Wie der Kern in die Familie kam

  • 21.02.2013, 14:35

Simon Sailer nimmt die Familie auseinander.

Simon Sailer nimmt die Familie auseinander.

Kernfamilie. Als Kernfamilie wurde im deutschen Sprachgebrauch meist eine Haushaltsgemeinschaft bezeichnet, die aus Mutter, Vater und deren leiblichen Kindern besteht. Der Ausdruck bezeichnete also ein heterosexuelles Pärchen und deren gemeinsame, nicht adoptierte Kinder. In dieser Verwendung spiegelt er ein konservatives, heterosexistisches und völkisches Familienbild wider.

Allerdings unterliegt der Begriff derzeit einer Bedeutungswandlung. Die österreichische Regierung etwa bestimmt auf help.gv.at die Kernfamilie in Zusammenhang mit Aufenthaltsrecht als „Ehegatten, eingetragene Partner und ledige minderjährige Kinder (einschließlich Adoptiv- und Stiefkinder)“. 

Nuclear Family. Im Englischen entspricht der Begriff der „Nuclear Family“ dem deutschen Ausdruck „Kernfamilie“ – allerdings mit dem bemerkenswerten Unterschied, dass die üblichen Bestimmungen auch explizit auf gleichgeschlechtliche Paare und Adoptivkinder hinweisen. Im Unterschied zu der im deutschen noch üblichen völkischen und heterosexistischen Verwendung ist im Englischen die liberale Begriffsauffassung dominanter. Sie geht einfach von einem Erwachsenenpaar und deren sozialen Kindern aus. Die paarförmige Lebensweise bleibt dabei als der liberale Kern der „Nuclear Family“ aufrecht. 

Geschichte der bürgerlichen Familie. Der Begriff der Familie unterlag im Lauf der Zeit zahlreichen Wandlungen. Sowohl wer zum Kern der Familie gerechnet wird, hat sich verändert, wie auch die innere Familienstruktur, also die Aufgabenteilung und der Status der einzelnen Tätigkeiten. So bezeichnete das lateinische Wort famulus, das der Familie ihren Namen gab, das häusliche Eigentum des Mannes: nach damaligem Recht seine Ehefrau, Kinder, SklavInnen und Nutztiere. In der vorindustriellen Familie waren alle im Haus lebenden Männer und Frauen am geschlechtsspezifisch arbeitsteilig organisierten Haushalt beteiligt. Die moderne bürgerliche Familie mit ihrer deutlichen Trennung von Haus- und Erwerbsarbeit bildete sich erst im 19. Jahrhundert prägnanter aus und traf schon relativ früh auf Kritik seitens sich herausbildender feministischer Gruppierungen.

Patchworkfamilie. Dass die Kernfamilie nicht mehr die einzige Form des aktuellen Familienbildes darstellt, hat sich mittlerweile herumgesprochen. In den 1990ern erfuhren alternative Familienformen eine sprachliche Aufwertung, die mit einer wachsenden gesellschaftlichen Akzeptanz einherging. Familien, die aus Kindern aus unterschiedlichen Beziehungen, Alleinerziehenden oder wechselnden sozialen Eltern und Bezugspersonen bestehen, werden jetzt mit dem Ausdruck Patchworkfamilie bezeichnet.

Schon sprachlich verweist der Begriff auf Zerstückelung und Zusammensetzung. Die zunehmende Individualisierung in den Industriestaaten führt zu einer erhöhten Beweglichkeit und Flexibilität und damit einhergehend auch zu einer freieren Allianzenbildung im familiären Bereich. Die Menschen beginnen sich, entgegen der Redewendung, ihre Familie auszusuchen.

Zwang zur Zweigeschlechtlichkeit. Ob Homo- oder Heteropärchen, Patchwork- oder Kernfamilie, jedenfalls wird in den gängigen Debatten immer von fixierten und klar definierten Geschlechtern ausgegangen. Es gäbe eben Frauen und Männer, die sich in homo- oder heterosexuellen Beziehungen zusammenschließen und Kinder ausbrüten. Diese Auffassung spiegelt sich auch gesetzlich wider und stellt Menschen, die sich weder als männlich noch weiblich definieren wollen, beziehungsweise ihr Geschlecht ändern oder geändert haben vor einige Schwierigkeiten. Weil das Familien- und Adoptionsrecht von zwei feststellbaren und feststehenden Geschlechtern ausgeht, werden die Möglichkeiten von Inter- und Transpersonen erheblich eingeschränkt. Das Recht sieht vor, dass sie sich einer aufwendigen Prozedur unterwerfen und sich schließlich auf ein Geschlecht mit „passendem“ Namen festlegen. 

Die kleinste Zelle der Gesellschaft. Friedrich Engels bezeichnet die Ehe als kleinste Zelle der zivilisierten Gesellschaft – eine Formulierung, die häufig in unkritischer Weise aufgegriffen und wiedergegeben wird, obwohl Engels die Unterdrückung von Frauen durch Männer im selben Absatz als die erste Klassenunterdrückung bezeichnet. An der Ehe lasse sich die Natur der voll entfaltenden Gegensätze der kapitalistischen Gesellschaft ablesen – eine Position übrigens, mit der sich Simone de Beauvoir kritisch auseinandersetzt. Sie gesteht Engels zwar zu, eine vergleichsweise fortschrittliche Position zu vertreten, zeigt sich aber vor allem davon enttäuscht, dass er eine geschlechtsspezifische Arbeitsteilung voraussetzt, anstatt sie zu erklären. De Beauvoir vermutet gerade in der Frage der Kindergeburt und -versorgung den ersten Vorteil, der es Männern erlaube, Herrschaft über Frauen zu erlangen und diese zu verfestigen. Sie geht von einem körperlichen Unterschied aus, der einst eine Entwicklung in Gang gesetzt habe, in einer modernen Gesellschaft aber keine Rolle mehr spielen müsse.

AutorInnen: Simon Sailer