darüber hinaus seien die MitarbeiterInnen auch anwaltschaftlich tätig, damit die KlientInnen zu ihren Rechten kommen.

In der praktischen Arbeit gibt es dabei aber Grenzen. Diese werden durch den rechtlichen, finanziellen und bürokratischen Rahmen gesetzt. Beispielsweise erhalten nicht alle vom Staat die sozialen Leistungen, die sie brauchen würden. Neue EUBürgerInnen haben zum Beispiel keinen Anspruch auf Sozialhilfe. Ein Teil der Arbeit besteht deshalb auch darin, diesen Rahmen, wo es möglich ist, zu erweitern und auf politische wie gesellschaftliche Ungerechtigkeiten aufmerksam zu machen. Auch die zeitlich und finanziell beschränkten Ressourcen setzen der kritischen Sozialarbeit Grenzen. „Gerade dann ist es wichtig, darauf zu achten, dass man ein Creaming the poor vermeidet“, meint Hammer. In der kritischen Sozialarbeit geht es nicht darum, den „Rahm“ mit einfacher zu betreuenden KlientInnen abzuschöpfen, um so rasche Erfolge oder eine sogenannte Resozialisierung möglichst Vieler feiern zu können. Die Mittel und die Arbeit der SozialarbeiterInnen sollen allen, die sich an das neunerhaus wenden, zugutekommen, auch Personen, die mehr und länger Unterstützung brauchen als andere.

Kritik beim Studieren. Von solchen Grundsätzen, aber auch von begrenzten Möglichkeiten in der Praxis hört man auch in der Ausbildung an den Fachhochschulen. Rica Ehrhardt und Franz Widhalm studieren Soziale Arbeit am Fachhochschul-Campus Wien im zehnten Bezirk. Sie sind zwei von insgesamt 120 in Vollzeit und 40 berufsbegleitend Studierenden, die erst im letzten Herbst begonnen haben. Ihr erstes Semester geht nun bald zu Ende, die letzte Prüfung haben sie bereits absolviert. Im Wintersemester steht nur noch das erste zweiwöchige Praktikum an. Ein Modul, das sie noch im Zuge ihres Studiums absolvieren werden, setzt sich explizit mit der Sozialen Arbeit in Zwangs- und Normierungskontexten auseinander. Ein kritischer Zugang zur Sozialarbeit spielt aber auch in vielen anderen Lehrveranstaltungen eine Rolle. Bis zum Abschluss mit einem Bachelor sind jedenfalls sechs Semester Studium und 20 Wochen Lernen in der Praxis vorgesehen. Am Campus, auf dem es in der Mittagszeit von Studierenden, auch aus anderen Fachbereichen, nur so wuselt, erzählen Ehrhardt und Widhalm nun, wie der kritische Ansatz von Beginn an in die Ausbildung miteinfließt: „Die Vortragenden haben uns gleich in der Einführungswoche dazu aufgefordert, kritisch mit den Studieninhalten umzugehen und diese zu hinterfragen“, erklärt die 22jährige Ehrhardt.

Es ginge nicht nur um das Erlernen der Inhalte, unterstreicht auch Franz Widhalm und vergleicht das Studieren hier mit seiner Arbeit vor dem Studium, wo er die Produktion neuer Entwicklungen vorbereitet hat: „In der Industrie gibt es Hierarchien, die hin und wieder mit dem Gefälle zwischen Knecht und Herrscher vergleichbar sind.“ Er wurde wegrationalisiert, als ein Teil des Unternehmens in die Slowakei ausgelagert wurde. Er wollte beruflich aber ohnehin wechseln, „was Sinnvolleres machen“, sagt er. Beim Studium wird nun auf ein Miteinander-Arbeiten großen Wert gelegt. Die Vortragenden sind ein Teil des Teams, leiten an, erklären. Widhalm möchte das auch später in der Arbeit mit den KlientInnen ähnlich halten.

Selbstbestimmt statt kontrolliert. Bislang habe man sich vor allem mit den Handlungsfeldern der Sozialen Arbeit auseinandergesetzt. Dabei sei zum Beispiel auch das doppelte Mandat Thema gewesen. In vielen Bereichen wird von SozialarbeiterInnen verlangt, zugleich im Sinne des Staates und der KlientInnen zu handeln. Die SozialarbeiterInnen unterstützen dabei zwar, können und sollen zugleich aber auch Sanktionen setzen, wenn die betreuten Personen  entweder gar nicht oder nicht in der Geschwindigkeit jenen Weg beschreiten, der ihnen vorgegeben wird. Auf die Arbeit mit Wohnungslosen umgemünzt könnte das zum Beispiel bedeuten, Druck auf die Menschen auszuüben, damit sie möglichst rasch wieder ohne Unterstützung auskommen und sich selbst eine Wohnung finanzieren. Ein doppeltes Mandat haben auch MitarbeiterInnen beim Jugendamt. Ähnlich wird oft mit Arbeitslosen in Beschäftigungsmaßnahmen verfahren. Unterstützung, Kontrolle und Sanktionen gehen dabei miteinander Hand in Hand.

Ehrhardt weiß bereits jetzt, dass sie nicht mit doppeltem Mandat arbeiten möchte: „Ich werde mir einen Bereich suchen, wo die Vorgaben nicht so strikt sind, oder wo man sie im Sinne der Klienten zumindest im eigenen Arbeitsfeld beeinflussen kann“, meint sie. Nach dem Wochenende geht es bei ihr zum Praktikum in ein Frauenhaus in Eisenstadt. Da heißt es bereits auf der Homepage: „Wir fördern die Selbstbestimmung und Eigenständigkeit der Frauen in der inhaltlichen sowie alltäglichen Arbeit mit den Bewohnerinnen.“ Ein Ansatz, der den Grundsätzen der kritischen Sozialarbeit entspricht: Es wird mit und nicht über den Kopf der Klientinnen hinweg gearbeitet. Wohin der Weg geht, entscheiden diese selbst. Die Mitarbeiterinnen unterstützen sie beim Erlangen ihrer Rechte nur da, wo diese auch tatsächlich Hilfe wollen und benötigen. Ehrhardt hat nun zwei Wochen Zeit herauszufinden, ob dieses Umfeld für ihren  künftigen Berufsalltag möglicherweise das passende ist.

