Interview

„Klitoris? Wir haben das nicht verwendet“

  • 22.11.2016, 14:44
In welchem Alter und zu welcher Gelegenheit wurdest du dir deiner eigenen Klitoris bewusst? Um diese zwei Fragen dreht sich der Kurzfilm „Clitorissima“, der im Rahmen des Transition-Festivals gezeigt wurde. progress sprach mit der queeren Filmemacherin Gia Balestra.

In welchem Alter und zu welcher Gelegenheit wurdest du dir deiner eigenen Klitoris bewusst? Um diese zwei Fragen dreht sich der Kurzfilm „Clitorissima“, der im Rahmen des Transition-Festivals gezeigt wurde. progress sprach mit der queeren Filmemacherin Gia Balestra.

„Noch eine Geschichte! Bitte!“, ruft Gia Balestra laut und leicht flehend in den dunkeln Kinosaal im Wiener Schikaneder. Sie macht gerade den Rolls Royce unter den Vibratoren zum Testen bereit. Hie und da hört man Gekichere. Noch vor einigen Minuten lief ihr Kurzfilm „Clitorissima“ auf der Leinwand. Jetzt gibt es die Möglichkeit sich im geschützten Rahmen unter Frauen*, Trans* und Inter*-Personen auszutauschen – über die eigene Erinnerung an die erste „Clitoris Awareness“.

In welchem Alter und zu welcher Gelegenheit wurdest du dir deiner eigenen Klitoris bewusst? Balestra konfrontierte zuerst ihre weiblichen Familienmitglieder mit diesen zwei Fragen. Danach Personen, die sie auf Events zum Thema Sexualität, interviewte. Und jetzt das Publikum im Schikaneder. Eine Hand streckt sich im Kinosaal: „Ich war vier und dachte, dass ich dieses Gefühl erfunden habe. Es war so schön. Ich konnte mir nicht vorstellen, dass mir niemand zuvor davon erzählt hat.“ Das Gekichere schlägt in freudiges Lachen um. Gemeinsam wird die Klitoris zelebriert. Genau das will Gia Balestra erreichen.

Die gebürtige Italienerin vereint viele Facetten in sich. Selbst- und Fremdzuschreibungen: Sie ist Überlebende einer Vergewaltigung. Laut ihrer jüngeren Schwester sei sie eine „Kinderklitorisausbildnerin“. Ihren Künstlerinnen-Name „Vulvah Van Klitt“ entwickelte sie als persönlichen „Comic Relief“. Nach dem ganzen Drama, brauchte sie etwas worüber sie lachen konnte. Laut Freund*innen aus Italien ist sie besessen von der Klitoris. Sie selber bestätigt das ganz selbstbewusst: „Yes! I am obsessed!“. Kurzum: Ein außergewöhnliches Gespräch mit einer außergewöhnlichen Person.

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progress: Angestoßen wurde deine Auseinandersetzung mit der Klitoris durch einen Vorfall mit deiner Schwester bzw. mit ihrer Tochter Virginia, die sich mit drei Jahren ihrer Klitoris bewusst geworden ist. Kannst du erzählen was damals, vor zwanzig Jahren, passiert ist?
Gia Balestra: Ich kann dir die Szene genau schildern: Sommerzeit in Bassano del Grappa, ein kleines Dorf in der Nähe von Venedig. Wir sitzen im Garten. Meine Schwester nähert sich mir. Sie flüstert in mein Ohr: „Gia, hast du Virginia die Klitoris gezeigt?“ Virginia begann ihren Körper zu erforschen und meine Schwester zeigte mit den Finger auf mich. Sie flippte aus. Ich flippte aus. Ich musste Italien verlassen und zog nach Berlin. Ich brauchte 16 Jahre, um meine Schwester zu konfrontieren und stellte ihr immer wieder verschiedene Fragen, unter anderem: Wieso ich? Als ersten Grund nannte sie mir, dass ich im Haus war. Als ich mich mit der Antwort unzufrieden zeigte, sagte sie mir, dass es nur ein Scherz war. Ich fragte, was das für ein schlechter und böser Scherz sein soll. Und dann kam die richtige Antwort: Weil ich immer über Sex rede. Es ist jedoch das „Ich“ als Überlebende einer Vergewaltigung, die über Sex spricht. Ich musste vor Anwält*innen und Richter*innen über meine Sexualität sprechen, über das was passierte.

Nach dieser Erfahrung hast du beschlossen deinen weiblichen Familienmitgliedern zwei Fragen zu stellen: In welchem Alter und zu welcher Gelegenheit wurdest du dir deiner Klitoris bewusst? Wie reagierte deine Familie?
Sie waren total gewillt mir davon zu erzählen. Als ich meine Mutter interviewte, begann ihre Alzheimer. Das war nicht einfach für mich, ich hab gezittert und konnte ihr nur die Frage mit dem Alter stellen. Ich war nicht fähig weiter zu gehen. Als Kind erzählte mir meine Mutter, dass Kinder keinen Orgasmus haben können. Erst, wenn sie 18 sind, wären sie dazu fähig. Eine falsche Erzählung, die ich jedoch 100%ig akzeptierte. Ich hatte keine Zweifel daran. Meine Schwester erzählte mir, dass sie ihre erste „clitoris awareness“ mit 16 hatte. Danach ging sie in die Bibliothek und las alles darüber. Auch bei meinen anderen Schwestern und meine Cousinen war es mit 17. Das ist so spät. Das alles ist wohl mit ein Grund, wieso meine Schwester es nicht verstanden hat, als ihre kleine Tochter mit drei begann ihren Körper zu erforschen.

Danach hast du entschieden, diese zwei Fragen auf unterschiedlichen Sex- und Erotik-Veranstaltungen in Berlin zu stellen. Aus diesen Interviews besteht der Film „Clitorissima“. Gab es einen Unterschied zwischen den Generationen, was die Reaktionen anging?
Ich denke schon, ja. Viele Personen zwischen 20 und 30 geben schnell eine Antwort, teilen ihre Erfahrungen. Manche ältere Frauen sagten „Klitoris? Wir haben das nicht verwendet“. Als hätten sie gar keine Klitoris.

Kannst du von ein oder zwei Geschichten aus deinen Interviews erzählen, die dir als besonders interessant oder lustig hängen geblieben sind?
Da gab es die Geschichte von zwei Zwillingsschwestern, die in einem Stockbett schliefen. Die Schwester, die im unteren Bett lag, hatte keine Privatsphäre, um zu masturbieren, während die Schwester, die oben schlief, machen konnte, was sie wollte. Die Beiden teilen nun diese Geschichte miteinander. Das fand ich ziemlich spannend. Oder eine andere Person hatte ihre erste „clitoris awareness“ mit einer Aprikose, die wohl irgendwie zum Gleitmittel wurde. Das ist sehr süß.

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Die Filmvorstellung und die anschließende Diskussion im Rahmen vom Transition-Festival war für Frauen*, Trans* und Intersex*-Personen. Was willst du diesen Personen mitgeben?
Verwendet den Begriff „clitoris awareness“! Es wird nicht darüber gesprochen, aber die meisten Frauen wissen sofort, was ich mit diesem Begriff meine. Manche sagten mir sogar, dass sie sich immer schon ihrer Klitoris bewusst waren. Die Glücklichen! Bei mir war es mit 19. Wenn ich vor Männern den Begriff „clitoris awareness“ verwende, schauen sie mich an als wäre ich eine Idiotin. Männer haben ihren Penis seit ihrer Geburt vor sich. Sie wissen, wenn du den Penis berührst, dann fühlst du etwas. Bei Mädchen ist es nicht so. Ich denke mir oft, dass als ich klein war und meinen Körper entdeckte, ein Kindermädchen mich auf irgendeine Art und Weise bestraft haben muss. Es ist nur eine Vermutung. Aber wie kann ich sonst 19 Jahre lang meine Klitoris vergessen? Als ich sechs Jahre alt war, ging ich öfters reiten. Nicht auf einem Pony, sondern auf einem riesigen Pferd. Aber nichts ist passiert!

Stichwort Erziehung: Dein Film richtet sich auch an Mütter. Wie sollten Mütter mit ihren Töchtern über die Klitoris sprechen?
Sie sollen sagen: Clitoooriissssiimmaaaa! Es soll wie eine Party klingen! Clitoooriissssiimmaaaa! Mit Animationen und netten Bildern kann das Thema anschaulich gemacht werden. Es wäre auch schön, wenn Mädchen bereits in der Vorschule gemeinsam darüber sprechen, sich ihre Klitoris gemeinsam anschauen, damit sie ihren Körper kennenlernen. Das ist jedoch undenkbar. Wir haben immer noch eine Mauer im Kopf, wenn es um die weibliche Sexualität geht.

Wieso existiert diese Mauer deiner Meinung nach immer noch?
Ich glaube, es ist ein Cocktail von Werten aus einer patriarchalen Gesellschaft mit einem Hauch von Katholizismus, der dir einredet, dass dein Körper dreckig ist, der Teufel ist. Natürlich ist das auch bei anderen Religionen so. Egal ob im Islam oder im Buddhismus, der genau so eine sexistische Religion ist. Die Gesellschaft ist sexistisch. Das ändert sich nur langsam.

 

Valentine Auer arbeitet als freie Journalistin in Wien.

„Ich bin ein Produkt der Entwicklungszusammenarbeit“

  • 22.10.2016, 18:41
Die Entwicklungszusammenarbeit sieht sich immer wieder mit heftiger Kritik konfrontiert. progress sprach mit dem gebürtigen Nigerianer Ike Okufar über diese Kritik und über Alternativen.

Die Entwicklungszusammenarbeit sieht sich immer wieder mit heftiger Kritik konfrontiert. progress sprach mit dem gebürtigen Nigerianer Ike Okufar über diese Kritik und über Alternativen.

