Februar 2013

Die Keimzelle des Bürgertums

  • 20.02.2013, 16:22

Familienpolitik: Alles soll beim Alten bleiben. Feminismus kämpft dagegen an.

Familienpolitik: Alles soll beim Alten bleiben. Feminismus kämpft dagegen an.

Als 1789 Überschwemmungen, Dürre und Unwetter den Brotpreis in die Höhe schnalzen ließen, kam es in ganz Frankreich am Land zu Bauernaufständen, in den Städten zu Plünderungen und Unruhen. Die französische Revolution steckte in ihren Kinderschuhen – und auch die Frauen witterten ihre Chance, als Revolutionärinnen der Recht- und Erwerbslosigkeit sowie der doppelten Unterdrückung durch Obrigkeit und Ehemann zu entkommen. Viele kämpften an vorderster Front gegen das Ancien Regime, gründeten Frauenklubs und hielten Frauenversammlungen ab.

Doch dann kam die große Ernüchterung: Die Menschenrechte wurden verfasst – schrieben jedoch als „droits de l’homme“ eben nur die „Rechte des Mannes“ fest. Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit – aber nur für Männer. Frauenklubs wurden wieder aufgelöst,  Frauenversammlungen verboten und bereits im Code civil festgeschriebene Erleichterungen wurden gestrichen. Zwar verfasste 1791 Marie Olympe de Gouges Die Deklaration der Rechte der Frau und Bürgerin und sandte sie an die Nationalversammlung. Für 200 Jahre verschwand die Schrift dort aber in der Versenkung – erst in den 1970ern wurde sie wieder hervorgekramt. De Gouges selbst musste dennoch mit dem Leben zahlen: Wegen angeblicher royalistischer Verschwörung wurde sie am 3. November 1793 hingerichtet.

Privates ist politisch. De Gouges’ Schrift war eine Art feministische Initialzündung für die „erste Welle“ der Frauenbewegung, die sich für gleiche bürgerliche Rechte für Frauen  einsetzte. Denn wogegen sie kämpfte, war jener Platz, der in der bürgerlichen Kleinfamilie weiterhin für Frauen vorgesehen war: fernab von politischer Auseinandersetzung im öffentlichen Leben, zurückgedrängt in die als „unpolitisch“ deklarierte Privatheit der Familie, über welche öffentliche Debatten unerwünscht waren. Dass das Private aber politisch ist, fiel nicht erst den Feministinnen der zweiten Welle der Frauenbewegung in den 1970ern auf – schon in ebenjenen Geburtsstunden der bürgerlichen kapitalistischen Kleinfamilie verfasste die radikale Frauenrechtlerin Mary Wollstonecraft 1792 die Schrift A vindication of the rights of women. Die Ehe beschrieb sie darin als legale Prostitution – zentrale Voraussetzung für die Emanzipation von Frauen sah sie im gleichen Zugang zu Bildung.

Ehe und Familie sind in der bürgerlichen Gesellschaft die private Blaupause zur öffentlichen Sphäre der Politik und Lohnarbeit – sie stellen die materielle Basis für das darauf aufbauende moderne Geschlechterverhältnis dar. Wer daher „Familienpolitik“ betreibt, muss sich bewusst sein, gleichzeitig immer auch Geschlechterpolitik einzuzementieren. Heute wird zwar gerne beschworen, dass die Zeiten des Heimchens am Herd und des  Familienernährers längst vorbei seien. Aber aktuelle Studien zeigen: In den letzten Jahrzehnten lassen sich kaum Veränderungen bei der klassischen Zuständigkeit der Frauen beobachten. Frauen tragen nach wie vor die Hauptlast bei unbezahlten Fürsorge- und Reproduktionstätigkeiten – im Jahr 2002 arbeiteten sie in Österreich durchschnittlich 45 Stunden in der Woche, Männer hingegen „nur“ 35 Stunden.

96 Milliarden Stunden Hausarbeit. Beinahe zwei Drittel der von Frauen getätigten Arbeit wird für Hausarbeit und Kinderbetreuung – also „Familienarbeit“ – aufgewendet, wie Barbara Haas, Autorin der 2009 veröffentlichten Studie „Geschlechtergerechte Arbeitsteilung – theoretisch ja, praktisch nein!“, ausführt. Bei höherem Bildungsgrad gleicht sich die Zeitverteilung zwar an, „aber selbst unter AkademikerInnen besteht eine starke Differenz bei der Zeitverwendung“, so Haas.

Was es bedeutet, wenn Frauen nach wie vor den mit Abstand größten Teil der familiären Arbeit erledigen? Wie die Arbeits- und Sozialwissenschafterin Gabriele Winker aufzeigt, umfassten diese Reproduktionsarbeiten – also familiäre Arbeiten wie Kinderaufzucht, Liebe, Hausarbeit, Hege, Pflege – auch im Jahr 2001in Deutschland insgesamt 96 Milliarden Stunden Arbeit, während die Erwerbsarbeit „nur“ 56 Milliarden Stunden Arbeit betrug. Die Zahlen beruhen dabei auf Erhebungen des Statistischen Bundesamts Deutschlands von 2003.

Spätestens an dieser Stelle wird klar: Familienpolitik und feministische Politik verhalten sich zueinander komplementär. So ist es nicht verwunderlich, dass Familien- und  feministische Politik auch die österreichische Innenpolitik in eine schwarz-blaue und eine rot-grüne Hälfte dividiert. Umkämpft wird die gleiche Medaille, von zwei unterschiedlichen  Seiten. Das zeigt sich auch daran, dass bis Mitte der 1970er- Jahre das noch aus Monarchiezeiten stammende Ehe- und Familienrecht in Österreich galt: Das Konzept der „Versorgungsehe“ eines erwerbstätigen männlichen Familienerhalters und einer unentgeltlich den Familienhaushalt führenden „Hausfrau“ war hier gesetzlich festgeschrieben. Erst unter sozialdemokratischer Mehrheit konnte dieser Zement in den 1970ern aufgebrochen werden. Verpflichtende Wohnsitzfolge, alleiniges Entscheidungsrecht durch den Mann in Erziehungsfragen, einseitige Pflicht zur Haushaltsführung sowie die Pflicht der Ehefrau zur Mitarbeit im Betrieb des Mannes konnten  abgeschafft werden.

Schwarz-Blaue Hochzeit. Auch wenig verwunderlich: Der nächste Bruch in puncto Familienpolitik erfolgte dann unter der schwarzblauen „Wendekoalition“. Schwarz-Blau führte das gemeinsame Sorgerecht ein und wirkte auch auf symbolischer Ebene mit einem staatlich finanzierten „Hochzeitsbuch“ mit allerhand Tipps für die Schönheit der Braut und die Konversation beim gemeinsamen ehelichen Frühstück. Gleichzeitig wurde in der FPÖ-geführten Männerabteilung gegen die „Gleichmacherei der Geschlechterrollen“ polemisiert.

Familienpolitik ist Geschlechterpolitik. Sie verweist Männer und Frauen auf ihre Plätze, definiert, wie eine Kernfamilie auszusehen hat und delegitimiert damit andere Formen des Zusammenlebens. Insofern wird sie noch lange politischer Zankapfel bleiben.

Liebe wird durch teilen mehr

  • 20.02.2013, 16:11

Alternative Familienmodelle abseits des Mutter-Vater-Kind-Paradigmas: Von der Leihoma, dem neuen großen Bruder und einer Beziehung, an der mehr als nur zwei teilnehmen.