Zwischen den Fronten

  • 24.02.2013, 10:07

Christina und Simon gehen in die Maturaklasse. Beide haben sich vorgenommen, nach der Matura ein Studium zu beginnen. Die Entscheidung, welches Studium sie wählen wollen, fällt schwerer als gedacht.

Christina und Simon gehen in die Maturaklasse. Beide haben sich vorgenommen, nach der Matura ein Studium zu beginnen. Die Entscheidung, welches Studium sie wählen wollen, fällt schwerer als gedacht.

Die Studienwahl ist für viele angehende Studierende eine Herausforderung. Was will ich studieren, wo will ich studieren und welche Besonderheiten, wie Studiengebühren, Fristen oder Zulassungsprüfungen, muss ich beachten? Genaue Informationen sind Voraussetzung für die individuell richtige Studienwahlentscheidung.

Internet geht immer. Wenn das Angebot groß ist, fällt die Wahl des Studiums nicht leicht. Das Onlinestudienverzeichnis studienplattform.at zeigt bei der Eingabe „Bachelorstudien“ 826 Treffer an. Hinzu kommen 325 Lehramts- und 86 Diplomstudien. Speziell für die ersten Studieninformationen können Onlineplattformen hilfreich sein. Der 18jährige Simon und die 19jährige Christina nützen sie als erste Anlaufstelle. Aktuelle und zuverlässige Informationen über alle Studiengänge, Studienstandorte und mögliche Zugangsbeschränkungen bieten die ÖH-Seite studien­plattform.at und studienwahl.at vom Bundesministerium für Wissenschaft und Forschung (bmwf), wobei man als Maturant_in bei letzterer leicht über Begriffe wie „ECTS“, „Master“ und „ÖH-Beitrag“ stolpert.

Begriffe wie „Kompetenzerwerb“, „Prozess- und Qualitätsmanagement“ oder „fachspezifische Methoden“ dominieren die Angaben bezüglich Studieninhalt und werfen mehr Fragen auf, als sie beantworten. Das ÖH-Projekt studienplattform.at will dem entgegensteuern. „Es war die Absicht, Fremdworte einfach zu erklären und damit den Zugang zu dieser beängstigenden und verwirrenden neuen Welt zu erleichtern“, sagt Karin Kuchler, Koordinatorin der studienplattform.at. Eine weitere Verfeinerung ist, dass es eine Suchfunktion für Interessen gibt.

Diese soll den MaturantInnen möglichst viele verschiedene Studienrichtungen anbieten, um auch aufzuzeigen, dass es viel differenziertere Studiengänge, abseits der Mainstreamstudien wie Rechtswissenschaften, Humanmedizin und BWL gibt. Wer sich jedoch nicht sicher ist, dem und der empfiehlt Kuchler eine persönliche Beratung. Beratung im Gespräch. Für eine persönliche Beratung stehen MaturantInnen zwei Projekte zur Verfügung: Der Studienchecker und die Maturan­tInnenberatung. Der Studienchecker ist ein Projekt des Wissenschaftsministeriums (BMWF) und des Ministeriums für Unterricht, Kunst und Kultur, in Kooperation mit der ÖH und der Psychologischen Studen­tenberatung. Es stellt ein Bündel an Maßnahmen für alle SchülerInnen in ganz Österreich dar, um sie im Entscheidungsprozess zu begleiten. Das Projekt reicht von einem Interessensfragebogen,  Kleingruppenberatung mit PsychologInnen der Psychologischen Studen­tenberatung bis zu der MaturantInnenberatung direkt an den Schulen. „Studienchecker soll dazu beitragen die Drop Out Quoten an den Universitäten zu reduzieren. Oft brechen Studienanfänger ihr Studium ab, weil sie sich das vorher nicht genau überlegt haben“, sagt Marion Kern vom BMWF. Neben dem Studien­checker und studienwahl.at bietet das BMWF wenig Zusätzliches an. Den wohl authentischsten Einblick in den Studienalltag bietet das von der ÖH organisierte und vom BMWF finanzierte Projekt Studieren Probie­ren. Hier haben StudienbeginnerInnen die Möglichkeit, Studierende einer Studienrichtung zu Lehrveranstaltungen zu begleiten und ihnen konkrete Fragen zu dem jeweiligen Studiengang zu stellen.

Die MaturantInnenberatung der ÖH bietet außerdem anonyme und kostenfreie Beratung an. Die Mitarbeitenden sind selbst StudentInnen und können mit Erfahrungsberichten direkt auf individuelle Fragen eingehen. Entweder werden Fragen im Rahmen des Studiencheckers, der von Schulen organisiert und angeboten wird, oder auch unabhängig davon in Form  von E-Mail, Telefon- oder persönlichen Gesprächen beantwortet. Mitarbeitende der MaturantInnenberatung haben laut eigenen Angaben in den Jahren 2011 und 2012 knapp 15.000  StudienanfängerInnen in allen Bundesländern, außer in Kärnten, beraten. In einer Presseaussendung von ÖH und BMWF am 3. Jänner diesen Jahres bestätigten diese einen Zuschuss von 40.000 Euro, was das Gesamtbudget der Maturant­Innenberatung auf rund 294.000 Euro pro Jahr erhöht. Damit wird künftig auch den kärntnerischen MaturantInnen eine Beratung an den Schulen ermöglicht. 311 Schulen, das entspricht etwa der Hälfte aller Schulen, haben 2011 am Projekt Studi­enchecker teilgenommen, bis 2014 soll es an allen Schulen Österreichs umgesetzt werden.

