Interview

Online-Dating ist eine Konsequenz aus unserer Wirtschaftsform

  • 14.02.2014, 23:08

Der Kurzfilmregisseur Gregor Schmidinger beschäftigt sich nicht nur viel mit Sexualität, er geht auch sehr offen und kritisch mit dem Thema um. Das progress hat mit dem 28 jährigen unter anderem über seine Erfahrungen mit Online-Dating, gesellschaftliche Beziehungsideale und sein kommendes Filmprojekt gesprochen.

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Der Kurzfilmregisseur Gregor Schmidinger beschäftigt sich nicht nur viel mit Sexualität, er geht auch sehr offen und kritisch mit dem Thema um. Das progress hat mit dem 28 jährigen unter anderem über seine Erfahrungen mit Online-Dating, gesellschaftliche Beziehungsideale und sein kommendes Filmprojekt gesprochen.

progress: Du hast zu Beginn dieses Jahres einen Selbstversuch gestartet, bei dem du, unter anderem, auf den Konsum von Pornographie oder Online-Datingplattformen verzichtest. Du dokumentierst deine Erfahrungen seither auch auf einem Blog. Wie ist es dazu gekommen?

Gregor Schmidinger: Ich habe gemerkt, dass Pornographie Auswirkungen auf mein Sexualleben gehabt hat. Zuerst war mir gar nicht klar, dass Pornographie daran Mitschuld war. Pornos sind im Internet ja quasi unbegrenzt verfügbar. Als ich in die Pubertät gekommen bin, wurde das Internet gerade zum Massenmedium. Dadurch habe ich relativ schnell die Pornographie entdeckt. Vor allem wenn man schwul ist und in einem 1.800 Seelendorf lebt, ist das die einzige Möglichkeit die eigene Sexualität zu erforschen. Irgendwann wird es dann aber zur Gewohnheit und dadurch wird natürlich die eigene Wahrnehmung verändert. Und so ist dann das Projekt entstanden. Ich hab mich auch gleich dazu entschieden, dass über einen Blog öffentlich zu machen. Seither bekomme ich relativ viele Rückmeldungen. Das ist auch ein sehr breites Phänomen, über dass sich wenige reden trauen, weil es etwas sehr intimes und mit Scham behaftet ist.

progress: Wie ist es dir seither mit deinem Selbstversuch gegangen?

Schmidinger: Zu Beginn war ich super motiviert. Die ersten paar Tage sind recht gut gegangen, dann hatte ich einmal einen Durchhänger. Nach zwei bis drei Wochen ist es dann aber relativ einfach gegangen. Mir ist es auch zwei dreimal passiert, dass ich wieder abgerutscht bin, da muss man sich dann halt wieder herausholen. Das Bedürfnis des täglichen Pornoschauens ist aber mittlerweile komplett weg. Das Projekt wird auch sicher länger als ein Jahr dauern. Schön langsam komme ich in einen emotionalen Bereich hinein, den ich sehr spannend finde. Gerade beschäftige ich mich mit den Funktionen von sexuellen Phantasien. Pornographie ist am Ende ja nichts anderes, als eine visualisierte Version einer sexuellen Phantasie.

progress: Hast du eine konkrete Vorstellung davon, wohin das Projekt gehen soll?

Schmidinger: Es ist eine Reise, ein Prozess, ein entdecken was passieren wird. Aber eigentlich geht es mir um eine selbstbestimmte und selbstbewusste Sexualität. Weg vom Fremdbestimmten, also Bilder die einem über die Medien, Filmen und so weiter sagen, wie etwas zu sein hat. Je mehr ich mich damit beschäftige und darüber lese, desto mehr merke ich erst wie schambehaftet Sexualität in unserer Gesellschaft eigentlich wirklich ist. Dabei stelle ich mir die Frage ob das wirklich so sein muss und was anders wäre wenn es nicht so wäre

progress: Welche Erfahrungen hast du mit Dating-Plattformen im Internet gemacht?

Schmidinger: Angefangen habe ich damit als ich ungefähr 16 war. Ich glaube braveboy.de (die es heute nicht mehr gibt, Anmk.) war das erste, was ich ausprobiert habe. Ich hatte immer wieder Phasen in denen ich gar nicht auf diesen Plattformen unterwegs war, ansonsten war ich aber eigentlich relativ regelmäßig auf Seiten wie Gayromeo oder zum Schluss auch Grindr – das sind auch die klassischen Plattformen, für schwule Männer zumindest. Mittlerweile habe ich damit aber komplett aufgehört. Auf Online-Dating, in dem Sinne wie es gemeint war, habe ich mich aber nie wirklich eingelassen. Sehr selten habe ich mich mit Leuten getroffen. Die Treffen waren meistens enttäuschend. Man hat ein gewisses Bild und einen Beschreibungstext von der Person im Kopf. Und alle wissen, dass sie die besseren Bilder nehmen und die interessanteren Sachen schreiben sollten. Das führt zu vielen blinden Flecken in Bezug auf die andere Person, die man dann mit seinen eigenen Wünschen ausfüllt - dessen ist man sich vielleicht nicht automatisch bewusst. So entstehen schnell Vorstellungen und Hoffnungen darüber, wie jemand sein wird. Wenn man die Person dann trifft, entsteht ein Spalt zwischen der eignen Erwartung und der Realität. Das Gegenüber hat dann kaum eine Chance diese Erwartungen zu erfüllen. Das war bei mir bei fast allen Treffen der Fall. Zwei oder drei positive Erfahrungen habe ich aber schon auch gemacht.

progress: Dating-Plattformen werden ja ganz unterschiedlich genutzt, von der Beziehungssuche, Zeitvertreib oder Chatten bis hin zur Suche nach Sexdates. Wie hast du die Plattformen verwendet?

Schmidinger: Eine Beziehung habe ich aber nie wirklich gesucht, gehofft vielleicht. Für mich das online-daten mit unter auch etwas von einem interaktiven Porno. Wenn man etwa entsprechend Bilder austauscht oder in eine gewisse Richtung schreibt. Meinen Freund habe ich zwar ursprünglich auf Grindr zum ersten Mal gesehen, ich muss aber gestehen, dass sich das Interesse damals nicht über die Oberflächlichkeit hinaus entwickelt und schnell verlaufen hat. Zufällig haben wir uns dann einmal persönlich getroffen und dann war mein Interesse plötzlich voll da. Das ist ein gutes Beispiel, wäre es nur über Grindr gegangen, wäre aus uns wahrscheinlich nie etwas geworden. Es fehlen auf diesen Plattformen auch einfach viele wichtige Informationen, das haptische, die Gestik, wie jemand spricht, der Tonfall.

progress: Kritisiert wird an den Dating-Plattformen ja mitunter auch, dass ein starker Ranking- und Effizienzgedanke der damit einhergeht. Wie siehst du das?

Schmidinger: Ja, man geht ja auch sehr systematisch vor. Zuerst schreibt man einmal alle Leute an und dann sortiert man nach und nach aus. Dabei lässt man sich natürlich nie wirklich auf jemanden ein und sortiert nach oberflächlichen Kriterien aus. Alles andere würde wahrscheinlich auch zu viel Zeit in Anspruch nehmen. Ich kenne jemanden der, wenn er von jemanden angeschrieben wird, der kleiner ist als 180 cm ist, schreibt er nicht zurück. Es funktioniert halt sehr Schemenhaft, es ist ein bisschen so wie einen Katalog durchblättern. Das fühlt sich sehr kapitalistisch an, weil es so Maßgeschneidert ist und alles andere, das was es eigentlich ausmacht, die feineren Informationen, die fehlen halt komplett.

progress: Glaubst du hat Online-Dating generell einen Einfluss darauf wie wir nach Beziehungen suchen und sie leben?

Schmidinger: Also wenn, dann glaube ich, dass es nur zu einer Extremisierung führt. Ich glaube, dass Online-Dating nur die Konsequenz aus unserer Wirtschaftsform aber auch aus unserem kulturellen Verständnis von Beziehungen ist. Beziehungen sind in unserer Gesellschaft austauschbar. Das wird ja auch serielle Monogamie genannt – wir sind zwar monogam aber immer nur hintereinander. Problematischer finde ich noch, dass wir einen suchen der uns alles geben kann und zwar für Immer. Diese Perversion des eigentlich ursprünglichen romantischen Gedankens: wir idealisieren nicht mehr den Alltag und einen, Gott sei Dank, nicht perfekten Menschen, sondern suchen stattdessen das Ideale in einer nicht perfekten Welt. Das führt natürlich unweigerlich zu konstanter Enttäuschung. Online-Dating bietet sicher viele Möglichkeiten. Es kann einen aber auch lähmen, weil es immer jemanden gibt, dessen Profiltext noch ausgeprägter ist oder der ein noch hübscheres Profilbild hat.

progress: Anderseits, und das hast du ja bereits angeschnitten, kann es doch auch eine gute Möglichkeit für etwa LGBTQ-Jugendliche bieten.

Schmidinger: Sicher auf alle Fälle. Ich finde auch nicht, dass Online-Dating per-se schlecht ist, es ist halt ein Werkzeug, und es kommt stark darauf an wie man es nützt. Trotzdem glaube ich, dass Online-Dating dazu führt dass man überhöhte Erwartungen und falsche Vorstellungen bekommt. Wenn man es richtig nutzt, hat es sicher auch positive Seiten, gerade wenn man aus einem kleinen Ort kommt und niemanden kennt. Aber es gibt halt auch diese anderen Aspekte daran.

progress: Deine bisherigen Kurzfilm-Projekte haben sich unter anderem mit Themen rund um Sexualität und Beziehung beschäftigt. Du arbeitest gerade an deinem nächsten Filmprojekt. Worum wird es gehen?

Schmidinger: Das Thema ist Illusion, Phantasie, Gegenrealität. Es geht eigentlich ein bisschen um Desillusionierung und die dadurch entstehende Reifung. Im Grunde ist es ein bisschen so eine “coming of age“-Geschichte. Die Handlung dreht sich um die erste Liebe, um zwei Charaktere: der eine hat eine eher verzehrte Wahrnehmung auf Sexualität, sehr stark geprägt durch Pornographie, der andere hat eine stark verzehrte Wahrnehmung von Liebe, geprägt romantische Komödien und Lieder und so weiter. Beide treffen aufeinander und erleben eine Desillusionierung durch ihre Beziehung. Da kommt dann die Watschn der Realität, was oft natürlich nicht angenehm ist. Ich versuche ein wenig zurück zu dem ursprünglichen Gedanken der Romantik zu kommen. Monogamie probiert etwas zu konservieren, was nicht konservierbar ist.

progress: Ist Sexualität für dich eines der Kernthemen, wenn es um dein Filmschaffen geht?

Schmidinger: Eigentlich nicht aber es sind die Themen die mich zurzeit beschäftigen. Die Themen für meine Filme sind die Themen, die mich in meiner derzeitigen Lebensphase beschäftigen. Diese werden sich auch über die Jahre mit mir verändern.

progress: Wann wird der Film zu sehen sein?

Schmidinger: Ich bin gerade am Schreiben, die Produktion wird frühestens nächsten Sommer beginnen. Wenn alles gut geht ist 2015 realistisch.

 

Zur Person: Der 28 Jährige Gregor Schmidinger konnte bisher unter anderem mit den Kurzfilmprojekten „The Boy Next Door“, „Der Grenzgänger“ und Homophobia auf sich aufmerksam machen. Derzeit studiert er Drehbuch an der University of California Los Angeles (UCLA).

 

Das Interview führete Georg Sattelberger. Er Studiert Internationale Entwicklung an der Universität Wien.

Hier gehts zum Artikel: Romantik zwischen Suchfiltern

Die Liebe als Gegenstück zur Rationalisierung

  • 14.02.2014, 20:41

Online-Datingplattformen werben mit dem Versprechen auf Intimität und der Aussicht auf den richtigen Match. Ein Angebot, dass in den vergangenen Jahren zunehmende Beliebtheit erfahren hat. Der Sozialwissenschaftler Kai Dröge von der Universität Frankfurt hat sich im Rahmen eines Forschungsprojekts mit dem Thema Online-Dating beschäftigt. Im Interview mit dem progress erklärt Dröge, woher die Faszination für diese Form der PartnerInnensuche kommt und wie das mit unseren modernen Lebens- und Arbeitsverhältnissen verflochten ist.

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Online-Datingplattformen werben mit dem Versprechen auf Intimität und der Aussicht auf den richtigen Match. Ein Angebot, dass in den vergangenen Jahren zunehmende Beliebtheit erfahren hat. Der Sozialwissenschaftler Kai Dröge von der Universität Frankfurt hat sich im Rahmen eines Forschungsprojekts mit dem Thema Online-Dating beschäftigt. Im Interview mit dem progress erklärt Dröge, woher die Faszination für diese Form der PartnerInnensuche kommt und wie das mit unseren modernen Lebens- und Arbeitsverhältnissen verflochten ist.

progress: Sie haben sich wissenschaftlich mit dem Thema Online-Dating beschäftigt. Warum entscheiden sich so viele Menschen für diese Variante der PartnerInnensuche?

Kai Dröge: Für eine Person, die einsam ist und sich eine Beziehung wünscht, hat das Internet viele Verlockungen: Es bietet eine schier unerschöpfliche Auswahl potentieller Partnerinnen und Partner und die Möglichkeit, hier anonym und unbeobachtet durch FreundInnen und KollegInnen erste intime Bande zu knüpfen. Datingplattformen versprechen darüber hinaus, dass man erst durch sie endlich den ‚perfect match‘ finden kann, weil man auf Basis der Informationen in den Profilen alles herausfiltern kann, was nicht zu den eigenen Vorlieben passt. Außerdem kennt inzwischen fast jede/r jemanden, der oder die im Netz die Liebe gefunden hat.

Allerdings erweisen sich viele der genannten Vorzüge mit der Zeit als Bumerang: Wir sehen in unserer Forschung immer wieder, dass die Anonymität nicht selten zu Unverbindlichkeit führt, dass ein hundertprozentig ‚passendes‘ Gegenüber eher Langeweile als emotionale Erregung hervorruft und dass die gigantische Auswahl schließlich Ermüdung und Abstumpfung erzeugt, die die Bindungsfähigkeit der AkteurInnen grundsätzlich untergraben kann. Wir sind nicht Wenigen begegnet, die schon seit Jahren im Netz vergeblich auf der Suche sind, und bei denen sich inzwischen einiges an Frust angesammelt hat. Trotzdem können sie oft schwer davon lassen, denn von den Versprechungen des Netzes geht auch eine große Faszination aus.

progress: Woher kommt der weit verbreitete Wunsch nach Romantik, der romantischen Liebe?

