Dezember 2010

Das ist blanker Zynismus

  • 13.07.2012, 18:18

Der Philosoph Konrad Paul Liessmann im Gespräch über verblüffende Einsparungen im Budget, die Strategie der Regierung und die Erfolgsaussichten von Studierendenprotesten.

Der Philosoph Konrad Paul Liessmann im Gespräch über verblüffende Einsparungen im Budget, die Strategie der Regierung und die Erfolgsaussichten von Studierendenprotesten.

PROGRESS: Herr Liessmann, was bedeuten die Budgetkürzungen für die Wissenschaft in Österreich?

Liessmann: Die Diskrepanz zwischen dem, was ständig lauthals proklamiert wird – „Wissensgesellschaft, Forschung und Bildung sind unsere Zukunft, et cetera“ – und der Realität wird immer größer. Nehmen wir das Beispiel Bachelor-Abschluss: Auf der einen Seite wird er von der Regierung nicht als akademischer Abschluss gewertet, gleichzeitig sagt man bei der Beihilfenkürzung: „Aber die Studierenden sind eh nach drei Jahren fertig, was brauchen sie danach noch weiter Unterstützung?“ Das ist blanker Zynismus. Auch die Schließung der außeruniversitären Forschungseinrichtungen hat uns internationalgeschadet. Wenn man die Berichte der deutschen Feuilletons dazu gelesen hat, sieht man, wie peinlich das eigentlich ist. Das wiegt das bisschen Geld, das hier eingespart werden kann, wirklich nicht auf.

Wo im Budget hätten Sie gespart?

Nur weil die dafür Verantwortlichen inkonsistente Dinge machen, muss nicht jeder interessierte Bürger bessere Rezepte vorlegen. Da bräuchten wir keine „politischen Eliten“, wenn das jeder nachdenkende Mensch auch machen könnte. Aber manchmal hat man den Eindruck, dass es sich genau so verhält.
In diesem Budget hat man weder größere Strukturreformen ins Auge gefasst, noch eine Neuorientierung des Steuersystems in Angriff genommen. Ein richtiger Schritt und wichtiges Signal wäre gewesen, die Besteuerung von Arbeit zu senken und die von Vermögen zu erhöhen. Passiert ist nichts.

Was ist von dieser Regierung noch zu erwarten?

Ich glaube nicht, dass wir von dieser Regierung noch irgendwelche strategischen Entscheidungen erwarten können. Man wird halt auf dieser Ebene weitertun, wird da und dort auch bei den nächsten Budgets Einschnitte vornehmen, und dann mit den Betroffenen reden. Das ist ja auch so eine seltsame Strategie – man verkündet zuerst ein Spar-Budget ohne vorher mit den Betroffenen zu diskutieren, und lädt sie nachher, wenn ohnehin schon alles entschieden ist, zu Gesprächen ein. Kollegen, die in außeruniversitären Forschungseinrichtungen arbeiten, haben zuerst den Brief bekommen, dass die Basisförderung gestrichen wird, und dann wurden sie zu Gesprächen gebeten. Das ist kommunikationstechnisch ein ganz schlechter Stil. Ich möcht‘ wirklich wissen, was eigentlich diese hochbezahlten und vollkommen überbewerteten Kommunikationsberater machen, die ja überall herumschwirren, und wohl auch unsere Regierung beraten? Da sehe ich wirklich Sparpotential, auf die könnte man leicht verzichten.

Die Studierenden versuchen jetzt vehement, sich gegen das Sparpaket zu wehren. Meinen Sie, das macht Sinn?

Das Einzige, bei dem die Regierung Intelligenz zeigt, ist, dass sie dort spart, wo keine großen Widerstände erwartet werden. Die Regierung hält den Bildungssektor für gesellschaftlich unwichtig, sowohl der Sache nach als auch in Hinblick auf mögliche Protestaktionen. So gesehen muss man nüchtern sein. Chancen sehe ich nur, wenn es hier zu einer breiten Koordination von Protestmaßnahmen zwischen Universitäten, Rektoren, Studierenden, außeruniversitären Forschungseinrichtungen, Schulen und Lehrern kommt. Aber man merkt, wie schwer das ist. Kaum werden die außeruniversitären Forschungseinrichtungen zugesperrt, finden sich schon Rektoren, die das ganz toll finden, weil sie glauben, ein paar Hunderttausend von diesen eingesparten Euros werden auf ihre Universität abfallen. Mit diesem Prinzip des Sich-spalten-Lassens kann die Regierung natürlich rechnen, und wahrscheinlich werden auch Rektoren und Studenten auf keine gemeinsame Basis kommen. Dann werden die Protestaktionen in Einzelaktion verpuffen, und das hält die Regierung schon aus.

Waren Sie von den Sparmaßnahmen im Bildungssektor eigentlich überrascht?

Nein, eigentlich nicht. Budgets über Einsparungen bei Bildung und Sozialem zu sanieren, liegt ja europaweit im Trend. Überrascht war man vielleicht über Details. Auf bestimmte Ideen, wie die Familienbeihilfe zu kürzen und gleichzeitig die Studienbedingungen zu verschlechtern oder außeruniversitäre Forschungsinstitute zu schließen, muss man erst kommen, das war zum Teil echt verblüffend.

Der Protest lebt

  • 13.07.2012, 18:18

Das Armutsbudget der Regierung bedroht die Existenz vieler Studierender. Der Protest dagegen ist kämpferisch.

Das Armutsbudget der Regierung bedroht die Existenz vieler Studierender. Der Protest dagegen ist kämpferisch.

Damit haben sie nicht gerechnet. Noch am Tag zuvor verkündeten sie in entspannter Übereinkunft ihre Einigung über das neue Budget. Tags darauf sollte der Bevölkerung der Weg in die budgetäre Zukunft gewiesen werden. Dann kam es doch anders. Am 24. Oktober hatten Vertreter von SPÖ und ÖVP eigentlich vor, den Entwurf zum kommenden Armutspaket im Haas-Haus vor laufenden ORF-Kameras zu zelebrieren. Nicht gerechnet haben sie allerdings mit den rund 2000 Studierenden, die bei strömenden Regen ein paar Stockwerke tiefer, auf dem Stephansplatz, ihrem Zorn Ausdruck verliehen. Sichtlich um Beherrschung bemüht versuchten die Frontmänner der Regierung ihre Pläne als Erfolg für Österreich zu vermarkten. Wer die Diskussion live mitverfolgte, merkte schnell, wie der lärmende Protest von der Straße die DiskutantInnen ins Wanken brachte. Zeitweise schienen ihre Argumente im Groll der Studierenden unterzugehen. Oben sozialpartnerInnenschaftlicher Konsens in österreichischer Tradition. Unten auf der Straße die Betroffenen, die nnicht gefragt wurden. Ein Sinnbild für die Politkultur in Österreich.

Armutszeugnis. Das Armutsbudget, gegen das nicht einmal 24 Stunden nach der Verkündung in Loipersdorf bereits heftig angekämpft wurde, schlägt tiefe Kerben in das Leben vieler Studierender. Noch im vergangen Jahr waren zentrale Forderungen der Audimax-Besetzung eine bessere finanzielle Absicherung der Studierenden sowie eine angemessene finanzielle Ausstattung der Hochschulen. Jetzt muss gegen herbe Einschnitte gekämpft werden. Die Bezugsdauer der Familienbeihilfe wird ab dem ersten Juli 2011 von 26 auf 24 Jahre herabgesetzt. 27.000 Studierende verlieren damit 2.700 Euro jährlich. Anders gesagt: Ab nächstem Jahr werden 27.000 neue Studijobs gebraucht. Viele, die auch jetzt schon gerade mal über die Runden kamen, werden sich nun ernsthaft mit der Frage eines Studienabbruchs beschäftigen müssen. Die Hochschulen und damit jene, die in ihnen forschen, lehren und lernen, werden missachtet. Schlimmer noch: als politischer Pokereinsatz missbraucht. Dies ist nun einmal mehr deutlich geworden. Der heftige Protest, nicht nur von Studierenden, bewegte die Regierung nun aber zumindest zu einer Medieninszenierung. Zur Beschwichtigung des Protests wurden am 27. November so genannte Nachbesserungen verkündet. Wesentliches wurde aber nicht geändert. Im Gegenteil, über weite Strecken verbergen sich hinter dieser Ankündigung eklatante Mogelpackungen. Eine dieser „Nachbesserungen“ sieht etwa vor, dass Studierende mit Kindern oder jene, die Präsenzdienst geleistet haben, auf Grund des verspäteten Studieneintritts die Familienbeihilfe ein Jahr länger beziehen können sollen. Nichts Neues, bereits zuvor war dies gesetzlich gesichert. An den drastischen Einschnitten hat sich jedenfalls gar nichts geändert. So auch bei der Förderung der studentischen Selbstversicherung. Wer bisher nicht die Möglichkeit hatte, sich bei den Eltern mitzuversichern, der/die konnte für gut 300 Euro im Jahr eine, vom Staat geförderte, Krankenversicherung abschließen. Diese Förderung soll nun ersatzlos gestrichen werden. Künftige Kosten für die Betroffenen: 600 Euro jährlich. In den Radius des finanziellen Kahlschlags gelangen auch die Studierendenheime. Für viele Studierende stellten diese bisher eine leistbare Alternative dar. In Zukunft werden Neuerrichtungen aber nicht mehr vom Wissenschaftsministerium gefördert. Dieses übernahm bisher rund ein Drittel der Gesamtkosten. Dass die Mietpreise in den Studiheimen folglich steigen werden, wird erwartet. Schließlich hat die Regierung auch Pläne für all jene, die vorhaben ein Studium ab dem Wintersemester 2011 zu beginnen: Zusätzliche Zugangsbeschränkungen. Wie diese konkret aussehen werden, ist bisher noch nicht geklärt.