Die Qual der Wahl. Die Frage, ob Christina und Simon auch persönliche Beratung in Anspruch nehmen, verneinen beide. Beratungsangebote wie die MaturantInnenberatung, Studieren Probieren und Studienchecker kennen sie nicht. Wie gelangen sie dennoch zu Informationen? „Für mich sind besonders die persönlichen Gespräche mit Studierenden aufschlussreich“, so Christina, die derzeit die Maturaklasse eines Gymnasiums im oberösterreichischen Kirchdorf absolviert. Christina und Simon sind beide der Meinung, dass  Schulen und Hochschulen zu wenig Informationsangebot für MaturantInnen zur Verfügung stellen. „Es ist wichtig, wie viel Eigen­engagement man investiert“, meint Simon, der die Abschlussklasse eines Linzer Sportgymnasiums besucht. Kern weist darauf hin: „Jene, die Eigeninitiative zeigen, sich organisieren können und einen Plan haben, was sie tun wollen,  eignen sich für ein Studium.“ Punkt. Zwischen dem Schulbegriff von Selbstständigkeit und dem der Hochschulen herrscht jedoch eine große Diskrepanz, die von BMWF und den Universitäten weitgehend ignoriert wird. Die Kompetenz wird von der Schule auf die Uni geschoben und umgekehrt – übrig bleiben ratlose Maturan­tInnen. „Wenn man eine Klasse fragt, schätzen sich fast alle SchülerInnen als selbstständig ein. Bei den meisten StudienanfängerInnen aber hinterlässt die Organisation des Studienalltags und die Vorbereitung darauf große Unsicherheit“, schildert Theresa Kases vom Projekt Studieren Probieren. Die Vorbereitung auf ein Studium stellt sich also als ein Probelauf für das  eigentliche Studium heraus.

Die Bürokratisierung und Zugangsbeschränkungen stellen Neulinge vor eine Voraussetzungskette, die sich mit der STEOP fortsetzt. Fristen, Aufnahme- und Eignungsprüfungen setzten MaturantInnen unter großen psychischen Druck, bestätigt Magdalena Hangel, Referentin der MaturantInnenberatung. Auch Christina fühlt sich in der Vorbereitung auf ihr Studium oft allein gelassen. Trotz allem möchte sie Philosophie studieren. „Aber das kann sich noch ändern, ich bin mir noch nicht sicher.“

Linktipps:

ÖH:

www.oeh.ac.at/studienberatung
www.studierenprobieren.at
www.studienplattform.at

Bundesministerium für Wissenschaft und Forschung:
www.studienwahl.at
www.Studienchecker.at
www.studentenberatung.at

Messen, Informationsveranstaltung: http://bestinfo.at

Kollegialität als Konflikt

  • 24.02.2013, 09:59

Was passiert, wenn zwischen StudentInnen und Lehrenden eine Konfliktsituation entsteht?

Was passiert, wenn zwischen StudentInnen und Lehrenden eine Konfliktsituation entsteht?

Die Studentin möchte gerne anonym bleiben. Zuviel wurde bereits gestritten. Wir nennen sie daher Stefanie. Sie kommt gerade von der Mittagsschicht in einem italienischen Restaurant und wirkt gehetzt. Ihr Job nimmt nicht auf Prüfungszeiten Rücksicht. Stefanie studiert in einem sogenannten Massenstudiengang. Die STEOP bestimmt ihren Alltag. Durch diese neue Studieneingangsphase, so die 19Jährige, habe sich die Natur der Hürden im Studium verändert. Leider fehlt den DozentInnen oft das Verständnis für den Zeitdruck, unter dem viele StudentInnen stehen. Vor einigen Wochen mussten Präsentationen gestaltet werden, parallel zur obligatorischen Klausur. Vorab gab es schon Unstimmigkeiten zwischen der Veranstaltungsleitung und den Studierenden. Die Lehrende schien mit dem überfüllten Kurs überfordert zu sein, erzählt Stefanie. Ihre Projekt­arbeit musste sie dann dreimal aufs Neue einreichen.

Ein Prozess, der sich über sechs Wochen hinzog, bis in den Beginn der Prüfungszeit hinein. Jedes Mal, wenn sie angemerkte Verbesserungswünsche umsetzte, wurden andere Mängel als Ablehnungsgrund genannt. Schließlich holte sie sich Hilfe bei einer befreundeten Kommilitonin. Diese überarbeitete das Projekt im eigenen Stil. Letztlich erhielt die Studentin die Note Genügend – mit einem sarkastisch formulierten Begleitbrief, der ihr ein Scheitern im Studium prognostizierte.

Frust und Protest. Stefanies Erlebnis ist beispielhaft für ein universitäres Klima, das es sowohl Studierenden, als auch DozentInnen immer schwieriger macht, dem Lehrauftrag zufriedenstellend nachzukommen. Vom zunehmenden Zeitdruck bei gestiegener Produktivitäts- erwartung sind sowohl StudentInnen wie auch Lehrende betroffen. So verliehen jüngst 300 BWL-ProfessorInnen aus dem deutschsprachigen Raum ihrer Frustration über ein Ranking der Wirtschaftszeitung Handelsblatt in einem Protestbrief Ausdruck. Auch  SoziologInnen üben Kritik am Hochschulranking des Centrum für Hochschulentwick­lung, an dem sich jährlich tausende StudienanfängerInnen orientieren, dem aber gravierende methodische Mängel unterstellt werden. Das Hochschulsystem wandelt sich und seine Qualität wird zunehmend am relativen wissenschaftlichen Output gemessen, jedoch nicht an der Güte der Ergebnisse. Ausbildung statt Bildung. Determinierender Faktor auf Seiten der Studierenden dürfte in jüngster Zeit vor allem die seit 2011 obligatorische neue Studieneingangsphase STEOP sein. 80 Prozent der Befragten in der Umfrage „STEOP-Watch“ berichten von unverhältnismäßigem Druck in diesem Studienabschnitt. Ein Druck, der das Potential hat, das Klima zwischen Lehrkräften und StudentInnen zu verschärfen.

Wenn sich dieses Konfliktpotential in die Hörsäle und Seminarräume hinein verlagert, wird das von den allermeisten StudentInnen hingenommen. Relevanz gewinnen die Probleme meist erst, wenn sie eine breite Masse betreffen, also beispielsweise unfaire Bewertungen den ganzen Kurs betreffen. In diesen seltenen Fällen schreitet für gewöhnlich die Fakultätsleitung ein. Private Internetplattformen wie meinprof.de bieten darüber hinaus die Möglichkeit, Lehrkräfte zu bewerten, sind aber nicht repräsentativ. Im Einzelfall überlagern meist Emotionen die sachliche Entscheidungsfähigkeit – oft auf beiden Seiten. Eine lange Auseinandersetzungskette kann die Folge sein, wie im einführenden Beispiel.