Alternative Familienmodelle abseits des Mutter-Vater-Kind-Paradigmas: Von der Leihoma, dem neuen großen Bruder und einer Beziehung, an der mehr als nur zwei teilnehmen.

Fabian erzählt mit strahlenden Augen von seinem kleinen Bruder Tim. „Wir bauen Lego und spielen Rennbahn. Das mache ich extrem gern. Das ist auch ein bisschen wie ein Alibi: Dass man das machen darf und nicht komisch angeschaut wird als Erwachsener“, lacht Fabian. Dabei hat Fabian Tim erst vor ein paar Monaten kennengelernt. Und streng genommen ist Tim auch nicht wirklich sein Bruder.

Fabian und Tim haben sich über das Mentoring-Programm Big Brothers Big Sisters gefunden, das seit 110 Jahren besteht. In den USA ist es die bekannteste Sozialmarke. Weltweit wurden bisher etwa zwei Millionen Kinder von großen Geschwistern betreut. Im Juni 2012 wurde das erste Büro von BBBS in Wien eröffnet. Bereits im ersten halben Jahr haben sich 50 Familien und 140 MentorInnen gemeldet. Aktuell gibt es in Wien schon 21 Mentor-Mentee-Tandems. Ziel ist, Kinder in schwierigen Lebenssituationen zu fördern. Viele der betreuten sind Kindervon Alleinerziehenden.

Auch Ilona, Tims Mutter, kümmert sich alleine um ihren Sohn. Tim sei ganz ohne Vaterkontakt. „Es ist toll zu wissen, dass er jetzt mal ein Jahr lang jemand fix in seinem Leben hat, den er als Vorbild sieht. Ich kann mir natürlich auch die Bedienungsanleitung für einen Solarbaukasten nehmen, aber das kommt bei einem Kind ganz anders an, wenn das jemand macht, der technikbegeistert ist. Das ist ein ganz anderes Begreifen und Lernen.“

Und umgekehrt hat sich Fabian einen kleinen Bruder gewünscht, der neugierig ist, mit dem er ins Museum gehen und dem er viel erklären kann. Das trifft sich gut, denn Tim liebt das Technische Museum. „Es macht extrem Spaß. Und es ist ein wunderbares Gefühl, wenn ich sehe, dass Tim sich darüber freut.“ Durch ein bewährtes Matching-Verfahren wird für jedes Kind eine passende MentorIngefunden. „Gemeinsame Interessen sind gute Türöffner für die persönliche Beziehung“, erklärt Judith Smetacek, die Geschäftsführerin von Big Brothers Big Sisters Österreich.

Suche nach dem Puzzleteil. Intensiven Gesprächen mit den MentorInnen über Motivation, Interesse und Erwartungen folgen Telefonate mit drei vom Mentor genannten Referenzpersonen aus Familie, Freundeskreis und Arbeitsumfeld – um Selbstbild und Fremdbild zu vergleichen. „Oft ist man so fasziniert von dem Programm, vergisst aber, dass das in der aktuellen Lebenssituation vielleicht gar nicht umsetzbar ist. Daher ist dieser Gegencheck wichtig, um zu sehen, ob die Lebenssituation so stabil ist, dass eine langfristige, vertrauensvolle Beziehung zu einem Kind ohne Beziehungsabbruch jetzt gerade möglich ist“, erklärt Smetacek. Die Rollen zwischen Kernfamilie sowie großen Brüdern und Schwestern sind klar abgegrenzt. „Die Rolle des Mentors ist nicht die Erziehung des
Kindes. Er ist dazu da, um das Kind zu stärken, das Kind wertzuschätzen, ein Ansprechpartner zusätzlich zur Familie zu sein“, sagt Smetacek. Natürlich merkt man aber auch den Einfluss des großen Bruders. Seit Tim weiß, dass Fabian Vegetarier ist, möchte auch er meist ohne Wurst zu Abend essen.

Der Zeitraum für eine Mentoring-Beziehung ist auf acht bis zehn Stunden im Monat über mindestens ein Jahr festgelegt. Nach diesem Jahr kann das Mentoring-Verhältnis verlängert werden. Im Schnitt dauert eine Mentoring-Beziehung zwischen zwei und drei Jahren. „Eine neue Welt wird ein Stück weit erschlossen“, erklärt Smetacek. „Manchmal kommen verschiedene Nationen zusammen. Verschiedene Generationen sind es immer. Und verschiedene Biographien. Man lernt voneinander und miteinander.“ Internationale Studien zeigen, dass Kinder, die im BBBS-Mentoring großgeworden sind, sozial kompetenter sind als die Vergleichsgruppe. Sie können besser mit Konflikten umgehen und treten für ihre Wünsche und Bedürfnisse ein. Andere Vereine, wie etwa das Hilfswerk oder die Caritas, vermitteln Leihomas und Leihopas, wenn Großeltern in der Familie fehlen. Sie verbringen durchschnittlich zwei bis vier Stunden pro Monat mit ihrem neuen Enkelkind.

Ziel ist auch hier, dass Kinder in ihrer Leihoma oder ihrem Leihopa eine zusätzliche Bezugsperson finden. Mehrere Generationen sollen zusammengeführt werden. Karl, 58, Pensionist, ist Leihopa in Ausbildung. „Ich möchte eine erfüllende Tätigkeit, in die ich meine Lebenserfahrung einsfließen lassen kann“, sagt er. „Ich will der Gesellschaft etwas zurückgeben. Gerade in der Arbeit mit Kindern bekommt man ein großes Echo und viel Freude zurück.“

Alternativen. Die Zusammensetzung der Familie ändert sich. Wo früher noch das traditionelle Vater- Mutter-Kind-Modell das verbreitetste war, haben andere Familienformen in den letzten Jahrzehnten aufgeholt.  Heutzutage sind fast zehn Prozent aller Familien Patchworkfamilien. Die Anzahl der Alleinerziehenden hat in den vergangenen 50 Jahren um mehr als ein Drittel zugenommen.  Die Familienmodelle sind vielfältig. Und manche zeigen, dass es auch ganz anders gehen kann. Jacky und Paul sitzen in der Devi´s  Pearl Bar in Zürich und erzählen von ihrer Beziehung. Oder besser gesagt: von ihren Beziehungen.

Jacky ist verheiratet, hat mit Paul eine zweite Beziehung und noch eine Fernbeziehung in Bern. Paul hat eine Beziehung mit Jacky und eine Fernbeziehung in Wien. Er lebt mit seiner langjährigen Freundin zusammen, sie wird aber bald ausziehen – aus praktischen Gründen, damit beide mehr Privatsphäre haben, wenn sie sich mit anderen PartnerInnen treffen wollen. „Monogamie ist in unserer Gesellschaft verankert wie Schwerkraft in der Physik. Das wird einfach als von Gott gegeben angenommen. Ich glaube nicht, dass das so sein muss“, sagt Paul.

Jacky und Paul leben polyamourös. In vielen Verständnissen von Polyamorie geht es in erster Linie nicht um Sex, sondern darum, emotionale Bindungen zu mehr als einem Partner oder mehr als einer Partnerin zu leben.