Dröge: Die romantische Liebe ist in der modernen Gesellschaft zum dominanten Beziehungsideal geworden und hat sich, trotz aller Veränderungen im Bereich von Liebe und Paarbeziehung in den letzten 150 Jahren, bis heute als sehr resistent erwiesen. In der Soziologie der Liebe wird argumentiert, dass dies einen systematischen Grund hat: Gerade weil Rationalisierung und Individualisierung in unserer Gesellschaft immer weiter um sich greifen, wird die Liebe als eine „Gegenwelt“ dazu immer wichtiger. Das romantische Ideal mit seiner Betonung von Irrationalität, wechselseitiger Verschmelzung und zweckfreier Hingabe bietet genau dieses Kontrastprogramm. Aber natürlich wird die Liebe dadurch mit extrem hohen Erwartungen aufgeladen: Sie soll all das kompensieren, woran wir in der modernen Gesellschaft leiden. Bei dieser Überforderung ist es kein Wunder, dass Beziehungen heute oft nicht mehr sehr lange halten.

progress: Viele Online-Plattformen versprechen nicht nur authentische Erfahrungen, sie verlangen von ihren NutzerInnen auch authentisch zu agieren. Was bedeutet Authentizität in diesem Kontext?

Dröge: Authentizität im Sinne von Ehrlichkeit und Offenheit ist für unser modernes romantisches Liebesideal von zentraler Bedeutung. Im Internet wird das noch einmal wichtiger, weil der Körper und die nonverbale Kommunikation als Wirklichkeits- und Authentizitätsgaranten zunächst einmal fehlen.

Allerdings gibt es immer ein gewisses Problem, wenn das Authentizitätsideal auf eine Wettbewerbssituation trifft: Dies gilt in der modernen Arbeitswelt, wo die Subjekte ganz sie selbst und trotzdem optimal angepasst sein sollen. Und dies gilt auch auf Online Dating Plattformen, wo man sich direkt in Konkurrenz zu abertausenden anderen Mitgliedern bewegt. Da ist der Weg zu ein wenig Selbstoptimierung nicht weit – allerdings ohne dass die Leute bewusst lügen würden, das kommt nach unserer Erfahrung eher selten vor. Allerdings: Auch außerhalb des Netzes zeigt man am ersten Abend ja nicht gerade seine schlechtesten Seiten.

progress: Sie weisen darauf hin, dass Emotionsarbeit auf diesen Plattformen eine entscheidende Bedeutung zukommt – sowohl für NutzerInnen als auch auf die BetreiberInnen. Wie ist Emotionsarbeit in diesem Kontext zu verstehen?

Dröge: Es geht hier darum, genauer zu verstehen, wie die digitale Ökonomie der Gegenwart eigentlich funktioniert und wie sich im Internet die Quellen der Wertschöpfung verschieben. Die simple Frage, womit Datingplattformen ihr Geld verdienen, ist gar nicht so leicht zu beantworten. Die Grundfunktionalität dieser Plattformen - ein persönliches Profil, eine Suchfunktion, ein internes Nachrichtesystem - ist vielerorts im Netz auch kostenlos zu haben. Warum sollte man dafür 30 oder 40 Euro im Monat zahlen? In unseren Interviews wurde deutlich: Die Leute entscheiden sich nur dann für eine kostenpflichtige Mitgliedschaft, wenn sie sich davon bestimmte emotionale Erlebnisse und Beziehungen versprechen. Die emotionale Erlebnis- und Beziehungsqualität macht also den eigentlichen ökonomischen Wert einer Plattform aus. Allerdings sind es ja die Nutzerinnen und Nutzer selbst, die diesen Wert auch produzieren: durch eine attraktive Selbstdarstellung, durch die Qualität und Quantität ihrer emotionalen Interaktionen, etc. Sie leisten also gewissermaßen emotionale Arbeit, die einen ökonomischen Wert generiert, und zahlen gleichzeitig dafür, diesen Wert konsumieren zu dürfen - kein schlechtes Geschäftsmodell.

In der Internetforschung spricht man hier von „Prosumption“, also einer Vermischung von Produzenten- und Konsumentenrolle. Auch YouTube produziert ja seine Videos nicht selbst. Die Bedeutung der Emotionen und der emotionalen Arbeit war in diesem Kontext allerdings bisher nicht untersucht, deshalb haben wir uns damit etwas eingehender beschäftigt.

progress: Handelt es sich bei der PartnerInnensuche im Netz nicht einfach um eine Konsequenz davon, wie Beziehung als Institution gemeinhin verstanden wird?

Dröge: Wie schon erläutert, entwirft das romantische Liebesideal ja gerade eine Gegenwelt zur modernen Marktvergesellschaftung. Dass dieses Ideal in unserer Kultur heute immer noch so prominent ist zeigt, dass sich die Menschen eine nicht marktförmige Liebe zumindest wünschen und erhoffen.

Aber natürlich ist unsere Beziehungswelt heute nicht frei von Konkurrenz, von strategischem Kalkül und anderen Elementen einer ökonomischen Rationalität. Online Dating verstärkt dies teilweise noch, indem es eine Art Online-Shopping-Plattform entwirft, wo Personen anhand standardisierter Merkmale vergleichbar gemacht werden und sich somit gewissermaßen Marktpreise bilden lassen. Dennoch: Wenn diese marktförmigen Elemente zu sehr in den Vordergrund traten, so wurde das von unseren InterviewpartnerInnen fast ausnahmslos als Problem gesehen und nicht etwa begrüßt. Von der Liebe aus dem Katalog sind wir also noch weit entfernt. Außerdem bietet das Netz auch ganz andere Erfahrungen: Eine tiefe Emotionalität, wechselseitige Selbstoffenbarung und Intimität beispielsweise, die stark romantische Züge tragen. Dass die mediale Distanz die Gefühle bisweilen intensivieren kann, wissen wir ja schon aus den romantischen Briefromanen des 18. und 19. Jahrhunderts. Deshalb haben wir das Internet auch einmal als „neoromantisches Medium“ bezeichnet.

progress: Es werden immer wieder Studien veröffentlicht, die belegen wollen, dass PartnerInnenschaften, die online gefunden wurden länger halten würden. Wie schätzen Sie diese Studien ein?

Dröge: Diese Studien werden häufig von den Betreiberfirmen selbst in Auftrag gegeben und finanziert. Entsprechend tendenziös fällt dann die Interpretation der Ergebnisse aus. Die mir bekannten Zahlen zeigen aber immerhin, dass Beziehungen, die im Internet begonnen haben, im Durchschnitt nicht schneller auseinandergehen als andere auch. Dies widerspricht dem gängigen Vorurteil, das Netz sei eigentlich nur für One-Night-Stands zu gebrauchen.

progress: Kann Online-Dating generell einen Einfluss darauf haben, wie wir uns Beziehungen vorstellen und sie leben?

Dröge: Online Dating hat sich in den letzten Jahren stark verbreitet. Außerdem werben die Plattformen offensiv damit, dass sich nur mit ihrer Hilfe eine optimale, passgenaue und damit auch letztlich glücklichere Partnerschaft erreichen lässt. Wie ich schon erläutert habe, sind gegenüber diesen Werbeversprechen einige Zweifel angebracht. Aber natürlich wirft die öffentliche Präsenz des Themas bei vielen, die nicht dabei sind, die Frage auf, ob sie nicht etwas verpassen. Es geht hier letztlich um das alte Glückversprechen der modernen Technologie, die unserer Leben einfacher, besser und effizienter machen soll. Aber wie wir wissen, wirkt dieses Glücksversprechen in vielen Bereichen heute nicht mehr so ungebrochen wie noch von 40 oder 50 Jahren. Auch hinsichtlich der Segnungen des Internets für unser Liebesleben gibt es eine Menge Zweifel in unserer Gesellschaft. Welche Wirkkraft dieses Modell letztlich entfalten kann, ist daher heute noch schwer abzusehen.

progress: Bietet Online-Dating nicht aber auch Vorteile etwa  für LGBTQ-Jugendliche in ländlichen Regionen, oder schüchterne Menschen?

Dröge: In vielen Szenen, die vom heteronormativen Standard abweichen, hat das Internet große Veränderungen bewirkt. Einmal, weil sich hier leichter Treffpunkte auch für geographisch verstreut lebende Gleichgesinnte schaffen lassen. Wichtiger aber ist noch, dass die Anonymität des Netzes eine Art geschützten Raum schafft, der Experimente mit der eigenen Geschlechtsidentität und sexuellen Orientierung begünstigt. Schüchtern sollte man im Netz allerdings nicht gerade sein, sonst geht man in der Masse eher unter. Und wer nur versteckt hinter dem Computer zu markigen Sprüchen in der Lage ist, wird so kaum zu einem erfüllten Liebesleben kommen.

 

Zur Person:

Der Sozialwissenschaftler Kai Dröge ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Sozialforschung an der Johann Wolfgang Goethe-Universität in Frankfurt und Dozent an der Hochschule Luzern. „Online Dating. Mediale Kommunikation zwischen romantischer Liebe und ökonomischer Rationalisierung”, war der Titel des Forschungsprojektes, im Rahmen dessen er und sein Kollege Oliver Voirol dem Phänomen Online-Dating beschäftigt haben. Das Projekt war eine Kooperation des Instituts für Sozialforschung der Universität Frankfurt und der Universität von Lusanne in der Schweiz.

 

Das Interview führte Georg Sattelberger. Er studiert Internationale Entwicklung an der Universität Wien.

 

Der Blog zum Forschungsprojekt: http://romanticentrepreneur.net

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Das Programm und die BesucherInnen machen dann das Festival zu dem was es ist.

  • 03.02.2014, 13:15

In Wiener Neustadt fand heuer vom 28.-30 November zum dritten Mal das Frontale Film-Festival statt. Gezeigt wurden auch dieses Jahr wieder eine feine Auswahl an Kurz-, Spiel, aber auch Handyfilmen. Veranstalterin des Festivals ist die Jugendplattform Megafon. Progress hat mit dem den Wettberwerbsjury Mitgliedern Reinhard Astleithner und Jan Hestmann über das kleine aber erfolgreiche Festival gesprochen.

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In Wiener Neustadt fand heuer vom 28.-30 November zum dritten Mal das Frontale Film-Festival statt. Gezeigt wurden auch dieses Jahr wieder eine feine Auswahl an Kurz-, Spiel, aber auch Handyfilmen. Veranstalterin des Festivals ist die Jugendplattform Megafon. Progress hat mit dem den Wettberwerbsjury Mitgliedern Reinhard Astleithner und Jan Hestmann über das kleine aber erfolgreiche Festival gesprochen.

progress: Das Frontale Film-Festival fand heuer bereits zum dritten Mal statt? Was war die ursprüngliche Motivation dahinter, das Festival ins Leben zu rufen?

Reinhard Astleithner: Die Film- und Medienkultur in der Region kam immer ein wenig zu kurz. Abgesehen von privaten Einrichtungen und dem Zentralkino war es schwer, Filme abseits des Mainstreams zu sehen. Unsere eigene Kinoleidenschaft hat es dann fast zur Pflicht gemacht, die FRONTALE ins Leben zu rufen.

Jan Hestmann: Mit der Frontale wollen wir ein junges Kulturprojekt wachsen lassen, an dem sich kreative und filmbegeisterte Menschen beteiligen und austauschen können. Wir wollen ein breites, junges und jung gebliebenes Publikum ansprechen und Filmkultur erlebbar machen. Letztes Jahr hat das neue Kulturzentrum SUB aufgemacht. Da haben wir gleich gemeinsame Sache gemacht.

progress: Wie hebt sich das Frontale-Filmfestival von anderen ab? Was ist das Besondere an diesem Festival?

Reinhard: Das Feedback der letzten Jahre hat unsere Absicht bestätigt. Wir sind ein herzliches Festival, auf dem die ZuseherInnen auf die FilmemacherInnen treffen und in familiärem Setting diskutieren, konsumieren und reflektieren. Die Mischung aus Spiel-, Kurz- und Handyfilmen, die Couchgespräche und die Workshops bringen eine Vielseitigkeit ins Programm, die man anderswo vielleicht so nicht geboten bekommt. Dazu kam dieses Jahr dann auch die Live-Vertonung des Stummfilmklassikers NOSFERATU (1922), die man so noch nirgendwo gesehen oder gehört hat.

progress: Beim Frontale-Filmfestival können auch Handybeiträge eingereicht werden. Sind das eher Laienbeiträge? Wie heben sich solche Beiträge von anderen ab?

Reinhard: Im Handyfilmprogramm sieht man die Versatilität des Mediums wie in keinem anderen. Von willkürlichen Aufnahmen eines Plastiksackerls im Wind, bis hin zu Green Screen Produktionen haben wir dieses Jahr wieder gestaunt, gelacht und geklatscht. Der Gewinnerfilm steht in seiner Bildästhetik und Dramaturgie vielen der Lang- und Kurzfilme in nichts nach.

Jan: Tendenziell sind diese Filme von Laien, was toll ist. Filmemachen wird immer einfacher und billiger. Bei aller Nostalgie für Analogfilm, hat die Digitalisierung das Filmemachen niederschwelliger gemacht. Der Handyfilm ist die Konsequenz daraus. Das Handy wird zum Selbstermächtigungsinstrument für FilmemacherInnen ohne Budget. Gleichzeitig bringt es eine ganz eigene und interessante Ästhetik mit sich. Und man muss kreativ sein, um mit einem Handy einen guten Film zu machen.

progress: Gibt es Themen denen ihr euch am Festival besonders widmen wollt?

Reinhard: Qualitätsbewusstsein und die Auseinandersetzung mit dem Medium sind unser Antrieb. Das Programm und die BesucherInnen machen dann das Festival zu dem was es ist.

Jan: Letztes Jahr hatten wir ein Couchgespräch mit JungschauspielerInnen. Da schwingt das Thema Präkarisierung im Kunst- und Kulturbereich mit. Dieses Jahr gab es mit dem Screening von „Oh yeah, she performs!“ und mit der Tricky Women-Schiene einen Schwerpunkt auf Feminismus. Die Schwerpunkte sollen gemeinsam mit dem Publikum diskutiert werden können, gerne auch kontrovers. Da wollen wir uns nicht zu stark eingrenzen.

progress: Ihr bietet neben den Filmen auch ein umfangreiches Rahmenprogramm an. Unter anderem auch Workshops z.T. Drehbuchschreiben. Wollt ihr vor allem jene ansprechen die daran interessiert sind selbst Filme zu machen?

Reinhard: Bei uns ist grundsätzlich jede/r willkommen. Darum saßen in den Workshops auch Leute, die keine Vorkenntnisse hatten neben BesucherInnen, die schon einige Bücher zum Thema gelesen hatten. Aus dem Feedback der Workshopleiterinnen war herauszuhören, dass genau diese Mischung die Workshops spannend und zugänglich gemacht haben.