Das Universitätsgesetz lässt den StudentInnen diesbezüglich leider nur wenig Spielraum, weil die Bewertung ausschließlich in der Kompetenz der Lehrenden liegt. Jedoch sollte ein sachliches Gespräch in jedem Fall als Lösung einer Konfliktsituation versucht werden. Scheitert dies, stehen den Betroffenen theoretisch die Instanzenwege bis zur Fakultätsleitung offen. Sexuelle Übergriffe. Der Übergang zwischen unfairer Bewertung und rechtlicher Grauzone ist fließend, wenn es um die Lehrkräfte der Universität geht. Ein häufiges Problem sind sexuelle Übergriffe auf Studentinnen. Die von der EU geförderte Studie Gender-Based Violence, Stalking and Fear of Crime konstatiert, dass in über sieben Prozent der Fälle sexueller Übergriffe ein Angestellter einer Universität der mutmaßliche Täter sei. Den Handlungsspielraum der Betroffenen schränken emotionale Faktoren sowie Hürden von Seiten der Universität ein.

Während die Betroffene oft aus Scham keine Beschwerde abgibt, wird der mutmaßliche Täter von Seiten der Universität oft gedeckt, um einen Ansehensverlust der Fakultät zu verhindern. Die Studentinnen, so die AutorInnen der Studie, entwickelten in Folge oft Vermeidungsstrategien und klammerten bestimmte Vorlesungen oder Seminare aus. Mit Folgen für die eigene Studienleistung. 

Offenes Fehlverhalten von Seiten der Universitätskräfte sollte jedoch nicht ohne weiteres akzeptiert werden. Für Studenten und Studentinnen, die von Übergriffen durch Lehrkräfte betroffen oder in Konflikte verwickelt sind, bieten sich neben dem Instanzenweg auch Beratungsstellen an. Die ÖH bietet sowohl an deiner Universität wie auch bundesweit in verschiedenen Referaten Hilfe bei jeglichen Fragen an.

Hier gehts zum Beratungsangebot der ÖH!

 

Bis Buchstaben beben

  • 24.02.2013, 09:50

Der Poet José Manuel Caballero Bonald ist diesjähriger Cervantespreisträger. Kaum jemand prägte die spanische Literatur seit den 1950er-Jahren in vergleichbarem Ausmaß, ohne dabei international Beachtung zu finden.

Der Poet José Manuel Caballero Bonald ist diesjähriger Cervantespreisträger. Kaum jemand prägte die spanische Literatur seit den 1950er-Jahren in vergleichbarem Ausmaß, ohne dabei international Beachtung zu finden.

Er geht an die Grenzen des sprachlich Möglichen und stürzt sich nahezu religiös in seine Beschäftigung mit Erinnerungen, dem Vergessen der Ungewissheit, die das noch Kommende in sich birgt: Der Dichter José Manuel Caballero Bonald, 1926 als Sohn kubanischer Eltern in der südwestspanischen Sherry-Wiege Jerez de la Frontera geboren, verfasste bis 1992 eine Handvoll Novellen, wie Campo de Agramante, um sich später vollends auf sein Faible, die Poesie, zu konzentrieren. Der mittlerweile 86jährige Poet studierte erst Fachfernes, wie Nautik und Astronomie, später spanische Literatur und Philosophie in Sevilla, um schließlich viele Jahre als Universitätsprofessor im kolumbianischen Bogotá sowie in den USA und auf Kuba zu verbringen.

„Die Poesie ist eine Mischung aus Musik und Mathematik“, ist Bonald überzeugt. Und so ist er stets bedacht, Bedeutung und Klang seines umfassenden Vokabulars penibel zu takten. Nicht zuletzt deshalb ist Bonald in seiner perfektionistischen Sprache und Melodik aus dem Spanischen kaum übersetzbar. Und so ist sein Oeuvre außerhalb von Iberien und Lateinamerika kaum bekannt. „Weil das Gestern ist nur eine Grabinschrift, damit das Morgen niemals für immer währen wird“, ist einer von knapp 3000 Versen seines autobiografischen und streckenweise irrationalen Werks Entreguerras – De la Naturaleza de las Cosas (Zwischenkriege. Über die Natur der Dinge), das zugleich eine Ode an das Leben an sich ist. Bonald offenbart darin „alle seine Erlebnisse“, Reisen, Bekanntschaften, aber auch seine Flüchte in die Gedankenwelt und seine tiefen Reflexionen über Poesie und Sprache per se. So ist er selbst davon überzeugt, dass sein Opus einen „Meilenstein“ der spanischen Poesie darstelle, und die überwiegende Mehrheit der KritikerInnen gibt ihm Recht. Satzzeichen benötigte er dafür, abseits von Frage- und Ausrufezeichen, keine.

Für sein Lebenswerk erhielt Bonald Ende November den renommiertesten Preis der spanischen Literaturwelt, den Premio Cervantes. Seit Längerem zählte Bonald zum engsten FavoritInnenkreis für die mit 125.000 Euro höchst dotierte Lorbeeren der spanisch-sprachigen Welt. Überreicht wird der Preis stets am 22. April, dem Todestag des Don Quijote-Autors Miguel de Cervantes. Seit Längerem zählte Bonald zum engsten FavoritInnenkreis für die mit 125.000 Euro höchst dotierte Lorbeeren der spanisch-sprachigen Welt. Überreicht wird der Preis stets am 22. April, dem Todestag des Don Quijote-Autors Miguel de Cervantes.

Literatenclub im Widerstand. Bonald wird als eine der gewichtigsten spanischen Literaturstimmen der „Generation der 1950er-Jahre“ bezeichnet. Damals begann die erste Phase behutsamer Öffnung der faschistischen Diktatur Francisco Francos. Zwar sträubte sich Bonald stets gegen Schubladisierungen, dennoch zählt er heute mit Antonio Gamoneda (*1931) oder Juan Goytisolo (*1931) zu den wenigen Überlebenden jenes Poesie-affinen Literatenclubs, der verhaftet und im berüchtigten Carabanchel-Gefängnis Madrids eingesperrt wurde. Die Schriftsteller waren Teil des intellektuellen Widerstands, dennoch: „Das Einzige, was wir gemein haben, ist unsere Affinität zum Alkohol und unsere Aversion gegen das Franco-Regime“, betonte Bonald.