Polyamourösität. Das polyamouröse Lebensmodell gibt Paulnicht zuletzt auch stabilere,  länger andauernde Beziehungen: „Wenn man auch mal was anderes sieht, hat man einen Kontrast und Abwechslung, und dann kann man eine Beziehung viel länger führen.“ Jacky erzählt von ihrem langen Entwicklungsprozess. Denn: man ist nicht einfach plötzlich polyamourös. Es findet ein grundlegender Paradigmenwechsel statt. „Du bekommst vorgelebt, dass Monogamie toll ist, und wenn dein Partner sich verliebt oder fremdgeht, ist die Beziehung sofort in Gefahr und du musst dich trennen. Genau da ist die Problematik. Du wirst sehr beeinflusst von außen, von der Familie, den Medien, von Freunden. Du musst dir aber überlegen: Was möchte ich?“

Als Jackys Mann Jürg vorbeikommt und sich zu ihnen setzt, nimmt Jacky einmal Pauls und dann Jürgs Hand. Sie lehnt sich unbewusst mal in die eine, mal in die andere Richtung, hakt sich mal bei Jürg ein, und gibt Paul einen Kuss, als sie kurz auf die Toilette verschwindet. Es scheint alles ausgeglichen zwischen den dreien. Keine Vernachlässigung eines Partners zugunsten des anderen, keine Eifersucht, keine Spannungen. Und genauso selbstverständlich und liebevoll handhaben Jacky und Jürg auch den Umgang ihrer jeweiligen Partner und Partnerinnen mit der gemeinsamen Tochter. „Vor einem Kind kannst du nichts verstecken. Die spüren das und es wäre nicht fair, ihm irgendetwas vorzumachen. Unsere Tochter kennt alle unsere Partner, und sie weiß auch, wenn ich einen Abend bei Paulbin. Je mehr Liebe sie bekommt, desto besser.“ Wenn Paul bei Jacky übernachtet und Jürg bei seiner Freundin ist, wird auch das vor ihrer gemeinsamen Tochter nicht verheimlicht.

War Paul am Abend da, fragt sie am nächsten Morgen auch nach ihm, um „Guten Morgen“ sagen zu können. „Ich glaube, dass ich mittlerweile eine Bezugsperson geworden bin, die wichtig ist für sie“, sagt Paul.

Ehrlichkeit als Schlüssel. So normal das polyamouröse Familienleben momentan für ihre  Tochter ist, machen sich Jacky und Jürg natürlich auch Gedanken darüber, wie ihre Tochter mit dem Thema in Zukunft umgehen wird, wenn sie die Andersartigkeit dieses Familienmodells von der Gesellschaft reflektiert bekommt. „Heutzutage ist die Gesellschaft schon offener als früher“, sagt Jürg. „Wenn sie Fragen hat, wird sie kommen. Sie wird von uns jede Frage ehrlich beantwortet bekommen. Ich werde vor ihr nichts verstecken“, sagtJacky. Sehr wichtig ist ihr, dass ihre Tochter Selbstverteidigung lernt. „Das gibt Selbstvertrauen“, fügt Paul hinzu. Zu Jackys und Pauls Beziehung gehört auch, dass sie Erziehungsfragen besprechen. „Ich führe eine Beziehung zu meinem Mann. Ich führe eine mit Paul. Und alles, was mich beschäftigt, teile ich mit allen“, sagt Jacky. Paul möchte aber für Jackys Tochter keinesfalls eine zusätzliche Person sein, um etwa ein „Nein“ ihrer Mutter zu umgehen. Für die direkte Erziehung ihrer Tochter sind ganz klar nur Jacky und Jürg zuständig. Bezugsperson ist er aber trotzdem, das ist ihm wichtig: „Liebe wird durch teilen mehr“, ist Paul überzeugt.

Festung Familie

  • 20.02.2013, 15:54

Die Familie erlebt bei den Jungen ein Revival. Anstelle des romantischen Ideals tritt eine Mischung aus Pragmatismus und Unsicherheit. Die Familie dient immer mehr als Festung, zum Schutz vor der Gesellschaft. Ein Kommentar von Simone Grössing.

Die Familie erlebt bei den Jungen ein Revival. Anstelle des romantischen Ideals tritt eine Mischung aus Pragmatismus und Unsicherheit. Die Familie dient immer mehr als Festung, zum Schutz vor der Gesellschaft. Ein Kommentar von Simone Grössing.

Seit geraumer Zeit fallen sie auf: Vom Laptop grinsen sie auf uns herab und winken uns zu – es sind strahlende Gesichter beim Familienessen, bei der gemeinsamen Weihnachtsfeier oder beim Familienurlaub.

Es sind Fotos, die von jungen Social-Media-UserInnen in Umlauf gebracht werden. Es handelt sich um Bilder von intakten, harmonischen Familien, deren Mitglieder sehr gerne Zeit miteinander verbringen zu scheinen. Was zu anderen Zeiten für viele junge Menschen als peinlich und weniger wichtig galt, scheint wieder verstärkt ein Statussymbol und Teil der eigenen Identität zu sein: die Familie.

Auch Statistiken belegen das Comeback familiärer Werte unter den Jungen. So auch die umfangreiche, vom Institut für Jugendkulturforschung Wien durchgeführte Jugendwerte-Studie aus dem Jahr 2011. Für 81 Prozent der befragten 16- bis 24Jährigen ist die Familie „sehr wichtig“, für 77 Prozent FreundInnen und Bekannte. Damit hat der Lebensbereich „Freunde und Familie“ in den letzten Jahren zunehmend an Bedeutung gewonnen.

Gesellschaft vs. Familie. Dass zwischenmenschliche Beziehungen wieder eine wichtigere Rolle im Leben junger Menschen spielen, sehen viele als positive Entwicklung.  Aber wird die Jugend wirklich wieder sozialer? Angesichts der Vielen, die sich im Online-Chat mehr zu sagen haben als im realen Leben, oder weit verbreiteter politischer Verdrossenheit, erscheint diese Interpretation realitätsfern. Der Zweifel ist gerechtfertigt, zeigt die Jugendwerte-Studie: Zu den Ursachen für das Comeback der Familie zählen eher Faktoren wie ein erhöhtes Bedürfnis nach Sicherheit und zunehmender Individualismus als ein wachsendes soziales Bewusstsein. Ironischerweise scheint der Rückzug in die Familie einen nicht zu unterschätzenden Beitrag zur gesellschaftlichen Individualisierung zu leisten, während sie gleichzeitig eine der Ursachen für diese Entwicklung ist. Indizien dafür finden sich in Statistiken, die belegen, dass bei den Jungen eine starke Individualisierung stattgefunden hat, die mit dem Verlust von Vertrauen in Zusammenhalt und Politik einhergeht. „Von der Gesellschaft erwartet man sich kaum noch etwas“ und „die  Orientierung im sozialen Nahbereich“ sei die Konsequenz – so die Jugendwerte-Studie.

Pragmatisch und individualistisch. Von der Familie erhoffen sich viele Sicherheit und Rückhalt. Man wendet sich aber nicht nur mit emotionalen Bedürfnissen an sie, sondern die Familie soll auch in finanziellen Angelegenheiten unter die Arme greifen. Während in skandinavischen Ländern wie etwa Dänemark der Staat für die Finanzierung von Studierenden aufkommt, muss man sich in Österreich auf die Familie verlassen. Hier kann man etwa, wenn keine Unterstützung von den eigenen Eltern kommt, diese auf Unterhalt klagen, oder muss sich selbst über Wasser halten. Wo der Sozialstaat nicht mehr greift, muss man sich verstärkt auf die Familie verlassen und ist so an sie gebunden. Diese Abhängigkeitsverhältnisse gehen oft über die Studienzeit hinaus. Viele werden lebenslang von ihren Eltern finanziell unterstützt, bekommen Häuser und Autos vererbt – anders könnten sie von ihren Jobs kaum leben. Geredet wird darüber aber nur selten. Trotz der zunehmenden Relevanz der Familie hat sich über die Jahre hinweg der Zugang zu ihr verändert.