Abhängigkeiten verschärfen sich. Lokale Bedürfnisse werden ignoriert. Eigeninteressen der „Geberländer“, der NGOs, der Konzerne stehen im Vordergrund. Hilfe kommt oft erst gar nicht dort an, wo sie hingehört. Das sind zentrale Kritikpunkte, mit denen sich die Entwicklungszusammenarbeit (EZA) immer wieder konfrontiert sieht. Doch was sind Alternativen? Welchen Einfluss hat die Diaspora auf Entwicklungen der betroffenen Länder? progress sprach mit dem gebürtigen Nigerianer Ike Okufar, der im Rahmen des „1zu1 Vernetzungstreffens“ über Möglichkeiten einer sinnvollen EZA diskutierte.

progress: Laut der sambischen Ökonomin Dambisa Moyo ist Afrika aufgrund der EZA heute ärmer als vor 50 Jahren. Wie konnte es dazu kommen?
Ike Okufar:
Durch die EZA schaffte man eine Abhängigkeit. Dadurch lernten die Leute nicht, sich selber zu entwickeln, sondern bestehende Systeme zu akzeptieren und zu kopieren. Die kulturelle Zusammensetzung der Leute wurde nicht berücksichtigt. Die Leute geben sich dadurch selber auf. Es leidet nicht nur der Selbstwert der Menschen. Auch was im Land produziert wird, hat weniger Wert. Das Problem ist, dass viele der Personen, die von Außen kommen nicht lernten, dass es auch andere Welten, andere Handlungen – abseits von dem Gewohnten – gibt. Das ist der Grund, warum so viele Projekte der EZA scheitern.
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Diese Kritik an der Entwicklungszusammenarbeit gibt es schon länger. Hat sich seit dem ersten Laut-Werden der Kritik an der Praxis der EZA etwas verändert?
Es verändert sich etwas, weil einige Personen, die wie ich ein Produkt der EZA sind, heute im Ausland leben. Diese Menschen haben gelernt, dass wir uns von der Abhängigkeit befreien müssen. Der gesamte Transfer von Leuten in der Diaspora wird von der EZA nicht berücksichtigt: Ich zahle zum Beispiel von meinem Nettogehalt das Gesundheitssystem meiner Familie, ich finanziere die Schulbildung meiner Verwandtschaft. Am Ende bleibt mir nichts, weil ich die ganze Zeit versuche die Aufgabe des Staates zu erledigen. Doch wenn ich ein Projekt beispielsweise über Österreich abwickle, muss ich die dahinterliegende Bürokratie erledigen und zahlen. Gibt Österreich mir 100 Euro, werden zehn Euro für den bürokratischen Aufwand verwendet. Es wird hier eine Arbeitsstelle allein für die Bürokratie geschaffen. Noch dazu, muss ich das Interesse Österreichs in Afrika wahren, sonst gibt es nächstes Jahr keine Fördergelder mehr. Es geht langsam einen Schritt nach vorne, aber gleichzeitig fünf Schritte zurück.

Wenn die derzeitige Entwicklungszusammenarbeit negative Einflüsse auf die Zielländer hat, was ist die Alternative?
Afrika braucht keine Hilfe, sondern eine Kooperation, einen Austausch. Die Leute müssen in die gesamte Planung, in die gesamte Realisierung miteinbezogen werden. Es braucht eine Art von Kommunikation, bei der Menschen nicht von vornherein verurteilt werden.

Ihrer Meinung nach sollte Entkolonialisierung eine der Hauptaufgaben der Entwicklungszusammenarbeit sein. Wie muss eine Entwicklungszusammenarbeit ausschauen, die das schafft und die Abhängigkeit nicht noch verschärft?
Entkolonialisierung meint die Befreiung im Kopf: „change the mind-set of the people“. Dazu gehört die Frage danach, wie die Menschen konsumieren: Zum Beispiel müssten Leute davon überzeugt werden, dass sie nicht den Reis aus Europa kaufen müssen, weil es auch Naturreis in Afrika gibt. Es braucht also kritisch denkende Bürger, die sich vom Gral diesesEinflusses von außen befreien können. Genauso beim Bau einer Schule: Welche Art von Schulbildung braucht es? Welche Informationen sollen weitergegeben werden und was können die Menschen, nachdem sie die Schule abgeschlossen haben? Darüber wird nicht nachgedacht. Hinzu kommt, dass das alte Wissen, das bereits Bestehende, das die Basis einer Entwicklung ausmachen sollte, derzeit verloren geht, weil wir ständig nach Neuem streben.

In den letzten Jahren engagierten sich vermehrt chinesische Konzerne – insbesondere im Bereich Straßenbau und Infrastruktur – in afrikanischen Ländern. Wie sehen Sie diese Entwicklung?
Was China macht, ist keine Entwicklungsarbeit. Genauso wie die westlichen Länder nie Interesse an der Entwicklung dieser Länder hatten. Diese neu eingerichtete Infrastruktur dient erneut der Ausbeutung von Ressourcen, damit diese schnell den Weg in die westlichen Länder finden. Europa oder die USA haben die Entwicklung dieser Länder verschlafen. Denn hätten Sie in die Schaffung kritischer Bürger investiert, Menschen empowert sich selber zu entwickeln, dann wären die Verhandlungen mit den chinesischen Konzernen anders verlaufen. Ein kritisch denkender Mensch würde nicht Land an China verkaufen, während die Leute hungern. Die chinesischen Konzerne verteilen die Produkte nicht im Dorf, sondern packen sie in Container und bringen sie raus aus Afrika.

Ein weiteres Problem sind EU-Subventionen: Durch die starke Finanzierung der Agrarindustrie wird ein Überfluss von Agrarprodukten in Europa produziert, der unter anderem nach Afrika gebracht wird. Was bedeutet das für die lokale Produktion?

Die lokale Produktion kann preislich bei Weitem nicht mithalten. Es gibt wenige Leute, die das gesamte Volumen der Weltressourcen besitzen und sie verteilen können, wie sie wollen. Die Anderen haben keinen Markt. Dadurch können sie gar nicht konkurrieren. Indem die EU die Überproduktion nach Afrika schickt, wird die Eigenproduktion in Afrika erstickt. Hinzu kommen die Abkommen CETA und TTIP, die derzeit verhandelt werden. So werden noch zusätzlich Interessen der großen Konzerne gestärkt. Sie haben die Möglichkeit ihre Produkte von A nach B zu transportieren. Kleine Produzenten werden so geschwächt. Brauchen wir das? Das ist eine Frage an die politisch denkenden Bürger.

Valentine Auer arbeitet als freie Journalistin in Wien.

„Flüchtlinge sind wie wir. Punkt.“

  • 01.06.2016, 23:17
Drei Filmemacher zeigen in „District Zero“ neben der Erinnerung an das schöne Syrien auch die Realität in einem der größten Flüchtlingscamps der Welt.

Drei Filmemacher zeigen in „District Zero“ neben der Erinnerung an das schöne Syrien auch die Realität in einem der größten Flüchtlingscamps der Welt.

Maamun lebt im jordanischen Zaatari Camp. Eines der größten Flüchtlingscamps weltweit. Laut Angaben der UN-Flüchtlingskommission (UNHCR) leben dort derzeit rund 79.000 SyrerInnen. Maamun ist einer jener Personen, die das Glück haben, ein eigenes kleines Geschäft zu besitzen. Er repariert und verkauft Smartphones. Die drei Filmemacher Jorge Fernández Mayoral, Pablo Tosco und Pablo Iraburu waren im März 2015 in Zaatari und haben Maamun begleitet. „District Zero“ gibt einen Einblick in das Zaatari Camp und zeigt dabei, was sich in Smartphones von Menschen auf der Flucht verbergen kann. Valentine Auer sprach für progress mit Jorge Fernández Mayoral über Erinnerungen, Identitäten und (fehlende) Hoffnungen.

progress: Wie seid ihr auf die Idee gekommen einen Film über eines der größten Flüchtlingscamps weltweit zu machen?
Jorge Fernández Mayoral
: Es hat so begonnen, dass die Hilfsorganisation Oxfam Geld von der Europäischen Kommission erhalten hat, um Flüchtlinge sichtbarer zu machen. Oxfam schrieb daraufhin einen Film-Wettbewerb aus. Wir haben ihn gewonnen. Unsere Idee war, uns auf das Smartphone zu konzentrieren. Wenn dein Haus zerbombt wird, wenn du deine Heimat verlassen musst, ist das Smartphone neben einer Decke eines der wenigen Sachen, die Menschen auf der Flucht mitnehmen. Daher wollten wir eine Geschichte über Identität durch das Smartphone erzählen. Wir wussten, dass es in Zaatari viele Geschäfte gibt. Auch Geschäfte, die Smartphones verkaufen und reparieren. Das war unser Ausgangspunkt für den Film. Einer der drei Regisseure, Pablo Tosco, war als Erster in Zaatari und lernte dort Maamun kennen, unseren Hauptprotagonisten.

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Der Dokumentarfilm zeigt einen Blick in das Flüchtlingscamp Zaatari. Wir sehen im Film auch eine Schule und medizinische Institutionen. Wie wird die Infrastruktur im Flüchtlingscamp organisiert, welche Rolle spielen hier jordanische Behörden?
Wenn ein Flüchtlingscamp errichtet wird, willst du dass es nicht sichtbar ist. Denn ein Flüchtlingscamp zu brauchen, bedeutet, dass es ein Problem gibt. Ein Problem, das gelöst werden muss. Die jordanischen Behörden bezeichnen Zaatari daher nicht als Stadt, auch weil eine Stadt mit Stabilität einhergehen sollte. Vielmehr wird davon ausgegangen, dass Flüchtlingscamps erschaffen werden, um zu sterben. Aber eigentlich ist es nichts anderes als eine Stadt: Es gibt einen Bürgermeister, es gibt Bezirke – daher auch der Name „District Zero“. Gemanagt wird das Camp jedoch von UNHCR gemeinsam mit lokalen Behörden.

Am Ende des Films erscheint der Satz „der Großteil der Flüchtlinge hat nicht die Möglichkeiten wie Maamun, der jeden Tag sein Geschäft öffnen kann“. Wieso habt ihr euch trotzdem für Maamun als Hauptcharakter entschieden?
Dieser Satz ist für uns ein sehr wichtiger im Film. Maamun hat mehr Möglichkeiten, da er Geld aus Syrien mit ins Camp bringen konnte. Mit diesem Geld hat er einen kleinen Container und seine ersten Smartphones gekauft. Der Großteil der Menschen, die in dieses Flüchtlingscamp kommen, haben aber nichts. Auf den ersten Blick ist es für alle Flüchtlinge das gleiche Problem, auf der Flucht zu sein. Aber hast du ein bisschen mehr Möglichkeiten, dann kannst du leichter damit umgehen.