Manöver. Die Strategie der Regierung ist nicht ganz ungeschickt. Auf der einen Seite schmücken sich die Verantwortlichen der Koalition mit schönklingenden wie holen Phrasen über die profunde Bedeutung von Bildung. Anderseits wird an den Zusammenhalt appelliert, wenn gespart werden soll. Zusammenhalt ist hier selbstverständlich ein trügerisches Wort. Es wird nicht etwa bei jenen Vermögenden gespart, die auch bisher kaum einen Beitrag zur Gemeinschaft leisten, oder höhere Beiträge von diesen verlangt. Nein. Zur „Verantwortung“ gezogen werden jene, deren soziale und ökonomische Position ohnehin am prekärsten ist. Widerstand wird es von Seiten der Studierenden und der Zivilgesellschaft gegen diese Ungerechtigkeiten auch weiterhin geben. Am 27. November haben wieder mehrere Tausend Menschen gegen das Armutspaket demonstriert. Aufgerufen hatte eine Allianz von 113 Organisationen (www.zukunftsbudget.at). Die ÖH-Bundesvertretung plant, vor den Verfassungsgerichtshof zu ziehen, sollte das Budget in seiner jetzigen For m beschlossen werden. Einstweilen geht der Protest der Studierenden weiter, er ist lebendig und kämpferisch.
 

Zurück in die keynesianische Zukunft?

  • 13.07.2012, 18:18

Die größte Wirtschaftskrise seit 1929 hat zu umfangreichen Debatten über Macht und Ohnmacht des staatlichen Handelns geführt. Wie sind die Taten, die aus diesen abgeleitet wurden, zu bewerten?

Die größte Wirtschaftskrise seit 1929 hat zu umfangreichen Debatten über Macht und Ohnmacht des staatlichen Handelns geführt. Wie sind die Taten, die aus diesen abgeleitet wurden, zu bewerten?

Keynes! Regulierung! Deficit Spending! Moral! Systemerhaltend! Gier! Viele Schlagworte bestimmen den Diskurs um die Wirtschaftskrise. Während die Ursachenforschung oft sehr oberflächlich passierte, waren sich im öffentlichen Diskurs schnell viele KommentatorInnen und PolitikerInnen einig: Regulation der (Finanz-) Märkte. In Europa geben sich hier vor allem PolitikerInnen wie Sarkozy, Merkel und Zapatero als WortführerInnen. Der „unmenschliche Raubtierkapitalismus“ muss in seine Schranken verwiesen werden. Die ManagerInnen seien Schuld, weil sie weder Moral noch Schamgefühl kennen würden. Anstatt sich mit dem Wirtschaftsystem tiefgehend auseinander zu setzen, haben sich also individualisierende Interpretationen hervor getan. ZeitungskommentatorInnen konstantierten gerne ein moralisches Wir-Gefühl. Wir Anständigen gegen die amoralischen ManagerInnen, die gierig Kapital raffen.

Debattenkonjunktur. Diese verkürzte Krisenanalyse zeigt sich auch in den Bewältigungsstrategien. Hier ist zwischen kurz- bis mittelfristigen Sofortmaßnahmen und langfristigen Strukturmaßnahmen zu unterscheiden. Kurzfristig agierten viele Länder ähnlich mit einer, fast biederen, keynesianischen Wirtschaftspolitik. Die Staaten schnürten Rettungspakete, um die ‚systemerhaltenden‘ Banken zu stabilisieren und somit die soziale Ordnung zu gewährleisten. Bald darauf folgten die ersten Konjunkturpakete, mit dem Ziel die erlahmte Realwirtschaft wieder in Gang zu bringen. Bei diesen ließen sich die wenigsten Staaten auf Experimente ein: Stärkung der Eigenkapitalbasis von Unternehmen, günstige Kredite, Steuererleichterungen sowie Investitionen, vor allem in die Baubranche, wurden zu den beliebtesten Rezepten. Die Kontingente fielen allerdings sehr unterschiedlich aus. Während Länder wie die Schweiz nur sehr kleine Gesamtpakete (0,5 Prozent des BIP) schnürten, investierten die großen, stark betroffenen Volkswirtschaften sehr viel mehr. An der Spitze steht hier die USA mit Konjunkturpaketen, die 26 Prozent des BIP ausmachen, das sind 789 Milliarden Dollar. Über Bargeldgutschreibungen für jede Bürgerin und jeden Bürger, Subventionierungen beim Auto- und Häuserkauf sowie Investitionen in die Gesundheitsvorsorge wird auch heute noch versucht, die Kaufkraft zu stabilisieren, mit dem eisernen Ziel zurück zu einem Wirtschaftswachstum zu gelangen. Während aber die Konjunktur in den USA noch nicht anspringen will, prognostizieren WirtschaftsforscherInnen einiger EU-Länder wieder Wachstum.
In Folge wird derzeit eine zweite Welle von (Spar-)Paketen geschnürt. Obwohl bei ihrer Ausgestaltung ein einheitlicher europäischer Trend auszumachen ist, stechen Griechenland und Großbritannien mit ihren Sparpaketen hier besonders hervor. In beiden Ländern wird immens an den Sozialausgaben gespart. In beiden Ländern gibt es zum Teil massiven Widerstand gegen diese Pläne.

Strukturelle Maßnahmen. Der Zielrichtung der Debatten um die richtigen Lösungskonzepte stehen eklatante Brüche zwischen Reden und Handeln gegenüber. In gewissen Abständen kommt etwa die „Tobin Tax“ auf das Tapet. Diese Steuer soll kurzfristige Spekulationen auf Devisengeschäfte unterbinden. Eingeführt wurde sie bis heute, trotz breiter und gewichtiger Unterstützung, nicht.
Zwei Maßnahmen wurden aber in den meisten Ländern der EU durchgesetzt: Zum einen die Begrenzung der Boni für BankerInnen, diese werden künftig auch gedeckelt und dürfen somit nur mehr in einer gewissen Höhe ausbezahlt werden. In Österreich tritt das diesbezügliche Gesetz am 1. Jänner 2011 in Kraft.
Außerdem stellt die EU aktuell ein Spekulations-Gütesiegel vor. Dieses Gütesiegel soll Hedgefonds und ähnliche Unternehmungen bald in seriöse und unseriöse einteilen. So werden dann eben die „guten“ von den „bösen“ SpekulantInnen unterschieden. Diese lässt sich wiederum gut mit der verkürzten Krisenanalyse assoziieren.
In der öffentlichen Debatte werden diese Maßnahmen durchwegs als positiv bewertet. Dass diese aber kaum an der Oberfläche der Krisenursachen kratzen, geht oft unter. Dieses Manko führt zu einer diffusen Vorstellung über die strukturellen Ursachen der Krise und wird, wiedereinmal, mit einem Moral- Diskurs überdeckt. Bei der Bewertung der Lösungsansätze stellt sich schließlich ein weiteres Problem: Die Regierungen scheinen sich im Unklaren darüber zu befinden, wohin diese führen sollen. Ist das Ziel eine umfassende Regulation der Finanzmärkte oder begnügen sich die Regierungen mit Einzelmaßnahmen?

Guter und böser Kapitalismus. Die Hilflosigkeit des staatlichen Handelns ist klar erkennbar. Während er einerseits in kurz- und mittelfristigen Stabilisierungsmaßnahmen viel an Macht und Einfluss gewonnen hat, so agieren die meisten Staaten bei Strukturmaßnahmen zögerlich bis hilflos. So erscheint der Staat als Retter in der Not – eine heroische Rolle, die ihm im medialen Diskurs zukommt. Staatliche Handlungsspielräume wurden hingegen kaum geschaffen.
Der Diskurs um Moral, Werte und Gier bestimmte die Krisenanalyse und wälzt die Schuld auf einzelne Menschen ab. Eine klassisch neoliberale Strategie. Nicht das System hat versagt, sondern einzelne Menschen. Handlungsspielräume werden nicht allgemein strukturell sondern über den Willen des Einzelnen oder der Einzelnen erklärt. Appelliert wird an das Gute oder das Diabolische. Die soziale Marktwirtschaft übernahm lange Zeit die Rolle des „guten“ Kapitalismus.
Dieser Traum vom guten Kapitalismus scheint ausgeträumt, jetzt wird auf den ein-bisschen-besseren Kapitalismus gepocht.

Sie werden keine Adresse von uns finden

  • 13.07.2012, 18:18

Der neoliberale Ökonom Pascal Salin war Präsident der so mächtigen wie klandestinen Mont Pelerin Society und spricht normalerweise nicht mit Medien. Das PROGRESS hat die Gelegenheit erhalten, eine der seltenen Ausnahmen abzudrucken. Salin spricht Tacheles. Das Gespräch mit ihm wird ergänzt durch Dieter Plehwe, der sich am Wissenschaftszentrum Berlin mit der Mont Pelerin Society beschäftigt.

Der neoliberale Ökonom Pascal Salin war Präsident der so mächtigen wie klandestinen Mont Pelerin Society und spricht normalerweise nicht mit Medien. Das PROGRESS hat die Gelegenheit erhalten, eine der seltenen Ausnahmen abzudrucken. Salin spricht Tacheles. Das Gespräch mit ihm wird ergänzt durch Dieter Plehwe, der sich am Wissenschaftszentrum Berlin mit der Mont Pelerin Society beschäftigt.