Das zeigt sich auch am steigenden Heiratsalter, späteren Schwangerschaften oder dem Rückgang von Geburten. Auch der Umgang mit Konventionen ist anders als vor etwa zehn Jahren. Beispielsweise wird das traditionelle Familienbild heute von vielen als ein „romantisch verklärtes Ideal“ betrachtet, das laut den Jungen als „erstrebenswert, aber nur mehr schwer zu realisieren“ gilt. Es scheint, als wüssten sie, dass sie hart und lange arbeiten werden müssen, und sie haben gesehen, dass dabei kaum Zeit für die Kinder bleibt  und Ehen immer wieder unter diesen Umständen auseinanderbrechen. Sie sind  realistisch und pragmatisch. Am Boden bleiben und sich keine großen Illusionen machen – so lautet die Devise.

Politisches Potenzial? Angesichts der aktuellen Wirtschaftskrise und des damit  einhergehenden Abbaus des Sozialstaates ist es wahrscheinlich, dass sich der Trend zurück zur Familie verstärken wird. Die Gefahr besteht nun, dass sich eine ganze Generation in die Familie flüchtet, um sich dort von der Gesellschaft zu erholen, anstatt sie aktiv mitzugestalten und sich für andere Lebensentwürfe stark zu machen. Vielen Linken ist die bürgerliche Familie deswegen schon lange ein Dorn im Auge – sie gilt für sie als Basis des kapitalistischen Systems.

Dennoch scheint die Verteufelung der Retrowelle von Familien- und Kinderwunsch eine schlechte Antwort auf diese Entwicklung zu sein. Denn diese sind nicht das Problem,  sondern vielmehr Ausdruck einer Zeit, die von Unsicherheiten bestimmt wird. Junge zweifeln an ihrer Zukunft, und fragen sich, was aus ihnen werden soll. Die Angst schreit dabei oft lauter in ihren Köpfen als so manches in ihnen schlummernde Bedürfnis. Natürlich würde es vor allem für junge Frauen einen enormen Rückschritt bedeuten, wenn die Fixierung auf die Familie als Herz der Gesellschaft noch stärker zunehmen würde. Aber  diese Ausdrücke zu verurteilen, wäre der falsche Weg. Vielmehr gilt es gesellschaftliche Rahmenbedingungen zu schaffen, die uns furchtloser leben lassen, uns den Rücken stärken und das „da draußen“ weniger nach Schlachtfeld aussehen lassen. Wir müssen die verstärkten Wünsche nach Sicherheit und Geborgenheit also nicht bekämpfen, wie manche glauben, sondern in eine andere Richtung lenken. In ihnen steckt eine wichtige  Voraussetzung für Gemeinschaft und Zusammenleben und somit auch ein großes politisches Potenzial. Anstatt diese Bedürfnisse aber (nur) auf die Familie zu projizieren, sollten wir sie auch in Richtung Gesellschaft lenken, so könnten sie zu einer Politisierung und Stärkung eines gesellschaftlichen Bewusstseins führen. Denn warum diese Politisierung bis heute nicht eintritt, bleibt eine wichtige Frage, die wir uns unbedingt  stellen sollten.

Hinter geschlossenen Türen

  • 16.02.2013, 10:24

Nie entspricht Familie ihrem idealisierten Bild. Gewalt in der Familie ist ein unterschätztes gesellschaftliches Problem, darunter leiden vor allem Frauen. Lisa Zeller hat nachgefragt, warum das so ist und was sich ändern muss.

Nie entspricht Familie ihrem idealisierten Bild. Gewalt in der Familie ist ein unterschätztes gesellschaftliches Problem, darunter leiden vor allem Frauen. Lisa Zeller hat nachgefragt, warum das so ist und was sich ändern muss.

Ein Mann, eine Frau und zwei oder drei Kinder halten sich an den Händen und springen draußen durchs Grüne. Die Sonne strahlt. Sie strahlen. Das ist das Bild, das man nach einer kurzen Internet-Recherche zu Familie erhält. Dass es bei vielen Familien hinter geschlossenen Türen anders aussieht, macht zum Beispiel die Gewaltprävalenzstudie „Gewalt in der Familie und im nahen sozialen Umfeld“ von 2011 deutlich. Die Familie wird dort als jener soziale Nahraum genannt, in dem am häufigsten körperliche Übergriffe erlebt wurden. Von insgesamt 2.334 Personen im Alter zwischen sechzehn und sechzig Jahren gaben etwa drei Viertel an, als Kind mehr als einmal mit körperlicher Gewalt durch Familienmitglieder konfrontiert gewesen zu sein – Gewaltformen wie psychische und ökonomische Gewalt noch nicht mit einberechnet.

Gewalt in der Familie kann von allen Familienmitgliedern ausgehen. Jedoch belegen Studien, dass Frauen in Familie oder Partnerschaft am häufigsten von ihr betroffen sind. Jede fünfte Frau in Österreich ist mindestens einmal in ihrem Leben von Gewalt  in einer Beziehung betroffen. Fünfzig bis siebzig Prozent der Kinder misshandelter Frauen werden ebenfalls misshandelt. „Es geht bei Gewalt immer um Machtungleichgewichte. In Familien sind diese sehr deutlich ausgeprägt, weil sie wenig durch öffentliche  Blicke kontrolliert sind“, erklärt Marion Geisler vom Kinder- und Jugendlichenbereich im ersten Wiener Frauenhaus.

Das Gegenmittel. Auch Frauen werden auffallend oft gegenüber Kindern gewalttätig. Misst man körperliche Gewalt, liegt die  Gewalterfahrung durch Mütter noch vor der Gewalterfahrung durch den Vater. „Ein Grund könnten die klassischen  Geschlechterrollen sein, in denen Frauen noch immer die meiste Erziehungs- und Hausarbeit leisten und zusätzlich einer beruflichen Arbeit nachgehen“, sagt Olaf Kapella vom Österreichischen Institut für Familienforschung, der maßgeblich an der eingangs zitierten Gewaltprävalenzstudie beteiligt war. Dies führe zu enormem Stress und einer Situation der Hilflosigkeit, die dann in Gewalt gegen die Kinder münden kann. „Hilflosigkeit und Überforderung sind allgemein wichtige Gründe, wenn es um Gewalt in Familien geht“, fügt Hannelore Pöschl, Diplomsozialarbeiterin und Leiterin des Amts für Jugend und Familie Wien im 13. und 14. Wiener Gemeindebezirk, hinzu. „Besonders von Menschen, die nicht gelernt haben, mit Konfliktsituationen umzugehen, wird die eigene Hand zum Beenden eines Zustands genutzt, den man nicht mehr erträgt.“

Männer wiederum, die dominante Rollenbilder verkörpern, neigen zur Abwertung von Weiblichkeit und werden so gegenüber Partnerinnen häufiger gewalttätig. Grund dafür können die patriarchale Prägung einer Gesellschaft sowie die damit verbundene geschlechterspezifische Sozialisation sein. „Gleichstellung und Gewalt bedingen sich gegenseitig: Das Gegenmittel gegen Gewalt ist Gleichstellung von Frauen“, sagt Rosa Logar von der Interventionsstelle gegen Gewalt in der Familie. „Je traditioneller eine Familie  aufgebaut ist, desto höher ist die Gefahr, dass Gewalt vom Vater oder vom Partner ausgeht“, bestätigt Geisler. Außerdem kann das traditionelle Familienideal dazu beitragen, dass Frauen beim gewalttätigen Partner bleiben. Mütter in solchen Frauenrollen fühlen sich oft verantwortlich für eine „heile“ Familie und differenzieren nach dem Muster, „er“ sei zwar ein gewalttätiger Ehemann, aber ein liebevoller Vater. „Doch das funktioniert nicht. Beobachtete Gewalt hat die gleichen Folgen wie selbst erlebte Gewalt. Das weiß man auch von der Folter, aber genau dieser Mechanismus wird bei Kindern bagatellisiert.“ Das Ende der Beziehung wird zudem oft nicht als Ausweg gesehen, weil eine Trennung das Gewaltrisiko steigert.