Jan: Da sind wir wieder bei der Selbstermächtigung. Wir wollen Menschen das Handwerk beibringen. Das Equipment, etwa das Handy, haben sie ja bereits eingesteckt. Das Festival ist deshalb aber nicht nur für FilmemacherInnen, sondern genauso für ein Publikum, das wir aber auch stets einladen, in den Diskurs einzusteigen.

progress: Was waren für euch die Highlights des diesjährigen Frontale-Filmfestivals?

Reinhard: Während unserer "Warm-Up Tour" besuchten wir das Triebwerk Wiener Neustadt mit dem Dokumentarfilm SKATEISTAN. Darin sieht man eine Skateschule in Afghanistan und ihre positiven Auswirkungen in dem durch Krieg gebeutelten Land. Und plötzlich kam das CARITAS Haus Neudörfl mit 25, zum Teil afghanischen, jugendlichen Asylbewerbern zu Besuch. Das anschließende Gespräch über den Film und die Auseinandersetzung mit der Migrationsthematik aus erster Hand war magisch. Beim Festival brachte das Gespräch mit Joseph Lorenz, Schauspieler in PARADIES: HOFFNUNG, einen interessanten Einblick in die Arbeitsweise eines der größten Filmexporte unseres Landes.

Jan: Bei der außergewöhnlichen Live-Vertonung von Nosferatu hatte ich das Gefühl, es passiert gerade etwas, das ich so bald nicht mehr erleben darf. Schließlich hat mich die Videobotschaft eines jungen ukrainischen Filmemachers begeistert, der einen globalkritischen Stop-Motion-Film eingereicht hatte, mit wenigen Mitteln aber dafür umso stärkerer Aussagekraft.

Zu den Personen:

Reinhard Astleithner (Juryvorsitzender)

studierte Drehbuch an der Filmakademie Wien und ist Betriebsleiter im English Cinema Haydn. Freischaffender Filmemacher und Fotograf. Zeigte im Rahmen der "Wien-Aktion", gemeinsam mit dem BMUKK, über 3000 Schulklassen einen Blick hinter die Kulissen eines Kinobetriebs.            

Jan Hestmann

Von der Wiener Neustädter Comedienbande zum Freien Radio Helsinki in Graz. Schließlich in Wien gelandet, in der Filmredaktion von The Gap und der Programmkoordination von Radio Orange. Ansonsten Globalgeschichte-Student und bei eigenen Filmprojekten für Doomsday Films vor und hinter der Kamera.

 

Das Interview führte Georg Sattelberger.

Ein Verbot ist keine pädagogische Maßnahme

  • 03.02.2014, 12:27
Im Rahmen des progress-Schwerpunktes zum Thema Mehrsprachigkeit hat sich Vanessa Gaigg mit İnci Dirim, Professorin für Deutsch als Zweit- und Fremdsprache an der Uni Wien, über Deutschgebote an Schulen und die Wechselwirkung von Gesellschaft und Universität unterhalten und erfahren, was in der Debatte um Ausgrenzung falsch läuft.
Im Rahmen des progress-Schwerpunktes zum Thema Mehrsprachigkeit hat sich Vanessa Gaigg mit İnci Dirim, Professorin für Deutsch als Zweit- und Fremdsprache an der Uni Wien, über Deutschgebote an Schulen und die Wechselwirkung von Gesellschaft und Universität unterhalten und erfahren, was in der Debatte um Ausgrenzung falsch läuft.

 

Im Rahmen des progress-Schwerpunktes zum Thema Mehrsprachigkeit hat sich Vanessa Gaigg mit İnci Dirim, Professorin für Deutsch als Zweit- und Fremdsprache an der Uni Wien, über Deutschgebote an Schulen und die Wechselwirkung von Gesellschaft und Universität unterhalten und erfahren, was in der Debatte um Ausgrenzung falsch läuft.

progress: Sie haben die erste Professur für Deutsch als Zweitsprache an der Uni Wien inne. Die Professur wurde erst 2010 eingeführt – wäre der Bedarf dafür nicht schon früher da gewesen?

İnci Dirim: Das ist die erste Professur für Deutsch als Zweitsprache bzw. für Deutsch in der Migrationsgesellschaft in ganz Österreich, nicht nur an der Uni Wien. Dass sie erst so spät eingeführt wurde, ist wahrscheinlich eine Frage von Politik und Selbstverständnis – ob man sich als Migrationsgesellschaft versteht oder nicht. Wahrscheinlich hat das auch mit der Distanz zwischen Uni und Gesellschaft zu tun, dass man also gesellschaftliche Entwicklungen und Herausforderungen nicht unbedingt als Aufgabe der Universität wahrgenommen hat.

Was ist der Unterschied zwischen Deutsch als Zweitsprache (DaZ) und Deutsch als Fremdsprache (DaF)?

Bei Deutsch als Fremdsprache geht es um den Deutschunterricht außerhalb von Österreich beziehungsweise außerhalb von amtlich deutschsprachigen Ländern. Das heißt zum Beispiel, wenn jemand in Südafrika in der Schule Deutsch oder wenn jemand in der Türkei zum Goethe-Insitut geht, um einen Deutschlurs zu besuchen, sind das Deutschlernaktivitäten in Umgebungen, in denen i.d.R. sonst nicht Deutsch gesprochen wird und man den Fremdsprachenunterricht Deutsch besucht. So wie wir hier zum Beispiel den Französischunterricht als Fremdsprachenunterricht haben – das ist dann eine Sprache, die man im Alltag und der Umgebung meistens nicht spricht. Deutsch als Zweitsprache wäre dann das Deutsch, das hier in Österreich benutzt wird. Wenn also Kinder, Jugendliche oder Erwachsene als MigrantInnen nach Österreich kommen und hier das Deutsche benutzen – bei ihnen geht man davon aus, dass sie Deutsch im Alltag, in der Bildungsinstitution und im Berufsleben brauchen. Es geht also um den Unterschied zwischen einer Fremdsprache und der Frage des Zurechtkommens mit der deutschen Sprache in der umgebenden Gesellschaft.

Was bringt die Differenzierung zwischen einer Erst- und Zweitsprache?

Da könnte man zunächst die Begriffe selbst kritisch beleuchten. Studierende in meinem Fachbereich haben das beispielsweise kritisiert und gesagt, Zweitsprache ist ein Begriff, der einen eigentlich auf einen bestimmten Status von Zugehörigkeit festlegt. Geht man zum Beispiel davon aus, dass jemand in Tschechien Deutsch als Fremdsprache gelernt hat und nach Österreich kommt, wird er in zum Zweitsprachler des Deutschen. Aber Sie werden mir zustimmen, dass man niemals vom Deutsch als Zweitsprachler zum Deutsch als Muttersprachler werden würde. Es wird also akzeptiert, dass man eine große Nähe zum Deutschen als Sprache hat, aber man wird nicht wirklich als Deutsch-Sprechender akzeptiert. Und da haben Studierende zu Recht gefragt: Warum ist das eigentlich so? Immerhin empfinde ich die Sprache genauso als meine Sprache und denke, lebe, träume in dieser Sprache. Und wenn ich jetzt einen bosnischen und keinen kärtnerischen Akzent habe, warum ist das ein Problem? Aus einer spracherwerbstheoretischen Perspektive aus lässt sich sagen, dass es Unterschiede im Erwerb des Deutschen als die Erstsprache (bis zum dritten Lebensjahr) und dem Erwerb des Deutschen als Zweitsprache gibt, je nachdem wann der Erwerb des Deutschen einsetzt.

Wohin kann diese Unterscheidung führen?

Die Frage ist, was als Unterschied angesehen wird, jenseits der spracherwerbstheoretischen Erkenntnisse? Wenn es die Herkunft der Eltern sein soll, nach der bestimmt wird, dass man Deutsch als Zweitsprache erwirbt, dann wäre das eine biologistische Interpretation und sehr problematisch – das kann bis hin zu Rassismus gelangen. Ich finde es problematisch, wenn eine Gruppe von Personen konstruiert wird, die nie wirklich akzeptiert werden wird. Aber zu sagen: Ach so, dann brauchen wir ja Deutsch als Zweitsprache gar nicht mehr, ist natürlich auch nicht richtig. An den Schulen gibt es viele Kinder, die nicht das Deutsch sprechen, das die Schule erwartet, die also im Unterricht sitzen und nicht genug verstehen. Diesen Kindern die Förderung zu enthalten wäre eine Katastrophe. Also solange die Schule monolingual deutschsprachig bleibt, muss die Deutschförderung, die gebraucht wird, auch angeboten werden, ohne jedoch Kinder und Jugendliche für immer auf einen Status von nicht-kompetenten SprecherInnen des Deutschen festzulegen.

Ist der derzeitige Umgang mit Mehrsprachigkeit im Schulsystem sinnvoll?

Die Monolingualität der Schule passt nicht zur Mehrsprachigkeit der Gesellschaft. Es ist schon so oft festgestellt worden, dass eine bilinguale oder mehrsprachige Erziehung für die Kinder besser wäre. Aber das hängt davon ab, wie diese Erziehung angeboten wird. Mir geht es darum, Benachteiligung zu reduzieren und Selbstartikulation im Sinne von Agency zu ermöglichen. Nach den gängigen Vorstellungen heißt Mehrsprachigkeit in der Schule leider oft, dass etwa zwei Kinder, die in der Klasse sitzen, gefragt werden: Kannst du das denn mal auf Serbisch sagen? Ihr sprecht ja so schön Serbisch alle! Und dann denkt man sich: Erledigt. So einfach ist das aber nicht. Allerdings gibt es bereits Projekte, die zum Ziel haben, den Einbezug von Mehrsprachigkeit in die Schule zu systematisieren und zu professionalisieren, z.B. das Projekt „MARILLE“.

Werden die LehrerInnen im Bereich Mehrsprachigkeit allein gelassen?

Es geht darum, dass die Kinder die Sprachen als Bildungssprachen lernen, sie benutzen können, und darum, die Benachteiligungen zu reduzieren, die durch die Monolingualität der Schule entsteht. Es wäre eine Qualifizierungsaufgabe für die Universitäten und die Pädagogischen Hochschulen die LehrerInnen so auszubilden, dass sie in den verschiedenen Sprachen auch Unterricht anbieten können. Im Moment sind wir davon meilenweit entfernt. Deshalb muss man unter diesen Umständen vornehmlich auf Deutsch als Zweitsprache-Förderung setzen, sie garantieren. Die Entwicklung von Methoden des Einbezugs von Mehrsprachigkeit würde dann mit gutem Gewissen dem folgen können.

Welche Rolle spielt Mehrsprachigkeit derzeit in der LehrInnenausbildung?

Eine viel zu geringe Rolle. Im Moment sind das nur die Deutsch-Studierenden an der Uni Wien, die verpflichtend ein Modul aus DaZ/DaF besuchen müssen, wobei es hier ja vornehmlich um Deutsch geht und nicht um andere Sprachen als Deutsch. Alle anderen Lehramtsstudierenden kommen aber auch mit DaZ gar nicht in Berührung. An den Universitäten und Pädagogischen Hochschulen ist DaZ generell nicht systematsich verankert. Aber es gibt viele DozentInnen, die mit großem Eigenengagement die Perspektive DaZ in ihre Lehre integrieren. Mehrsprachigkeit im Sinne von migrationsspezifischer Mehrsprachigkeit kommt dem gegenüber eher weniger vor und hängt auch vom Engagement von Einzelpersonen ab.

Bleiben wir bei der Schule: Sind Maßnahmen wie Deutsch vor Schuleintritt oder Deutschgebote in Pausenhöfen sinnvoll?

Sprache erfüllt mehrere Funktionen, auf der einen Seite spielt Sprache eine Rolle als Kommunikationsmittel, auf der anderen Seite ist Sprache auch ein Phänomen, mit dem Zugehörigkeiten markiert werden. Und diese Frage von Zugehörigkeit spielt auch eine große Rolle in der Gesellschaft. Es gibt verschiedene Argumente für Deutschgebote und Sprachenverbote. Es wird z.B. behauptet, dass andere gestört würden, wenn die Kinder andere Sprachen als Deutsch sprechen, weil sie nichts verstehen. Ich denke generell, dass die Pause für Erholung und Gespräche zur Verfügung steht. Dafür dass alle alle privaten Gespräche verstehen, besteht keine Notwendigkeit. Wenn ich selber an der Uni bin und Kaffee trinke, dann bin ich auch froh, wenn ich nicht alles verstehen muss, was um mich herum gesagt wird. Auch Lehrkräfte im Unterricht müssen nicht alles verstehen können, das wäre ohnehin auch mit dem alleinigen Gebrauch des Deutschen nicht möglich – man schreibt sich z.B. Zettel und flüstert sich zu. Zudem gibt es viele gute Möglichkeiten, die Mehrsprachigkeit für die Bildung von Schülerinnen und Schülern einzusetzen. Es kommt vielmehr darauf an, dass die Ausbildung verbessert wird und methodisch in den Sprachen gearbeitet wird, die von den Kindern und Jugendlichen gesprochen werden. Ein Verbot ist keine pädagogische Maßnahme.

Was sagen Sie zur Zurückstellung vom Schulbesuch, wenn Kinder nicht ausreichend Deutsch können?

Es ist durchaus möglich, dass ein Vorschuljahr mit guter Deutschförderung sprachliche Zuwächse im Deutschen mit sich bringt. Man kann jedoch Bildung nicht allein aus der Perspektive des Wissenszuwachses beurteilen. Bildung heißt nicht nur, dass man Wissen erwirbt, es heißt auch Subjektivierung. Die Einschulung spielt eine ganz große Rolle in unserem Leben, ist ein wichtiges Ereignis. Wenn man zu einem Kind sagt: Du kommst nicht in die erste Klasse, du musst jetzt erstmal Deutsch lernen, dann ist das ein möglicherweise ein Schock. Das Kind bekommt den Eindruck: Mit mir stimmt etwas nicht. Welches Kind versteht denn, was ausreichende Deutschkompetenz heißt? Abgesehen davon, lässt sich die Schulreife nicht an der Beherrschung der Sprache Deutsch festmachen. Kinder können in anderen Sprachen und Sprachenkombinationen schulreif sein. Es wäre also eine große Ungerechtigkeit, Kinder nicht vom der Einschulung zurückzuhalten, weil die Schule keine Angebote in den von ihnen gesprochenen Sprachen bereithält. Aus vielen Gründen also muss man vom Kindergarten an bis zur Matura ausreichend Lernangebote für die deutsche Bildungssprache schaffen. Ein Qualifizierungs- und Angebotsdefizit von Universität, Hochschule und Schule kann nicht auf dem Rücken der Kinder ausgetragen werden.

In der sogenannten Integrationsdebatte wird oft über Sprache gesprochen. Funktioniert Inklusion wirklich in erster Linie über Sprache?