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In Österreich – aber auch in anderen Ländern – kommt immer wieder die Kritik auf, dass Flüchtlinge gar nicht so arm sein können, sie besitzen ja ein Smartphone …
Diese Aussage ärgert mich sehr. Wie kann man so was sagen? Mittlerweile gibt es nur noch wenige Menschen, die kein Smartphone haben. Und Syrien war vor dem Krieg kein armes Land, wieso sollen die Leute dort kein Smartphone besitzen? Wenn du flüchtest, kannst du sonst nichts mitnehmen. Du musst es ja tragen, du musst viel gehen. Sollen die Menschen ihre Sofas mitnehmen? Natürlich nehmen sie die Smartphones mit. Leute glauben, wenn du ein Flüchtling bist, darfst du gar nichts besitzen. Was soll das? Das ist furchtbar. Man sollte nicht vergessen, dass Flüchtlinge nicht anders sind als andere Menschen. Ja, es gibt MuslimInnen, es gibt ChristInnen. Es gibt diese und jene Traditionen. Aber auch innerhalb Österreichs gibt es unterschiedliche Traditionen, je nach Region. Im Endeffekt sind Flüchtlinge wie wir. Punkt.

Geht es aber um ein Smartphone, habe ich das Gefühl, dass es für Menschen, die sich auf der Flucht befinden, doch wertvoller ist als für mich, die ich in Sicherheit leben kann.
Ja. Ein Smartphone beinhaltet unsere Identität. Das sehen mittlerweile viele Leute so. In diesem Smartphone sind Fotos, Erinnerungen, Kontaktinformationen. Gerade für Flüchtlinge, die einen Teil ihrer Familie oder FreundInnen zurücklassen mussten, ist das Smartphone die einzige Möglichkeit, in Kontakt zu bleiben. Aber es ist noch mehr. Wir haben versucht mit dem Smartphone, mit den Erinnerungen und den Identitäten, die in diesem Smartphone sind, Fragen zu stellen: Wer bin ich? Wo will ich hin im Leben? Wo werde ich mein Leben verbringen? Für Flüchtlinge sind Antworten auf diese Fragen dramatisch: Ich bin kein Syrer, ich bin kein Jordanier. Ich bin ein Flüchtling. Das ist die neue Identität. Aber was heißt es, ein Flüchtling zu sein, kein zu Hause zu haben? Das ist ein weiterer Teil unseres Dokumentarfilms: Wir wollen über die unvorstellbare Normalität, ein Flüchtling zu sein, sprechen.

Maamun wird für einige in Zaatari lebende Menschen wichtig. Er repariert und verkauft Smartphones. Nach einiger Zeit besorgt er sich einen Photo-Drucker. Wie haben die Menschen in Zaatari auf seine Neuanschaffung reagiert?
In unserem Dokumentarfilm wollten wir Hoffnung zeigen. Aber es gab und gibt nicht wirklich Hoffnung in Zaatari. Ich sprach mit Maamun und fragte ihn, was er sich für die Zukunft seines Geschäftes wünscht. Er meinte, dass er mit einem Drucker vielleicht ein gutes Geschäft machen könne. Diesen Drucker haben wir verwendet, um die Hoffnung zu zeigen. Er ist ein Symbol für Hoffnung. Der Drucker zeigt eine Transformation – vom Digitalen zum Realen. Wenn Menschen hoffnungslos sind, ist ein Photo einer geliebten Person ein Stück weit Realität. Mittlerweile wird Maamuns Drucker zu einem großen Teil für ID-Karten verwendet. Aber zu Beginn haben die Menschen Erinnerungsfoto von der Familie, den Freunden gedruckt. Kurz: Von Erinnerungen, die ein schönes Syrien zeigen. Niemand wollte den Krieg drucken, obwohl die Smartphones der Geflüchteten voll mit Kriegsphotos sind. Aber das ist ja nicht überraschend, natürlich willst du dich an das Gute erinnern.

Valentine Auer arbeitet als freie Journalistin in Wien.

Eine Stimme für „White Trash“

  • 01.06.2016, 17:37
Die Sozialanthropologin Jessica Bollag gibt in „I'm not leaving Eldon“ Rednecks eine Stimme. Wir haben mit ihr gesprochen.

Die Sozialanthropologin Jessica Bollag gibt in „I'm not leaving Eldon“ Rednecks eine Stimme.

„White Trash“, Hillbilly und Rednecks – Begriffe, die in den USA mit der unteren sozialen Schicht verknüpft werden: keine Bildung, kein Einkommen, dafür viel Alkohol und viel zu teure Statussymbole, die sich die Leute gar nicht leisten können. So das Stereotyp. Bewohner*innen des kleines Dorfes Eldon sind sich bewusst, dass ihnen das Image des „White Trash“ anhaftet. Gleichzeitig ist Eldon die größte Mais- und Sojaproduzentin der USA. Doch die unabhängigen Bauernhöfe werden immer stärker von multinationalen Konzernen verdrängt – wichtigste und schlechte Arbeitgeber, Retter und Teufel zugleich. Die Sozialanthropologin Jessica Bollag verlieh den Bewohner*innen Eldons eine Stimme in ihrem Dokumentarfilm „I'm not leaving Eldon“. progress sprach mit der Filmemacherin über Narrenfreiheit, über Stellen- und Autonomieverluste, über den steigenden Meth-Konsum im kleinen Eldon und wie all das zusammenhängt.

progress: Eldon ist ein kleines Dorf in Iowa und daher nicht gerade ein Ort, den man einfach so kennt. Wieso bist du ausgerechnet dort gelandet?
Jessica Bollag: Ich habe Ellen, eine der Protagonist*innen bei einem Auslandsaufenthalt in Costa Rica kennen gelernt. Wir haben uns sofort gut verstanden. Ein Jahr später hat sie mich zu Ihrer Hochzeit in Eldon eingeladen. Zuerst dachte ich: „Das wird total langweilig werden!“ Es gibt in Eldon ja nichts außer Maisfelder. Aber es hat sich als sehr actionreich erwiesen. Bei diesem Aufenthalt erzählten mir die Leute über das Stereotyp des „White Trash“. Gleichzeitig erfuhr ich von den sozialen Problemen, dass es immer weniger Stellen gibt und immer mehr Auswanderung. Vier Jahre später musste ich meine Magisterarbeit machen und da war das Thema sehr schnell klar: Ich wollte zeigen, wie die Agrarindustrie sich verändert hat - von den einzelnen unabhängigen Bauernhöfen zu den Riesenkonzernen.

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Diese wirtschaftliche Veränderung ist auch ein zentraler Teil deines Films. Wie hat sich das auf die Bevölkerung ausgewirkt?
Es ist ein riesiger Autonomieverlust. Die Elterngeneration hatte noch Bauernhöfe und somit auch Land, das dazu gehörte. Das wurde nach und nach an große Konzerne verkauft. Dazu kommt, dass sich die Maschinen mittlerweile autonom steuern lassen und es weniger Arbeitskräfte braucht. Der Mais wird trotzdem weiter verarbeitet, allerdings in dieser Riesenfabrik, die etwa 1 ½ Stunden Autofahrt von Eldon entfernt ist und wie eine Stadt wirkt. Dort müssen die Leute jetzt arbeiten. Es gibt einen Teil der Bevölkerung, wie zum Beispiel Cole, einer der Hauptprotagonisten, der diese Probleme sieht. Andere habendie Hoffnung verloren. Oder sie reden sich ein, dass die Konzerne notwendig sind. Sie identifizieren sich so sehr mit dieser riesigen Maisproduktion und glauben daher, es gäbe keine andere Möglichkeit. Das wird ihnen auch von den großen Konzernen so eingeredet.

Ich habe den Film gemeinsam mit Freund*innen gesehen und es kam die Kritik auf, dass der Film Klischees und Stereotype reproduziert. Siehst du den Umgang mit den Klischees problematisch?
Ich wollte mit den Klischees spielen, wie die Leute in Eldon es auch tun. Es sollte also um die Produktion und Reproduktion der Klischees gehen. Zu Beginn des Films ist es auf jeden Fall sehr klischeehaft, wie einer der Bewohner beispielsweise auf dem Rasenmäher daher kommt. Aber mit dem Protagonisten Cole sollten diese Stereotype reflektiert werden.

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Genau, auch die Menschen selbst bezeichnen sich als „White Trash“, als Hillbillies. Inwiefern geht es bei der Bezeichnung mit diesen negativ konnotierten Begriffen auch um eine Art Abgrenzung von dem, was außerhalb Eldons liegt?
Ich finde, es geht mehr um eine selbstironische Bezeichnung. Die Leute eignen sich diese Begriffe selbstironisch an. Hier vermischen sich Scham und Stolz extrem. Gleichzeitig geht das mit einer Narrenfreiheit einher: Wenn ich mich so bezeichne, gibt mir das eine Freiheit. Ich bin sowieso „White Trash“, da kann ich nichts falsch machen.

Gibt es auch Leute, die diese Stereotype, aber auch den sozialen Abstieg, den Eldon erfährt auf irgendeine Art und Weise versuchen aufzubrechen oder entgegen zu steuern?
Das ist eine gute Frage. Ich denke aber, das das sehr schwierig ist. Natürlich gibt es einige, die aufsteigen wollen. Das funktioniert aber eher, wenn man noch irgendwie eine Möglichkeit sieht, dass man aus diesen Abstieg rauskommt. Dann versucht man sich auch eher von diesen Stereotypen abzugrenzen. Aber die Leute sind in einer verzweifelten und schwierigen Situation. Sollen sie ihren einzigen Arbeitgeber bekämpfen? Sie sind abhängig. Die Konzerne und Fabriken sind Retter und Teufel zugleich. Wenn man froh sein kann, überhaupt in der Fabrik zu arbeiten, ist diese selbstironische Verwendung der Stereotype auch ein möglicher Umgang mit den eigenen Problemen.

Auf der einen Seite sprechen die Menschen davon, dass man die Türen in Eldon nicht zusperren muss, auf der anderen Seite spielen Waffen eine große Rolle. Wie erklärst du dir diese Ambivalenz?
Ein großes Problem, das ich im Film nicht zeigen konnte ist, dass es in Eldon keine Polizei gibt. Polizei gibt es erst in der nächsten Stadt und meiner Meinung nach interessiert sich die auch nicht wirklich für Eldon. Aber die Leute werden immer ärmer, während der Meth-Konsum steigt. Es gab auch einen Mord in Eldon, bei dem es um Drogen ging. Da fährt die Polizei hin, sperrt ein wenig die Gegend ab und das war es.

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Haben die Leute, die du interviewt hast, den Film schon gesehen?
Ja. Mir war es aus ethischen Gründen sehr wichtig, dass sie den Film absegnen. Deswegen bin ich auch nochmal nach Eldon, bevor ich ihn veröffentlicht habe. Dann haben wir improvisiert. In einer Garage, auf Campingstühlen sitzend, daneben Kühlboxen mit Bier – so haben wir den Film angesehen.