Die Erfahrung im Frauenhaus zeigt auch, dass sich Kinder stark nach dem klassischen Familienmodell sehnen. Manchmal erwähnen sie seltene Momente mit dem Vater, zum Beispiel am Spielplatz, als Wunsch, es möge doch in Zukunft immer so sein. „Die Kinder wünschen sich einen liebevollen Vater, der sich um sie kümmert, so wie sie es in der Werbung oder in Filmen sehen können.“ Gewaltvolle Kindheiten sind auch für die eigene Familiengründung prägend. Bei Mädchen und Buben aus Gewaltbeziehungen steigt  im Erwachsenenalter die Wahrscheinlichkeit, wieder als Opfer oder TäterIn eine Gewaltbeziehung einzugehen. Etwa 30 Prozent fallen in diese sogenannte Gewaltspirale. 

„Ursachen für Gewalt gibt es allerdings viele. Meine Erfahrung zeigt, dass Eltern grundsätzlich das Beste für ihr Kind wollen. Ich  kenne ganz wenige, denen es wirklich egal ist oder die sadistisch veranlagt sind“, so Pöschl. Oft hätten sie durch die eigene Erziehung selbst kein gutes Beispiel bekommen und ihnen gingen die Ideen aus. Fest steht allerdings, dass Gewalt in der Familie  keiner sozialen Schicht zugeschrieben werden kann – mit Gewalterfahrungen wird lediglich anders umgegangen. So ist das Schamgefühl in höheren sozialen Schichten größer, und weniger Gewalttaten werden angezeigt.

Angebote gegen Gewalt in der Familie sind in Österreich vielfältig: Von Präventionsarbeit in Form von Workshops von Vereinen wie Poika, White Ribbon und den Frauenhäusern über Hilfeleistungen vom Jugendamt und Helplines als Beratungsstelle, sowie durch die Krisenarbeit der Frauenhäuser und der Interventionsstelle gegen Gewalt in der Familie gibt es in Österreich ein sehr breites Angebot. Insgesamt wurden im Jahr 2008 in den Interventionsstellen gegen familiäre Gewalt 14.016 Opfer betreut. Nahezu alle Opferschutzeinrichtungen sind jedoch unterfinanziert.

Stark eingeschränkt wird die Arbeit auch von der Väterrechtsbewegung. Besonders Frauenhäuser bekommen die damit  einhergehende Stress- und Angstsituation der Mütter durch lange Prüfungen der Obsorge zu spüren. „Häufig wird bei den  Untersuchungen die Gewalt ausgeklammert“, berichtet Geisler. „Wenn immer auf dieses Vaterrecht beharrt wird, frag ich mich, wo ist das Kindeswohl?“ Häufig laste auch enormer Druck auf SozialarbeiterInnen, BeraterInnen und MitarbeiterInnen bei Gericht und beim Jugendamt, die von Väterrechtlern immer wieder geklagt werden.

Als gesellschaftliches Problem mit rechtlichen Folgen wird familiäre Gewalt erst seit Kurzem angesehen. Das liegt an dem hohen  Stellenwert, den die Familie gesellschaftspolitisch hat: „Die Wertvorstellung, die Familie sei das Heiligtum, ist genau das, was dazu  geführt hat, dass jahrelang gar nicht eingeschritten wurde“, erklärt Assistenzprofessorin Katharina Beclin vom Institut für Strafrecht und Kriminologie der Universität Wien. Logar ergänzt: „Doch die feministische Bewegung in den 60er und 70er Jahren hat das Thema  wieder öffentlich gemacht.“ So wurde 1989 Vergewaltigung in der Ehe strafbar. Das Gewaltschutzgesetz trat 1997 in Kraft. Es ermöglicht der Polizei ein Wegweisungsrecht gegenüber dem Täter und schreibt Maßnahmen zum Gewaltschutz, kostenlose  Beratung und Unterstützung der Opfer durch die genannten Einrichtungen fest. So wird bei Wegweisungen die Interventionsstelle kontaktiert – und falls Kinder involviert sind, auch das Jugendamt.

Ein großes Problem allerdings ist, dass Frauen oft keine Anzeige erstatten. „Viele Frauen wissen nicht, dass es ein strukturelles Problem der Gesellschaft ist“, sagt Beclin. Auch Abhängigkeiten finanzieller Art oder durch Verlust des Aufenthaltsstatus sind häufig Gründe, lieber zu schweigen. „Auf individueller Ebene kann man das leider oft gut nachvollziehen.“ Wird aber doch angezeigt, sind Straftaten über längere Zeit hinweg meist nicht mehr nachweisbar. RichterInnen tun sich oft schwer, den Frauen zu glauben.  „Deswegen ist es ratsam, die Verletzungen nicht nur behandeln, sondern auch fotografisch und schriftlich dokumentieren zu  lassen“, meint Beclin.

Oft kommt es allerdings gar nicht zum Strafverfahren, etwa wenn in der Polizeiakte Aussage gegen Aussage steht. In diesem Fall  wird das Verfahren schon vorher eingestellt – von der Staatsanwaltschaft, die nicht einmal Kontakt mit den ZeugInnen hat. „Das  halte ich für problematisch. Denn dann dauern die Gewaltakte meist Jahre an.“ Auch wenn es unter diesen Umständen zur  Verurteilung kommt, sei die herkömmliche Haftstrafe für das Problem eher kontraproduktiv. Nach Absitzen der Haft können Täter  durch Gewalterfahrungen von Mithäftlingen oder Schwierigkeiten am Arbeitsmarkt frustrierter und abermals gewalttätig werden. „Es  wäre wichtig, dass sie parallel ein Anti-Gewalt-Training machen. Auch eine milde Strafe kann mit dieser Auflage verhängt werden“,  sagt Beclin. So sollte es neben der umfassenden Opferbetreuung auch Täterbetreuung geben. Denn die gesamtgesellschaftlichen Kosten sind enorm: „Krankenstände, Arbeitsunfähigkeiten, Todesfälle, Polizeieinsätze, Gerichtsverfahren, Gefängnisaufenthalte,  psychische Folgen, post-traumatische Belastungsstörungen, die natürlich auch wieder Folgen haben für die Familien“, zählt Geisler  auf. Sie fügt hinzu: „Geld für Prävention statt für Strafen auszugeben, wäre wohl besser, als immer im Nachhinein die Folgen zu bezahlen.“

Entschuldigt wird familiäre Gewalt Pöschl zufolge oft mit der lapidaren Aussage: „Mir hat die Watschen auch nicht geschadet und aus mir ist auch was geworden.“ Doch darauf hat sie eine klare Antwort: „Ja, aber wissen Sie, was aus Ihnen geworden wäre, wenn Sie sie nicht bekommen hätten?“

Durchgekämpft

  • 16.02.2013, 09:17

Obdachlosigkeit ist die gravierendste Form von Armut. Christian Meischl hat sich erfolgreich von ihr befreit. Wie das ging, erzählte er Flora Eder, die ihn bei seiner Tätigkeit als Augustin-Verkäufer begleitet hat.