Zur Vorgeschichte: Im November erschien in der Financial Times Deutschland ein viel beachteter Artikel. Das Ende unseres Währungssystems stehe bevor, der Währungskrieg sei bereits ausgebrochen, insinuierte der Text mit dem Titel „Die Geldrevolutionäre“. Für die Zeit nach dem Währungs-Supergau wird die Einführung des „freien Marktgeldes“ als Alternative präsentiert. Somit stehe es allen Menschen frei, ihr Geld selbst zu wählen, jederzeit Banken zu gründen und neue Währungen zu schaffen. Solche Meinungen werden nicht etwa von unbedeutenden Spinnern vertreten, sondern von Chefökonomen in Frankfurts Bankenfestungen. Die Ideen sind nicht neu, sie fußen auf der „Österreichischen Schule der Nationalökonomie“. Ein kleines, elitäres Netzwerk hat es sich zur Aufgabe gemacht, sie weltweit zu verbreiten: Die Mont Pelerin Society (MPS), laut Sunday Times die einflussreichste Denkfabrik der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts. 1947 wurde die „Denkerfamilie“, wie sich ihre Mitglieder nennen, vom Österreicher August von Hayek auf den Anhöhen um den Genfersee gegründet. Nach den staatlichen Interventionen während der Wirtschaftskrise schien die Lehre der MPS vollkommen diskreditiert, doch nun gewinnt sie wieder an Gewicht. Geht es doch jetzt um nichts weniger als um die Deutung der größten Finanzkrise der vergangenen Dekaden.

Herr Salin, glauben Sie, dass die Ökonomie eine wirkliche Wissenschaft ist?'

Ja. Es gibt zwei Denkschulen: Die eine sind die Keynesianer. Sie gehen von unrealistischen Annahmen aus. Die andere ist die Österreichische Schule der Nationalökonomie, die auf die Österreicher Karl Menger, Ludwig Mises und Friedrich Hayek zurückgeht. Ich fühle mich dieser zweiten Schule zugehörig. Wir gehen von realistischen Annahmen aus und sehen den Menschen als rational handelndes Individuum.

Herr Plehwe, Pascal Salin unterteilt die Ökonomen in zwei Denkschulen, was sagen Sie dazu?
Es wurde immer versucht, die Ökonomie in die Nähe der harten Naturwissenschaften zu rücken, auch die Schaffung des quasi Nobelpreises für Ökonomie* der Schwedischen Reichsbank ist ein Schritt in diese Richtung. Wird die Ökonomie in nur zwei Denkrichtungen unterteilt, werden damit alle anderen wirtschaftspolitischen Sichtweisen ignoriert. Denken Sie etwa nur an die Marxisten oder die Institutionalisten.

Herr Salin, interpretieren Sie denn die Krise als Markt- oder als Staatsversagen?

Viele Leute behaupten, die Krise sei ein Beweis dafür, dass der Markt schlecht funktioniere und der Kapitalismus einen instabilen Charakter habe. Deshalb soll der Staat intervenieren. Ich sage das Gegenteil: Alle Ursachen der Krise resultieren immer aus staatlichen Interventionsversuchen. Märkte können nur ins Gleichgewicht kommen, wenn sich Staaten und Politiker raushalten. Dennoch wurde überall in die Wirtschaft eingegriffen. Das widerspricht sämtlichen Prinzipien der Österreichischen Schule. Alle Staaten haben Geld aufgenommen. Das ist der große Fehler der Keynesianer. Sie denken, der Staat muss in Zeiten der Krise die Wirtschaft ankurbeln. Damit provozieren wir doch nur die nächste Krise!

Herr Plehwe, Pascal Salin sagt, dass durch die Interventionspolitik der Staaten mehr Inflation entstehe und somit die nächste Krise bereits vor der Tür steht. Was sagen Sie dazu?

Die Österreichische Schule der Nationalökonomie sagt: Der Staat kann nur zum Preis einer anderen Krise einen Transfer von fiktivem Geld machen. Deswegen argumentieren sie, dass man dann im konkreten Fall die irische oder die griechische Wirtschaft einfach zusammenbrechen lassen muss. Geldwertstabilität ist das höchste Primat der Österreichischen Schule. Jede Politik produziert Gewinner und Verlierer. Es gibt keine neutrale Politik. Die Geldwertstabilität nützt natürlich den Vermögensbesitzern. Die Logik der Österreichischen Geldtheorie ist somit eine Logik der Vermögensbesitzer. Zentralbanken sind politische Instrumente, die Einfluss auf die Geldwertstabilität haben. Deswegen spricht sich Salin genauso wie Hayek für die Abschaffung der Zentralbanken aus. Hayek hat zwei große Ideen propagiert: Eine beschränkte Demokratie à la Ständestaat und die Privatisierung der Zentralbanken.

Herr Salin, Sie haben viel über „Freie Banken“ geschrieben, ein Ideal von Banken fernab von staatlicher Regulation. Sind Sie immer noch Verfechter dieses Ideals?

Unsere Epoche ist von der Illusion geprägt, Geld produzieren zu können. Es ist nicht notwendig, ja es ist sogar gefährlich, mehr Geld zu schaffen. Banken sollten doch nur als Intermediäre im Wachstum der Wirtschaft existieren. Das Übel liegt nicht in den Aktienmärkten, sondern den Zentralbanken. Nur sie haben die Funktion, Geld zu schaffen. Wir leben in einer total unverantwortlichen Finanzwelt und zwar nicht weil die Banker und Manager unverantwortlich sind, sonder weil ihnen die Staaten dieses Verhalten suggerieren.

Sollte Geld wieder durch einen realen Wert gedeckt sein, wie früher zu Zeiten des Goldstandards?

Mit monetären Problemen wie diesen haben sich die Mitglieder der MPS sehr oft auseinandergesetzt. Dabei gab es immer einen gemeinsamen Nenner: wir sind gegen Inflation und gegen unlimitierte Macht der Zentralbanken. So war Milton Friedmann nicht prinzipiell gegen Zentralbanken, aber er wollte ihre Macht deutlich einschränken. Ökonomen um Hayek waren von der Idee freier Banken überzeugt und wollten die Zentralbanken abschaffen. Andere wünschen sich den Goldstandard zurück.

Herr Plehwe, Pascal Salin schlägt als Alternative zu Zentralbanken, „Freie Banken mit echten Kapitalisten“ vor. Ein wichtiger Bankier ging in einem Artikel in der Financial Times Deutschland sogar so weit, völlig beliebige Währungen zu propagieren: Gold, Silber, Kupfer und vielleicht ein paar Muscheln könnten unser Papiergeldsystem ersetzen?

Das sind Gedankenspielereien, mit denen sich Teile des neoliberalen Lagers beschäftigen. Die Angst der Vermögensbesitzer ist immer die gleiche: Ihr Vermögen nicht ausreichend sichern zu können. Das ist natürlich eine sehr beschränkte und naive Sicht.

Eine Art Dagobert Duck-Perspektive?

Genau, die wirtschaftspolitische Vorstellung der MPS ist eine Art Konflikt zwischen Dagobert Duck und den Panzerknackern.

Herr Salin, nun zu Europa: Wäre Griechenland pleite gegangen, wenn die europäischen Staaten nicht reagiert hätten?

Ein Staat kann nicht Pleite gehen. Auch hier wäre es wichtig zu sagen, dass jeder für sich selbst verantwortlich ist. Aber es gibt eine Art Komplizenschaft unter den europäischen Regierenden. Die europäischen Länder haben beschlossen, die Verrücktheit von Staaten und Regierenden nicht durch Märkte kontrollieren zu lassen. Deshalb haben sie Griechenland aufgefangen, mit Geld, das jetzt in Ländern wie Deutschland, Frankreich und England für Investitionen fehlt. Das finde ich skandalös!

Aber Europa hängt doch monetär eng zusammen.

Ja, aber auch als es noch Nationalwährungen gegeben hat, wurde eine Art Plünderung betrieben. Zuerst wurden Budgetdefizite gemacht, dann wurde Geld geschaffen, um die Defizite abzudecken, danach hatten die Staaten Schwierigkeiten, die Schulden zurückzuzahlen. Deswegen werde Währung abgewertet. Das ist eine Beraubung an allen Individuen, die Geld besitzen. Ihr Geld verliert an Wert!

Ein paar Fragen zur MPS. Sie waren während der neunziger Jahre Präsident dieser Vereinigung. Die Sunday Times hat einen Artikel veröffentlicht, in dem sie die MPS als den einflussreichsten Think Tank der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts beschreibt. Das ist doch sehr erstaunlich, weil man kaum etwas davon hört.

Von uns werden Sie nirgends auf der Welt ein Büro oder eine Adresse finden. Sie können sich die MPS wie eine Denkerfamilie vorstellen. Hayek wollte ein Netzwerk von Wissenschaftlern und Politikern gründen. Unter uns finden sich viele Direktoren von Think Tanks, auch sieben Nobelpreisträger zählen zu unserem Kreis. Wir sind das Herz des weltweiten Liberalismus.

Kennen Sie Assar Lindbeck**?

Ja, Assar Lindbeck ist ein guter Freund von mir.