Und wie waren die Reaktionen?
Es war speziell für die Leute, dass sie eine Stimme bekommen haben. Das sind sie nicht gewohnt. Gleichzeitig finden sie es gut, dass ich kein romantisches Bild gezeichnet habe. Ich hatte ein wenig Angst, weil natürlich kritisiere ich sie manchmal indirekt. Aber es ist ein Bild, welches nicht verschönert. Aber genau das hat ihnen gefallen, dass man kein kitschiges Bild von den armen Proleten auf dem Land, sondern auch genug Ecken und Kanten sieht. Damit konnten sie sich identifizieren.

Valentine Auer arbeitet als freie Journalistin in Wien.

Auf in das Alter der Pflichten

  • 24.05.2016, 12:55
Bereits zum zehnten Mal jährt sich das internationale Dokumentarfilmfestival Ethnocineca. Der diesjährige Eröffnungsfilm „Fest of Duty“ füllte das Wiener Votiv Kino und gab progress die Möglichkeit mit der Filmemacherin Firouzeh Khosrovani über aktuelle, vergangene und künftige Projekte zu sprechen. Verbindendes Element ihres filmischen Schaffens ist die Auseinandersetzung mit der iranischen Gesellschaft.

Bereits zum zehnten Mal jährt sich das internationale Dokumentarfilmfestival Ethnocineca. Der diesjährige Eröffnungsfilm „Fest of Duty“ füllte das Wiener Votiv Kino und gab progress die Möglichkeit mit der Filmemacherin Firouzeh Khosrovani über aktuelle, vergangene und künftige Projekte zu sprechen. Verbindendes Element ihres filmischen Schaffens ist die Auseinandersetzung mit der iranischen Gesellschaft.

„Willkommen, meine kleinen Engel. Von nun an müsst ihr den Hijab tragen und euch gut benehmen.“ Eine Reihe aufgeregter, neunjähriger Mädchen wird mit diesen Worten auf ihrem „Fest of Duty“ begrüßt. Nach Vorstellung der Islamischen Republik Iran befinden sich die Mädchen nun im „Alter der Pflicht“. Das „Fest of Duty“ ist ein rituelles Fest, welches die Neunjährigen über ihre Pflichten als erwachsene muslimische Frauen aufklärt. Eins, das erst nach der Islamischen Revolution erschaffen wurde und so die Aufmerksamkeit der iranischen Filmemacherin Firouzeh Khosrovani, weckte:

Es war 2005. Ich lebte und studierte zu dieser Zeit in Italien. Eines Tages sah ich im Staatsfernsehen diese Zeremonie, die an einer iranischen Volksschule durchgeführt wurde. Als ich neun war, gab es das „Fest of Duty“ noch nicht. Das heißt es wurde nicht direkt nach der Islamischen Revolution, sondern erst einige Jahre später erfunden. Ich fand es sehr spannend, wie den kleinen Mädchen gelehrt wird, dass sie von nun an den Hijab tragen müssen. Das ist sehr früh: Mit neun gibt es ja noch nichts zu verdecken.

Gleichzeitig ist es ein sehr schlaues Ritual: Mit Hilfe von Spielen, mit Vorführungen, mit sehr viel Details wird den Mädchen auf attraktive Weise gelehrt, was es heißt eine muslimische Frau zu sein. Es gibt keinen Übergang von der Kindheit zum Erwachsenenleben. Die Mädchen können in diesem Alter noch gar nicht verstehen, dass mit diesem Ritual versucht wird, ihnen ein sehr rigoroses Wertesystem beizubringen. Das hat mich alles sehr interessiert. Daher filmte ich einer diese Zeremonien und sprach mit den Kindern. Acht Jahre später kam ich zurück und sah mir das Ergebnis dieser Art des Lehrens an. Ich wollte herauszufinden wie die Mädchen nun im Teenager-Alter über Religion und ihre weiblichen Pflichten dachten.

Das Ergebnis zeigt Khosrovani am Beispiel zweier Mädchen: Auf der einen Seite, Maryam. Mit Überzeugung trägt sie den Hijab. Sie spricht viel mit Gott – vor allem wenn sie Probleme hat, die sie mit niemand anderen teilen will. Wieso sie den Tschador tragen soll, erschließt sich ihr jedoch nicht. Er ist unpraktisch, es ist zu heiß darunter: „Wer sagt, dass Gott von uns verlangt unter den härtesten Bedingungen zu leben?“ Und doch, in der Öffentlichkeit trägt Maryam wie die anderen Frauen in ihrer Familie auch, den Tschador – eine Art Umhang, der vor der Revolution verboten war.

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Auf der anderen Seite, Melika: Zu Hause trägt sie bewusst keine Kopfbedeckung. Nur hin und wieder ein Baseballcappy, beim Tanzen zu Black Eyed Peas zum Beispiel. Ihre alleinerziehende Mutter wirkt wie eine gute Freundin. Melika träumt davon Schauspielerin zu werden, im Westen, denn dort gäbe es mehr Freiheiten. Gleichzeitig hadert sie mit der Frage, welche Rollen sie spielen könnte und welche nicht. Schließlich will sie, dass ihre Filme auch im Iran gesehen werden.

16-Jährige Teenager also, die egal ob mit oder ohne Hijab am Kopf, ihre eigenen Meinungen entwickeln, inklusive aller Probleme die damit einhergehen. Die beiden waren vor dem „Fest of Duty“ beste Freundinnen. Die Entscheidung einen Hijab zu tragen oder nicht war mit ein Grund, dass ihre Freundschaft auseinanderdriftete. Ob die Religion öfters zwischen Beziehungen kommt?

Früher, zu Beginn der Islamischen Revolution, war das auf jeden Fall ein größeres Thema. Heute wird es immer weniger, da die Menschen trotz unterschiedlichem Zugang zur Religion stärker im Dialog stehen. Es gab aber eine Zeit, in der die zwei Pole komplett getrennt waren.
Mir war es sehr wichtig, dass ich ein ausgewogenes Bild der beiden Familien zeige. Beim Schneiden des Films war es eine große Herausforderungen, beiden Mädchen gleich viel Raum zu geben, fair zu sein und keine der beiden unterschiedlichen Lebensweisen zu beurteilen. Mir war es auch wichtig, dass aus dem Film nicht ersichtlich wird, ob ich als Filmemacherin religiös bin oder nicht, ob ich einen Hijab trage oder nicht.

„Rough Cut“: Ein weiterer Film von Firouzeh Khosrovani. Er wurde bereits 2007 veröffentlicht. Die Kurzdoku beurteilt im Gegensatz zu „Fest of Duty“ sehr bewusst. Am Beispiel eines nach der Islamischen Revolution eingeführten Gesetzes zeigt Khosrovani, wie weibliche Körper von moralischen Institutionen kontrolliert werden: Im Namen des Anstands werden die Brüste weiblicher Schaufensterpuppen abgeschnitten, jedes Zeichen von Weiblichkeit eliminiert. „Fest of Duty“ hingegen zeigt zwei jugendliche Mädchen, die sich – zumindest zu Hause – selbst entscheiden, wie sie mit ihrem Körper umgehen. Hat sich etwas in den vergangenen Jahren geändert?

Man muss zwischen der Gesellschaft und dem Staat unterscheiden. Wenn es um den Staat geht, hat sich nichts verändert. Den Hijab im öffentlichen Raum zu tragen, ist verpflichtend. Das heißt, hier geht es nicht darum, wie man entscheidet. Es wird vom Staat diktiert. Im privaten Bereich ist es sehr wohl eine Frage der eigenen Entscheidung und hier ist eine Änderung bemerkbar. Du kannst dich dafür entscheiden, einen Hijab zu tragen, aber du kannst auch dagegen rebellieren und ihn nicht tragen. Es passiert immer öfters, dass die neue Generation mit den Traditionen ihrer Familie bricht.

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Dementsprechend ist es nach wie vor nicht einfach, kritische Filme über die iranische Gesellschaft zu machen, wie sieben weibliche Filmemacherinnen aus dem Iran im Rahmen des kollektiven Filmprojekts „Profession: Documentarist“ erzählen. Eine der Filmemacherinnen ist Firouzeh Khosrovani. Gab es mit „Fest of Duty“ noch keine Probleme, haben sich bei „Rough Cut“ die Behörden bei der Filmemacherin gemeldet:

Ich habe ‚Fest of Duty‘ noch nicht im Iran gezeigt. Sollten die Behörden trotzdem auf den Film aufmerksam werden und mir Probleme machen, habe ich keine Angst. Ich kann den Film legitimieren, da ich eben nicht bewertet habe. Ich zeige kein negatives Bild des Islams. Im Gegenteil, man sieht eine offene religiöse Familie.

Bei ‚Rough Cut‘ hingegen wurde ich beschuldigt, ein negatives Bild des Irans im Ausland zu transportieren. Es war aber kein negatives Bild, sondern die Realität. Die Behörden wollten nicht, dass ich Filme über die iranische Gesellschaft mache und mich dabei auf absurde Gesetze fokussiere ­ wie im Fall der verstümmelten Schaufensterpuppen. Sie hatten Angst, dass das von den Medien außerhalb des Irans als Zensur interpretiert werden könnte. Ich antwortete ihnen: Wenn ihr so beunruhigt über absurde Gesetze seid, wieso gibt es diese Gesetze dann?

Dass „Fest of Duty“ als Film konzipiert wurde, der nur schwer von offizieller Seite kritisiert werden kann, liegt nicht daran, dass sich Khosrovani nach den Problemen rund um „Rough Cut“ entmutigen ließ. Das lässt zumindest das neue Projekt, an dem die Filmemacherin arbeitet, vermuten:

Mein neues Projekt ist weniger dokumentarisch. Ich will die Geschichte der Islamischen Revolution, aber auch der derzeitigen iranischen Gesellschaft durch meine Familie, durch die Bilder, durch eine intime Geschichte erzählen.

Ein Trailer des neuen Projektes zeigt zerrissene Familienfotos. Zerrissen wurden sie von der Mutter der Filmemacherin. Nach der Islamischen Revolution zerstörte sie alle Fotos, auf denen Frauen ohne Hijab zu sehen waren, da der Revolutionsführer Ayatollah Khomeini es verbot, Bilder zu betrachten, die Frauen ohne Hijab zeigen. Die Fotos könnten Männer erregen.

„So wurde ein Teil meiner Familiengeschichte zerrissen und ausrangiert“, erklärt Khosrovanis Stimme im Trailer „Radiograph of a Family“ und bettet abschließend die individuelle Geschichte in den Kontext der iranischen Gesellschaft ein: „Diese Geschichte ist nicht nur meine Geschichte. Es ist die Geschichte vieler iranischen Familien, deren Leben zweigeteilt wurde: vor und nach der Revolution.“

Valentine Auer arbeitet als freie Journalistin in Wien.