Obdachlosigkeit ist die gravierendste Form von Armut. Christian Meischl hat sich erfolgreich von ihr befreit. Wie das ging, erzählte er Flora Eder, die ihn bei seiner Tätigkeit als Augustin-Verkäufer begleitet hat.

Auf der unteren Mariahilferstraße, zwischen Supermarkt und Stiftskirche ist das Reich des Christian Meischl. Jeden Vormittag kommt der 44Jährige hierher, mit mehreren Augustin-Ausgaben unter dem Arm, und verkauft die Straßenzeitung. Meischl kennt fast alle, die hier vorbei kommen. Ihm fällt auf, wenn ein Mistkübler auf dem vorbeifahrenden orangen Müllwagen der Magistratsabteilung 48 fehlt, fragt die Kollegen, wie es ihm geht und wünscht gute Besserung. Er kennt die Urlaubspläne jener Leute, die in den Büros über ihm arbeiten und freut sich, wenn ihn der Hund der Stammkundin wie einen alten Freund begrüßt.

Meischl hat sich durchgekämpft. Von der Straße zur Notschlafstelle, weiter zur betreuten Wohnung und zum Augustin-Verkäufer. Derzeit ist er sogar auf der Suche nach einem fixen Job als Angestellter. „Die nächsten 20 Jahre den Augustin verkaufen, das ist keine Perspektive für mich“, sagt er. Bis hierher war es aber ein langer Weg. „Als ich obdachlos wurde, wusste ich gar nicht, wohin  ich sollte. Ich habe nicht einmal die Gruft gekannt“, erinnert er sich. Geholfen haben ihm damals andere obdachlose Menschen – sie haben die Notschlafstellen durchtelefoniert und nach einem Bett für Meischl gesucht. „Ich habe weder gewusst, wo eine Essensausgabe ist, wo ich Kleidung bekomme, noch wo ich mich duschen kann“, sagt er. „Obdachlosigkeit war davor einfach kein Thema für mich – da muss ich mich auch selbst am Rüssel nehmen: Auch ich bin früher an den obdachlosen Menschen blind vorbeigegangen.“

Foto: Johanna Rauch

Rund 8000 Personen in Wien sind obdachlos – genaue Zahlen aber gibt es nicht. Die Dunkelziffer kann erheblich höher sein. 2011 haben über 6000 von ihnen die Möglichkeit genutzt, in einer Notschlafstelle unterzukommen. Wer in Wien ein Bett in einem  Notquartier benötigt, geht zu einer Einrichtung namens „P7“ im zweiten Wiener Gemeindebezirk und wird einem freien Bett  zugewiesen. Weitere Hilfe erhält man dann im „bzWO“, wo Plätze für die verschiedenen Angebote der Wohnungslosenhilfe vermittelt werden: für das Übergangswohnen, das betreute Wohnen oder das betreute Dauerwohnen. Je nach körperlichem Zustand und Zukunftsplänen – und auch Glück – erhält man dann einen betreuten Wohnplatz mit langfristiger Perspektive. 

Therapeutisches  Taschengeld. Perspektive geben aber auch Projekte wie der Augustin. Als KolporteurIn der Straßenzeitung kann man sich zusätzlich  zur bedarfsorientierten Mindestsicherung, auf die die meisten wohnungslosen ÖsterreicherInnen Anspruch haben, etwas dazu  verdienen. Für AsylwerberInnen, die finanziell erheblich schlechter gestellt sind, ist der Augustin häufig Teil der Existenzgrundlage – genauso für viele Roma, die aufgrund von struktureller Diskriminierung und den minimalen Sozialhilfen in Rumänien, Tschechien und der  Slowakei in Wien den Augustin vertreiben. „Wir versuchen, ein Gleichgewicht zwischen den Personengruppen zu halten“, sagt Mehmet Emir, Sozialarbeiter beim Augustin. „Die Leute kommen aus den unterschiedlichsten Ecken der Welt, viele aber auch aus Wien – das ist ganz unterschiedlich. So haben wir auch sehr hoch qualifizierte KolporteurInnen, oftmals AsylwerberInnen aus Georgien. Sie dürfen während des Asylverfahrens nicht arbeiten – außer Zeitungen kolportieren“, erklärt er: „Viele sagen in so einem Fall zu dem Geld, das sie beim Augustin verdienen können, auch therapeutisches Taschengeld.“

420 aktive Augustin-KolporteurInnen gibt es derzeit – und 80 weitere werden dieser Tage aufgenommen. Alle zwei Wochen vertreiben sie die 22.000 bis 25.000 Exemplare des Augustins an den verschiedensten Ecken Wiens zu je 2,50 Euro – wovon eine Hälfte an die Kolporteurin geht, die andere an das Zeitungsprojekt. Zu Weihnachten beträgt die Auflage gar 46.000 Stück – hinzu kommen Goodies wie der Augustin-Kalender.  „Wir wären gerne das Blatt, das statt der Heute gelesen wird“, sagt Augustin- Redakteurin Lisa Bolyos. Sie fügt schmunzelnd hinzu: „Das von der Verbreitung her zu schaffen, ist quantitativ schwierig, aber qualitativ vielleicht möglich. Wir bekommen sehr viele LeserInnenbriefe, die zeigen, wie vielfältig unser Publikum ist.“ Ziel ist jedenfalls, meinungsbildend für Wien zu sein und Diskussionsstoff für die Stadt zu liefern. Ob die KolporteurInnen selbst auch den Augustin lesen? „Zumindest teilweise. Manche diskutieren ihn auch mit ihren StammkundInnen“, sagt Bolyos. Trotzdem sei man sich bewusst, dass für viele KolporteurInnen Sprachbarrieren bestünden, da sie Deutsch erst lernen müssen. Aber: „Der Background der wohnungslosen Menschen ist sehr unterschiedlich. Außerdem sind die KolporteurInnen des Augustins nicht grundsätzlich alle obdachlos, sondern Leute, die aus irgendeinem Grund verarmt sind oder aus dem regulären Arbeitsmarkt ausgeschlossen.“    

Wohnungslos. Auch Meischl ist von der Definition her nicht obdachlos – denn er lebt in einer betreuten Einrichtung der Wiener  Wohnungslosenhilfe. Genauer gesagt ist er daher „wohnungslos“: Er hat derzeit keine eigene Wohnung, aber ein Dach über dem  Kopf, einen eigenen Wohnungsschlüssel und damit eigene vier Wände. Das Ziel ist, nach einem Job wieder eine auf ihn selbst  angemeldete Gemeindewohnung zu erhalten. „Vor wenigen Jahren noch wäre das undenkbar gewesen: Drei Jahre lang hatte ich gar kein Geld, keine Mindestsicherung, nichts. Ich bin komplett durch den Rost gefallen und habe gebettelt“, erzählt Meischl. Als er   aber Unterstützung bekam, einen Wohnplatz und Sozialhilfe ging es bergauf. „Beim Augustin war aber leider Aufnahmesperre.  Trotzdem bin ich einfach hingegangen, und so schnell konnte ich gar nicht schauen, hatte ich schon Zeitungen in der Hand und verkauft“, sagt er. Ein wenig Stolz liegt in seiner Stimme. „Ich hab wirklich jede Chance genützt.“