Ich würde eigentlich beide Begriffe nicht verwenden wollen. Integration wird oft als Assimilation verstanden und richtet sich einseitig an MigrantInnen. Ich stehe auch nicht für den Begriff der Inklusion, weil er ein pathologisierendes Element enthält. Ich würde einfach sagen: Beteiligung an der Gesellschaft. Und die wird nicht nur durch Deutsch ermöglicht. Das Problem ist, dass die Mehrheitsgesellschaft dabei „fein aus dem Schneider ist“, Ausgrenzungsmechanismen und institutionelle Diskriminierung aber bestehen bleiben. Auch wenn jemand perfekt Deutsch kann, gibt es Ausgrenzungsprobleme, die wir bewältigen müssen. Ich würde nie sagen, die Menschen sollen kein Deutsch lernen, aber auch nicht: Die Menschen sollen Deutsch lernen, weil ich davon ausgehe – und das ist meine feste Arbeitshypothese – dass sowieso jeder, der nach Österreich kommt, Deutsch lernen möchte. Wer möchte denn schon auf der Straße stehen und einen Busfahrplan nicht verstehen? Oder wenn man angesprochen wird, nicht antworten können? Es soll Angebote geben, aber ich halte nichts von Zwang, der Menschen unterstellt, dass sie kein Deutsch sprechen möchten.

Warum reagieren so viele Leute negativ, wenn sie „Ich geh’ Billa“ hören?

Die Leute haben vielleicht ein Problem damit, dass Deutsch auf eine Weise gesprochen wird, durch die erkennbar wird, dass wir in einer Migrationsgesellschaft leben. Wenn Jugendliche sagen Ich geh Billa, dann wird möglicherweise interpretiert, dass die Jugendlichen nicht mehr richtig Deutsch sprechen können. Da kommt dann eine Vorstellung von sprachlicher Korrektheit ins Spiel und es wird gesagt: Das Deutsch geht kaputt,, die Sprachkompetenz in der Gesellschaft nimmt ab... Das ist ein Rattenschwanz an Argumenten. Aber Sprache verändert sich immer. Die Sprache wird ja von vielen Seiten beeinflusst, aber in diesen Argumentationen kommt dann die Hierarchie ins Spiel: Wird Deutsch vom Französischen beeinflusst, hat niemand damit ein ernsthaftes Problem. Aber mit einem Einfluss des Türkisch zum Beispiel schon, jedenfalls wäre das meine Hypothese. Das Problem ist nicht, dass die Sprache sich verändert, sondern dass manche MigrantInnengruppen als schlechter angesehen werden und ein Einfluss dieser Sprachen auf das Deutsche möglicherweise von Mitgliedern der Mehrheitsgesellschaft negativ beurteilt wird.

 

Vanessa Gaigg führte das Interview, sie studiert Philosophie an der Universität Wien.

 

Im Rahmen des progress-Schwerpunktes zum Thema Mehrsprachigkeit hat sich Vanessa Gaigg mit İnci Dirim, Professorin für Deutsch als Zweit- und Fremdsprache an der Uni Wien, über Deutschgebote an Schulen und die Wechselwirkung von Gesellschaft und Universität unterhalten und erfahren, was in der Debatte um Ausgrenzung falsch läuft.

progress: Sie haben die erste Professur für Deutsch als Zweitsprache an der Uni Wien inne. Die Professur wurde erst 2010 eingeführt – wäre der Bedarf dafür nicht schon früher da gewesen?

İnci Dirim: Das ist die erste Professur für Deutsch als Zweitsprache bzw. für Deutsch in der Migrationsgesellschaft in ganz Österreich, nicht nur an der Uni Wien. Dass sie erst so spät eingeführt wurde, ist wahrscheinlich eine Frage von Politik und Selbstverständnis – ob man sich als Migrationsgesellschaft versteht oder nicht. Wahrscheinlich hat das auch mit der Distanz zwischen Uni und Gesellschaft zu tun, dass man also gesellschaftliche Entwicklungen und Herausforderungen nicht unbedingt als Aufgabe der Universität wahrgenommen hat.

Was ist der Unterschied zwischen Deutsch als Zweitsprache (DaZ) und Deutsch als Fremdsprache (DaF)?

Bei Deutsch als Fremdsprache geht es um den Deutschunterricht außerhalb von Österreich beziehungsweise außerhalb von amtlich deutschsprachigen Ländern. Das heißt zum Beispiel, wenn jemand in Südafrika in der Schule Deutsch oder wenn jemand in der Türkei zum Goethe-Insitut geht, um einen Deutschlurs zu besuchen, sind das Deutschlernaktivitäten in Umgebungen, in denen i.d.R. sonst nicht Deutsch gesprochen wird und man den Fremdsprachenunterricht Deutsch besucht. So wie wir hier zum Beispiel den Französischunterricht als Fremdsprachenunterricht haben – das ist dann eine Sprache, die man im Alltag und der Umgebung meistens nicht spricht. Deutsch als Zweitsprache wäre dann das Deutsch, das hier in Österreich benutzt wird. Wenn also Kinder, Jugendliche oder Erwachsene als MigrantInnen nach Österreich kommen und hier das Deutsche benutzen – bei ihnen geht man davon aus, dass sie Deutsch im Alltag, in der Bildungsinstitution und im Berufsleben brauchen. Es geht also um den Unterschied zwischen einer Fremdsprache und der Frage des Zurechtkommens mit der deutschen Sprache in der umgebenden Gesellschaft.

Was bringt die Differenzierung zwischen einer Erst- und Zweitsprache?

Da könnte man zunächst die Begriffe selbst kritisch beleuchten. Studierende in meinem Fachbereich haben das beispielsweise kritisiert und gesagt, Zweitsprache ist ein Begriff, der einen eigentlich auf einen bestimmten Status von Zugehörigkeit festlegt. Geht man zum Beispiel davon aus, dass jemand in Tschechien Deutsch als Fremdsprache gelernt hat und nach Österreich kommt, wird er in zum Zweitsprachler des Deutschen. Aber Sie werden mir zustimmen, dass man niemals vom Deutsch als Zweitsprachler zum Deutsch als Muttersprachler werden würde. Es wird also akzeptiert, dass man eine große Nähe zum Deutschen als Sprache hat, aber man wird nicht wirklich als Deutsch-Sprechender akzeptiert. Und da haben Studierende zu Recht gefragt: Warum ist das eigentlich so? Immerhin empfinde ich die Sprache genauso als meine Sprache und denke, lebe, träume in dieser Sprache. Und wenn ich jetzt einen bosnischen und keinen kärtnerischen Akzent habe, warum ist das ein Problem? Aus einer spracherwerbstheoretischen Perspektive aus lässt sich sagen, dass es Unterschiede im Erwerb des Deutschen als die Erstsprache (bis zum dritten Lebensjahr) und dem Erwerb des Deutschen als Zweitsprache gibt, je nachdem wann der Erwerb des Deutschen einsetzt.

Wohin kann diese Unterscheidung führen?

Die Frage ist, was als Unterschied angesehen wird, jenseits der spracherwerbstheoretischen Erkenntnisse? Wenn es die Herkunft der Eltern sein soll, nach der bestimmt wird, dass man Deutsch als Zweitsprache erwirbt, dann wäre das eine biologistische Interpretation und sehr problematisch – das kann bis hin zu Rassismus gelangen. Ich finde es problematisch, wenn eine Gruppe von Personen konstruiert wird, die nie wirklich akzeptiert werden wird. Aber zu sagen: Ach so, dann brauchen wir ja Deutsch als Zweitsprache gar nicht mehr, ist natürlich auch nicht richtig. An den Schulen gibt es viele Kinder, die nicht das Deutsch sprechen, das die Schule erwartet, die also im Unterricht sitzen und nicht genug verstehen. Diesen Kindern die Förderung zu enthalten wäre eine Katastrophe. Also solange die Schule monolingual deutschsprachig bleibt, muss die Deutschförderung, die gebraucht wird, auch angeboten werden, ohne jedoch Kinder und Jugendliche für immer auf einen Status von nicht-kompetenten SprecherInnen des Deutschen festzulegen.

Ist der derzeitige Umgang mit Mehrsprachigkeit im Schulsystem sinnvoll?

Die Monolingualität der Schule passt nicht zur Mehrsprachigkeit der Gesellschaft. Es ist schon so oft festgestellt worden, dass eine bilinguale oder mehrsprachige Erziehung für die Kinder besser wäre. Aber das hängt davon ab, wie diese Erziehung angeboten wird. Mir geht es darum, Benachteiligung zu reduzieren und Selbstartikulation im Sinne von Agency zu ermöglichen. Nach den gängigen Vorstellungen heißt Mehrsprachigkeit in der Schule leider oft, dass etwa zwei Kinder, die in der Klasse sitzen, gefragt werden: Kannst du das denn mal auf Serbisch sagen? Ihr sprecht ja so schön Serbisch alle! Und dann denkt man sich: Erledigt. So einfach ist das aber nicht. Allerdings gibt es bereits Projekte, die zum Ziel haben, den Einbezug von Mehrsprachigkeit in die Schule zu systematisieren und zu professionalisieren, z.B. das Projekt „MARILLE“.

Werden die LehrerInnen im Bereich Mehrsprachigkeit allein gelassen?

Es geht darum, dass die Kinder die Sprachen als Bildungssprachen lernen, sie benutzen können, und darum, die Benachteiligungen zu reduzieren, die durch die Monolingualität der Schule entsteht. Es wäre eine Qualifizierungsaufgabe für die Universitäten und die Pädagogischen Hochschulen die LehrerInnen so auszubilden, dass sie in den verschiedenen Sprachen auch Unterricht anbieten können. Im Moment sind wir davon meilenweit entfernt. Deshalb muss man unter diesen Umständen vornehmlich auf Deutsch als Zweitsprache-Förderung setzen, sie garantieren. Die Entwicklung von Methoden des Einbezugs von Mehrsprachigkeit würde dann mit gutem Gewissen dem folgen können.

Welche Rolle spielt Mehrsprachigkeit derzeit in der LehrInnenausbildung?

Eine viel zu geringe Rolle. Im Moment sind das nur die Deutsch-Studierenden an der Uni Wien, die verpflichtend ein Modul aus DaZ/DaF besuchen müssen, wobei es hier ja vornehmlich um Deutsch geht und nicht um andere Sprachen als Deutsch. Alle anderen Lehramtsstudierenden kommen aber auch mit DaZ gar nicht in Berührung. An den Universitäten und Pädagogischen Hochschulen ist DaZ generell nicht systematsich verankert. Aber es gibt viele DozentInnen, die mit großem Eigenengagement die Perspektive DaZ in ihre Lehre integrieren. Mehrsprachigkeit im Sinne von migrationsspezifischer Mehrsprachigkeit kommt dem gegenüber eher weniger vor und hängt auch vom Engagement von Einzelpersonen ab.

Bleiben wir bei der Schule: Sind Maßnahmen wie Deutsch vor Schuleintritt oder Deutschgebote in Pausenhöfen sinnvoll?

Sprache erfüllt mehrere Funktionen, auf der einen Seite spielt Sprache eine Rolle als Kommunikationsmittel, auf der anderen Seite ist Sprache auch ein Phänomen, mit dem Zugehörigkeiten markiert werden. Und diese Frage von Zugehörigkeit spielt auch eine große Rolle in der Gesellschaft. Es gibt verschiedene Argumente für Deutschgebote und Sprachenverbote. Es wird z.B. behauptet, dass andere gestört würden, wenn die Kinder andere Sprachen als Deutsch sprechen, weil sie nichts verstehen. Ich denke generell, dass die Pause für Erholung und Gespräche zur Verfügung steht. Dafür dass alle alle privaten Gespräche verstehen, besteht keine Notwendigkeit. Wenn ich selber an der Uni bin und Kaffee trinke, dann bin ich auch froh, wenn ich nicht alles verstehen muss, was um mich herum gesagt wird. Auch Lehrkräfte im Unterricht müssen nicht alles verstehen können, das wäre ohnehin auch mit dem alleinigen Gebrauch des Deutschen nicht möglich – man schreibt sich z.B. Zettel und flüstert sich zu. Zudem gibt es viele gute Möglichkeiten, die Mehrsprachigkeit für die Bildung von Schülerinnen und Schülern einzusetzen. Es kommt vielmehr darauf an, dass die Ausbildung verbessert wird und methodisch in den Sprachen gearbeitet wird, die von den Kindern und Jugendlichen gesprochen werden. Ein Verbot ist keine pädagogische Maßnahme.

Was sagen Sie zur Zurückstellung vom Schulbesuch, wenn Kinder nicht ausreichend Deutsch können?

Es ist durchaus möglich, dass ein Vorschuljahr mit guter Deutschförderung sprachliche Zuwächse im Deutschen mit sich bringt. Man kann jedoch Bildung nicht allein aus der Perspektive des Wissenszuwachses beurteilen. Bildung heißt nicht nur, dass man Wissen erwirbt, es heißt auch Subjektivierung. Die Einschulung spielt eine ganz große Rolle in unserem Leben, ist ein wichtiges Ereignis. Wenn man zu einem Kind sagt: Du kommst nicht in die erste Klasse, du musst jetzt erstmal Deutsch lernen, dann ist das ein möglicherweise ein Schock. Das Kind bekommt den Eindruck: Mit mir stimmt etwas nicht. Welches Kind versteht denn, was ausreichende Deutschkompetenz heißt? Abgesehen davon, lässt sich die Schulreife nicht an der Beherrschung der Sprache Deutsch festmachen. Kinder können in anderen Sprachen und Sprachenkombinationen schulreif sein. Es wäre also eine große Ungerechtigkeit, Kinder nicht vom der Einschulung zurückzuhalten, weil die Schule keine Angebote in den von ihnen gesprochenen Sprachen bereithält. Aus vielen Gründen also muss man vom Kindergarten an bis zur Matura ausreichend Lernangebote für die deutsche Bildungssprache schaffen. Ein Qualifizierungs- und Angebotsdefizit von Universität, Hochschule und Schule kann nicht auf dem Rücken der Kinder ausgetragen werden.

In der sogenannten Integrationsdebatte wird oft über Sprache gesprochen. Funktioniert Inklusion wirklich in erster Linie über Sprache?