Körbe im Kopf

  • 29.04.2016, 17:36
Beim diesjährigen „Crossing Europe“-Filmfestival in Linz fand der Dokumentarfilm „Europe, She Loves“ reges Interesse. Im Juni kommt er in die österreichischen Kinos. Marlene Brüggemann hat für progress mit dem Regisseur Jan Gassmann über Paarbeziehungen im EU-Parlament, Routinesex und nationale Nussschalen gesprochen.

Beim diesjährigen „Crossing Europe“-Filmfestival in Linz fand der Dokumentarfilm „Europe, She Loves“ reges Interesse. Im Juni kommt er in die österreichischen Kinos. Marlene Brüggemann hat für progress mit dem Regisseur Jan Gassmann über Paarbeziehungen im EU-Parlament, Routinesex und nationale Nussschalen gesprochen.

progress: Du bist aus der Schweiz. Warum interessierst du dich für Europa?
Jan Gassmann:
Genau aus dem Grund. In erster Linie sind wir Schweizer, dann mal Weltbürger und irgendwann vielleicht noch Europäer. Dadurch, dass die EU in einer Schieflage ist, ist die Schweiz in der angenehmen Position, sich raushalten zu können. Trotzdem sollte es eine Mitverantwortung der Schweiz geben. 1992 stimmten die Schweizer knapp gegen eine EU-Mitgliedschaft, seitdem ist dies ein Tabuthema. Die Schweizer gehören aber zum Kern Europas und ich persönlich sehe mich auch als Europäer. Ich las viel über die Krise in der EU, war aber selber nicht davon betroffen. Eine Zeit lang gab es überall Beiträge über die Jugend in der EU, dann plötzlich war das Thema uninteressant und die Artikel blieben aus. Dabei war die Krise, dort wo wir als Filmteam waren, für die Jugend total aktuell. Das war auch die Motivation, „Europe, She Loves“ zu machen.

Im Film gibt es eine starke Diskrepanz zwischen den Nachrichten, die im Radio oder Fernseher liefen und den Reaktionen der vier Paare, die du darstellst. Habt ihr beim Drehen die Nachrichten absichtlich laufen lassen?
Oft hat sich das zufällig ergeben, dass eine Nachrichtensendung lief. Es gibt diese ewige Berieselung und du nimmst die Nachrichten auch wahr, aber du kannst sie nicht richtig verarbeiten. Das was von den Medien kommt, hat einen starken Stellenwert. Gleichzeitig hat man einen kleinen Papierkorb im Kopf, wo alle diese Informationen hineingehen. Denn es sind keine Gesichter mehr dahinter, sondern nur Zahlen. Ich konnte filmen, worüber die Medien berichten. Die Gesichter hinter den Nachrichten zeigen – das war mein Thema.

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Eine Meldung ist die Ermordung des antifaschistischen Rappers Pavlos Fyssos durch einen Neonazi der „Goldenen Morgenröte“-in Athen. Woraufhin Penny und Nicolas auf eine Solidaritätsdemo für Fyssos gehen. Wie ist die politische Stimmung in den anderen Ländern, die im Film vorkommen?
In Tallinn gibt es die Spannung zwischen der russischen und der estnischen Community. Die haben sehr wenig miteinander zu tun. Die russische Minderheit will sich wieder Russland annähern, während die Esten einen Zaun an der Grenze zu Russland gebaut haben. In Dublin war vielmehr das Thema präsent, dass die alten Parteien überholt waren und es nur noch Protestparteien gab. Nach dem „Celtic Tiger“ war die Arbeiterpartei total am Boden, die Konservativen beschädigt. Dort waren einfach alle total genervt von Politik. In Sevilla waren die Bürgerbewegungen interessant. Als wir dort waren, war die Frage wichtig, ob die Bürgerbewegungen es ins Parlament schaffen würden. Es gab aber auch andere Themen. Der Bildungsminister José Ignacio Wert hatte alle Erasmus-Zuschüsse gekürzt; auch für die Studierenden, die bereits im Ausland waren. Sie mussten deswegen nach Spanien zurückkehren. Dagegen gab es auch eine Demonstration.

Abschottung ist also ein länderübergreifendes Thema?
Wir sind die erste Generation, die keine Limitierungen hatte. Die Vermischung und dass die Leute sich frei bewegen können, tut uns doch gut. Dass man jetzt wieder zurück muss in seine nationale kleine Nussschale und sich absperrt, das finde ich schrecklich.

Bietet ein Studium den jungen Menschen eine Zukunftsperspektive?
Es ist die Frage, was du daraus machst. Die Unterschiede zeigen sich an Karo und Juan aus Sevilla. Karo hat nach dem Film doch noch einen Masterplatz in Barcelona bekommen. Sie weiß, dass sie das Studium zu Ende bringen muss. Da tut sich ein Zwiespalt auf, weil die Jungen wissen, dass sie einen Abschluss brauchen, um im Ausland einen Job finden zu können. Sie sind aber auch mit ihren Städten und ihrem Land verbunden. Diese EMigration, weil es nicht anders geht, die funktioniert für die meisten innerlich dann doch nicht wirklich. Ich würde dennoch allen empfehlen zu versuchen etwas zu studieren. Andererseits, ist da Juan, der nie studiert hat. Er machte eine Graphikerausbildung, war Gabelstaplerfahrer, Rettungsschwimmer und ist jetzt Security. Seine Eltern sind ebenfalls Securities. Juan ist talentiert, kommt aber aus einer Klasse, bei der es gar nicht zur Diskussion stand, dass er ein Studium beginnen könnte. Seine Position ist noch viel unklarer als die von Karo, weil er überall einsetzbar ist, aber keine Chance hat, sich beruflich zu definieren.

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Die Protagonist_innen arbeiten alle in prekären Jobs als Kellnerin, Tänzerin, Security oder Pizzalieferant. Siobhan und Terry aus Dublin sind arbeitslos. War Arbeit ein Thema?
Am Anfang ging ich thematisch an den Film heran. Ich dachte, die Arbeitssituation ist eigentlich das Wichtigste. Erst während dem Dreh und als ich die Paare besser kannte, habe ich gemerkt, dass die Arbeit zwar ein Teil des Films sein wird, aber ich werde nicht zehn Mal zeigen, wie jemand Pizza ausliefert.

Die Repetition, die auch harte Arbeit charakterisiert, kommt dafür in Bezug auf Sex vor.

Ist es natürlich auch. (Lacht) Normalerweise ist im Spielfilm der Sex immer ein Klimax oder der Anfang von etwas Neuem. Ich versuchte Sex in meinem Film zu demystifizieren und in einen Alltag einzuflechten. Sex als etwas, was man macht, weil er nichts kostet und man halt zusammen ist.

In „Europe, She Loves“ kommen nur heterosexuelle Paare vor. Wie hast du sie ausgewählt?
Wir casteten fast hundert Paare. Dass es die vier wurden, die im Film porträtiert sind, war eine Bauchentscheidung. Wichtig war mir auch die Kombination aus verschiedenen Paaren, deswegen wollte ich auch die estnische Familie mit Veronika und Harri. Die Idee war, die Veränderungen, die man zwischen 20 und 30 durchmacht, darzustellen. In einer Paarbeziehung sucht man gemeinsam einen Kompromiss, eine Zukunft oder eine Entscheidung. Darin spiegelt sich gut, was auch im EU-Parlament in Brüssel passiert. Die kleinen Dinge, die zu einem Zusammenleben beitragen, zeigen sich schön in der Paarbeziehung. Dass es nur heterosexuelle Paare waren, hat sich so ergeben. Außerdem hätte ich es schade gefunden, wenn man im Nachhinein immer die drei Hetero-Paare mit dem homosexuellen verglichen hätte. Da hätte ich dann gern ein schwules oder lesbisches Pärchen gewollt, das nicht noch zusätzlich ein Klischee erfüllt.

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Im Abspann spielt das Lied „Europe Is Lost“ von Kate Tempest. Ist Europa verloren?
Für mich ist der Song und das, was er sagt, im Kern sehr positiv. Alles aus dem Film ist darin kondensiert. „Europe Is Lost“ fragt auch danach, wann wir wir endlich wieder aufwachen werden. Ich glaube an Europa- Es ist schade, dass man dem Experiment EU nicht wirklich eine längere Zeit zugesteht, fünfzehn Jahre EU sind nicht lange. Ich bin aber auch nicht super Pro-EU. Es ist eine komplexe Materie, aber man muss dem Konzept eine Chance geben, dass es sich erarbeiten und sich daraus etwas ergeben kann.

Marlene Brüggemann studiert Philosophie an der Universität Wien.

Endlich sprechen Gaybies

  • 16.03.2016, 21:49
„Gayby Baby“ ist ein Dokumentarfilm, der vier Kinder auf sehr intime, aber unaufgeregte Art in ihrem Alltag begleitet.

„Gayby Baby“ ist ein Dokumentarfilm, der vier Kinder auf sehr intime, aber unaufgeregte Art in ihrem Alltag begleitet. Gus, Ebony, Graham und Matt haben zwei Dinge gemein: Sie sind zwischen zehn und zwölf Jahre alt und sie leben in einer Regenbogen-Familie. Sie sind „Gaybies“. Inmitten politischer Debatten über Ehe- und Adoptionsrecht gleichgeschlechtlicher Paare, kommen in „Gayby Baby“ die Kinder selber zu Wort. progress sprach mit der Produzentin Charlotte Mars.

Gemeinsam mit Maya Newell hast du die Dokumentarreihe „Growing up Gayby“ realisiert. Jetzt habt ihr zusammen den Film „Gayby Baby“ gemacht, wo ihr Kinder begleitet, die mit gleichgeschlechtlichen Eltern aufwachsen. Wie seid ihr zu diesem Thema gekommen?
Vor fünf Jahren wurde die Debatte über die gleichgeschlechtliche Ehe sehr laut und dabei ging es immer mehr um die Frage von Familie und um diese rechts-konservative Sorge, dass homosexuelle Paare, die heiraten, auch Kinder wollen. Dass das ein Problem sein könnte. Dass diese Kinder anders sein könnten. Maya und ich kennen uns schon sehr lange und fanden die Debatte extrem beleidigend. Maya hat selber zwei Mütter. Es war nicht nur ein Angriff, weil die ganze Diskussion so tat, als ob Kinder aus gleichgeschlechtlichen Partnerschaften noch gar nicht existieren, sondern auch, weil sich niemand die Zeit genommen hat mit den Familien, mit den Kindern zu reden. Alle haben über die Kinder, aber niemand mit ihnen gesprochen. Und da es immer lauter und richtig hässlich wurde, wollten wir dem etwas entgegnen, indem wir den Kindern zuhören.