Meist war es nicht der Faschismus, sondern massive und permanente Ausschweifungen, die dem Leben seiner Freunde ein zu frühes Ende setzten. Trotzdem stoppen Bonalds zweiteilige Memoiren, La costumbre de vivir (1995, Die Gewohnheit zu leben) und Tiempo de guerras perdidas (2001, Die Zeit der verlorenen Kriege), abrupt mit dem Ende der Diktatur, die der Tod Caudillo Francos (1975) markierte, weil der Prozess des verordneten Vergessens Bonald, der als unbeugsam und rebellisch gilt, tief erzürnte. Treffend  bezeichnete Andalusiens Kulturminister Luciano Alonso den in seiner Sprache „zu barockem Prunk“ neigenden Poeten als „einen Ästheten unserer Zeit“. Er sei ein „klares Beispiel, wie man Wohlgestalt in Einklang mit der Gesellschaft bringen“ könne.

"Wenn ich mir in Allem sicher wäre, ich könnte nicht schreiben, geschweige denn leben“, sagte Bonald selbst 2011 in einem Interview mit der Lokalzeitung Diario de Jérez. Mit dem  Gedicht La Noche no tiene paredes (Die Nacht hat keine Wände) erhob er die ihn selbst quälend wie treibend verfolgende Ungewissheit zur Quasi-Religion, die es zu verteidigen gelte. „Der keine Zweifel hat, der sich allem sicher ist, ist das Ähnlichste, was es zu einem Schwachkopf gibt“, schrieb er dort. Lebenslust und -erfahrung prägten Bonald und  schärften seine Reflexionen: „Wie oft habe ich am Ende eines Tages den Halt meiner Füße in dem aufgewühlten Gewässer meiner Jahre verloren, und die Fracht meines Lebens
verbrennen und heulen gesehen.“

Und wenn nun, frei nach Ludwig Wittgenstein, die Grenzen unserer Sprache die Grenzen unserer Welt und Wahrnehmung, ja unseres Seins per se markieren, dann wagt sich Bonald ohnehin weiter an den äußersten Rand des überhaupt in Worte Fassbaren, an jenen Ort, wo menschliche Gefühle – und in seinem Werk vor allem der Zweifel – in die Weiten des  Unfassbaren vordringen. „Vielleicht erwartet er es, gegen die sanfte Träne zu kämpfen, die der Buchstabe der Liebe ist, und gegen jenes vernichtende Licht, das in ihm bereits schmerzt und aus ihm seinen Namen heraus schreit: Schönheit“ – sind nur abschließend wie exemplarisch einige, wenige Zeilen des Gedichtes, Cenizas son mis Labios, zu Deutsch Asche sind meine Lippen. Einzig in die Königliche Akademie der spanischen Sprache hat man Bonald nicht aufgenommen. Aufgrund der dort gelehrten ausgeprägten Lexik will er dort aber ohnehin nicht Platz nehmen.

Die Stiftung Fundación Caballero Bo­nald im Internet

Gedichte

 

Wiens „Shooting Girls“

  • 24.02.2013, 09:41

Jüdische Fotografinnen dominierten die begehrtesten und erfolgreichsten Foto­studios. Das Jüdische Museum Wien zeigt ihre Geschichte und Arbeiten.

Jüdische Fotografinnen dominierten die begehrtesten und erfolgreichsten Foto­studios. Das Jüdische Museum Wien zeigt ihre Geschichte und Arbeiten.

Auf der Treppe zum zweiten Stock des Jüdischen Museums Wien in der Dorotheergasse blickt den BesucherInnen eine Gestalt entgegen: Um den Hals eine große, schwarze Kamera aus der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, ein schweres Stativ und eine Lampe geschultert, in der Hand eine Tasche mit weiterem Zubehör: Eine professionelle Fotografin am Weg zur Arbeit. Es handelt sich um Lilly Joss Reich, eines jener „Vienna Shooting Girls“, denen das Museum derzeit eine zweistöckige Ausstellung widmet. Denn die Fotostudios in Wien vor dem Ausbruch des Zweiten Weltkriegs waren fest in weiblicher, jüdischer Hand.

Von Trude Fleischmann bis Alice Schalek nutzten jüdische Frauen eine der wenigen Nischen in der bildenden Kunst, die ihnen die Männer gelassen hatten, und betrieben bald die erfolgreichsten und renommiertesten Ateliers der Stadt. 1907 eröffnete Dora Kallmus, später besser bekannt als Madame d’Ora, als erste Frau ein Fotostudio in Wien. An der Graphischen Lehr- und Versuchsanstalt durfte sie nur als Gasthörerin anwesend sein, ihr Atelier wure später zu einer Lehr- und Lernstätte für den Fotografinnennachwuchs. Gleich zu Beginn der Ausstellung begegnen BesucherInnen ihr und ihren rund vierzig Kolleginnen: Ein Selbstporträt zeigt sie halb hinter einer schwarzen Katze versteckt, ein wenig skeptisch in die Kamera blickend. Mit ihrem ganz eigenen Stil der Mode- und Porträtfotografie prägte Kallmus viele jüngere Kolleginnen und wurde selbst in der Metropole Paris berühmt und geschätzt.

Berufsfotografinnen. Schon im 19. Jahrhundert waren in Wiens Fotostudios zahlreiche Frauen zugange, allerdings meist als namenlose Helferinnen oder Ehefrauen. Als eine der ersten selbstständigen Berufsfotografinnen expandierte Bertha Wehnert-Beckmann von Leipzig aus nach Wien und New York. Die Fotografie war jedoch bereits vor ihrer Ankunft in Österreich durchaus auch in weiblichen Händen. In der 1861 gegründeten Photographischen Gesellschaft tummelten sich auch weibliche Mitglieder wie etwa Julie Haftner, Wien konnte zudem drei weibliche k.u.k. Hoffotografinnen verzeichnen. Mit der Entwicklung der handlicheren Klein- und Mittelformatkameras sowie der Öffnung der „Graphischen“ für  Frauen 1908 boomte das Fotografinnenwesen in Wien.