Herr Plehwe, gibt es denn einen Zusammenhang zwischen den vielen Nobelpreisträgern der MPS und der eventuellen Ausrichtung dieses Wissenschaftspreises?

Inzwischen gibt es mit Vernon L. Smith acht Nobelpreisträger aus den Reihen der MPS. Die Ausrichtung des Preises und seine sehr starke Orientierung hin zu US-amerikanischen Preisträgern ist im Endeffekt ein wissenschaftspolitisches Instrument. Man kann dieses Nobelpreiskomitee nicht als neutrale Bewertungseinrichtung wissenschaftlicher Forschung sehen. Das Faszinierende am Nobelpreis der Ökonomie ist, dass sehr triviale Erkenntnisse mit einem Nobelpreis ausgezeichnet werden.

Herr Salin, wie viele Mitglieder hat die MPS eigentlich?

Wir haben 500 Mitglieder. Weltweit gibt es hunderte liberale Think Tanks, die von MPS-Mitgliedern gegründet wurden. Sie müssen verstehen, dass dies kein sichtbarer Einfluss ist. Diskretion ist uns sehr wichtig. Deshalb publizieren die Mitglieder der Gesellschaft niemals im Namen der Gesellschaft. Wir sind nur unseren Ideen treu, bezeichnen uns aber als unpolitisch. Unsere Epoche ist sehr politisch, aber wir trauen den Politikern nicht. Von Medien halten wir uns strikt fern.

Es gibt also hunderte Think Tanks, die entweder von Mitgliedern der MPS oder von Personen, die ihr nahestehen, gegründet wurden.

Ja, sicher. Ich denke dabei an das Institute of Economic Affairs in London. Dessen Gründer hat Hayek gefragt, wie er den Zustand seines Landes durch ein politisches Institut verbessern könne. Hayek hat ihm geraten, im Bereich der Konzepte und Ideen zu arbeiten, um politisches Terrain zu gewinnen. Dieses Institut hat die Politik von Margaret Thatcher maßgeblich beeinflusst.

Der amtierende MPS-Präsident Deepak Lal hat letztes Jahr in New York Keynesianer zu einem Treffen geladen. Intern soll das Treffen für Unstimmigkeiten gesorgt haben, waren Sie dabei?

Keynesianer? Sind Sie sich sicher, dass Sie von einem Treffen der MPS sprechen? Ach ja, ich erinnere mich, ich war auch in New York und wollte teilnehmen. Unglücklicherweise ist meine Mutter gerade am Tag davor verstorben.

Herr Plehwe, wie kann es dazu kommen, dass Keynesianer zu einem MPS-Treffen geladen werden?

Der aktuelle Präsident Deepak Lal wollte, ähnlich wie Hayek seinerzeit, in der großen Krise als Gemäßigter auftreten. MPS-intern gab es eine Auseinandersetzung zwischen gemäßigten Neoliberalen und Betonköpfen. Lal wurde auf dieser Konferenz von seinen Reihen als Keynesianer beschimpft, weil er bereit ist, an manchen Stellen intellektuell Zusammenhänge zu sehen, die viele seiner Leute nicht wahrhaben wollen. Ich denke, nach dem doppelten Scheitern der Hauptlehren der jüngsten Kapitalismusgeschichte – des Neoliberalismus und des Keynesianismus – gibt es einen dringenden Bedarf, die Karten offen auf den Tisch zu legen und neu zu mischen. Ich würde mir wünschen, dass Intellektuelle verschiedener Lager offener diskutieren würden.

Herr Salin, noch bevor die MPS gegründet wurde, gab es 1938 in Paris ein Kolloquium zu Ehren des Ökonomen Walter Lippmann. Fast alle der damals anwesenden Ökonomen waren auch 1947 bei der Gründung der MPS dabei. Stimmt es, dass von den Anwesenden des Kolloquiums der Terminus „Neoliberalismus“ geprägt wurde?

Über das Kolloquium reden wir viel, aber ich kann Ihnen nicht sagen, ob wir damals schon von Neoliberalismus gesprochen haben. Vielleicht schon, weil der Liberalismus durch die Krise von 1929 attackiert wurde. Auch diese Krise wurde schlecht interpretiert. Die dominierende Interpretation war, dass es sich um eine Krise des Kapitalismus handelt.

Herr Plehwe, hat die MPS den Begriff Neoliberalismus geschaffen?

Der Begriff wurde während des Kolloquiums zu Lippmanns Ehren, dem Vorläufer der MPS, geprägt. Dort wurde der Neoliberalismus zum ersten Mal in Abgrenzung zum traditionellen Liberalismus definiert.

Sehen sie die MPS wie Salin als „Herz des weltweiten Liberalismus“?

Dem würde ich zustimmen und hinzufügen, dass sie vor allem das Herz des weltweiten Neoliberalismus sind.

Warum betont Salin, dass sich die MPS stets im Hintergrund hält und dass ihnen Diskretion sehr wichtig ist?

Wissenschaftler der MPS wie Salin werden als Wissenschaftler gewissermaßen entwertet, wenn ihre Leistung in der Öffentlichkeit nicht als individuelle, sondern nur als Kollektivleistung eines Kampfverbandes für Intellektuelle und Think Tanks diskutiert wird.

Pascal Salin sagt, die MPS sei unpolitisch. Was sagen Sie dazu?

Die moderne westliche Demokratie geht seit US-Präsident Theodor Roosevelt davon aus, dass sich öffentliche Interessen am besten auf expertenbasierte, neutrale wissenschaftliche Beratung stützen sollen. Geht es nach dieser Theorie, leidet die Qualität der Politik, wenn Partikular-Interessen und Ideologien in die Politik kommen. Wenn sich nun ein großer Kreis von Neoliberalen zusammenschließt, um Wirtschafts-, Wissenschafts- und Gesellschaftspolitik zu machen, und sich dann hinstellt und erklärt: Wir machen doch keine Politik. Also das spricht wirklich für sich.

Herr Salin, können Sie mir ein paar Namen von MPS-Mitgliedern in Österreich nennen?

Mir fallen die Namen gerade nicht ein.

Herr Plehwe, fallen Ihnen ein paar österreichische Mitglieder der MPS ein?

Da gibt es eine Menge: Erich Streissler vom Institut für Volkswirtschaft an der Universität Wien, die Generalsekretärin des Hayek-Instituts, Barbara Kolm-Lamprechter, Christoph Kraus von der Constantia Privatbank, Wilhelm Taucher und Heinrich Treichl vom International Institute of Austrian Economics, Albert H. Zlabinger, der Präsident des Carl Menger Instituts. Sie alle sind als Mitglieder der MPS bekannt.

* Der Wirtschaftnobelpreis wurde nicht von Alfred Nobel gestiftet, sondern wird erst seit dem Jahr 1969 von der schwedischen Reichsbank vergeben.

** Lindbeck ist ein schwedischer Wirtschaftswissenschaftler und war von 1980 bis 1994 Vorsitzender des Entscheidungskomitees zur Vergabe des Preises für Wirtschaftswissenschaften der schwedischen Reichsbank.

Der kommende Aufstand

  • 13.07.2012, 18:18

Die Linke hat eine neue Bibel: Ein anarchistisches Manifest geht um die Welt, während der Staat seine AutorInnen jagt.

Die Linke hat eine neue Bibel: Ein anarchistisches Manifest geht um die Welt, während der Staat seine AutorInnen jagt.

Es gibt Texte, die Geschichte schreiben. Durchaus im wörtlichen Sinn: Sie verbreiten Ideen, die noch nicht an der Macht sind, aber bereits in den Köpfen. Sie geben dem Unbehagen, das allenthalben gespürt wird, eine Form und einen Ausdruck.
Zur Zeit geht so eine Schrift auf der ganzen Welt um: Der kommende Aufstand ist ein Manifest, das Staat und Kapitalismus den Krieg erklärt. Es erschien vor drei Jahren in Frankreich im Anschluss der Krawalle in den Banlieues, als Verfasser zeichnet das Unsichtbare Komitee. Die französische Sonderpolizei stürmte eine Kommune auf dem Land, um einen mutmaßlichen Autor, den Philosophen Julien Coupat, festzunehmen, was das Ansehen des Textes nur noch steigerte und ihn international bekannt machte.
Der reaktionäre US-Fernsehstar Glenn Beck hielt die englische Übersetzung des Buches in die Kamera und nannte es „möglicherweise das Böseste, was ich jemals gelesen habe“. Die Linken riefen zur Bewaffnung auf, warnte er seine ZuseherInnen. Seit Sommer dieses Jahres ist der Text auch auf Deutsch erhältlich, woraufhin er die deutschen Zeitungen eroberte. Die wichtigsten FeuilletonistInnen widmeten dem Pamphlet ihre Gedanken und versetzten es in den Rang einer neuen „Bibel der Linken“.