Ich würde eigentlich beide Begriffe nicht verwenden wollen. Integration wird oft als Assimilation verstanden und richtet sich einseitig an MigrantInnen. Ich stehe auch nicht für den Begriff der Inklusion, weil er ein pathologisierendes Element enthält. Ich würde einfach sagen: Beteiligung an der Gesellschaft. Und die wird nicht nur durch Deutsch ermöglicht. Das Problem ist, dass die Mehrheitsgesellschaft dabei „fein aus dem Schneider ist“, Ausgrenzungsmechanismen und institutionelle Diskriminierung aber bestehen bleiben. Auch wenn jemand perfekt Deutsch kann, gibt es Ausgrenzungsprobleme, die wir bewältigen müssen. Ich würde nie sagen, die Menschen sollen kein Deutsch lernen, aber auch nicht: Die Menschen sollen Deutsch lernen, weil ich davon ausgehe – und das ist meine feste Arbeitshypothese – dass sowieso jeder, der nach Österreich kommt, Deutsch lernen möchte. Wer möchte denn schon auf der Straße stehen und einen Busfahrplan nicht verstehen? Oder wenn man angesprochen wird, nicht antworten können? Es soll Angebote geben, aber ich halte nichts von Zwang, der Menschen unterstellt, dass sie kein Deutsch sprechen möchten.

Warum reagieren so viele Leute negativ, wenn sie „Ich geh’ Billa“ hören?

Die Leute haben vielleicht ein Problem damit, dass Deutsch auf eine Weise gesprochen wird, durch die erkennbar wird, dass wir in einer Migrationsgesellschaft leben. Wenn Jugendliche sagen Ich geh Billa, dann wird möglicherweise interpretiert, dass die Jugendlichen nicht mehr richtig Deutsch sprechen können. Da kommt dann eine Vorstellung von sprachlicher Korrektheit ins Spiel und es wird gesagt: Das Deutsch geht kaputt,, die Sprachkompetenz in der Gesellschaft nimmt ab... Das ist ein Rattenschwanz an Argumenten. Aber Sprache verändert sich immer. Die Sprache wird ja von vielen Seiten beeinflusst, aber in diesen Argumentationen kommt dann die Hierarchie ins Spiel: Wird Deutsch vom Französischen beeinflusst, hat niemand damit ein ernsthaftes Problem. Aber mit einem Einfluss des Türkisch zum Beispiel schon, jedenfalls wäre das meine Hypothese. Das Problem ist nicht, dass die Sprache sich verändert, sondern dass manche MigrantInnengruppen als schlechter angesehen werden und ein Einfluss dieser Sprachen auf das Deutsche möglicherweise von Mitgliedern der Mehrheitsgesellschaft negativ beurteilt wird.

 

Vanessa Gaigg führte das Interview, sie studiert Philosophie an der Universität Wien.

Wir sind bossy bitches

  • 09.12.2013, 20:09

14 Jahre hat es gedauert, bis Tegan and Sara es nach Wien geschafft haben: Vor ihrer spontanen Acoustic-Session in der Ottakringer Brauerei hat progress mit den beiden über ihr neues Album „Heartthrob“ und ihre Annäherung an die Popkultur gesprochen.

14 Jahre hat es gedauert, bis Tegan and Sara es nach Wien geschafft haben: Vor ihrer spontanen Acoustic-Session in der Ottakringer Brauerei hat progress mit den beiden über ihr neues Album „Heartthrob“ und ihre Annäherung an die Popkultur gesprochen.

progress: Wie läuft die Tour?

Tegan: Touren ist super! Wir haben eine wirklich gute Zeit. Es ist großartig, so viele neue Orte kennenzulernen. Wir waren so lange immer in denselben Ländern – nichts gegen Frankreich, Deutschland und Belgien, aber es ist schön, neue Orte zu sehen und das merkt man auch am Publikum: Es liegt eine gewisse Spannung in der Luft. Die Leute scheinen einfach glücklich zu sein, uns nach 14 Jahren endlich zu Gesicht zu kriegen. (lacht)

Draußen haben sich schon an die 200 Fans angestellt.
Sara: Ja, es ist eine super Erfahrung. Gestern hatten wir den ganzen Tag Zeit, um herumzuschlendern und alles aufzusaugen. Das ist wirklich ein großes Privileg, wenn man auf Tour ist.

Euer neues Album „Heartthrob“ ist sehr poplastig. Sara, du hast einmal gesagt, gute Popsongs müssen Herz und Seele in sich tragen und dass die Popkultur dich manchmal verrückt mache. Seid ihr euren eigenen Erwar- tungen gegenüber guter Popmusik gerecht geworden?

Tegan: Das klingt nach dir. Irgendwas Konträres und Negatives ...

Sara: (lacht) Ja, ich glaube, diese Erwartungen haben wir erfüllt. Es war ein echter Wendepunkt für mich, als ich das neue Alicia Keys-Album, auf dem „Try sleeping with a broken heart“ ist, gehört habe. Ich finde das Lied so authentisch und es transportiert ein Gefühl, das ich verstehe. Diese Idee, dass jemand buchstäblich in seiner eigenen Trauer badet, erschien mir so deprimierend. Ich glaube, das war der Moment, als Mainstream-Pop für mich erst wieder interessant wurde. Wir würden ein Pop-Album nicht auf eine andere Art und Weise machen. Wir versuchen in Bezug auf uns selbst und unser Leben immer ehrlich und offen zu sein. Mir würde die Verbindung zum Publikum fehlen, wenn wir etwas zu Überzogenes oder Zuckersüßes machen würden.  

Tegan: Wir haben in den letzten sechs Jahren mit über 15 KünstlerInnen zusammengearbeitet: aus den Genres Dance, Rock, Hip Hop und Comedy. Ich glaube, unsere Fans bleiben uns, solange Tiefe, Verletzlichkeit und Substanz in unserer Musik sind. Wir nehmen unsere alten Fans mit und es kommen neue hinzu. Bevor wir „Heartthrob“ gemacht haben, hatten wir keine Angst, unsere Fans, sondern uns als Band, zu verlieren. Wir hatten das Gefühl, in eine andere Richtung gehen zu müssen, und uns bewusst dazu entschieden, gewisse Dinge hinter uns zu lassen. Zum Beispiel das Gefühl, dass wir keine Popband sein können, nicht in den Mainstream finden und von der heteronormativen Popkultur nicht akzeptiert werden. Wir haben es einfach getan!

Kann es sein, dass ihr in „I’m not your hero“ dieses Thema behandelt? Etwas Neues auszuprobieren, auch wenn man Angst davor hat?

Sara: Mir ging es in dem Song vor allem um die queer-feministische Community, die mir sehr wichtig ist. Es geht um meine – oder unsere – Schwierigkeiten damit, unsere politischen Überzeugungen zu behalten, während wir gemerkt haben, dass unsere Ansichten nicht immer mit denen jener Leute übereinstimmen, die uns  eigentlich unterstützen sollten. Wir wurden sehr stark dafür kritisiert, mit welchen KünstlerInnen wir zusammenarbeiten und wie wir aussehen, da sich das scheinbar für manche nicht mit politischen Anliegen in Einklang bringen lässt. Das fühlt sich für mich reduzierend an. Wenn du politisch aktiv bist oder bestimmte Gruppen repräsentierst, werden Leute in der Sekunde auf dich wütend, in der du den vorgezeichneten Weg verlässt. Das kann sehr erdrückend sein, weil uns politische Inhalte immer noch sehr wichtig sind.

 

 

Tegan, in „Closer“ singst du darüber, jung und unbekümmert zu sein. Sind die Vergangenheit und Teenagerzeit wiederkehrende Themen in euren Songs?

Tegan: Auf jeden Fall. Ich staune jeden Tag darüber, wie sehr mein Verhalten jenem mit 18 oder 19 ähnelt, obwohl ich seitdem so viel erlebt habe. Auf dem Album ging es mir vor allem um Gefühle im Allgemeinen und darum, den Moment einzufangen, wenn man jemanden kennenlernt. Du wirst die Person vielleicht nie wieder treffen, aber ich mag das Hoffnungsvolle. Das geht vorbei, wenn man älter wird, dann heißt es: Ich werde nie jemanden kennenlernen, meine besten Jahre sind vorbei.

In der Vergangenheit habt ihr den Entstehungsprozess eurer Alben immer stark beeinflusst. Auf „Heartthrob“ habt ihr nun mit Pop-Größen wie Greg Kurstin zusammengearbeitet, der auch Alben für Pink und Katy Perry produziert hat. Konntet ihr den Produktionsprozess trotzdem steuern?

Sara: Eigenartigerweise war das eine der gemeinschaftlichsten Erfahrungen, die wir je im Studio hatten. Es gibt diese Vorstellung, dass einem die Kontrolle entzogen wird, sobald man auf einem Pop-Level mit gewissen Produzenten arbeitet. Ich kenne die überzeugtesten DIY-Indierock-Bands, die überhaupt nichts mit dem Produktionsprozess zu tun haben wollen, und gleichzeitig habe ich die allergrößten Popstars kennengelernt, die jedes kleine Detail mitbestimmen wollen. Bei uns ist es egal, mit wem wir zusammenarbeiten – ob das jetzt Chris Walla (Death Cab for Cutie, Anm. d. Red.) oder jemand wie Greg Kurstin ist. Wir haben die Kontrolle.

Tegan: Wir sind bossy bitches.
Sara: Sind wir das wirklich? Ich glaube, wir sind voller Energie und kreativer Ideen. Jedenfalls waren wir genauso involviert wie bei jeder anderen Platte.

 

Das Interview führten Vanessa Gaigg und Lisa Grabner.

Fotos: Johanna Rauch.

Zur Band: Die kanadische Band Tegan and Sara stieg spätestens mit ihrem vierten Album „So Jealous“ zur fixen Größe
in der Indierock-Welt auf. Die Band wurde vor allem durch ihre zahlreichen selbstproduzierten Kurzfilme auf YouTube und exzessives Touren in Amerika, Australien und Europa bekannt. Tegan and Sara arbeiteten unter anderem mit Against Me!, The Reason, David Guetta und DJ Tiesto zusammen. Mit „Heartthrob“, ihrem siebten Studioalbum, vollzogen sie eine Wendung zum Dance-Pop und veröffentlichten damit ihr bisher erfolgreichstes Album.

 

Die Kunststücke des Lebens

  • 18.12.2012, 18:55

Ruth Klüger über ihre Beziehung zu Österreich, Vertrauen und Eitelkeit.

Ruth Klüger über ihre Beziehung zu Österreich, Vertrauen und Eitelkeit.

Zur Linzer Premiere ihres Films kommt Ruth Klüger mit dem ICE von ihrem Zweitwohnsitz in Göttingen angereist, auf ihrem Kindle hat sie eine ganze Bibliothek gespeichert und kurz vor dem Treffen über die Situation der Frauen in Ägypten gelesen. Auf die Frage, ob sie das Interview autorisieren möchte, winkt sie ab: ,,Schicken Sie mir einfach das pdf – nicht die Printausgabe. Bücher sterben sowieso aus.’’ Dass progress-Redakteurin Vanessa Gaigg das nicht so sieht, findet sie konservativ.

progress: Am Anfang Ihres Filmes Das Weiterleben der Ruth Klüger steht das Zitat „Wiens Wunde, die ich bin, und meine Wunde, die Wien ist, sind unheilbar“ – wie fühlt sich das jetzt für Sie an, nach Österreich, nach Linz, zu kommen?

Klüger: Ich komm’ ganz gern her und rede mit Leuten wie Ihnen. Sie sind ja nicht mal mehr meine Kindergeneration, vielleicht meine Enkelgeneration. Linz kenne ich nicht so gut, abgesehen davon, dass es diese entsetzliche Euthanasieanstalt hier gab, die ich des Langen und Breiten besucht habe.

Sie meinen Hartheim?

Ja, dieses schöne Schloss, wo die ersten Gaskammern waren. Der Rest von Österreich ist mir überhaupt fremd, ich konnte den Dialekt auch nicht verstehen im Zug. Ich komm’ eigentlich aus Wien, ich komm nicht in dem Sinn aus Österreich.

Wie hat sich die Beziehung zu Wien verändert über die Jahre?

Das hat sich insofern verändert, als ich da jetzt Freunde habe. Das ist eine Gruppe von Frauen – es sind vor allem Frauen – die sich um die Zeitschrift AUF gebildet hat, die ja leider eingegangen ist. Aber wenn ich in Wien bin, gehe ich über gewisse Plätze und durch gewisse Straßen und man wird erinnert, dass man hier mit dem Judenstern herumgelaufen ist und ganz unsicher war, nicht  hergehört hat. Das geht nicht weg.

Im Film sieht man auch, wie Sie Ihre alte Wohnung besichtigen.

Ja, weil mein Sohn darauf bestanden hat. Aber wir konnten nicht rein, Gott sei Dank.

Der Kontrast, der Sie vor allem interessiert, ist der zwischen Opfer und Freiheit und nicht der zwischen Opfer und Täter. Wann haben Sie zum ersten Mal in Ihrem Leben das Gefühl erreicht, frei zu sein?

Zum ersten Mal in meinem Leben ... Das war, als wir weggelaufen sind, von diesem Todesmarsch nach Bergen-Belsen. Das war ein großes Gefühl von Freiheit. Man beherrscht dann eine Situation, nicht nur in der Wirklichkeit, sondern auch geistig – dass man sich über die Dinge erheben kann. So, dass man nicht gebunden ist an die Täter.

Ist es wichtig, sich nicht als Opfer fühlen zu müssen?

Naja, das Opfer wird bemitleidet und als minderwertig angesehen. Und das will man natürlich nicht sein. Aber wenn Opfer einfach bedeutet, dass einem was angetan wurde, dann kommt man nicht hinweg über diesen Begriff. Aber: Man ist noch was anders. Man ist vor allem was anderes. Ich sag ja: Ich stamm’ nicht aus Auschwitz, ich stamm’ aus Wien. Wien bedeutet mir etwas, aus Wien hab ich was gemacht. Wien ist ein Teil meiner Eigenständigkeit. Aber Auschwitz nicht. Das ist der Opferteil. Und den lehn ich ab, als mir nicht zugehörig.

Als Sie und Ihre Mutter nach Amerika emigriert sind, da gab es keine Anlaufstelle oder Möglichkeit, das Erlebte mit Hilfe zu  verarbeiten.

Ja, das war eine schwere Zeit. Ich hatte das weggeschoben, was in Europa passiert ist. Und wollte einfach nur weiter, neu anfangen. Es ist alles auf mich zugekommen, Erinnerungen, Schuldgefühle, außerdem hab ich mich mit meiner Mutter nicht gut verstanden.

Ihre Mutter hat ja bis zu ihrem Tod Angst gehabt, wenn sie amerikanische PolizistInnen sah, weil sie glaubte, dass sie sie deportieren.

Sie ist paranoid geblieben bis zum Tod, aber hat ganz gut damit gelebt. Das weiß man auch oft nicht, dass die Leute, die so halb verrückt sind, ganz gut auskommen mit ihrer Verrücktheit. Meine Mutter hat New York gehasst.

Sie haben bereits als Kind Gedichte auswendig gelernt ...

Und verfasst!

... wie kam der Zugang zur Literatur so früh, wurde der familiär gefördert?