Besonders Frauen des liberalen jüdischen Bürgertums wählten den Beruf der Fotografin. Sie stammten aus Elternhäusern, in denen auch Mädchenbildung ein Thema war. Der Anteil jüdischer Schülerinnen in den Mädchenlyzeen des späten 19. Jahrhunderts war etwa achtmal so hoch wie der Anteil jüdischer BürgerInnen an der Gesamtbevölkerung. Die wachsende Zahl jüdischer Fotografinnen illustrieren sowohl eine Projektion des Wiener Stadt plans in der Mitte des ersten Raumes, auf der immer mehr Punkte für den Zuwachs an Studios stehen, als auch die Porträts erfolgreicher jüdischer Frauen, die sich wiederum von Frauen fotografieren ließen. So finden sich Porträts von Berta Zuckerkandl, Bertha von Suttner, aber auch Rosa Mayreder.

Aber nicht nur Frauen, alles, was Rang und Namen hatte, kam in die Studios der Fotografinnen: Kaiser Karl I. von Österreich samt Thronfolger Otto, Admirale und Fürsten. SchauspielerInnen ließen sich in ihren Rollenkleidern ablichten, Adelige etwa beim „Caroussel“ oder bei feierlichen Umzügen. Später finden sich berühmte und gedruckte Porträts von Karl Kraus, Max Reinhardt oder Stefan Zweig. Die Arbeit beschränkte sich jedoch nicht nur auf Studiofotografien: Auch in der Kunst- und Amateurfotografie fassten Frauen zunehmend Fuß. Mit bewusst eingesetzten Unschärfen und Glanzlichtern machten die Fotografinnen ihre Studioaufnahmen zu Kunstwerken. Neben klassischen Porträts waren aber auch Landschaften, Großstädte und Architektur begehrte Motive. Mit Mode- und Produktfotografie verdienten die Fotografinnen zusätzlich. Trude Fleischmanns Blumenstillleben Schneeglöckchen im Glas ist hier ebenso zu sehen wie ein Modefoto von Pepa Feldscharek, das eine Dame mit fein ondulierten Haarwellen in einem teuren Blumenrankenkleid zeigt. Vor allem die neu aufkommenden Illustrierten der 1920er-Jahre waren bei solchen Aufnahmen gute Kunden, auch das Aufkommen der Autogramm- und Starpostkarten beflügelte das Geschäft.

Wandelbares Frauenbild. Die Ausstellung zeigt aber nicht nur das Leben erfolgreicher Fotografinnen, in den Werken selbst spiegelt sich das dynamische Frauenbild der ersten Jahrzehnte des 20. Jahrhunderts. Es sind teils sehr unkonventionelle, moderne und frische Bilder, die an den starren Normen der Gesellschaft rütteln und freche Flapper Girls (ein Trend der 1920er aus den USA, der kurze Röcke und kurzes Haar, Zigaretten und Alkohol durch Provokation für Frauen salonfähig machte), androgyne Garconnes, aber auch Intellektuelle, Akademikerinnen und Anhängerinnen der Frauenbewegung, sogenannte „Blaustrümpfe“, porträtierten.

Für Aufsehen sorgten auch Trude Fleischmanns heute weltberühmte Abbildungen nackter Tänzerinnen, die ebenfalls Ausdruck eines sportlicheren und natürlicheren Körperbilds waren sowie die gesellschaftliche Befreiung zum Ausdruck brachten. Auch Madame d’Ora widmete sich dem Tanz und fotografierte den deutschen Skandaltänzer Sebastian Droste zusammen mit seiner Ehefrau Anita Berber in verschiedenen Tanzszenen. Eine ganz andere Form der Fotografie prägte dagegen Alice Schalek: Als einzige weibliche Kriegsberichterstatterin des k.u.k. Kriegspressequartieres hielt sie den Ersten Weltkrieg dokumentarisch fest, reiste aber auch durch Indien, Sumatra oder Japan und veröffentlichte ihre Werke in Bildbänden.

Emigration, Flucht, Exil. Mit dem Anschluss Österreichs an das nationalsozialistische Deutschland 1938 war die Wiener Sternstunde der jüdischen Fotografinnen schlagartig vorbei. Die roten Punkte der Studios am Wiener Stadtplan nahmen radikal ab und verstreuten sich in Richtung London, Paris und Vereinigte Staaten. Madame d’Ora, jetzt wieder Dora Kallmus, überlebte wie auch Erna Adler-Rabus in der Illegalität in Frankreich, Belgien und den Niederlanden. Noch aus ihrem Versteck in Amsterdam fotografierte Maria Austria (eigentlich Maria Caroline Östreicher) 1943 Deutsche Soldaten marschieren durch die Vondelstraat, nach dem Ende des Krieges besuchte und dokumentierte sie das Versteck der Anne Frank. Jedoch nicht alle konnten sich retten: Eugenie Goldstern, Edith Barakovich oder Hilde Zipper-Strnad wurden zusammen mit vielen weiteren Fotografinnen ermordet oder in den Freitod getrieben. Während sich Trude Fleischmann in New York als Fotografin für Illustrierte eine neue Existenz aufbauen konnte, und etwa Albert Einstein oder Oskar Kokoschka ablichtete, und Camilla Koffler als Ylla mit ihren Tierreportagen weltberühmt wurde, zwang der Krieg andere, ihren Traumberuf für immer aufzugeben. Ein  einschneidendes Erlebnis und Trauma blieb aber bei allen Geretteten zurück: Elly Nieblar dokumentierte in nüchternen schwarz-weißen Aufnahmen den Wiederaufbau des Stephansdoms, Sowjetpanzer am Stalinplatz (heute Schwarzenbergplatz) und zerbombte Häuser in Wien. Auch Dora Kallmus, früher als Madame d’Ora für ihre Mode-, Star- und Glamourporträts bekannt, wandte sich nach dem Krieg realistischeren Sujets zu und fotografierte unter anderem eine Serie in den Schlachthöfen von Paris.

 

Rede an euch

  • 22.02.2013, 18:35

Über das Risiko, sich mit einer „innerjüdischen“ Debatte in den Dienst der Holocaust-Verniedlicher zu stellen. Raimund Fastenbauer, Generalsekretär der Israelitischen Kultusgemeinde Österreichs, findet klare Worte zu Peter Menasses neuem Buch und einem als Reaktion darauf im Standard erschienenen Artikel. Ein Gastkommentar.

Über das Risiko, sich mit einer „innerjüdischen“ Debatte in den Dienst der Holocaust-Verniedlicher zu stellen. Raimund Fastenbauer, Generalsekretär der Israelitischen Kultusgemeinde Österreichs, findet klare Worte zu Peter Menasses neuem Buch und einem als Reaktion darauf im Standard erschienenen Artikel. Ein Gastkommentar.