Keine Grenzen. Gebildet zu sein, die lokale Sprache ohne Akzent zu sprechen, Durchsetzungsvermögen, die richtige StaatsbürgerInnenschaft zu haben – und auch das richtige Geschlecht: Obwohl Obdachlosigkeit die gravierendste Form von Armut in modernen westlichen Gesellschaften darstellt, zeigen sich selbst auf dieser Spitze des Eisbergs noch immer gesellschaftliche Diskriminierungsmechanismen. So haben etwa Nicht-ÖsterreicherInnen gar keinen Anspruch auf das Angebot der Wohnungslosenhilfe – ausnahmsweise wurde diesen Winter ein Notpaket geschnürt, das ein Notquartier unabhängig von der StaatsbürgerInnenschaft für „Nicht Anspruchsberechtigte“ ermöglichte. EU-BürgerInnen stehen zumindest seit der Audimax-Besetzung durchgängig Notquartiere zur Verfügung. Laut dem Bericht des Verbands der Wiener Wohnungslosenhilfe 2011 wurden diese Einrichtungen „entsprechend gestürmt“. Im damaligen Jahr nutzten 719 Männer und 88 Frauen die Nächtigungsmöglichkeiten  in der sogenannten „Zweiten Gruft“. Hieran zeigt sich auch: Obdachlosigkeit kennt zwar keine Grenzen – aber ein Geschlecht. Denn Frauen sind wesentlich seltener obdachlos, aber versteckt wohnungslos. Sie kommen häufig bei Bekannten unter oder gehen  „Zweckbeziehungen“ ein – in denen sie nicht selten sexueller Ausbeutung ausgeliefert sind.

Wie verändert es das Weltbild und die politische Einstellung, wenn man selbst den Augustin verkauft oder einmal obdachlos war? „Für die meisten ist es selbstverständlich, dass sie ein Bett und ein Dach über dem Kopf haben. Aber das ändert sich dann sehr wohl. Man wird bescheidener“, sagt Meischl. Derzeit bemüht er sich, auf der Mariahilferstraße die Vorurteile gegenüber  wohnungslosen Menschen zu bekämpfen. Er spricht mit vielen seiner KundInnen über deren klischeehafte Vorstellung von Obdachlosigkeit. „Mich haben schon viele Leute blöd angeschaut, wenn ich beispielsweise Touristen auf Englisch den Weg erklärt habe“, sagt er. Und mit einem sehr ernsten Lachen: „Aber entschuldige, ich bin doch nicht als Augustin-Verkäufer auf die Weltgekommen.“

Brücken statt Stacheldraht

  • 13.02.2013, 17:30

Klaus Schwertner: "Ich glaube, dass die ÖVP nach dem Wahlkampf in Wien 2010 erkannt hat, dass es keine Wahlerfolge bringt, Menschen in Not zu kriminalisieren. Es ird am 1. Jänner 2014 eine Liberalisierung des Fremdenrechts geben."

progress: Wann wären die Proteste in der Votivkirche aus Sicht der Caritas ein Erfolg?

Klaus Schwertner: Durch ihren Protest haben die Flüchtlinge schon sehr viel erreicht: Sie haben sichtbar gemacht, dass es  grundsätzliche Probleme in den Unterkünften und im Verfahren gibt. Erstmals treten AsylwerberInnen in einer breiten Öffentlichkeit selber für ihre Anliegen ein. Menschenrechte gelten für alle, das vermitteln sie eindrucksvoll. Gleichzeitig ist aber auch klar, dass  wir in einem Rechtsstaat leben, das heißt nicht jedeR die oder der Asyl beantragt, wird auch Asyl erhalten. Die PolitikerInnen könnten zwei Dinge von den Flüchtlingen lernen: mehr Menschlichkeit und mehr Mut. Eine Lösung für die Flüchtlinge in der Votivkirche ist eine Frage des Wollens, nicht des Könnens.

Warum hat sich aus der Bundesregierung niemand in die Kirche begeben? Oder der Bundespräsident, der sich auch
für Arigona Zogaj stark gemacht hat?

 
Das müssen Sie die PolitikerInnen selbst fragen. Es gab in der Kirche Gespräche mit Kardinal Schönborn und mit Othmar Karas, dem Vize-Präsidenten des Europaparlaments. Aber es ist nicht so wichtig, wo ein Dialog stattfindet, sondern dass ein Dialog stattfindet. Die Innenministerin hat Anfang Jänner vier Flüchtlinge, die in der Votivkirche Schutz suchen, empfangen. Dabei hat sie zwei Stunden lang mit ihnen gesprochen und faire Verfahren versprochen – aber auch betont, dass es keine strukturellen Änderungen im  Asylrecht geben werde.

Welche gesetzlichen Änderungen braucht es aus Ihrer Sicht?

Es ist nicht alles schlecht und nicht alles gut im österreichischen Asylwesen. Wenn man sich die Verhältnisse in Griechenland anschaut, stehen wir hier nicht so schlecht da. Trotzdem sollte Europa gemeinsam Brücken bauen, anstatt Stacheldrähte hochzuziehen. Österreich braucht rasche, qualitätsvolle Asylverfahren. In acht von neun Bundesländern gibt es baufällige, schimmlige Quartiere. Da brauchen wir Mindeststandards: Es geht nicht um Hotels mit drei Sternen, sondern um menschenwürdiges Wohnen. Wir brauchen eine einheitliche Beurteilung der Gefahren in den Herkunftsländern der Flüchtlinge. Es mutet eigenartig an, dass auf der Homepage des Außenministeriums Reisewarnungen der höchsten Sicherheitsstufe für Pakistan ausgesprochen werden, aber die Flüchtlinge aus diesen Regionen möglicherweise dorthin zurück müssen.

Menschenrechtsorganisationen kritisieren, dass im Asyl- und Fremdenrecht seit 20 Jahren eine Verschärfung die andere jagt.

Unzählige Novellen haben dazu geführt, dass die Qualität der Gesetze immer schlechter geworden ist. Durch die Schaffung des Bundesamtes für Flüchtlinge und Migration sollte es aber hier dringend notwendige Verbesserungen geben. In den letzten Jahren hat  sich einiges zum Positiven verändert. Aber auf der einen Seite wirft man Flüchtlingen oft vor, dass sie viel Steuergeld kosten, und auf der anderen Seite lässt man sie nicht arbeiten – das ist zynisch. Die aktuelle Regelung erlaubt nur Saisonarbeit bei der Ernte. AsylwerberInnen dürften Gurkerl ernten, aber aufgrund der Einschränkung der Bewegungsfreiheit dürfen sie oft nicht dort hin, wo  die Gurkerl sind.

Haben sich SPÖ und ÖVP in der Frage der Rechte von MigrantInnen zu lange von der FPÖ treiben lassen?

Ich glaube, dass die ÖVP nach dem Wahlkampf in Wien 2010 erkannt hat, dass es keine Wahlerfolge bringt, Menschen in Not zu kriminalisieren. Es wird am 1. Jänner 2014 eine Liberalisierung des Fremdenrechts geben. Menschen, die sich fünf Jahre in Österreich aufhalten, drei davon legal, bekommen einen Rechtsanspruch auf humanitäres Bleiberecht. Abschiebungen von Kindern mit Sturmgewehren, Familien, die auseinandergerissen werden: Diese Zustände müssen in Österreich ein Ende haben und ich bin  guten Mutes, dass uns das gelingt. Es braucht klare Gesetze und Menschlichkeit.