Ja, das Thema selber ist sehr politisch. Der Film ist aber überraschend unpolitisch. War es eine bewusste Entscheidung den Film zu entpolitisieren?
Ja, absolut! Es gab so viel Hass in der Diskussion und wir wollten nicht eine weitere aufgebrachte Stimme sein. Eine Kraft des Kinos sind die Geschichten, die du erzählen kannst. Damit wollten wir uns einbringen. Viele haben sich mit Regenbogen-Familien noch gar nicht auseinandergesetzt. Und in einer Welt voller heteronormativer Bilder, ist es erfrischend, etwas anderes zeigen zu können und zu sagen, dass es diese Familien gibt und zwar schon lange. Die Geschichten im Film sind zwar nicht politisch erzählt, aber der Kontext des Films ist politisch, Maya und ich sind politisch.
Auch der Kontext eurer Screenings ist sehr politisch: Der Film wurde an Schulen in Australien verboten. Wie kam es dazu?
Der Film kam in Australien bereits 2015 in die Kinos, eine Woche vor dem jährlich stattfindenden „Wear It Purple Day“ im August. Das ist ein Tag, an dem sich junge LGBTIQ-Menschen selbst feiern. Statt einem normalen Preview wollten wir den Schulen die Möglichkeit geben, den Film an diesem Tag zu zeigen. Rund dreißig oder vierzig Schulen haben zugesagt. Einen Tag vor den Screenings landeten wir auf dem Cover einer der größten Zeitungen mit der Schlagzeile „Gay class uproar“. Am Beispiel einer Schule ging es in dem Artikel darum, dass alle Eltern aufgebracht seien, weil ihre Kinder dazu gezwungen werden, ein – wie die Zeitung es formulierte – Video über homosexuelle Erziehung, zu sehen. Das war schrecklich! Wir haben vier Jahre an diesem Film gearbeitet, vier Jahre in der LGBTIQ-Community verbracht und dann kommt diese Schlagzeile. Wir waren eine Woche lang durchgehend in der Berichterstattung. Der Premierminister von New South Wales entschied, dass der Film an Schulen in diesem Bundesstaat nicht gezeigt werden darf. Das war auch furchtbar für die Community, da die Botschaft vermittelt wurde, dass diese Familien in den Schulen nicht willkommen sind.

Wie geht es euch und auch den Familien und Kindern aus dem Film jetzt – nach dem ersten Schock?
Das ist fünf Monate her und obwohl ich persönlich und sehr viele andere durch die Reaktion verletzt wurden, ist uns mittlerweile klar, dass eine Konversation, die lange nicht geführt wurde, plötzlich geführt wurde. Es war notwendig. Auch die Familien und Kinder waren sehr großartig. Uns ging es in erster Linie darum zu schauen, wie es den Kindern aus dem Film geht, weil sie diejenigen waren, die am nächsten Tag in die Schule mussten. Aber die Kinder haben als erste gemeint, wir sollen uns keine Sorgen machen, denn es sei das Beste, was passieren konnte.

Die Kinder im Film sind alle zwischen zehn und zwölf Jahre alt. Habt ihr euch bewusst für dieses Alter entschieden?
Nein, zumindest anfangs nicht. Wir haben für den Film Menschen sehr verschiedenen Alters interviewt. Aber als sich die Geschichten, die wir im Film erzählen wollten, herauskristallisierten, wurde uns bewusst, dass das Alter zwischen zehn und zwölf sehr spannend ist. Es ist eine Art „magisches Alter“. Du hast einen Fuß in der Kindheit und den anderen im Erwachsenensein. Deine eigenen Ideen beginnen sich in dem Alter zu formen. Du fängst an, deine Eltern als Personen und nicht nur als deine Eltern wahrzunehmen – was in unserem Kontext sehr spannend ist, da auch immer klarer wurde, dass nicht die ganze Welt denkt, dass meine Familie unbedingt normal ist.

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Meiner Meinung nach kamen die Kinder im Film sehr reif und erwachsen rüber. Kann das mit den täglichen Kämpfen zu tun haben, die man als Gayby in einer heteronormativen Gesellschaft, auszutragen hat?
Ich würde nicht sagen, dass die Kids andauernd am Kämpfen sind. Das sehe ich gar nicht so. Ich glaube aber, dass viele Gaybies sehr gut kommunizieren können, weil sie seit sie sprechen können, andauernd ihre Familie erklären müssen. Daher lernten viele über Familie, aber auch über queere Politiken, zu sprechen. Gleichzeitig sind die Kinder unglaublich belastbar, was eigentlich keine Eigenschaft von Kindern sein sollte. Aber sie treten jeden Tag vor die Haustüre, wissend, dass es die Möglichkeit gibt mit Homophobie konfrontiert zu werden. Auch wenn es gar nicht so sein muss. Aber allein dieses Bewusstsein schafft eine Art Belastbarkeit, ein Bereit-Sein.

Gemeinsam mit Gaybies wart ihr im australischen Bundestag. Dort hatten die Politiker*innen die Möglichkeit Fragen zu stellen. Welche Fragen sind gekommen?
Wir sind nicht mit den Kindern aus dem Film, sondern mit Erwachsenen hin. Ich kann mich nicht mehr an alle Fragen erinnern, aber wir wollten das Panel so strukturieren, dass wir langsam alle Fragen, die immer wieder kommen, durchgegangen sind. Es gibt einige wenige Fragen, die wiederholen sich: Zum Beispiel, wenn du zwei Mütter hast, kommt die Frage, ob du einen Vater vermisst. Die Leute wollen auch wissen, wie du gezeugt wurdest, ob du adoptiert bist – wie all das funktioniert. Viele fragen, ob du auf Grund deiner homosexuellen Eltern schikaniert wurdest oder wirst. Und natürlich kommt immer wieder die Frage, ob Gaybies homosexuell sind. Das klingt eigentlich sehr dumm. Aber es gibt wirklich viele Menschen, die glauben, dass es so ist.

Du hast mit Maya auch eine Firma mit dem Namen „Marla House“ gestartet zur Unterstützung weiblicher Filmemacherinnen. Ist die Branche nach wie vor männlich dominiert?
„Marla House“ haben wir eigentlich für unsere gemeinsamen Kollaborationen gestartet. „Marla“ bedeutet auf einer Aborigines-Sprache „Mädchen“. Das heißt es ist das „Mädchen Haus“, also unser Haus. Aber ja, ich bin absolut der Meinung, dass die Branche männlich dominiert ist. Das zeigen auch die Statistiken. Aber frage mich bitte nicht, wie man das...

… ändern kann?
Genau! Es gibt sehr viele Menschen, die versuchen diese Frage zu beantworten und daher gibt es auch viele verschiedene Zugänge. Meiner Meinung nach sollen wir sie alle probieren. Dabei geht es nicht nur um Frauen und Männer, sondern um LGBTIQ-Personen, aber auch um „People of Colour“. Wenn wir nur Geschichten von von weißen Männern hören und sehen, wenn nur diese kleine Gruppe repräsentiert wird, erhalten wir offensichtlich nicht das ganze Bild von Gesellschaft. Es ist wichtig, all die problematischen Systeme unserer Gesellschaft aus vielen verschiedenen Perspektiven zu zerlegen.

Valentine Auer lebt als freie Journalistin in Wien.

„Gesund ist das nicht!“

  • 15.03.2016, 12:33
Barbara Eders neuer Spielfilm „Thank you for bombing“ wirft einen Blick auf die Arbeit dreier Kriegsjournalist*innen, die in oder auf dem Weg nach Afghanistan sind

Barbara Eders neuer Spielfilm „Thank you for bombing“ wirft einen Blick auf die Arbeit dreier Kriegsjournalist*innen, die in oder auf dem Weg nach Afghanistan sind: Während Cal auf der Suche nach einem richtigen Krieg ist, wird die Journalistin Lana von allen Seiten mit Sexismus konfrontiert. Den älteren Ewald holen bereits am Flughafen Wien-Schwechat Erfahrungen aus dem Jugoslawien-Krieg ein. Ursprünglich als Dokumentarfilm angelegt, erzählt der Film vom Alltag als Journalist*in in Krisengebieten – abseits mythischer Heldenerzählungen. progress sprach mit der Regisseurin über Sexismus in der Branche, psychische Folgen der Arbeit und über Alice im Wunderland.

progress: Beginnen wir mit einer sehr klassischen Frage: Wie bist du auf die Idee gekommen einen Film über Kriegsreporter*innen zu machen?
Barbara Eder: Was heißt es, Reporter in Zeiten des arabischen Frühlings zu sein? In Zeiten, in denen man von entführten oder geköpften Journalisten hört. Darüber wollte ich einen Film machen. Zu Beginn hatte ich ein oberflächliches Bild davon. Ich habe mir alles sehr heldenhaft vorgestellt und die Mythen drum herum geglaubt. Zu einem gewissen Teil ist es auch so.
Dann bin ich ein Jahr gereist, weil ich spüren und erfahren wollte, wie das abläuft: Nach Israel, nach Beirut an die libanesisch-syrische Grenze, nach Afghanistan. Dort habe ich mich vom Militär einbetten lassen. Da wirst du mit auf Touren genommen und bist in einem sehr geschützten Raum. Das wirkt eher so, als ob du zu einem Ausflug mitgenommen wirst. Ich war auch mit sehr großen Sendern unterwegs. Einer davon hat den Leuten vor Ort einen Text aus Atlanta geschickt, den sie in die Kamera sprechen mussten. Das sind Fakten. Ich war geplättet. Ich habe auch viele Freelancer kennengelernt, darunter sehr tolle Frauen, die meistens keine Vollverträge bekommen. Ich habe auf jeden Fall viel gesehen. Aber ich hatte ein heldenhafteres Bild im Kopf. Ich dachte auch, dass die Leute viel mehr über das Land wissen.

Wie kam es dazu, dass du dich doch für einen Spielfilm und nicht für einen Dokumentarfilm entschieden hast?
Ab einem gewissen Punkt bin ich mit sehr vielen Eindrücken nach Hause gekommen und stellte mir die Frage, ob ich das Thema in einem Dokumentarfilm behandeln kann: Würden die Journalisten das, was sie mir sagen, die Wahrheiten, die sie aussprechen, auch vor laufender Kamera sagen? Würden sie es bereuen, wenn sie es tun? Welche Folgen hat das für ihre weitere Karriere? Es gab Reporter, die ohne Valium nicht durch den Tag gekommen sind. Daher entschieden wir uns einen fiktionalen Film zu machen. So konnte ich auch Geschichten, die in der Vergangenheit liegen, einbauen. Und aus all diesen verschiedenen Menschen und Eindrücken drei Figuren formen und mich darauf konzentrieren, was ich zeigen will, ohne ständig damit kämpfen zu müssen, wie ich Reporter schützen kann.