Das hat dazugehört. Ich hab angefangen mit Kinderversen. Wissen Sie, in so einem mittelständischen jüdischen Haushalt waren die Bücher einfach da.

Können Sie sich noch an Kinderbücher erinnern, die Sie gelesen haben?

Ja klar, Biene Maja und Bambi und Hatschi Bratschi – wie hieß das nur?

Luftballon?

Ja siehst du wohl – da fliegt er schon! Das war ein Nazi, der das geschrieben hat. Das hab’ ich vor einigen Jahren herausgefunden, sehr zu meinem Betrübnis. Das war so ein lustiges Buch, der konnte das. Und dann hab ich immer klassische Gedichte oder  Antologien von klassischen Gedichten gelesen. Wörter zu lernen, die man nicht versteht, das hat mich überhaupt nicht gestört. So wie man ja auch Unsinnwörter als Kind ganz gern hat.

Warum glauben Sie, dass die Kindheit so eine große Bedeutung hat?

Naja, weil ich eine Freudianerin bin. Das hat Freud entdeckt, und vorher hat man es nicht so richtig gewusst. Das ist die Wurzel von allem, man kommt nicht darüber hinweg. Freud hat gedacht, bis zum Alter von sechs, aber das geht noch weiter. Ich glaub’, da hat er die Grenze zu eng gezogen. Man hat ja früher gedacht, alles was vorgeht, bevor man so ein richtiges Verständnis hat, ist  unwichtig.

Sie beschreiben Ihre unterschiedlichen Wohnorte zwar oft als vertraut, so auch ihren Zweitwohnsitz in Göttingen, aber trotzdem schreiben Sie in ,,unterwegs verloren’’, dass man sich nirgendwo ganz wohlfühlen sollte. Wieso?

Schreib ich das?

Ja, ich habe es so interpretiert, dass man nie allen Menschen völlig vertrauen sollte, egal, wie wohl man sich fühlt.

Einerseits muss man vertrauen, wenn man überhaupt nicht vertraut, dann ist man verrückt. Das war das Problem meiner Mutter, sie hat nicht genug Vertrauen gehabt. Ich will das nicht überkandidln, aber wenn man einem Menschen gegenüber steht, musst du ihm glauben, außer, du hast einen Grund dazu, es nicht zu tun. Alles andere ist abwegig. Das steckt auch dahinter, wenn Kant so absolut gegen die Lüge  ist. Das ist das Verbrechen schlechthin. Weil die Gesellschaft nur zusammenhält, wenn man einander vetraut. Und andererseits besteht eben die Notwendigkeit, Zweifel zu hegen und zu hinterfragen. Und das auszubalancieren ist eines der großen Kunststücke des Lebens.

Für jede Person?

Für jede Person! Aber wenn man zu einer Minderheit gehört, die verfolgt wurde, dann steckt natürlich ein Misstrauen in einem, zu Recht.

Sehen Sie Feminismus immer noch als Notwendigkeit an?

Ja sicher, das ist ganz klar. Die meisten Studierenden der Geisteswissenschaften sind Frauen und die Professoren sind Männer. Bei der Belletristik ist das haaresträubend: Die meisten Leser sind Leserinnen, die meisten Rezensenten – jedenfalls für wichtige Bücher –  und Herausgeber von Zeitschriften sind natürlich Männer. Aber das weltweite Problem ist weibliche Versklavung. Damit meine ich  diese Massen von Mädchen, Kindern, aber auch erwachsenen Frauen, die Sklavenarbeit verrichten müssen oder sexuell  missbraucht werden. Das ist ein Problem, das in diesem Ausmaß früher nicht bestanden hat. Das geht uns was an. Und ich meine  eben, dass jede Missachtung von Frauen, jeder sexistische Witz und jede Form von Missachtung schon die Wurzel und die Grundlage bildet für die massivere Ausbeutung von Frauen auf anderen Gebieten. Und darum ist es wichtig, dass man auch Sprache kontrolliert. Ich bin immer schon für political correctnes. Das bedeutet ja eigentlich nur, dass man die Leute nicht beleidigt.

In Österreich ist political correctness ganz verpönt.

Ja ich weiß, aber verpönt sein sollte die political incorrectness.

Sie haben im Film angesprochen, dass sie mit dem sozialistischen Bewusstsein aufgewachsen sind, dass Schönheit bei einer Frau keine große Rolle spielen sollte. Welche Rolle spielt das jetzt mit 81?

(lacht) Dass ich meinen Lippenstift nicht finden kann und ihn auch nie verwende. Ja, mit 81 spielt das natürlich keine Rolle mehr. Warum sollte man sich schön machen wollen mit 81?

Warum vorher?

Auch nicht besonders. Das hat bei mir nie so eine Rolle gespielt, so dass ich meistens als verschlampt galt. Oder unrichtig angezogen. Ich frag’ lieber meine Freundinnen, was man sich anziehen soll. Das hat sicher auch was mit diesem frühen sozialistischen Bewusstsein zu tun, dass von den Menschen ausging, die ich auch im Lager, besonders in Theresienstadt, gekannt hab. Das waren Sozialisten und Zionisten. Dieses Jagen nach Schönheitsidealen ist etwas Bürgerliches, das abgeschafft werden soll,weil es sich nicht lohnt.

Das heißt, Sie haben ein sozialistisches Umfeld gehabt?

Ja, wenn Sie so wollen, hab ich dort irgendwie eine Grundlage für ein politisches Denken aufgegabelt, die weitergewirkt hat. Aber das war schwer zu sagen, weil wir sind nach Amerika gekommen und der Umkreis dort war liberal-demokratisch und jüdische Emigranten waren doch alle Roosevelt-Bewunderer.

Was stört Sie eigentlich an ,,Nie wieder Krieg, nie wieder Faschismus“?

Weil’s wieder geschehen ist. Man sagt „Nie wieder“ und dann schauen Sie sich mal all die Massaker an, die inzwischen passiert sind. Es ist absurd zu sagen, es soll nicht wieder passieren. Und das andere ist, dass das Gedenken abschrecken soll von  Wiederholungen. Aber das kann auch das Gegenteil sein, nämlich dass die Erinnerung an das, was geschen ist, auch die Neonazis inspiriert. Die sagen: Diese SS-Leute waren doch fesch! Sie schauen mich entsetzt an, das ist aber schon passiert. Der Leiter der Buchenwald-Gedenkstätte hat mir mal gesagt, dass die Neonazis nach Buchenwald gekommen sind, um ihre Versammlungen dort zu haben. Und man konnte sie nicht rausschmeißen, denn man kann ja nicht die Öffentlichkeit aussperren. Das war zumindest kurze Zeit lang ein Problem.

Das heißt, man muss der Gedenkkultur kritisch gegenüberstehen?

Mir geht das Getue an den Gedenkstätten ein bisschen auf die Nerven. Ich sehe die Heroisierung der Opfer, der Helden und Märtyrer irgendwie als falsch und verlogen an. Ich habe schon Leute empört, wenn ich sowas gesagt habe. Ein KZ war ein Saustall, eine Jauche. Das ist weder heroisch noch märtyrer-artig. Und das will man nicht hören, aber so ist meine Erinnerung.

Sie finden ja auch die Glorifizierung des Widerstands oft verlogen.

Über den Widerstand ist einiges zu sagen. Dort, wo Widerständler die Oberhand hatten, zum Beispiel in Buchenwald, hatten sie oft Gelegenheit, die Listen zu verändern, die in Vernichtungslager geschickt wurden. Und da haben sie natürlich ihre eigenen Leute geschützt und lieber Juden geschickt. Außerdem ist es ihnen überall besser gegangen, außer natürlich, wenn sie erschossen oder zu Tode gequält wurden. Aber wenn man sich Filme ansieht von der Befreiung von gewissen Konzentrationslagern, einschließlich Buchenwald, natürlich waren da alle Häftlinge verhungert, aber die Juden waren wirklich am Rande des Todes. Das andere, das ideelle daran ist, dass die Veherrlichung des Widerstands dazu führt, dass das Ausmaß des Widerstands übertrieben wird.

Es ist also auch gefährlich, wenn man sich dann im Nachhinein Schuld abladen kann, indem man daran glaubt, dass es genug oder viel Widerstand gab.

Ja. Dachau war das erste Lager, das erste KZ in Deutschland, und da war eine ganze Reihe von Politischen, aber später auch eine ganze Menge Juden. Und die werden irgendwie beiseite geschoben. Bei einem Treffen des Vorstands (Anm.: der Gedenkstätte Dachau) wurde darüber gesprochen, dass man sich hüten muss vor der ,,Auschwitzisierung’’ von Dachau. Also bitte dieses Wort ,,Auschwitzisierung’’, das heißt, dass Dachau als jüdisches Lager betrachtet wird. Was sind das für Konflikte, die da aufkommen?
Von wegen: Wer waren die ärgeren Opfer oder die bewundernswerteren Opfer? Das Ganze ist ja eine Frage, wie sowas zustande kommen kann und konnte, und was das über uns als Menschen aussagt, dass es geschehen ist.

Wie fühlt sich das an, wenn Zivildiener für die Instandhaltung der ehemaligen KZs verantwortlichsind?

Ich hab jetzt nichts mehr mit ihnen zu tun. Früher hab ich mit verschiedenen gesprochen, die das wahnsinnig ernst genommen haben. Aber ich konnte es nicht recht ernst nehmen. Aber ich respektiere das, dass sich so viele junge Leute damit auseinandersetzen wollen. Wenn sie es ernst meinen und darüber nachdenken wollen, wird vielleicht doch eine bessere Welt entstehen.

Viele Leute unserer Generation haben Angst davor, dass es in absehbarer Zeit keine Möglichkeit mehr gibt, mit ZeitzeugInnen zu reden.

Ja ich weiß, das wird fortwährend gesagt. Darum bin ich auf einmal so beliebt geworden, weil niemand weiß – ich bin 81 –, ob ich noch 82 sein werde. Das ist mit uns allen so. Aber ist es wirklich derartig wichtig? Die Vergangenheit wird in das Bewusstsein der nächsten Generation eingearbeitet, und was diese Generation damit macht, ist nicht vorauszusagen. Die Überlebenden der KZs haben weiß Gott genug gesagt und geschrieben. Nicht gleich – nicht in den ersten Jahren, aber danach. Und wenn es darauf ankommt, das Zeugnis derjenigen, die es mitgemacht haben, zu bewahren: Das haben sie. Aber es ist ein Problem, über das man natürlich nicht aufhören sollte, sich den Kopf zu zerbrechen.
Das, was mich nach wie vor immer umtreibt, ist, warum gerade in Deutschland und Österreich? Das waren doch Länder, die ganz hoch gebildet waren. Als hätte man nichts gelernt in der Kindheit. Das war nicht Unwissenheit. Das ist übrigens eines der Dinge, die mich stören an diesem beliebten Roman Der Vorleser von Bernhard Schlink. Da ist das Problem, dass die Verkörperung des Nazismus durch eine Analphabetin erfolgt. Und Analphabetismus hat es praktisch nicht gegeben in Deutschland. Das heißt, die Implikation ist irgendwie, dass Unwissenheit ein Grund war. Aber das war nicht der Fall. Warum ist Antisemitismus in dieser Mordsucht ausgeartet, gerade in Deutschland? Wenn Sie das herausfinden können, philosophisch oder historisch, das wär’ was.

Es gibt ja HistorikerInnen, die behaupten, die Shoah hätte in jedem Land stattfinden können.

Ja, aber sie hat nicht. Das ist der Punkt. Sie hätte können in dem Sinne, dass es überall Antisemitismus gab und zwar oft virulenten, schäumenden Antisemitismus, aber Tatsache ist, dass er nicht ausgeartet ist in Massenmord.

In Israel gibt es viele junge Menschen, die sich die KZ-Nummern von ihren Großeltern eintätowieren lassen.

Ich hab das gehört, das ist irre. Das ist eine Mode, die ich ablehne.

Die Anschrift der Universität Wien hat ja bis vor kurzem noch Karl Lueger im Namen getragen.

Ich habe mich vor langer Zeit aufgeregt über diese fortwährende Bewunderung für den Lueger. Er hat ja noch immer dieses blöde Denkmal am Karl Lueger Platz, nicht? Zumindest eines weniger!

Im Film gibt es eine Szene, wo Sie mit einem langjährigen Freund, Herbert Lehnert, diskutieren. Der war Wehrmachts-Soldat.

Ja, und ein Nazi, sagt er selber. Wie kann man da befreundet sein? Er ist es ja schon längst nicht mehr. Der ist durch die amerikanische Re-education völlig bekehrt und kein Faschist. Das ist ein guter Demokrat, aber es steckt eben noch immer  irgendwas in ihm – das diese Vergangenheit nicht vertuschen will – aber ein bisschen leichter machen will. Und darüber sprachen wir eben in der Filmszene, wie wir herumgelaufen sind am Strand. Um diese Stelle noch einmal zu rekapitulieren: Er sagt: ,,Die Nazizeit war nur eine Epoche von zwölf Jahren in einer Geschichte, die 1200 Jahre alt ist.“ Meine Antwort darauf wäre: Wenn ein 40Jähriger vor Gericht steht und sagt: Ich habe nur einen Nachmittag gebraucht, um meine Familie und die Nachbarn umzubringen, und der Rest meiner vierzig Jahre war ich unschuldig, so ist das eigentlich kein Alibi. Das hängt von der Tat ab und nicht von der Länge. Die Nazizeit ist ein gewaltiger Einschnitt in die deutsche Geschichte und es ist nicht eine Frage, wieviele Jahre sie angedauert hat. Wir haben verschiedene Perspektiven. Aber: Haben Sie nicht schon genug? Ich glaub’ ich bestell jetzt diese Grünkernknödel mit rotem Rübengemüse.

Das war wirklich meine letzte Frage. Vielen Dank für das Gespräch.

Das Interview führte Vanessa Gaigg.

Wer zufrieden ist, ist tot

  • 17.12.2012, 12:55

Regisseur Richard Wilhelmer und Hauptdarsteller Robert Stadlober erklären, warum ihr Film „Adams Ende“ ein guter Anfang ist.

Regisseur Richard Wilhelmer und Hauptdarsteller Robert Stadlober erklären, warum ihr Film „Adams Ende“ ein guter Anfang ist.

Robert Stadlober ist die große Bühne gewöhnt: Berlinale, Burgtheater und Auftritte mit seiner Band Gary. Aber nicht die Bühne macht den Star – sogar in der alten Sparkasse in Wels steht er im Rampenlicht. An der Seite seines Freundes und Regisseurs Richard Wilhelmer plaudert und scherzt er in einem kleinen Vorführsaal am International Youth Media Festival (YOUKI) vor jungem Welser Publikum über Wilhelmers Debutfilm „Adams Ende“. Den beiden macht das sichtlich Spaß.

progress: Viele junge Leute hier am Festival kennen die Probleme, die Adam und die anderen Protagonisten in eurem Film erleben: Ein Job, der einen nicht ausfüllt und eine Beziehung, die ein wenig eingeschlafen ist. Spiegelt der Film eigene Erlebnisse wider, Richard?