Das provokante Büchlein Rede an uns von Peter Menasse, das vergangenen Herbst erschienen ist, kommt in Österreich so manchen besonders gelegen. Sagt doch Menasse selbst, und damit „jetzt sogar die Juden schon“, die Shoah sei Geschichte. Menasse riskiert damit fahrlässig, in eine Ecke mit Holocaust- verniedlichern unterschiedlicher Schattierung gestellt zu werden. Warum wurde seiner Polemik, die er doch, wie er selbst sagt, eigentlich an die jüdische Gemeinde richtet, in Österreich und Deutschland so viel Gewicht beigemessen? Schon immer ließ man gerne einen Juden sagen, was man sich selbst nicht traute. Das wussten schon die Jesuiten des Mittelalters bei Disputationen und erst recht in  späterer Zeit die Stalinisten.

Der Titel Rede an uns weist allerdings in der Tat auf einen nicht unwichtigen innerjüdischen Diskurs hin: Nämlich zwischen jenen Jüdinnen und Juden, die dem Judentum positive Inhalte zusprechen (aus Tradition, Religion, Ethik etc.) und jenen, für die es lediglich gezwungenermaßen eine „Schicksalsgemeinschaft“ in der Mehrheitsgesellschaft Assimilierter darstellte. Letztere sind in ihrem Judentum besonders durch das Geschehene des Holocausts geprägt und getroffen, weil sie auch ihr Assimilationsversuch, den sie bei stärkerem „jüdischen Bewusstsein“ nicht unternommen hätten, nicht vor der Verfolgung bewahrte. Für den Betroffenen mag dies ein schockierender „Undank“ gewesen sein.

Niemals wieder Opfer. Das Gedenken an den monumentalen Zivilisationsbruch, den die Shoah als Versuch einer „modernen maschinellen Vernichtung“ eines ganzen Volkes darstellt, ist im heutigen Judentum mit dem Ziel verbunden, „niemals wieder Opfer“ zu werden, mit der Solidarität mit dem Staat Israel und der Besinnung auf jüdische Inhalte in unterschiedlicher Art und Bewertung – eine durchaus zukunftsgerichtete und selbstbewusste Haltung. Dazu braucht es nicht Peter Menasse. Der gesellschaftlich verankerte Antisemitismus, der ohne die fast 2000jährige abendländische antijüdische christliche Polemik nicht möglich gewesen wäre, ist längst nicht überwunden – trotz der Shoah, es besteht vielmehr die Gefahr der Verdrängung und des Wiedererstarkens unter anderen Vorzeichen, etwa in der Leugnung des Existenzrechtes des Staates Israel und seiner Dämonisierung oder in den Drohungen des Holocaust-leugner-regimes in Teheran mit der Möglichkeit eines diesmal atomaren Holocaust. All dies wird von Menasse ignoriert. Auch der Artikel Judentum: Der Spagat zwischen gestern und ewiggestern von Wolfgang Weisgram, der am 27. Dezember 2012 in der Tageszeitung Der Standard erschienen ist, vermischt grundsätzlich richtige Analysen und Binsenweisheiten Menasses mit falschen und gefährlichen Aussagen wie: „Sie (die Shoah, Anm. d. V.) hat keinen Bezug zur Gegenwart der jungen Generation.“ Hinzu kommt, dass die Überschrift und der Inhalt des Artikels dem Judentum eine totale Rückwärtsbezogenheit auf das „Gestern“ unterstellen. Das ist Wasser auf den Mühlen jener, die aus der Vergangenheit keine Lehre für Gegenwart und Zukunft ziehen wollen: die tatsächlich „Ewiggestrigen“.

Hoher Preis. Manche von Menasses schnoddrigen Sagern lassen sich auch aus seiner Gegnerschaft zur Leitung der Israelitischen Kultusgemeinde erklären. Statt sich über das Selbstbewusstsein der Kultusge­meinde in den letzten Jahren zu alterieren, wäre Kritik am weit zurückhaltenderen Auftreten in früheren Perioden verständlich gewesen, das sich eben aus einem anderen Bewusstsein demoralisierter unmittelbar Überlebender erklären lässt. Da es in der heutigen Mediengesellschaft keine „internen Diskurse“ gibt, nimmt Menasse mit seinen Zeilen aber in jedem Fall fahrlässig in Kauf, dass er Beifall von, hoffentlich, unerwünschter Seite bekommt.

Österreich hat es meisterhaft verstanden, sich jahrzehntelang als das erste Opfer des Nationalsozialismus darzustellen, auf die tatsächlichen Opfer zu vergessen und jene auf hunderten Soldatenfriedhöfen und Gedenkstätten à la Heldenplatz als „Helden“ zu ehren, die sich in den Dienst der Täter stellten. Nicht zufällig ist heute der 26. Oktober Nationalfeiertag. Es ist der Tag der Neutralitätserklärung, der aber oft mit jenem Tag verwechselt wird, an dem der letzte Soldat der Befreier das Opfer Österreich verlassen hat. Ansonsten wäre der Tag der deutschen Kapitulation als Nationalfeiertag zu feiern, wie in anderen Ländern auch. In Österreich aber feiert man lieber den Tag, an dem die Befreier gegangen sind, als jenen, an dem sie gekommen sind.

Kein innerjüdischer Diskurs. Solange Österreich versucht, sich so durch die Geschichte zu drehen, ist die Shoah aber nicht Geschichte. Einschlägiges postnazistisches Gedankengut ist vielmehr manifester Teil der Gegenwart. Dies aufzuarbeiten ist eine Bringschuld der Gesellschaft und kein innerjüdischer Diskurs – schon aus Gründen der Selbsthygiene. Ohne Aufarbeitung gibt es keine Lehren für die Gegenwart und Zukunft. Diesbezüglich ist in den letzten Jahren in Österreich auch durch Initiativen nichtjüdischer Kreise viel geschehen. Menasse hat Recht damit, dass die Gedenkarbeit der Gesellschaft von dort ausgehen sollte. Aber gerade diesen Bemühungen haben weder Wolfgang Weisgram im Standard noch Peter Menasse einen guten Dienst erwiesen. Denn sie sind weder „Therapie gegen Phantomschmerzen“ noch eine innerjüdische Sache, sondern ein wichtiger Beitrag zur demokratischen und humanistischen Entwicklung der österreichischen Gesellschaft. Gerade das Shoahgedenken soll verhindern, dass so etwas heute nochmals so oder ähnlich passiert. Die Gaskammern waren mehr „als eine Fußnote der Weltgeschichte“ (Zitat Le Pen).
 