Attac wird verspottet. Was hat dieser Text zu bieten, dass er in versifften Studierendenheimen gleichermaßen fasziniert gelesen und diskutiert wird wie in den Glaspalästen der großen Redaktionen? Zuallererst stimmt, dass er wirklich gut geschrieben ist, darüber herrscht Einigkeit. Aber die Essenz des kommenden Aufstands ist etwas anderes. Was das Werk so faszinierend macht, ist die so simple wie radikale Feststellung, dass sich der real existierende Kapitalismus nicht zähmen lässt. Dass es den Reichen immer gelingen wird, den Netzen des Steuerstaats zu entwischen. Attac, Grüne, Gewerkschaften, SozialdemokratInnen: Das Unsichtbare Komitee verhöhnt und verspottet sie alle. Sie trügen nur dazu bei, den verhassten Staat und seine bewaffneten Arme, die das Kapital schützen, am Leben zu halten.
Aber müsste nicht zumindest der Wohlfahrtsstaat verteidigt werden? „Der Behinderte ist das Vorbild der kommenden Bürgerlichkeit. Es ist nicht ohne jede Vorahnung, dass die Vereine, die ihn ausbeuten, ein existenzsicherndes Grundeinkommen für ihn fordern“, antwortet das Unsichtbare Komitee.
Aber sollte nicht zumindest versucht werden, das System von innen zu verändern? „Es gibt keinen Grund, sich in diesem oder jenem Bürgerkollektiv zu engagieren, in dieser oder jenen Sackgasse der radikalen Linken, in der letzten vereinten Hochstapelei“, schreiben die unsichtbaren KommunardInnen.
Ihre Haltung ist nicht ganz neu, KommunistInnen verfochten im 20. Jahrhundert eine ähnliche Sicht. Neu sind aber die Antworten, die Der kommende Aufstand bietet, um den Besitzenden die Macht zu entreißen. Nicht mehr Einparteien-Diktatur und Verstaatlichung der Produktionsmittel sollen der Linken den Sieg bringen, sondern Sabotage, Rückzug, Anonymität und „Partisanenkampf“.

Der Partisan im Wald. Wie das Erfolg bringen soll? „Georges Guingouin, der ‚erste Partisan in Frankreich‘, hatte als Ausgangspunkt 1940 nur die Sicherheit seiner Ablehnung der Besatzung“, schreiben die AutorInnen. Damals sei er für die Kommunistische Partei „nur so ein Spinner, der im Wald lebt“ gewesen; bis es „zwanzigtausend Spinner waren, die im Wald lebten“ und die eine Stadt von den Nazis befreit hätten.
Der Partisan im Wald zeigt vor, wie die Logik des Kapitals überwunden werden soll. Es gehe darum, Gruppen zu bilden und sich selbst zu organisieren, um der Hybris des Staates, der alles kontrollieren will, zu entkommen. Hier wird klar, warum Der kommende Aufstand so vielen und gerade auch konservativen FeuilletonistInnen leise zuspricht: Die extreme Linke stimmt ein in das konservative Unbehagen am Staat, der einer Krake gleich mit seinen Tentakeln immer tiefer in unser Leben eindringt, um die „öffentliche Sicherheit“ und letztlich sich selbst zu erhalten. Er operiert mit Videoüberwachung, Rasterfahndung und unscharf formulierten „Mafiaparagraphen“, die jeden Kegelverein ins Gefängnis bringen können.
Wobei Repression aber nur einer der beiden Janusköpfe der Staatlichkeit ist: Der Ausweitung der Überwachung auf der einen Seite entspricht der Ausbau des Wohlfahrtsstaates auf der anderen. Der Sozialstaat trat in der Geschichte immer als Alter Ego des Kontrollstaates auf. Wer gibt, macht das nicht ohne Preis – der Staat tauscht seit jeher Freiheit gegen die Sicherheit seiner BürgerInnen. So muss es nicht wundern, dass die linksliberale Berliner tageszeitung weit hysterischer als die konservative Frankfurter Allgemeine Zeitung ( FAZ ) auf ein Manifest reagiert, das den Staat vernichten soll.

Schwarze Geländewägen. Wie würde aber die Welt aussehen, wenn Der kommende Aufstand gelänge? Die AutorInnen schreiben, „eine aufständische Erhebung ist vielleicht nichts anderes als eine Vervielfachung der Kommunen, ihrer Verbindungen und ihres Zusammenspiels“ und jegliche Kommune könne „nur zwangsläufig nach Selbstversorgung streben und in ihrem Innern Geld als etwas Lächerliches und genau gesagt Deplaziertes empfinden“.
Der FAZ schwebt für den Fall eines Sieges des Unsichtbaren Komitees etwas anderes vor: „Die unsichtbaren linken Militanten überschätzen ihre Kraft: Eine kollabierende öffentliche Ordnung würde (…) durch eine Mafia regiert. Wenn die Züge nicht mehr fahren, folgt nichts Besseres. Nach dem kommenden Aufstand kommen die schwarzen Geländewagen.“

Vom Wesen Europas

  • 13.07.2012, 18:18

Was verbindet den Wiener Stadtteil Ottakring mit dem Balkan?

Buch-Rezension

Was verbindet den Wiener Stadtteil Ottakring mit dem Balkan? In Karl-Markus Gauß’ Erzählung Im Wald der Metropolen ist die Antwort weniger offensichtlich, als man vermuten würde. Bei ihm ist Ottakring Schauplatz vom Leben desjenigen Schriftstellers, bei dem „so viel gestorben wie in keinem anderen Werk der Weltliteratur“ wird, dem Slowenen Ivan Cankar nämlich, der über zehn Jahre in einem düsteren Kabinett bei einer Ottakringer Näherin zur Untermiete lebte, und welchem die Ottakringer Straße als Vorlage für seinen Roman Die Gasse der Sterbenden diente.
Erkundungen wie diese, die an 13 Stationen und noch mehr Schauplätzen innehalten, machen die ineinander verwebten Reportagen zu einer großen Erzählung. Kleine Hinweise, aufgelesen an Gedenktafeln oder Grabsteinen, verweisen dabei zu immer neuen Orten, Personen und Ereignissen: So war das Ottakring von 1911, damals innerhalb weniger Jahre zur Vorstadt der Fabriken und Zinskasernen gewachsenen, auch Schauplatz von ArbeiterInnenaufständen, die von habsburgischen Soldatentruppen aus Bosnien und Herzegovina niedergeschlagen wurden. Für die unangenehmen Aufträge wie Verprügeln und Niederschießen rekrutierte die Monarchie lieber Soldaten vom Balkan als aus Wien.
Gauß führt die LeserInnen vom Burgund bis zum Belvedere, von Brünn nach Bukarest, von den künstlich gotischen Plätzen des schlesischen Oppeln bis zur neapolitanischen Piazza San Francesco, hält inne in der trägen Hitze griechischer Inseln, um endlich in die europäische Hauptstadt Brüssel zu kommen. Richtungsweisend für die Wege, die Gauß im Laufe des Erzählens einschlägt, sind die Lebens- und Arbeitsstationen zahlreicher SchriftstellerInnen, die auf jeden Fall die ProtagonistInnen in Gauß´ Werk darstellen. Gauß ist Herausgeber der Literaturzeitschrift Literatur und Kritik, die Erforschung von Biographien Schreibender sind nicht zum ersten Mal Teil seiner Arbeit. Insofern ist Im Wald der Metropolen nicht nur im Bezug auf persönliche Bemerkungen im Verlauf des Buches, wie der wiederkehrenden Angst vor dem drohenden Herzinfarkt, autobiographisch. Eine Vielzahl von Anekdoten aus dem Leben des Begründers der modernen serbischen Schriftsprache, Vuk Karadžić, des kroatischen Nationaldichters Petar Preradović oder des Brünner Dichters Ivan Blatný, um nur einige zu nennen, machen das Buch auch zu einer Zusammenschau des intellektuellen Lebens in Europa.
Ist Im Wald der Metropolen über weite Strecken von der Vergangenheit inner-europäischer Verstrickungen geprägt, thematisiert Gauß an mehreren Stellen auch Europas Randgruppen als zweite Protagonisten: Einerseits die Roma als Beispiel für die größte innereuropäische Randgruppe. Andererseits zeigt Gauß am Beispiel der überwiegend afrikanischen EinwohnerInnen des Brüsseler Stadtviertels Marollen auf, dass Europa die neue Randgruppe der von außen nach Europa dringenden ZuwanderInnen nicht mehr länger aufhalten wird können.
Die vielleicht am schönsten beschriebenen ProtagonistInnen in Im Wald der Metropolen sind aber diejenigen, die von der Geschichte und ihren Verstrickungen völlig ungerührt scheinen: Die Alten und Greise der Städte und Inseln Südeuropas, die, in der Mittagshitze in Straßen schlurfend und auf Mauern sitzend, Sinnbild für die Ewigkeit sind.

Worte verändern

  • 13.07.2012, 18:18

Die argentinische Autorin Luisa Valenzuela schreibt bekannte Märchen um und zeigt, wie sehr Sprache unser Denken beeinflusst.

Die argentinische Autorin Luisa Valenzuela schreibt bekannte Märchen um und zeigt, wie sehr Sprache unser Denken beeinflusst.

Ein Schiff segelt sanft auf ruhigem Meer. An Bord befinden sich achtzehn Frauen, achtzehn Schriftstellerinnen, die nach den hitzigen Diskussionen eines fünftägigen Autorinnen-Seminars ausgelassen feiern und tanzen. Plötzlich stürmen schwarz gekleidete Männer das Schiff, nehmen alle gefangen und stellen die Frauen bis auf weiteres unter Arrest. „Achtzehn argentinische Schriftstellerinnen, die mit einem Federstrich von der literarischen Landkarte gefegt werden.“
Mit dieser Szene beginnt El Mañana, der neue Roman der argentinischen Autorin Luisa Valenzuela. In ihren Werken beschäftigt sie sich vor allem mit Machtstrukturen in der Beziehung zwischen Männern und Frauen. Valenzuela, die als Tochter einer berühmten argentinischen Schriftstellerin in einer literarischen Atmosphäre aufwuchs, konzentriert sich dabei insbesondere auf das Verhältnis von Sprache und Macht, und wie Mann und Frau mit diesen beiden Komponenten umgehen.
Mit der Umarbeitung von verschiedenen Märchenstoffen, unter anderem den berühmten Märchen Rotkäppchen und Blaubart, hat Valenzuela bereits in der Vergangenheit gezeigt, wie die Sprache, die wir verwenden, unser Denken beeinflusst.