Wilhelmer: Der Grund, aus dem ich mich in meinem ersten Spielfilm gerade dieses Themas angenommen habe, war, dass die Recherche im Grunde genommen schon gemacht war. Es ist kein autobiographischer Film, aber er beinhaltet natürlich autobiographische Versatzstücke, an denen ich mich orientiert habe. Das ist ja das Schöne: Guerillaartig wohin zu gehen und etwas zu drehen, was man dort ähnlich im wirklichen Leben erlebt hat. Der Lebenssituation der Protagonisten bin ich aber durchaus schon entwachsen…

progress: Sind das nicht ziemliche Luxusprobleme, die im Film beschrieben werden?

Wilhelmer: Klar. Der Film spielt in Berlin. Die Stadt ist irgendwie symbolisch für diese Schwierigkeiten: Man kann sich hier entweder zu Tode feiern und an der Vielzahl seiner Möglichkeiten scheitern oder etwas draus machen. Adams Ende beschreibt die zweite Variante, wo der Protagonist nicht fähig ist, Entscheidungen zu treffen und zufrieden zu sein, mit dem was er hat. Am Ende zerstört er alles – gewollt oder ungewollt.

progress: Seid ihr denn zufrieden?

Stadlober: (lacht) Wenn man zufrieden ist mit dem, was man hat, dann hat man seinen Sarg…

Wilhelmer: (lacht auch) Dann ist man Jesus!

Stadlober: Im Ernst: Zufriedenheit hat zumindest für mich etwas mit Tod zu tun. Wer zufrieden ist, ist angekommen – in irgendeinem Loch. Nie zufrieden sein ist glaube ich eine sehr gute Lebenshaltung. Aber sagen wir mal so: Die relativ irrationalen Verwirrungen der Adoleszenz haben ein wenig nachgelassen, und es sind zumindest bestimmte Entscheidungen nicht mehr so schwierig, weil man sie schon öfter falsch getroffen hat.

progress: Macht das Alter weiser?

Stadlober: Ja wahnsinnig, es macht unglaublich weise – ich mit meinen 30 Jahren. Vorher dachte ich immer, ich muss alles ausprobieren. Jetzt bin ich 30 und sogar die Leute am Amt sprechen mich mit „Sie“ an.

Wilhelmer: Ich bin noch nicht mal 30. Zu mir kann man noch „Du“ sagen!

progress: Adams Ende streift einige Genres: Zuerst ist es ein klassisches Beziehungsdrama, dann artet es in einen Psychothriller aus. Ist das massentauglich?

Wilhelmer: Einige Sponsoren hätten sicher von Beginn an gesagt, dass das komplett wahnsinnig ist. Wir hatten halt keine.

Stadlober: Ich glaube, es ist im deutschsprachigen Film nicht gerade Usus, so etwas zu machen: In der Regel muss alles sehr nachvollziehbar sein, was bei Adams Ende nicht immer der Fall ist. Bei einer Publikumsdiskussion hat uns mal jemand drauf festgenagelt, ob sich der Protagonist das Ende nur eingebildet hat oder ob das so wirklich so passiert ist. Da kann man echt nur antworten: „Denken Sie sich´s doch selbst aus!“

progress: In „Adams Ende“ gibt es einige Stellen, in denen mitschwingt, dass Homosexualität immer noch ein Tabuthema ist.

Wilhelmer: Im Film bleibt das eher unausgesprochen. Der Protagonist Adam fühlt sich zu seinem Freund Conrad vielleicht ein wenig hingezogen, hat aber starke Berührungsängste. Und das ist tatsächlich etwas, was oft Homophobie beschreibt – auch in vielen anderen Filmen.

Stadlober: Homophobie gibt es immer noch sehr stark. Gerade in der linksliberalen Szene, in der ich mich auch bewege, finde ich es erschreckend, wie sehr Männer Angst vor Nähe zu anderen Männern haben. Und auch wie sehr Homophobie als komische Form von Humor benutzt wird. Das Schimpfwort „Schwuchtel“ oder „Homo“ ist heute glaube ich noch salonfähiger als vor 15 Jahren. Ich weiß nicht, wie oft ich in Berlin von irgendwelchen Leuten im Hipster-Outfit als Schwuchtel beschimpft werde.

progress: Wenn das im offenen Berlin so ist, wie ist es dann im konservativeren Wien?

Stadlober: Man merkt das in Österreich auf jeden Fall schlimmer als in Deutschland. Die Schwulenszene in Wien ist so versteckt. In Berlin ist alles viel offener. Ich habe in Wien auch Bekannte, die dezidiert homophob sind, obwohl sie wissen, dass es falsch ist. Aber das ist vielleicht irgendein katholischer Schwachsinn, die Angst vor dem eigenen Glied.

progress: Ihr seid auch beide hauptsächlich in Berlin tätig. Gefällt es euch in Wien nicht?

Wilhelmer: Naja, Berlin ist ein guter Nährboden für kreative Projekte, weil es – zumindest früher – sehr billig war. Deshalb sind sehr viele Leute zugereist: Weil sie sich die Mieten leisten konnten, weil sie sich das Essen leisten konnten. Es war ein Sammelort für Leute, die willig waren, allen möglichen Blödsinn mitzumachen. Von diesem Ruf lebt die Stadt noch immer. Und aus allem möglichen Blödsinn entstehen irgendwann ernsthafte Projekte.

Stadlober: Als junger Mensch aus der österreichischen Provinz gibt es nur zwei Möglichkeiten: Eine ist die sehr mutige und wahrscheinlich auch die richtigere: Nämlich das Land zu verlassen. Die andere, halbseidene ist, dass man nach Wien geht. Das kann auch super sein, nur dass man meistens in den gleichen Strukturen hängen bleibt wie zu Hause. Da sitzt man dann halt zwischen Autos und Straßenbahnen, statt zwischen Feldern und Ställen.

progress: Wie habt ihr beide euch eigentlich kennengelernt?

Stadlober: Über Alec Empire [Anm.Red.: von der Band Atari Teenage Riot], einen gemeinsamen Freund von uns. Er hat ein Treffen organisiert und da haben wir festgestellt, dass wir beide aus der Obersteiermark kommen. Auch dass ich drei Jahre in Wien über Richards Freundin gewohnt habe. Und dass er in Berlin eine Wohnung gehabt hat, die Wand an Wand mit meiner alten Wohnung dort lag. Getroffen haben wir uns nie.

Wilhelmer: Wir sind fast unser ganzes Leben aneinander vorbeigelaufen. In einer sehr rotweinlastigen Nacht haben wir dann Pläne geschmiedet für mögliche zukünftige Projekte.

progress: Der Film ist also im Rausch entstanden?

Wilhelmer: Nein „Adams Ende“ ist nicht im Rausch entstanden. Da kannten wir uns schon.

Stadlober: Die Freundschaft ist im Rausch entstanden, aber hat sich nüchtern bewährt.
Vor drei Jahren haben wir den Kurzfilm „The Golden Foretaste of Heaven“ gemacht. Vor dem Screening bei der Diagonale sind wir in einem Beisl gesessen und Richard hat gesagt, er würde gerne einen Langspielfilm drehen. Dann hat er in sehr kurzer Zeit ein Drehbuch geschrieben und wir haben das ganze relativ schnell auf die Beine gestellt.

Progress: Auch finanziell? Wie sah das Budget aus?

Stadlober: Grandios…

Wilhelmer: Ich wollte sehr bewusst keine Fördermittel für den Film, um Narrenfreiheit zu genießen. Dadurch hatten wir halt auch kein Geld: Robert und ich haben unser Taschengeld zusammengelegt; jeder hat 1000 Euro zum Budget gegeben. Eine kleine Förderung von 3000 Euro haben wir dann doch noch bekommen und verbraten. Das heißt wir hatten ein Gesamtbudget von 5000 Euro. Dadurch waren wir auf den „Goodwill“ der Beteiligten angewiesen: Leute, die uns Kameras geben, die ohne Bezahlung mitarbeiten. Das soll aber durchaus kein Konzept für die Zukunft sein, weil diese Art von Selbstausbeutung auf lange Sicht nicht produktiv ist.

Stadlober: In Deutschland ist es so, dass du große Förderungen bekommst, sobald du einen Fernsehsender mit im Boot hast. Hast du einen Sender im Boot, dann hast du definitiv jemanden, der dir in alles reinreden darf. Ohne Fördermittel kann man also viel freier arbeiten.

Zwischen Homosexualität und Migration

  • 19.11.2012, 13:52

Ewa Dziedzic ist Mitgründerin des Vereins zur Integration und Förderung von homosexuellen Migrant_innen (MiGaY). PROGRESS erzählt sie von der Arbeit des Vereins und über die Unsichtbarkeit migrantischer Homosexualität.
Die Fragen stellte Oona Kroisleitner.

Ewa Dziedzic ist Mitgründerin des Vereins zur Integration und Förderung von homosexuellen Migrant_innen (MiGaY). progress erzählt sie von der Arbeit des Vereins und über die Unsichtbarkeit migrantischer Homosexualität. Die Fragen stellte Oona Kroisleitner.

progress: MiGaY wurde 2009 gegründet. Was waren damals eure Motive?

Ewa Dziedzic: Ich habe bereits 2004 mit einem Freund aus Istanbul einen Verein für lesbische, schwule und Transgender-Migrant_innen mit dem Namen Vienna Mix gegründet. Bis dahin gab es zwar LGBT- und Migrant_innenvereine, aber keine Anlaufstelle für Menschen, die in diese Schnittstelle zwischen Sexualität und Migrationshintergrund fallen. Wir wollten sichtbar machen, dass Migrant_innen, wenn sie homosexuell oder Transgender sind, oft mit anderen Diskriminierungserfahrungen zu kämpfen haben.

progress: Mit welchen Problemen wurdet ihr konfrontiert?

Dziedzic: Bei einigen Migrant_innenvereinen wurde uns gesagt: „Das gibt es bei uns nicht, wir haben keine Homos“. Bei den LGBT-Vereinen fand man, dass der Migrationshintergrund egal sei, sie wären für alle Lesben, Schwule und Trans-Personen da. Insofern war die Situation schwierig. Und aus Vienna Mix wurde schnell eine Art Beratungsstelle. Aber eine Beratungsstelle auf ehrenamtlicher Basis ohne Subventionen zu führen war nicht einfach und wir haben Vienna Mix dann 2006 aufgelöst. Es haben sich aber weiterhin Menschen gemeldet, die Hilfe oder nur Austausch suchten. Wir wussten also, dass es in Österreich einen Verein zu dieser Thematik braucht. 2008 rief mich dann Yavuz an und präsentierte mir die Idee, eine Zeitschrift herauszubringen.

progress: Was sind die Probleme, mit denen Leute zu euch kommen?

Dziedzic: Allgemein ist die Unsichtbarkeit dieser Schnittstelle ein großes Problem. Wir betreuen auch immer wieder Asylfälle, denn Homosexualität gilt nicht explizit als Asylgrund. In vielen Ländern ist die Situation für homosexuelle Frauen und Männer sowie Transgender Personen unerträglich, aber sie haben oft keinerlei Basis, einen Asylantrag zu stellen. Dann kommt dazu, dass viele Angst davor haben, ihre Orientierung anzugeben, weil sie wissen, dass die Gefahr, dass es im „Heimatland“ jemand erfährt sehr groß ist. Aber auch innerhalb der Communities in Österreich ist die Situation oft nicht einfach.

prgress: Macht die Kategorie Geschlecht auch einen Unterschied aus?

Dziedzic: Fakt ist, dass wir auch in Europa nach wie vor patriarchale Strukturen haben, Lesben leben irgendwo am Rande. Sehr viele Frauen die zu Vienna Mix oder MiGaY kamen, sahen aufgrund ihrer ökonomischen Lage oder der Migrationsgeschichte kaum eine Möglichkeit als Frau alleine oder mit einer anderen Frau gemeinsam zu leben. Denn sie kommen schnell in eine Argumentationsnot gegenüber ihren Familien. Außerdem haben viele einen starken Bezug zu ihren Herkunfts-Communities hier in Österreich, wo sie das auch permanent argumentieren müssen. Nach dem Motto: eine Frau über 30, die nicht verheiratet ist und keine Kinder hat, ist keine richtige Frau.

progress: Und männliche Homosexualität ist sichtbarer?

Dziedzic: Ja, aber schwule Männer werden dafür oft als die größere „Bedrohung“ angesehen. Wenn man ein „aktiver“ schwuler Mann ist,  bleibt er vielleicht immer noch der Mann und behauptet seine Maskulinität. Wenn er hingegen „passiv“ ist, gilt er schnell als verweiblicht; allein daran sieht man, wie stark verankert die Vorstellung von Geschlechtergrenzen ist. Bei Transgender-Personen kommt durch die Geschlechtsüberschreitung eine Grenzüberschreitung dazu, die dann nochmal andere Probleme aufwirft. Allein das Aufbrechen einer angeblichen Dichotomie zwischen Mann und Frau, wird als Bedrohung wahrgenommen. Und Tatsache ist, dass Menschen nach wie vor aufgrund ihrer Geschlechteridentität eingesperrt werden.

progress: Hat sich seit ihr Vienna Mix gegründet habt die Wahrnehmung der Probleme geändert?

Dziedzic: In den „migrantischen“ Vereinen war es von Anfang an schwieriger. Wir haben hier z.B. die Erfahrung gemacht, dass wir unsere Zeitung bei ihnen vorbeigebracht haben und kaum haben wir uns umgedreht, wurde sie schon in den Mistkübel entsorgt. Die Verneinung von Sexualität ist immer aktuell und ich habe viele verheiratete Migrant_innen kennen gelernt, die meinten, dass sie sich nie trauen würden, zu einem etablierten „migrantischen“ Verein zu gehen und dort über ihre Sexualität zu reden. Und was die  LGBT-Vereine anbelangt:  so groß die Skepsis Vienna Mix und MiGaY gegenüber anfangs war, sind sie heute froh, dass es uns gibt. Also einen Verein, der genau diese Schnittstelle anspricht. Es gibt also viel Unterstützung, aber es existieren auch noch immer Lokale, die schwule Männer, die „migrantisch“ aussehen, nicht reinlassen. Junge Männer zwischen 17 und 30 stehen oft unter Generalverdacht, dass sie Stricher seien.

progress: Wie lässt sich die Situation homosexueller Migrant_innen in Stadt und Land vergleichen?