Was das Herz berührt

  • 13.02.2013, 17:17

Alexander Pollak (SOS Mitmensch): "Dass Flüchtlinge vor Medien für sich selbst sprechen, ist auch neu. Symbolisch ist der aktuelle Protest kaum zu übertreffen. Die politischen Erwartungen muss man davon trennen."

progress: Wie hat sich das politische Klima für Menschenrechte in den letzten 20 Jahren entwickelt? Was sind die wesentlichen Unterschiede zwischen 1993 und 2013?

Alexander Pollak: Zum Einen hat sich verändert, wer die Debatte führt. Die Zivilgesellschaft hat mehr Gewicht bekommen, es gibt mehr Organisationen, die sich individuell und politisch für Flüchtlinge engagieren. Es kommen immer wieder Impulse von der EU,  die in Österreich umgesetzt werden müssen. Ich denke an die Einführung der Grundversorgung für AsylwerberInnen vor zehn Jahren. Neu sind die Herkunftsländer der Flüchtlinge: AsylwerberInnen aus Afrika und Asien, die sich mit den restriktiven Regelungen  herumschlagen müssen, haben wir erst seit den letzten Jahren. Verändert hat sich auch die Wahrnehmung der FPÖ: Sie ist zu einem  Teil der Normalität geworden. Vor 20 Jahren war die Empörung über die Hetze der FPÖ noch größer.

Der Journalist Peter Huemer hat bei der Matinee zur 20-Jahr-Feier des Lichtermeers die Frage in den Raum gestellt, ob man nicht  mindestens so massiv gegen SPÖ und ÖVP protestieren müsste, die Haider und jetzt auch Strache immer wieder nachgegeben  haben. Wie sehen Sie das?

Unsere politische Arbeit richtet sich in erster Linie an die Regierung, also beispielsweise an den Sozialminister, wenn es um ein Recht auf Arbeit für AsylwerberInnen geht, oder an die Innenministerin, wenn es etwa um unzulässige Härten in Asylverfahren geht. Die FPÖ nimmt vor allem eine Rolle wahr: Den Diskurs immer wieder aus einer menschenfeindlichen Perspektive anzuheizen.

Hat  sich die politische Mitte durch diesen Anti- Migrations-Diskurs verschoben?

Es gibt eine gewisse Verschiebung. Aber diese ist nicht eindimensional. Eine negative Verschiebung sehe ich, was die Bereitschaft betrifft, menschenfreundliche Reformen anzugehen. Aber ich sehe auch positive Verschiebungen: Vor 20 Jahren gab es kaum  Dorfgemeinschaften und BürgermeisterInnen, die sich für Asylsuchende stark gemacht haben.

Welche Strategien gibt es gegen die angesprochene Abstumpfung gegenüber dem Thema Asyl?

Menschen sind leichter für Mitleid als für konkrete rechtliche Anliegen zu gewinnen. Viele haben Probleme damit, wenn Flüchtlinge plötzlich beginnen, Forderungen zu stellen und sich selbst zu artikulieren, wie das in der Votivkirche passiert. Unsere Kampagnen richten sich nicht primär danach aus, ob Mitleid erregt werde kann, etwa weil Kinder betroffen sind, oder nicht. Aber alles, was das  Herz berührt, hat größere Chancen, wahrgenommen zu werden und Engagement zu wecken. Dieser Logik kann sich niemand ganz  entziehen.

Was ist das Neue an den Protesten in der Votivkirche?

Dass eine Innenministerin Flüchtlinge empfängt, ist auf jeden Fall neu. Dass Flüchtlinge vor Medien für sich selbst sprechen, ist auch neu. Symbolisch ist der aktuelle Protest kaum zu übertreffen. Die politischen Erwartungen muss man davon trennen. Ich glaube nicht an Erfolge von heute auf morgen. Regierungen lassen sich ungern von außen zu Änderungen zwingen. Allerdings sind Verbesserungen im Asylbereich dringend nötig. Positive Reformen weiter hinauszuschieben, ist keine gute Idee.

Was hindert die Regierungsparteien daran, für zumutbare Bedingungen für Flüchtlinge zu sorgen?

Inoffiziell hören wir aus der SPÖ und auch aus der ÖVP immer wieder, dass sie unsere Anliegen unterstützen. Aber die Ängstlichkeit der Regierungsparteien vor der FPÖ und dem Boulevard verhindert Verbesserungen. Diese Angst macht aber gerade die FPÖ nicht schwächer, sondern gibt ihr immer wieder neue Nahrung. Wenn die Regierungen der letzten 20 Jahre konsequenter eine Linie für  Menschenrechte eingenommen hätten, wäre die FPÖ um nichts stärker, sondern eher schwächer, als sie heute ist.

Keine Frage des Könnens

  • 13.02.2013, 17:12

In der Wiener Votivkirche protestieren Flüchtlinge in Österreich zum ersten Mal selbst für ihre Rechte. Doch gerade der Rechtsstaat wird wohl verhindern, dass auch für sie Menschenrechte gelten. Was sich ändern muss, erzählten zwei ungleiche Unterstützer, Alexander Pollak und Klaus Schwertner, progress-Autor Paul Aigner.

In der Wiener Votivkirche protestieren Flüchtlinge in Österreich zum ersten Mal selbst für ihre Rechte. Doch gerade der Rechtsstaat wird wohl verhindern, dass auch für sie Menschenrechte gelten. Was sich ändern muss, erzählten zwei ungleiche Unterstützer,  Alexander Pollak und Klaus Schwertner, progress-Autor Paul Aigner.

Es war die größte politische Kundgebung, die Österreich je gesehen hatte und bis heute gesehen hat. 300.000 Menschen demonstrierten am 23. Februar 1993 am und um den Wiener Heldenplatz. Keinen halben Kilometer Luftlinie weiter frieren und hungern im Winter 2013 AsylwerberInnen in der Wiener Votivkirche. Sie finden die Lebensumstände in den Asyllagern nicht mehr  zumutbar und ihre Position aussichtslos.

Rückblende. Anfang der 1990er-Jahre scheint der Aufstieg der FPÖ kaum zu stoppen. Jörg Haider ist seit sechs Jahren Obmann der größten Oppositionspartei, er nennt SPÖ-Innenminister Franz Löschnak „meinen besten Mann in der Regierung“. Trotz interner  Widerstände setzt Haider  das sogenannte „Ausländervolksbegehren“ durch. Es beinhaltet gezielte Tabubrüche wie die Verknüpfung eines Zuwanderungsstopps mit der Arbeitslosenquote und eine „Ausländerquote“ in Schulklassen. Der liberale Flügel der FPÖ bricht nach dem Volksbegehren weg, fünf Abgeordnete um Heide Schmidt gründen das Liberale Forum (LIF). Den Takt in der  Fremdenpolitik gibt die FPÖ trotzdem weiter vor. 20 Jahre später ziehen zwei Protagonisten der Menschenrechtsbewegung von heute  ein vorläufiges Resümee. progress hat Caritas-Pressesprecher Klaus Schwertner und SOS-Mitmensch-Sprecher Alexander Pollak getroffen und mit ihnen über das raue Klima in der österreichischen Menschenrechtspolitik und die Perspektiven des Protests in der Wiener Votivkirche gesprochen und dabei unterschiedliche Einschätzungen gefunden, was Flüchtlinge in Österreich in den kommenden Jahren erwartet.

Weiterlesen: Interview mit Alexander Pollak (SOS Mitmensch)

Weiterlesen: Interview mit Klaus Schwertner (Caritas)

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