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Der Film erzählt am Beispiel der jungen amerikanischen Journalistin Lana unter anderem von einen sexistischen System im Journalismus. Glaubst du, dass dieser Punkt bei Kriegsreporter*innen öfters vorkommt als in anderen journalistischen Bereichen?
Ja! Es klingt immer so schön, wenn man sagt, die Frauen erobern diese und jene Bereiche. Das ist ja schön, aber in den Köpfen ist es nicht so. Ich habe von vielen die Frage gehört, was eine Frau in diesem Land überhaupt zu suchen hat. Man kann aber genau so fragen, was ein Mann in diesem Land zu suchen hat, der auch auf eine Miene treten kann. Gefährlich ist es für alle. Natürlich musst du als Frau in Afghanistan ein Kopftuch tragen. Und ja, du wirst auch mal begrapscht. Sexuelle Belästigung habe ich aber mehr in den Reporter-Teams erlebt. Das war mir nicht klar, das habe ich unterschätzt.

Was glaubst du, woher dieser spezielle Sexismus kommt?
Oft ist es der Gedanke, die Frau schützen zu müssen. Das ist unterschwellig in den Köpfen vieler Männer verankert und daher schicken sie lieber einen Mann. Es ist ja gut gemeint, aber einfach nicht richtig. Niemand würde eine Frau vorschicken, weil es für den Mann zu gefährlich sei. Das ist absurd. Das Schlimme ist, dieses Verhalten hat einen Effekt auf Frauen: Sehr viele begeben sich eher in Gefahr, riskieren mehr, um zu beweisen, dass sie es können. Dann kommt es auch zu Übergriffen. Lana geht ja völlig alleine, ohne Schutz zu zwei Soldaten, von denen sie nichts weiß und die alles andere als freundlich sind. Da könnte man sagen, dass das dumm ist. Ich glaube aber, dass man im Film sehen kann, warum diese Person einen Schritt zu weit geht.

Gleichzeitig zeigst du doch auch Sexismus in Afghanistan. In Hinblick auf die seit Köln entstanden Geschichten und Bilder über einen frauenfeindlichen Islam, könnte dieser Punkt von sogenannten „besorgten Bürger*innen“ instrumentalisiert werden. Bereust du die Entscheidung Afghanistan so gezeichnet zu haben?
Natürlich gibt es Sachen, bei denen ich mir denke, das ist vielleicht die falsche Zeit. Ich hoffe aber, dass die Leute, die den Film sehen, den Kontext nicht vergessen. Klar kann man Querverbindungen ziehen, aber ich kann auch nicht verneinen, dass Übergriffe passieren. Ich kann nicht alles schön reden. Das heißt aber noch lange nicht, dass man nach Köln sagen darf, dass jeder Flüchtling oder alle, die aus einem muslimischen Staat kommen, potentielle Vergewaltiger sind. Das Gleiche gilt für den Titel: Nach den Anschlägen in Paris wollte ich mich mit dem Titel "Thank you for Bombing" vergraben. Ich habe überlegt ihn zu ändern, aber ich hatte doch das Gefühl, dass die Leute sich durchlesen, um was es in dem Film geht und diesen Kontext beherzigen.

Kommen wir zu einem weiteren Protagonisten, Cal: Für mich hat er am meisten dem Bild des westlichen Kriegsjournalisten entsprochen. Er ist jung, weiß, männlich, auf der Suche nach Action, um die Quoten nach oben zu treiben und bringt sich selbst dabei in Gefahr. War das während deiner Recherche der vorherrschende Typus? Oder ist das ein Klischee?
Vielleicht ist es irgendwo ein Klischee. Aber es ist auf jeden Fall so, dass die Leute so sehr mit sich hadern. Sie legen fast schon Selbstmord-Tendenzen an den Tag. Sie hören nicht auf. Stillstand ist die Hölle für sie. Ich kann mich an einen Korrespondenten erinnern, der Cal sehr ähnlich war: Immer wenn nichts los war, wenn die Stille eingebrochen ist, hat er angefangen zu saufen, Drogen zu nehmen, sich einfach nieder zu dröhnen oder irgendeinen viel zu riskanten Bullshit zu machen. Er konnte die Stille nicht aushalten, da er dann angefangen hat über Dinge nachzudenken, die er gesehen hat. Er war im Irak-Krieg. Da ist einiges bei ihm hängen geblieben. Der Irak-Krieg war für viele der Tiefpunkt, der viel verändert hat.

Auch beim älteren Protagonisten Ewald ist einiges aus dem Jugoslawien-Krieg, von dem er berichtet hat, hängen geblieben. Er hat Probleme zwischen Realität und Paranoia zu unterscheiden …
Ich wollte diese ältere Figur haben, die gebremst wird, die etwas hindert: Eine Vergangenheit, die nicht loslässt. Ganz viele dieser Leute haben post-traumatische Störungen, aber die wenigsten sagen es. Ich habe jemanden getroffen, der im Jugoslawien-Krieg war. Dort wurden sehr viele Massengräber ausgehoben. Bis heute riecht er hin und wieder diesen Leichengeruch an seiner Kleidung. Er bekommt den Geruch nicht weg und muss die Kleidung wegwerfen. Das fand ich heftig und traurig. Es gab so viele, die mir gesagt haben, dass sie mir jahrelang erzählen könnten, was sie alles erlebt haben und ich würde es dennoch nicht begreifen. Gesund ist das nicht!

Der Film beginnt mit dem Zitat "All this talk of blood and slaying has put me off my tea" aus Alice im Wunderland. Ist das eine Aussage, die du so ähnlich von Kriegsreporter*innen gehört hast?
Ich habe bei diesen Film das erste Mal mit Michael Glawogger zusammen gearbeitet, da ich seine Meinung haben wollte. Er hatte bei seinen Projekten viele Berichterstatter und Korrespondenten. Die Geschichten, die ich erzählt habe, erinnerten ihn sehr an diese Kontakte. Und da fand ich es lustig, dass sowohl er als auch viele Leute, die in diesem Feld arbeiten, den Jabberwocky aus „Alice hinter den Spiegeln“ zitieren konnten. Vielleicht war das nur ein Trend, aber das drückt so gut aus, zu welchem Punkt viele der Journalisten kommen: Es herrscht in diesem Bereich so ein Zynismus, so ein Sarkasmus. Jabberwocky ist ja ein komplett unsinniges Gedicht. Und im Abspann kommt das wieder, wo die Korrespondenten kompletten Unsinn in die Kamera sprechen.

Valentine Auer arbeitet als freie Journalistin in Wien.

Schauen, was ich kann

  • 25.06.2015, 10:43

Natalie Ofenböck ist eine der beiden Stimmen des #oehwahlfahrts-Jingles und Ohrwurms „Hallo“ von Krixi, Kraxi und die Kroxn. progress hat mit ihr über Aufwecklieder, Tastatur-Klack-Geräusche und Katzenkalender gesprochen.

Natalie Ofenböck ist eine der beiden Stimmen des #oehwahlfahrts-Jingles und Ohrwurms „Hallo“ von Krixi, Kraxi und die Kroxn. progress hat mit ihr über Aufwecklieder, Tastatur-Klack-Geräusche und Katzenkalender gesprochen.

progress: Gehst du tatsächlich jeden Tag in den Prater?
Natalie Ofenböck: Nein. (lacht) Aber ich bin schon oft dort, ich wohne ja nicht weit weg. Ich mag den Prater sehr gerne, den Grünen wie auch den Wurstelprater.

Krixi, Kraxi und die Kroxn sind nicht drei Freund_innen, sondern 17 Menschen: Wie funktioniert das als Bandprojekt?
Bei der ersten CD haben wir zu zweit bzw. zu dritt Lieder geschrieben und aufgenommen. Später erst haben wir Leute eingeladen, ihnen unsere Lieder vorgestellt und dann hat jeder dazu gemacht, was er wollte oder konnte. Irgendwann waren wir dann bei 17. Aber bei keinem Lied haben alle 17 mitgemacht. Wir hatten kein einziges Konzert, wo alle dabei waren. Einmal  waren wir 16.

Du und Nino aus Wien tretet öfter zu zweit auf. Ihr habt auch die Krixi,-Kraxi-und-die-Kroxn-Lieder geschrieben. Wie kommt ihr auf so unkonventionelle Ideen wie „Hallo“ oder  „Käfer“?
Mit „Käfer“ hab ich begonnen, um Nino aufzuwecken, weil er nicht aufwachen wollte. Irgendwann dann haben wir daraus ein ganzes Lied gemacht. Und „Hallo“ war das erste Lied, das wir gemeinsam gemacht und aufgenommen haben. Das haben wir an einem traurigen Tag geschrieben.

Das Artwork zur CD „Die Gegenwart hängt uns schon lange zum Hals heraus“ hast du gemacht. Im Booklet findet man dein Zitat „Das Fröhlichste das ich je machte.“ Warum?
Weil alles so spontan passiert ist. Ich arbeite sonst ewig an Dingen und das war viel leichter. Auch weil so viele Leute dazu beigetragen haben und es so gut funktioniert hat. Wenn ich allein arbeite, dauert es ewig und ich mache ständig Verbesserungen. Bei dem Projekt haben wir ein Lied geschrieben und es am nächsten Tag aufgenommen. 

Du bist ja nicht nur bei Krixi, Kraxi und die Kroxn dabei, sondern hältst auch Lesungen, arbeitest mit Stoffen und illustrierst. Siehst du dich als interdisziplinäre Künstlerin?
Ich will einfach schauen, was ich alles kann. Oder ob ich das kann. Ich finde Zeichnen, Schreiben und das Mit-Stoffen-Arbeiten sehr ähnlich. Bei Kleidung war es so, dass es mich lange nicht interessiert hat, ob sie tragbar ist. Für mich war es eher Bildhauerei, nämlich, dass man etwas formt – nur eben am Körper. Es ging mir eher darum zu schauen, welche Formen und Farben es gibt. Das, was dabei herausgekommen ist, war dann oft nicht etwas, was man so im Alltag trägt. Bei den Sachen, die ich im Studium gemacht habe, war es mir nicht wichtig, dass es zumindest angenehm zu tragen ist, sondern, dass es eher eine Art Bild wird.