 

Wie der Kern in die Familie kam

  • 21.02.2013, 14:35

Simon Sailer nimmt die Familie auseinander.

Simon Sailer nimmt die Familie auseinander.

Kernfamilie. Als Kernfamilie wurde im deutschen Sprachgebrauch meist eine Haushaltsgemeinschaft bezeichnet, die aus Mutter, Vater und deren leiblichen Kindern besteht. Der Ausdruck bezeichnete also ein heterosexuelles Pärchen und deren gemeinsame, nicht adoptierte Kinder. In dieser Verwendung spiegelt er ein konservatives, heterosexistisches und völkisches Familienbild wider.

Allerdings unterliegt der Begriff derzeit einer Bedeutungswandlung. Die österreichische Regierung etwa bestimmt auf help.gv.at die Kernfamilie in Zusammenhang mit Aufenthaltsrecht als „Ehegatten, eingetragene Partner und ledige minderjährige Kinder (einschließlich Adoptiv- und Stiefkinder)“. 

Nuclear Family. Im Englischen entspricht der Begriff der „Nuclear Family“ dem deutschen Ausdruck „Kernfamilie“ – allerdings mit dem bemerkenswerten Unterschied, dass die üblichen Bestimmungen auch explizit auf gleichgeschlechtliche Paare und Adoptivkinder hinweisen. Im Unterschied zu der im deutschen noch üblichen völkischen und heterosexistischen Verwendung ist im Englischen die liberale Begriffsauffassung dominanter. Sie geht einfach von einem Erwachsenenpaar und deren sozialen Kindern aus. Die paarförmige Lebensweise bleibt dabei als der liberale Kern der „Nuclear Family“ aufrecht. 

Geschichte der bürgerlichen Familie. Der Begriff der Familie unterlag im Lauf der Zeit zahlreichen Wandlungen. Sowohl wer zum Kern der Familie gerechnet wird, hat sich verändert, wie auch die innere Familienstruktur, also die Aufgabenteilung und der Status der einzelnen Tätigkeiten. So bezeichnete das lateinische Wort famulus, das der Familie ihren Namen gab, das häusliche Eigentum des Mannes: nach damaligem Recht seine Ehefrau, Kinder, SklavInnen und Nutztiere. In der vorindustriellen Familie waren alle im Haus lebenden Männer und Frauen am geschlechtsspezifisch arbeitsteilig organisierten Haushalt beteiligt. Die moderne bürgerliche Familie mit ihrer deutlichen Trennung von Haus- und Erwerbsarbeit bildete sich erst im 19. Jahrhundert prägnanter aus und traf schon relativ früh auf Kritik seitens sich herausbildender feministischer Gruppierungen.

Patchworkfamilie. Dass die Kernfamilie nicht mehr die einzige Form des aktuellen Familienbildes darstellt, hat sich mittlerweile herumgesprochen. In den 1990ern erfuhren alternative Familienformen eine sprachliche Aufwertung, die mit einer wachsenden gesellschaftlichen Akzeptanz einherging. Familien, die aus Kindern aus unterschiedlichen Beziehungen, Alleinerziehenden oder wechselnden sozialen Eltern und Bezugspersonen bestehen, werden jetzt mit dem Ausdruck Patchworkfamilie bezeichnet.

Schon sprachlich verweist der Begriff auf Zerstückelung und Zusammensetzung. Die zunehmende Individualisierung in den Industriestaaten führt zu einer erhöhten Beweglichkeit und Flexibilität und damit einhergehend auch zu einer freieren Allianzenbildung im familiären Bereich. Die Menschen beginnen sich, entgegen der Redewendung, ihre Familie auszusuchen.

Zwang zur Zweigeschlechtlichkeit. Ob Homo- oder Heteropärchen, Patchwork- oder Kernfamilie, jedenfalls wird in den gängigen Debatten immer von fixierten und klar definierten Geschlechtern ausgegangen. Es gäbe eben Frauen und Männer, die sich in homo- oder heterosexuellen Beziehungen zusammenschließen und Kinder ausbrüten. Diese Auffassung spiegelt sich auch gesetzlich wider und stellt Menschen, die sich weder als männlich noch weiblich definieren wollen, beziehungsweise ihr Geschlecht ändern oder geändert haben vor einige Schwierigkeiten. Weil das Familien- und Adoptionsrecht von zwei feststellbaren und feststehenden Geschlechtern ausgeht, werden die Möglichkeiten von Inter- und Transpersonen erheblich eingeschränkt. Das Recht sieht vor, dass sie sich einer aufwendigen Prozedur unterwerfen und sich schließlich auf ein Geschlecht mit „passendem“ Namen festlegen. 

Die kleinste Zelle der Gesellschaft. Friedrich Engels bezeichnet die Ehe als kleinste Zelle der zivilisierten Gesellschaft – eine Formulierung, die häufig in unkritischer Weise aufgegriffen und wiedergegeben wird, obwohl Engels die Unterdrückung von Frauen durch Männer im selben Absatz als die erste Klassenunterdrückung bezeichnet. An der Ehe lasse sich die Natur der voll entfaltenden Gegensätze der kapitalistischen Gesellschaft ablesen – eine Position übrigens, mit der sich Simone de Beauvoir kritisch auseinandersetzt. Sie gesteht Engels zwar zu, eine vergleichsweise fortschrittliche Position zu vertreten, zeigt sich aber vor allem davon enttäuscht, dass er eine geschlechtsspezifische Arbeitsteilung voraussetzt, anstatt sie zu erklären. De Beauvoir vermutet gerade in der Frage der Kindergeburt und -versorgung den ersten Vorteil, der es Männern erlaube, Herrschaft über Frauen zu erlangen und diese zu verfestigen. Sie geht von einem körperlichen Unterschied aus, der einst eine Entwicklung in Gang gesetzt habe, in einer modernen Gesellschaft aber keine Rolle mehr spielen müsse.

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