Neugier. „Ich habe der Geschichte nichts hinzugefügt, ich habe sie abgebaut und wieder aufgebaut, ausgehend von den grundlegenden Elementen.“ Valenzuelas Rotkäppchen etwa ist sich der Gefahr, die vom Wolf ausgeht, bewusst und – auch wenn es am Ende gefressen (und nicht vom Jäger gerettet) wird – trifft es seine Entscheidungen doch selbstverantwortlich und trägt die Konsequenz.  „Ich dachte mir, dass diese beispielhaften Geschichten vielleicht anfangs anders erzählt wurden“, sagt Valenzuela: „Es war Charles Perrault, der sie im Jahr 1670 als erster niederschrieb und dabei restriktive Moralvorstellungen verfasste und die Frau berichtigte. Es sollte uns nicht überraschen, dass jemand, der so sehr in den Autoritarismus verliebt war, den Mädchen empfahl, artig zu sein, so lange zu schlafen bis der Prinz kommt und nicht vom rechten Weg abzukommen.“
Das Märchen Blaubart liest sich in Valenzuelas Version ebenfalls etwas anders als das Original. Auch bei Valenzuela öffnet Blaubarts Gattin mit dem kleinen Schlüssel das verbotene Zimmer im Schloss ihres Mannes. Sie findet darin die von Blaubart ermordeten früheren Ehefrauen. Der Schlüssel fällt ihr in die Blutlache und sie versucht vergebens den Blutfleck, der sie verrät, abzuwaschen. Soweit gleichen sich die Neubearbeitung des Märchenstoffes und das Original. Valenzuela setzt mit ihrer Version jedoch Jahrhunderte nach der Befreiung von Blaubarts Gattin an. Diese hält in der Gegenwart Seminare, in denen sie den Teilnehmerinnen schildert, wie ihr ihre Neugier das Leben gerettet hat. Nach Märchenautor Charles Perrault ist die Neugier, „wenn es den Frauen auch gefällt, ein ziemlich flüchtiges Vergnügen; sobald man ihm nachgibt, schwindet es schon und immer kostet es zu viel“. Luisa Valenzuela sieht in Blaubart hingegen eine andere Moral. „Wenn die Prinzessin, die Gattin von Blaubart, weiterhin in dem Schloss bleiben würde, ohne in dieses Zimmer zu sehen, wo sich die enthaupteten Frauen befinden, und mit diesem makaberen Geheimnis zusammenleben würde, auch wenn sie es nicht als solches erkennt, wäre ihr Leben durchgehend in Gefahr. Deswegen ist es notwendig nachzusehen und das Leben für die Erkenntnis zu riskieren, für das Wissen.“

Umkehr. In Der Schlüssel, wie Valenzuelas Version von Blaubart heißt, zeigt die Autorin darüber hinaus, wie negativ belastete Wörter und Eigenschaften in positive umgewandelt werden können. Ausgangspunkt ist dabei die Wertung der weiblichen Neugier als „Fehler“. Valenzuela führt die LeserInnen durch den Abbau dieser negativen Konnotation, indem sie den Begriff „demontiert“ und ihn mit positiven Assoziationen auffüllt. Am Ende ihrer Kurzgeschichte wird die weibliche Neugier (und damit auch die weibliche Unabhängigkeit) nicht mehr als „Fehler“, sondern als „Tugend“ verstanden. Mit der Änderung dieser Wertungen ändert Valenzuela gleichzeitig auch das gesellschaftliche Bewusstsein hinsichtlich der Rolle der Frau. Ihre Bearbeitung des Märchenstoffes kann somit auch als Anleitung zum Abbau und Wiederaufbau von Konnotationen gelesen werden. Durch die Umkehr der Wertung, die dem Begriff „Neugier“ anhaftet, zeigt Valenzuela, was mit der Macht der Sprache erreicht werden kann. „Das war es, was mich dazu angeregt hat, die berühmtesten Märchen von Perrault zu erzählen, wie ich glaube: Sie sollten so erzählt werden, wie in der Zeit bevor die patriarchalische Moral sie verfälscht hat. Die Märchen aus einer weiblichen, manchmal aktuellen, ironischen, politisierten Perspektive zu erzählen, das heißt sie wiederherzustellen – in ihrer grundlegenden Bedeutung.“
Auch die Schriftstellerin Elisa stellt sich in Valenzuelas neuem Roman El Mañana die Frage nach der Macht der Sprache. Alles, was sie im Arrest schreibt, wird von den Ordnungswächtern sofort wieder gelöscht. Im Laufe des Romans versucht Elisa der Frage auf den Grund zu gehen, wodurch sich die Machthaber eigentlich bedroht fühlen: Allgemein durch die Macht der Worte oder durch eine eigene Sprache der Frauen? Luisa Valenzuela glaubt an die Existenz einer spezifischen weiblichen Schreibweise: „Die Herangehensweise an das Schreiben ist je nach Geschlecht unterschiedlich. Für die Frau ist es wichtig, ihre Anliegen zu erforschen, weil sie immer von den Anliegen des Mannes geprägt waren.“

"I'm an F-A-G-E-T-T-E!"

  • 13.07.2012, 18:18

Hip Hop wird gerne herangezogen, um Sexismus und Männlichkeit zu thematisieren. Was dabei selten in den Blick genommen wird, sind queere Alternativen, wie sie gerade in diesem Bereich immer häufiger ausformuliert und praktiziert werden. Ein Essay mit Blick auf die spannendsten Entwicklungen.

Hip Hop wird gerne herangezogen, um Sexismus und Männlichkeit zu thematisieren. Was dabei selten in den Blick genommen wird, sind queere Alternativen, wie sie gerade in diesem Bereich immer häufiger ausformuliert und praktiziert werden. Ein Essay mit Blick auf die spannendsten Entwicklungen.

Als eine in den 1990ern sozialisierte Teenagerin war lange Zeit alles, was mir aus dem Hip Hop-Genre begegnet ist, geprägt von extrem übersteigerter Männlichkeit. Muskelbepackte, große, breite Körper, deren Voluminösität noch durch möglichst weite Kleidung unterstrichen wurde, wippten da in zahllosen Musikvideos unmotiviert, dafür außerordentlich raumnehmend durch die verschiedensten Partysettings. Ausgestattet mit prestigeträchtigen Statussymbolen inszenierten sich die damaligen Chartstürmer als furchtlose Oberchecker, deren gewaltbereites Gangster-Dasein vor allem auf textlicher Ebene zelebriert und zum identätsstiftenden Charakteristikum wurde. Essentieller Bestandteil dieses Konstrukts war auch die Rolle, die Frauen hier zugeschrieben wurde. Außerordentlich spärlich bekleidet tauchten sie stets als übersexualisierte, stumme, den (einen) Mann anhimmelnde Gruppe auf. Diese Auslegung idealer Männlichkeit, die heterosexuell, stark, erfolgreich, dominant und alles andere als konfliktscheu zu sein hatte, versetzte mich ob ihrer realitätsfernen, übersteigerten Inszenierung meist in gähnende Langeweile. Zeitgleich entzündete sich an den Anteilen innerhalb dieses Bildes, die ich durchaus auch aus meinem Alltag kannte, aber Wut. All das Bling Bling täuschte so nicht über das sexistische Grundsetting hinweg, das auch der in meiner Umgebung zelebrierten hegemonialen Männlichkeit bis heute zu Grunde liegt.

Abseits des Mainstreams. Diese Art Hip Hop, wie ich sie kennen gelernt habe, war die, die den Mainstream bis heute geprägt hat. Hier ist es wichtig, darauf hinzuweisen – wie bell hooks das getan hat – dass genau diese sexistischen und rassisierten Bilder bewusst eingesetzt worden sind, um die kolonial geprägten Fantasien weißer Mittelschichtskinder zu bedienen, die schließlich den größten Markt bilde(te)n.
Hip Hop ist aber wesentlich variationsreicher. Seit den Anfängen des Genres in den 1970ern wurde dieser musikalische Ansatz auf Beats zu reimen gerade von Afro-AmerikanerInnen dafür verwendet, klar Stellung zu beziehen. Oft waren Erfahrungen von Unterdrückung und die Wut über gesellschaftliche Umstände der Antrieb, um die eigene Lebensrealität in den Mittelpunkt zu stellen und durch die Benennung aktiv zu einer Veränderung beizutragen. Gerade über die Einbettung dieser Kritik im Kontext von Musik konnten Anliegen einem breiteren Publikum zugänglich gemacht werden, was auch dazu beitrug, ein positives Selbstbild der ständigen Abwertung und Diskriminerungserfahrung entgegen zu setzen.