Welches Studium war das?
Das  Bachelorstudium  Mode in Hetzendorf in Wien. Zuvor habe ich ein Jahr in Antwerpen Mode studiert. 

War das für dich als Künstlerin eine Ergänzung oder eine Herausforderung?
Alle Studien, die ich begonnen habe, habe ich gemacht, um eine bestimmte Art von Lernen kennenzulernen. In Hetzendorf war es sehr zeitintensiv, weil es sehr schulisch und mit Anwesenheitspflicht war. Aber ich wollte nähen und mich mit Mode beschäftigen, auch theoretisch.

Unter kkkatzenadvent.com findet man von dir detailreiche  und  animierte  Illustrationen. Hast du an jede Kunstform  verschiedene Ansprüche?
Die Katzenzeichnungen sind eher so wie einen schnellen Text zu schreiben oder ein schnelles Lied zu machen. Aber wenn man ein Kleidungsstück macht, braucht es viel mehr Vorbereitung und Änderungen. Aber beim Zeichnen oder Schreiben passiert alles viel mehr im Moment, das ändert sich dann oft auch nicht mehr. Zumindest bei den Katzenzeichnungen oder den Texten.

Deine Texte sind manchmal sehr assoziativ, dann gibt es wieder ganz andere wie: „man muss die liebe umpolen. die liebe die zäh ist wie trockene kaugummifäden.“  Wie schreibst du?
Diese aneinandergereihten Wörter oder Assoziationsketten sind mit einer Art Rhythmus in meinem Kopf geschrieben. Das geht sehr schnell und das lass ich dann auch so. Es gibt aber natürlich andere Texte, zum Beispiel Strophen, wo man auch reimt. Ich finde man kann ganz gut mit einer Tastatur schreiben, weil das ein Klack-Geräusch macht. Das finde ich angenehm. Da kommt ein Rhythmus zustande.

Das heißt du kannst das 10-Finger-System?
Nein. So schnell bin ich auch nicht. (lacht)

Viele deiner fragmentarischen Werke, Wortspiele und Katzenskizzen publizierst du auf Facebook, Tumblr und auf deiner Webseite. Ist das Internet für dich Möglichkeit oder  Einschränkung?
Ich bin mir nicht sicher. Natürlich ist es eine Möglichkeit, dass Leute das sehen und mitbekommen, was du machst. Zum Beispiel der Katzenkalender würde ohne Internet  nicht  funktionieren. Dann ist es schon gut, aber sonst finde ich es auch ein bisschen seltsam, dass Sachen so schnell nach außen gehen können ohne einen Rahmen. Ich poste auch gar nicht so viel, weil ich mir oft auch nicht so sicher bin, ob ich das sofort teilen will.

„Fräulein Gustl“ als Buch mit Hörspiel tendiert da eher in die analoge Form.
Da wollten Lukas Lauermann, Raphael Sas, Stefan Sterzinger, Nino und ich was Fertiges in der Hand haben. Das ist was anderes als einen Text zu posten. Etwas in physischer Form zu haben, finde ich allgemein besser. Aber das ist eine Kostenfrage. Damals ging  das, weil wir einen Verlag gefunden hatten.

Kannst du uns eine Wortassoziation machen? salzlackengedächtnisse händigen mir die brühe aus. salzaugen. salzorgane. salzorganisten. salzprinz. spiegelsalz. augentracht. spitzenwerk. fliegendreck. zwirbelspeck. spielkatze. zwischenmagen. kitzelkatze. schmirgelkatze, kastenpratze. (gekürzt)

 

Marlene Brüggemann studiert Philosophie an der Universität Wien.

Unnötige Menschen?

  • 24.06.2015, 19:57

Robert Trappl gründete vor mehr als 30 Jahren das Forschungsinstitut für Künstliche Intelligenz in Wien. Damals arbeitete sich die Science-Fiction noch am Thema ab, heute ist Künstliche Intelligenz Realität.

Robert Trappl gründete vor mehr als 30 Jahren das Forschungsinstitut für Künstliche Intelligenz in Wien. Damals arbeitete sich die Science-Fiction noch am Thema ab, heute ist Künstliche Intelligenz Realität.

progress: Sie gelten als Artificial-Intelligence-Pionier. Wann haben Sie begonnen, sich für Künstliche Intelligenz zu interessieren?

Robert Trappl: Ich habe 1984  das Österreichische Forschungsinstitut für Artificial Intelligence (OFAI) gegründet. Der Begriff Artificial Intelligence wurde ja erst 1956 von John McCarthy geprägt, der einen Namen für eine Konferenz gesucht hat. Bis man davon in Österreich gehört hat, hat es eine Weile gedauert.

Was interessiert Sie an Künstlicher Intelligenz?
Ich habe mich schon immer für die menschliche Psyche und die verschiedenen Zugänge dazu interessiert. Da gibt es zum einen die Introspektion,  also   das   Sich-selbst-Beobachten  wie in der Poesie und der Literatur. Dann gibt es die Verhaltensbeobachtung, die zum sozialen Überleben dient – das wird in psychologischen Experimenten systematisch gemacht; vulgärpsychologisch: wie Menschen ticken. Der dritte Punkt, der mich interessiert, ist „the mind“, also die Frage, was sich im menschlichen Gehirn tut – ein Gebiet, auf dem die Fortschritte im letzten Jahrhundert gigantisch waren. Und der vierte, für mich spannende Zugang zur Psyche ist Künstliche Intelligenz, wobei es hier zwei Ansätze gibt: Einerseits will man menschliche Leistungen durch Computer hervor- bringen, die die Dinge möglicherweise besser  können  als  der  Mensch. Da  geht es nicht um Abläufe, sondern um Ergebnisse, wie beim Taschenrechner. Andererseits geht es um die Modellierung psychischer Vorgänge, wobei das nicht nur Denkvorgänge sein müssen, sondern auch Emotionen, Motivationen und Persönlichkeitsabläufe sein können.

Warum bekommt das Thema Künstliche Intelligenz aus Ihrer Sicht derzeit besonders viel mediale Aufmerksamkeit?
Es gibt dafür zwei Gründe: Zum einen hat der Philosoph Nick Bostrom das Buch  „Superintelligence“ geschrieben. Er vertritt die Meinung, dass Artificial- Intelligence-Systeme die Welt beherrschen werden, wenn ihre Entwicklung so weitergeht. Was dann mit uns Menschen passiert, ist offen. Wahrscheinlich werden wir für unnötig befunden.

Glauben Sie das auch?
Personen, die das glauben, empfehle ich immer, etwas für den Tiergarten Schönbrunn zu spenden, für den Fall, dass uns die Roboter in 30 oder 40 Jahren dort besuchen werden. Auch Stephen Hawking, Elon Musk und Bill Gates haben sich sehr kritisch geäußert. Prognosen sind schwierig. Ich glaube nicht an so ein Szenario, aber ich kann eine Katastrophe nicht ausschließen.

Und was ist der zweite  Grund für die Hochkonjunktur der Künstlichen Intelligenz?
Der zweite Grund ist eine Diskussion, die es schon länger gibt. Die Wissenschafter Erik Brynjolfsson und Andrew McAfee vom  MIT haben dazu das Buch „The Second Machine Age“ geschrieben. An ihre Thesen glaube ich schon eher. Sie sagen, dass eine neue technologische Revolution zu enormen Fortschritten, aber gleichzeitig zur Bedrohung von Arbeitsplätzen führen wird. Früher saßen im Cockpit eines Flugzeuges fünf Menschen, heute nur noch zwei. Es sind U-Bahnen ohne FahrerInnen unterwegs. Eines der interessantesten Themen derzeit sind selbstfahrende Autos. Auch wenn es derzeit in Deutschland und Österreich damit noch rechtliche Probleme gibt: Sie kommen sicher. Das wird weder die TaxlerInnen noch zigtausende LKW-FahrerInnen freuen. 

Empfinden Sie diese Prognosen als Segen oder als bedrohlich?
Ich bin da einer Meinung mit  Johannes Kopf, dem Chef des AMS. Er sagt, dass es aus historischer Perspektive schon öfter technologische Umbrüche gab, aber die Arbeit nie ausging. Denken Sie etwa an den Mangel in den Sozialberufen derzeit. Die Automatisierung und Maschinisierung vieler Arbeitsvorgänge waren Voraussetzung dafür, dass wir heute keine 70-Stunden- Wochen mehr haben.

Bedeuten diese Entwicklungen nicht, dass es quasi nur noch TechnikerInnen  braucht,  die die Maschinen programmieren und reparieren?
Schon heute haben es die weniger Qualifizierten schwer. Früher haben 20 Menschen in einem Warenlager gearbeitet, jetzt braucht es nur noch eineN Logistik-Spezialisten/in, der oder die mit dem Computer umgehen kann. Die gering qualifizierten Berufe sind  also  am Aussterben.

Welche Entwicklungen der Künstlichen Intelligenz kommen konkret in der näheren Zukunft auf uns zu?
Die selbstfahrenden Autos werden wahrscheinlich eine Revolution im Verkehrswesen bedeuten. Schon jetzt lässt sich abschätzen, dass die Anzahl der Unfälle drastisch zurückgehen wird, die bestehenden Straßen besser ausgenützt werden und fast keine neuen mehr gebaut werden müssen. Auch der Spritverbrauch wird zurückgehen. Außerdem können ältere Menschen dadurch länger mobil sein.

Was noch?
Kennen Sie den Film „Her“ von Spike Jonze? Er zeigt, wie sehr sich synthetische Persönlichkeiten weiterentwickeln werden. Das wird vor allem im Zusammenhang mit Robotern wichtig sein. Bei  Robotern sehe ich schon jetzt einen großen Bedarf, etwa in der Pflege. In Europa überaltert die Bevölkerung, immer mehr Menschen sind betreuungsbedürftig. In Österreich arbeiten im Pflegesektor Leute aus der Slowakei, Ungarn und Co., die dort dann fehlen. So kann es nicht weitergehen. Auch Menschen mit besonderen Bedürfnissen können die Entwicklungen der Artificial Intelligence helfen: Die IT macht es ihnen schon jetzt möglich, nahezu uneingeschränkt am  sozialen  Leben teilzunehmen. Spannend wird die Kombination von Robotern und synthetischen Persönlichkeiten  werden.


Alexandra  Rotter  hat  Kunstgeschichte an der Universität Wien und der Université  de  Lausanne  studiert  und arbeitet als freie Journalistin mit Schwerpunkt Wirtschaft  in Wien.

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