Homo Hop. Auf diese altbewährten Möglichkeiten griff zur Jahrtausendwende auch das Deep Dickollective zurück. Die in Kalifornien ansässige Formation thematisierte in ihren Songs als eine der ersten explizit schwulen Hip Hop-Gruppen homosexuelles Begehren, und brachte so das heteronormative Grundsetting ins Wanken. Zeitgleich unterwanderten sie die von Konkurrenz und Rivalität geprägte Hip Hop-Kultur auch durch gezielte Vernetzungsarbeit unter queeren RapperInnen. Juba Kalamka, Mitbegründer des Deep Dickollective, initiierte so etwa 2001 das PeaceOUT World Homo Hop Festival, das zur Inspiration vieler weiterer queerer Hip Hop- und Spoken Word-Veranstaltungen in den USA und Großbritannien wurde. Darüber hinaus setzte er sich auch durch die Veröffentlichungen seines Labels Sugartruck Recordings für die Verbreitung queerer Inhalte im Hip Hop ein.
Die traditionellen Männlichkeitsvorstellungen im Hip Hop wurden bereits durch das vermehrte Aufkommen rappender Frauen angekratzt, das klare Artikulieren von schwuler Homosexualität setzte dieses Konstrukt aber einem ganz anderen Angriff aus. Denn hier ist es vor allem die Angst, selbst Objekt der Begierde von Männern zu werden, die zur großen Verunsicherung wird. Schwule Präsenz bringt in diesem Denken die Gefahr von Entmännlichung mit sich. „There’s this notion that if you allow a gay presence to enter a battle situation and someone who’s gay out-rhymes you, you have to deal with being de-masculinized“, so Tim’m West von Deep Dickollective.

Cuz for real-do, I got a dildo! Neben als schwul gelabelten Männlichkeiten lassen sich gerade im Hip Hop auch andere Alternativen zur Norm finden. So setzt sich etwa Katastrophe in seinen Spoken Word-Performances mit queeren Geschlechtlichkeiten abseits des Bio-Mann-Seins auseinander und thematisiert dabei besonders eloquent sein Leben als Transmann. Auch Athens Boys Choir aka Harvey Katz, der sich selbst in seinem Song Fagette als pansexuell - also eine vorgegebene Einschränkung des eigenen Begehrens in Kategorien wie Mann und Frau verweigernd - definiert, sagt in seinen Lyrics den herkömmlichen Definitionen den Kampf an. Er kombiniert Queer-Aktivismus mit Selbstreflexivität und bricht so mit viel Style aber auch Humor die alten Strukturen unhinterfragter Selbstbeweihräucherung. Amy Ray, bei deren Konzerten die Band Indigo Girls Katz als Vorgruppe auftrat, meint: „With the inclusion of class, culture, and race dynamics in transgender politics, Katz makes room for the evolution of a movement.“ Diese Bewegung will ich berühmt werden sehen!

Warum wir Medien brauchen

  • 13.07.2012, 18:18

Gerade erleben wir in Deutschland, was das heißt, wenn viele Menschen einen Sachverhalt, der sie alle betrifft, anders wahrnehmen und verstehen als die Fachleute und repräsentativen Entscheidungsgremien.

Ein Auszug der Rede Uwe Kammanns beim Dialogforum „Orientierung“ im ORF-RadioKulturhaus.

Gerade erleben wir in Deutschland, was das heißt, wenn viele Menschen einen Sachverhalt, der sie alle betrifft, anders wahrnehmen und verstehen als die Fachleute und repräsentativen Entscheidungsgremien. Ich spreche vom Widerstand und vom Protest gegen Stuttgart 21, ein Umgestaltungsprojekt der Bahn, das sieben, vielleicht zehn Milliarden Euro kosten soll und sicher für zehn Jahre die Stuttgarter Innenstadt in eine lästige Baustelle verwandelt.
Schon hier, bei einem doch regional begrenzten Projekt mit einer vergleichsweise klassischen Technik und einem überschaubarem Instrumentarium, wird deutlich: Direkt kommunizieren lassen sich Für und Wider nur schwer, viele Sektoren des heftigen Austausches berühren Bauchgefühle, stehen für Annahmen, mutieren zu Glaubensfragen. Solche Vorbehalte, was Verstehen betrifft, gelten natürlich erst recht für andere Groß-Fragen: Von der Atomkraft über den Klimawandel und die Gen- Technologie bis hin zur Konflikt-Aufrüstung der Welt, zu Kriegsschauplätzen und Terrorismus.
Doch gleichwohl, wie komplex die Sachstände auch sein mögen, wie fremd uns Entwicklungen sind, wie weit entfernt sie zu sein scheinen von unserer Lebenspraxis und unseren Handlungsoptionen: Ohne mediale Vermittlung wären wir noch viel stärker nichts als potentielle passive Zuschauer, erduldende Objekte, bloße Zufallsgeneratoren. Das hat sich eindrucksvoll bestätigt während der Finanzkrise, einer Krise, die sicher auch deshalb so über alle Maßen dimensioniert war, weil zuvor die kritische Wachsamkeit und die finanzwirtschaftliche Vorstellungskraft der Medien nicht einmal im Ansatz taugte, um zumindest als Frühwarnsystem zu wirken. Wir sahen: Komplizenschaft statt nüchterne Analyse, opportune Bewunderung von scheinbar erfolgreichen Akteuren statt kritischer Distanz, eingebundene Nähe statt kühler Einordnung und unerschrockener Kommentierung.
Doch gibt es natürlich auch eine andere Seite der Münze. Und auch das gehört zu den Grundmustern der Moderne, ist eingefangen beispielsweise im berühmten Schlussvers eines Gedichtes von Charles Baudelaire. Der Dichter, Zauberer des Medialen, spricht dort mit dem Leser. Und was ist danach ihr gemeinsamer Spiegel, in brüderlicher Erkenntnis?
Nichts Schrecklicheres als der ennui – Langeweile, Überdruss!
Was nichts anderes heißt, als dass der Kern des ewigen Spiels ausgehöhlt wird. Auf einmal schauen immer mehr Menschen nur noch angewidert dem Treiben und den Erscheinungen zu, ekeln sich vor dem inszenatorischen Charakter, auf welcher Ebene auch immer – vom Schaugeschäft bis zur Politik – und wollen die politische wie die mediale Bühne am liebsten abschaffen.

Was sie dabei übersehen: Natürlich gibt es Unterschiede in den medialen Leistungen, sehr große sogar.
Da gibt es die großen Presse-Publikationen, überregional, die investieren in redaktionelle Ressourcen, in Recherche, in Dokumentationsgenauigkeit und in Darstellungsvielfalt. Da gibt es die Fachpresse, da gibt es Bücher, Foren, Symposien. Und da gibt es auch Fernseh- und Radiosendungen, in gar nicht geringer Zahl, welche genaue und weiterführende Anschauung bieten, welche audiovisuelle Bereicherung bieten, ihre Möglichkeiten ausreizend.
Und natürlich ist eine ganz neue Informationswelt entstanden. Das Netz ist in seinem Grundcharakter anarchisch, chaotisch, unübersichtlich. Was auch heißt: Die Genauigkeit und die Seriosität der Informationen (um es neutral zu sagen) ist erst einmal nichts als eine Wunschvorstellung der Nutzer.
Und doch: In diesem Netzprinzip steckt auch eine ungeheure Stärke: Nämlich ohne innere Restriktionen, ohne falsche Rücksichtnahmen, ohne institutionelle Einengungen publizieren zu können. Wer hatte früher Zugang zu Bibliotheken, zu Filmen, zu Akten, zu Verwaltungsdokumenten?
Hier, wie an vielen anderen Punkten tut sich mit dem Netz tatsächlich eine Welt des Info-Mehrwerts auf, auch der Demokratisierung von Wissen, der Förderung des politischen, des wirtschaftlichen Handelns und der eigenen Kultivierung.
Aber zugleich wird etwas anderes produziert und transportiert: Nämlich die rasante Entgrenzung. Denn mit jedem Klick tun sich potentiell Milliarden von Infowelten auf – was dann wieder die Unübersichtlichkeit steigert.
In der Inflationierung verliert die vielfach gerühmte Schwarmintelligenz ganz schnell jegliche Richtung und jeglichen Bezugspunkt: Mit der logischen Folge für die Akteure auf allen Ebenen, ohne Orientierung zu sein, hilflos zu wirken.
Aber einsichtig ist auch: Ein anderes, ein verordnetes Grundmuster kann es nicht geben – denn die sinngebenden Großordnungen sind nicht mehr zu haben. Deshalb müssen wir uns im System einrichten, müssen es herrichten als Erkenntnisinstrument. Genau hierin liegt eine große Chance: Es braucht offen sichtbare Umschlagpunkte, es braucht noch nicht festgelegte Baustellen von neuen Plattformen, um sich neu zu vergewissern, was die Ziele des eigenen medialen Handelns – im Herstellen, im Verbreiten, im Wahrnehmen – ausmacht und bestimmt.

Ohne ein weitergehendes Bild von sich und der Welt (und allen vielfältigen Beziehungen dazwischen) würde unsere eigene menschliche und mitmenschliche Dimensionalität verflachen – zusammengeschrumpft auf den alleinigen Mechanismus von Angebot und Nachfrage, von Stärke und Schwäche. Eine dagegen sich aufbäumende Leistung ist unter Kultivierung zu verstehen, individuell und gesellschaftlich. Und hiervon dürfen die Medien – auch jene, welche sich den schlichten Verkaufsgesetzen verdanken – nicht dispensiert werden.
Dies wiederum setzt voraus, dass es noch eine Vorstellung von Allgemeinheit, von Gesellschaft, von Öffentlichkeit gibt – schlicht: Von den res publica. Und zur Vorstellung muss der politische Wille gehören, diesen öffentlichen Raum zu gestalten und auch gegen einengende und widrige Umstände zu bewahren, wenn es denn notwendig ist.
Christina Weiss, Ex-Medien- und Kulturbeauftragte des Bundes, hatte dies in ihrer schönen Schiller- Rede 2004 klar formuliert. Danach ist eben die Vorstellung der ästhetischen Erziehung keine leere Formel, sondern ein ganz und gar lebendiger Auftrag.
Schiller selbst war dabei nicht blauäugig, sondern hat den unauflöslichen, zirkelhaften Zusammenhang zwischen Idee und Praxis klar benannt, indem er die Frage stellte: „Die theoretische Kultur soll die praktische herbeiführen und die praktische doch die Bedingung der theoretischen sein?“ Und weiterfragte: „Alle Verbesserung im Politischen soll von Veredlung des Charakters ausgehen – aber wie kann sich unter den Einflüssen einer barbarischen Staatsverfassung der Charakter veredeln?“
Die Antwort war für ihn einfach: Die Kunst sollte das ausdrücken und hervorbringen, als Werkzeug mit unsterblichen Mustern, um schöne und lebbare Konventionen vorzuzeigen, welche der Willkür einen zivilisierenden Entwurf des eigenen Ich und der Gesellschaft entgegensetzen.
Wenn man Kunst unter den heutigen Möglichkeiten weiter übersetzt, dann gehören die Medien in allen ihren Ausprägungen unbedingt dazu. Und dann darf ganz einfach gefordert werden, dass die Medienmacher den Zirkel von theoretischer und praktischer Kultur nicht vergessen machen wollen, sondern dass sie auf dessen reflektiertem Vorschein bestehen – und damit auf einem Bild des reflektierenden Menschen.
Es muss gelingen, diesen Prozess dauerhaft und gesellschaftlich gut verankert zu etablieren. Denn er ist notwendige Voraussetzung einer Bürgergesellschaft, die sich nicht vom ökonomischen Egoismus, sondern von der steten Verantwortung für das Allgemeine leiten lässt. Einer Bürgergesellschaft, die auf einem selbst bestimmten und selbst bestimmenden Menschen besteht. Eines Menschen, der immer und notwendigerweise auf Medien angewiesen ist, weil eine Welt ohne Vermittlung schlichtweg nicht denkbar ist.

Uwe Kammann ist Direktor des Adolf-Grimme-Instituts.
Die ungekürzte Rede wird in der Jänner-Ausgabe der ORF-Schrift „Texte“ abgedruckt.

Russland ist eine sanfte Diktatur

  • 13.07.2012, 18:18

Sergej Mitrochin, Vorsitzender der liberalen russischen Oppositionspartei „Yabloko“, spricht über organisierte Korruption in Russland, wie der Westen mit Putin und Medwedew umgehen soll und warum er bereit ist, ins Gefängnis zu gehen.

Sergej Mitrochin, Vorsitzender der liberalen russischen Oppositionspartei „Yabloko“, spricht über organisierte Korruption in Russland, wie der Westen mit Putin und Medwedew umgehen soll und warum er bereit ist, ins Gefängnis zu gehen.

PROGRESS: Wir haben Ihren Namen gegoogelt und fanden fast ausschließlich Fotos, auf denen Sie gerade verhaftet werden. Wie schwer ist das Leben eines russischen Oppositionellen?

Mitrochin: (lacht) Es ist hart, weil es so viele Einschränkungen gibt. Es ist fast unmöglich, etwa mit einer Demonstration nicht gegen ein Gesetz zu verstoßen, weil den Behörden jede öffentliche Versammlung verdächtig erscheint. Die Polizei reagiert häufig mit Gewalt, viele Aktivisten werden für einige Tage weggesperrt. Wir leben in einem autoritären Staat, das wissen wir. Deshalb müssen wir für Demokratie kämpfen.

Würden Sie Russland als Diktatur bezeichnen?

Russland ist im Moment eine sanfte Diktatur. Es ist nicht vergleichbar mit dem Stalin-Regime, aber es ist eine Diktatur, die vorgibt, eine Demokratie zu sein, um vom Westen akzeptiert zu werden.

Wird die Opposition von russischen Medien überhaupt wahrgenommen?

Putin und Medwedew kontrollieren und zensurieren die Medien. Für Putin ist es eines der wichtigsten Instrumente, um an der Macht zu bleiben. Das macht die Oppositionsarbeit noch viel schwieriger.

Wie sieht es mit dem Internet aus?

Wir haben uns über die Zensur der russischen Fernsehstationen beschwert. Medwedew teilte uns daraufhin mit, wir sollen doch einfach ins Internet gehen. Aber man kann die Effektivität der beiden Medien nicht vergleichen.

In Westeuropa heißt es: Unter Jelzin gab es Chaos, Putin hat Ordnung nach Russland gebracht. Deshalb vertrauen ihm die Leute.

Das ist ein Mythos. Putin machte dort weiter, wo Jelzin aufgehört hatte. Unter Jelzin war alles und jeder korrupt, aber das ganze geschah ungeordnet. Unter Putin ist die Korruption nicht weniger, sie ist nur besser organisiert.

Hat die russische Bevölkerung Vertrauen in ihre Regierung?

Sie vertrauen Putin und vielleicht noch Medwedew, weil sie die beiden ständig im Fernsehen sehen. Sie sind Symbole für Hoffnung. Aber sie vertrauen weder der Regierung, noch den Gouverneuren, der Polizei oder sonst einer staatlichen Institution.

Wie soll der Westen mit Putin und Medwedew umgehen?

Er sollte Russland in seine Politik und gemeinsame Projekte einbinden. Die Menschenrechte müssen angesprochen werden, aber es wäre dumm, wäre dies das einzige Thema, das der Westen anspricht.

Könnte eine verstärkte Integration Russlands früher oder später zu einem EU-Beitritt führen?

Das halte ich für wenig realistisch. Es gibt andere Möglichkeiten, Russland einzubinden. Der Beitritt zur EU kann höchstens ein weit entferntes Ziel sein.

Wie wichtig ist diese Anbindung an Europa für einen politischen Wandel in Russland?

Es ist ein wichtiger Faktor von vielen, wie etwa die Einhaltung der Menschenrechte, der Aufbau einer Zivilgesellschaft oder eine wirkliche Gewaltenteilung. Es ist die Aufgabe der russischen Bürger und Bürgerinnen, für diese Sachen zu kämpfen. Aber es wäre einfacher, hätte die EU ein Konzept, um Russland einzubinden.

Arbeitet Ihre Partei mit anderen Oppositionskräften zusammen?

In einzelnen Fällen, ja. Aber oft ist es aus historischen Gründen unmöglich: Wir können uns ganz einfach nicht mit Extremisten wie etwa den Nationalbolschewisten zusammenschließen.

Hat sich Russlands Politik unter Medwedew verändert?

Medwedew hat so getan, als würde er etwas ändern. Aber er hat nicht gehalten, was er versprochen hat. Es ist vollkommen klar, dass er nichts gemacht hat und er wird auch im letzten Jahr seiner Präsidentschaft nichts mehr machen.

Gibt es einen Machtkampf zwischen Putin und Medwedew?

Medwedew hat nicht die Unterstützung der russischen Eliten und der Regierung. Putin kontrolliert alles – inklusive Medwedew, der einfach eine Erfindung Putins ist.

Glauben Sie, dass Medwedew seinem Erfinder bei der nächsten Wahl wieder Platz machen wird?

Das ist möglich, aber ich schließe auch nicht aus, dass Putin einfach einen weiteren Präsidenten erfindet.  

Kann Putin die Macht in Russland überhaupt noch verlieren?

Derzeit nicht. Das wäre nur bei einer zweiten Wirtschaftskrise möglich, aber Russland ist aufgrund der Gewinne im Öl- und Gassektor weit von einer ernsten Krise entfernt. Ich glaube nicht, dass Putin die Kontrolle in den nächsten Jahren verlieren könnte.

Im Sommer kam es zu Demonstrationen gegen den Bau eines Highways durch den Chimki-Wald. Schließlich gab Medwedew nach und ließ den Bau stoppen. Hört Medwedew doch mehr auf das Volk, als ihm zugetraut wird?

Nein, zum Baustopp kam es erst, nachdem das Thema auch international für Schlagzeilen sorgte. Putin und Medwedew mussten reagieren und sich vor der Weltöffentlichkeit rechtfertigen.

Es kam auch zu gewalttätigen Übergriffen durch maskierte Männer. Waren Sie davon auch betroffen?

So geht man mit Demonstrationen in Russland immer um, es ist das übliche Prozedere. Man versucht, die Teilnehmer einzuschüchtern.

Wer steckt hinter diesen maskierten Schlägern?

Jene Unternehmen, die ein Interesse am Bau dieses Projektes haben.

Immer wieder hört man von AktivistInnen, die wegen Widerstands gegen die Staatsgewalt eingesperrt werden. Wie unabhängig sind Russlands RichterInnen?

Es gibt kein einziges unabhängiges Gericht in Russland. Besonders nicht, wenn es sich um einen politischen Prozess handelt.

Wie oft waren Sie schon im Gefängnis?

(lacht) Unzählige Male. Aber nie für lange.

Haben Sie manchmal Angst?

Ich fürchte mich davor, dass meinen Kollegen etwas passiert. Es ist gefährlich, in Russland politisch aktiv zu sein.

Aber Sie selbst haben keine Angst?

Im Gefängnis zu sein, ist… unangenehm. Aber als russischer Oppositionspolitiker muss man bereit sein, eingesperrt zu werden.

Seiten