Dziedzic: Ich glaube, es ist schon als Migrant_in in Wien leichter, als in einem kleinen Kaff in Niederösterreich. Als meine Familie 1992 in so ein „Kaff“ gezogen ist – zuvor wohnten wir nach Umzug aus Polen zwei Jahre in Wien – waren wir die erste migrantische Familie dort. Als ich mich mit 16 geoutet habe, habe ich das vor meiner Familie und ein paar guten Freund_innen getan. Aber es war für mich damals noch unvorstellbar, sich öffentlich zu outen. Vielleicht war es die Angst zu hören: „Jetzt ist sie eh schon eine Ausländerin und dann auch noch eine Lesbe“.  Sehr viele Leute kommen nach Wien, weil sie hier mehr Freiräume wittern, weil es urbaner ist und eine Großstadt mehr Anonymität bietet. Und die Wahrscheinlichkeit bei zwei Millionen Menschen mehr Gleichgesinnte zu finden, ist größer als in einem Steiermärkischen Dorf.

progress: Ist es in migrantischen Communities und Familien schwerer, sich zu outen?                 

Dziedzic: Man muss aufpassen, dass man nicht alles auf den Migrationshintergrund schiebt. Es herrscht leider ein sehr homogenes Bild von Migrant_innen vor. Oft macht es einen Unterschied, ob es sich um die zweite oder dritte Generation der so genannten Gastarbeiter_innenfamilien, die aus sehr traditionellen Strukturen kommen, handelt, oder um Migrant_innen, die in Istanbul gelebt haben oder am Sankt Georg Kolleg waren. Und dann gibt es  noch das Phänomen, dass das durch die Migration hervorgerufene Gefühl der „Entwurzelung“ für einige ein Grund mehr ist, umso verstärkter auf bestimmte Traditionen und Werte des Herkunftslandes zu beharren.

                                                                                                                                                                                                                                                       

progress: Wie zeigt sich das?    

Dziedzic: Ein Beispiel: Als ich meiner Mutter gesagt habe, dass ich mich in eine Frau verliebt habe, war sie vor allem froh, dass ich nicht schwanger bin. Sie meinte dann, dass es nicht so schlimm ist, aber in Polen durfte das niemand erfahren. Jahre später war meine Mutter völlig überrascht, weil das Thema Homosexualität auch im polnischen Fernsehen besprochen wurde. Sie hat bis `89 nichts davon gehört. Die Frage „Ist es einfacher, sich in Kärnten zu outen oder doch in Wien leichter als in Krakau“ ist nicht pauschal zu beantworten. Das hängt manchmal davon ab, ob deine Familie seit Jahren den katholischen Familienverband unterstützt und du in Wien lebst oder du in Kärnten aus einer Familie kommst die sagt: „Naja, kann man nix machen“.

progress: Was muss sich in Zukunft ändern? Welche Forderungen habt ihr?

Dziedzic: In unterschiedlichen Bereichen so einiges. Zum Beispiel muss garantiert sein, dass es ein selbstständiges Aufenthaltsrecht für Migrantinnen gibt. Es kann nicht sein, dass Frauen wegen des Aufenthaltsrechts ihres Mannes an ihn gebunden sind.
Klar wirkt sich auch jede Verschärfung im Fremdenrecht auf Migrant_innen, egal welcher sexuellen Orientierung, aus. Auf der anderen Seite sind es die LGBT-Rechte. Seit 2010 gibt es die eingetragene Partner_innenschaft in Österreich, es existieren aber noch immer über 50 Ungleichbehandlungen gegenüber der Ehe. Angefangen davon, dass man den Nachnamen verliert, wenn man sich eintragen lässt, bis dahin, dass gleichgeschlechtliche Paare keine Kinder adoptieren dürfen.
Grundsätzlich geht es darum, dass jeder Mensch die Möglichkeit haben sollte, gleichberechtigt an der Gesellschaft partizipieren zu können, sichtbar zu sein, ohne mit physischer oder psychischer Gewalt konfrontiert zu werden.

 

„Liebe ist das Erstrebenswerte, Normalität ihr Schatten“

  • 06.11.2012, 01:50

Im Zuge des rampenfiber-Festivals traf Progress die Berliner Band Normal Love. Mit Marlene Brüggemann und Oona Kroisleitner sprachen die Bandmitglieder Paula P., Inka Kamp und Ben Kaan über gesellschaftliche Normen, Feminismus und natürlich über die Liebe.

Im Zuge des rampenfiber-Festivals traf Progress die Berliner Band Normal Love. Mit Marlene Brüggemann und Oona Kroisleitner sprachen die Bandmitglieder Paula P., Inka Kamp und Ben Kaan über gesellschaftliche Normen, Feminismus und natürlich über die Liebe.

progress: Normal Love, was ist für euch diese normale Liebe?

Inka Kamp: Ja, das ist doch auch die Frage. Ich finde, der Name ist so schön, weil er so offen ist. Ab dem Moment, wo man den Fokus auf die Normalität lenkt, wird es interessant. Weil das ist genau das, worüber man sonst nicht spricht. Man fragt sich, was ist die Norm, was ist normal oder normale Liebe.

progress: Wie kam es zu dem Namen Normal Love?

Inka Kamp: Er ist eine Referenz zu einem Film von Jack Smith aus den 1960er Jahren, der ebenfalls Normal Love hieß. In diesem Film ist sehr unklar, was Normalität ist.

progress: Wie kann man dem gesellschaftlichen Bild von Normalität entgegenwirken?

Pauline P: Das ist eine taktische Frage. Ich denke, man muss sich selbst fragen: Warum gibt es diese Normen, wie sehen diese aus und wie werden sie gemacht? Wer gehört zu dieser Norm und wer nicht? Manchmal ist es lustiger zu sagen, dass etwas, das nicht als eine Norm wahrgenommen wird, jetzt die Norm ist, anstatt sich selbst immer nur zu marginalisieren.

progress: Fließt das Spiel mit den Normen auch in euer Band-Konzept hinein?

Ben Kaan: Das ist einfach auch die Erfahrung, die wir jetzt mit unserem Namen gemacht haben. Ich denke, jede_r würde die eigenen Erfahrungen, die gemacht wurden, als normal setzen. Es gibt aber auch in Berlin gerade diesbezüglich einen kleinen Diskurs: Christiane Rösinger hat auch dieses Buch Liebe wird oft überbewertet herausgebracht und ist damit aufgetreten. Ich denke, Liebe mit einem Adjektiv wie normal zu paaren ist eine gewisse Provokation. Weil die Liebe ist ja gemeinhin das total Erstrebenswerte und die Normalität wird immer als ihr Schatten unter den Tisch gekehrt.
Die Leute reagieren eigentlich sehr positiv auf unseren Namen. Es ist ein Name, den jede und jeder für sich selbst interpretieren kann. Da wollen wir auch gar nicht zu viel vorgeben.

P: Das ist auch das, was interessant wird. Wenn man über Normalität spricht, wird es sehr offen. Wer kann sich damit identifizieren und wer nicht. Für uns ist dieser offene Name sehr schön.

progress: Was sind eure Einflüsse?

P: Wir haben unglaublich viele Einflüsse. Einerseits gibt es unsere Vorliebe für Discomusik und andererseits eben diese mit Indie-Elementen zu verbinden. Also so etwas wie Disco zu machen mit analogen Instrumenten, gefällt uns sehr gut. Dabei wollen wir auch unkonventionelle Songstrukturen haben wie zum Beispiel Zweigesänge, das ist sonst eher nicht so verbreitet. Aber auch feministische Bands haben uns beeinflusst.

B: Visuelle Faktoren spielen bei uns ebenso eine große Rolle. Inka, Pauline und ich haben auch viel mit Film zu tun. Wir haben beim Songwriting nicht immer nur die Musik im Kopf, sondern eben auch visuelle Elemente, die uns inspirieren. Viele Songs sind Szenen, die wir selber mit Kreuzberg, als Lebensmittelpunkt assoziieren. Das ist ja nicht nur eine musikalische Kultur, sondern da steckt das Konzept Popkultur dahinter. Gerade die beiden Ecken – elektronische Einflüsse und das, was wir analog machen, greift eben die beiden Schienen auf, wo wir uns nicht eindeutig für eine entscheiden wollen. Also auf der einen Seite die Club-Tradition mit der elektronischen Musik aus Berlin und gleichzeitig ein bisschen Kreuzberg mit seiner Kellerraumromantik und dem Punk.

P: Wir spielen auch in dem Proberaum, in dem Nina Hagen in den 1980er Jahren geprobt hat. Vielleicht gibt uns das auch ein bisschen Punk-Spirit.

progress: Ihr tretet auf queer-feministischen Festivals auf, was bedeutet Queer-Feminismus für euch?

P: Für mich war das schon immer wichtig in allen Sachen, die ich gemacht habe. Aber nicht nur Queer und Feminismus, sondern auch andere Politiken oder generell kritische Positionen zu beziehen. Feminismus ist immer essentiell gewesen für die Musik, die mir wichtig war. Ich denke nicht, dass ich in meiner eigenen Biografie einen Begriff von Musik oder Kunst von Feminismus trennen kann. Das heißt einerseits, Role-Models zu haben und sich auf eine Geschichte zu beziehen, die noch nicht so bekannt ist. Aber auch versuchen, diese sichtbar zu machen und in einer Diskussion mit anderen Frauen stehen. Das ist wichtig für die Band, auch wenn es nicht der einzige Kontext ist, in dem wir uns bewegen.

B: Soweit ich das erlebt habe, seit ich mit Pauline und Inka zusammen spiele und wir auch gemeinsam auftreten, ist Feminismus ein Begriff, den man nicht zu sehr verschlagworten sollte. Für uns ist wichtig, dass wir über diesen Zusammenhang auf Tuchfühlung gehen können mit anderen Leuten, die aktiv werden, wo wir dann wieder spielen können. Das ist so ein Ding, wo man sich einer gemeinsamen Sache verschreiben kann, ohne das endgültig zu beschreiben.

P: Ein wichtiger Aspekt für mich ist auch, dass ein großer Teil der Leute, für die ich eben Musik mache, Frauen sind. Das spielt für mich eine so große Rolle. Es gab so wichtige Frauen und ich sehe mich in einer Geschichte, einer Tradition. Ich möchte Sachen mitentscheiden, mitbestimmen und das eben auch weiter geben.

progress: Auf eurer Myspace-Seite findet man Fotos, die sehr mit Geschlechterrollen spielen, beispielsweise schminkt ihr euch gegenseitig alle mit Lippenstift, was hat es damit auf sich?

P: Bei diesem Bild ist vor allem lustig, dass nicht nur Ben, sondern auch Inka und ich normalerweise keinen Lippenstift tragen. Also sind wir alle so ein bisschen in Drag. Das fanden wir sehr lustig. Es ist ein Bild aus einem Film von Jack Smith, in dem  nur Männer das mit dem Lippenstift machen. Daraufhin dachten Inka und ich, dass wir beide auch in Drag gehen mit dem Lippenstift. Die Normalität wäre wohl, dass Männer das machen und darum machen wir das jetzt auch.

progress: Wie lässt sich eure politische Einstellung mit Party vereinbaren; ist das überhaupt notwendig?

P: Das ist sehr wichtig. Ich denke, das hat etwas mit Begehren zu tun. Es geht um Lust und darum, Sachen miteinander zu teilen. Und das geht nicht nur auf der Straße oder an der Uni, sondern auch in einem Partyraum. Das gehört zusammen.

B: Natürlich ist es eine Gratwanderung, aber wir wollen eben nicht auf diesen Unterhaltungsaspekt reduziert werden. Genauso wenig wollen wir, dass man jetzt bei all dem das vergisst, was als Stimmung oder Lust und Begehren passiert. Wie gesagt, eine Gratwanderung, aber es ist gut, dass man zwischen diesen beiden Ebenen hin und her wechseln kann. Man kennt das ja: Oft gibt es diese Metaebene nicht und dann ist es schön, auch mal unbewusst eben dort erwischt zu werden. In genau dem Moment, in dem klar ist: „Cool, ich kann also gleichzeitig tanzen und denken“. Vielleicht ist das ein bisschen arrogant. Aber darauf läuft es irgendwie hinaus, sich nicht ganz da drinnen zu verlieren aber sich schon gehen zu lassen.

Feuer und Flamme für Sprache

  • 06.11.2012, 01:31

Sookee, Quing of German Hip Hop, erzählt im Gespräch mit Marlene Brüggemann und Oona Kroisleitner von ihrer Faszination an Sprache, über Geschlechternormen und politisches Engagement.

Sookee, Quing of German Hip Hop, erzählt im Gespräch mit Marlene Brüggemann und Oona Kroisleitner von ihrer Faszination an Sprache, über Geschlechternormen und politisches Engagement.

progress: Woher kommt eigentlich dein Künstlerinnenname Sookee?

Sookee: Den hab ich in alten Graffiti-Zeiten gewählt. Ich war auf der Suche nach einem Namen, den man möglichst unterschiedlich schreiben kann. Bei Graffitis geht es ja darum, Buchstaben zu gestalten und dass es nicht immer das gleiche, sondern abwechslungsreich ist. Mein Wunsch war, unterschiedliche Schreibungen zu ermöglichen. „Sookee“ hab ich außerdem von dem Film „Die Hexen von Eastwick“ geklaut: Michelle Pfeiffer spielt dort eine Rolle, die heißt Suki. Graffiti war dann irgendwann für mich kein Thema mehr, aber der Name war da. 

progress: Wie empfindest du die Wechselwirkung von deinem akademischen Hintergrund und Hip Hop?

Sookee: Hip Hop ist eigentlich das Gegenteil von Universität, wo die Straße als Ort des Lernens inszeniert wird. Student_innenrap ist eher ein diffamierender Begriff für langweiliges unmännliches Zeug. Es ist also ein recht großes Spannungsfeld. Ich kriege oft die Rückmeldung, meine Texte wären zu schwierig und anspruchsvoll. Man kenne verschiedene Wörter nicht und die müsste man dann erst googlen. Das finde ich aber gar nicht schlimm, dafür gibt es ja so etwas wie Google. Du musst dich eben nicht erst an eine Uni setzen, um dich mit bestimmten Begriffen zu befassen. Du setzt dich hin, googlest die Scheiße und kriegst die Antwort ausgespuckt. Wenn du Bock hast, dann setzt du dich halt hin und lernst etwas dazu – oder eben nicht. Ich habe aber auch oft Workshops mit Kindern und Jugendlichen, wo ich gemerkt habe, dass das auch ein Gesprächsanlass ist.

progress: Wie sieht das aus?

Sookee: Zum Beispiel letztens in der Schule, in der ich seit drei Jahren arbeite (lacht), jetzt kommt eine Geschichte: Wir sind eine alternative Grundschule, so ein linkes Bildungsprojekt in Kreuzberg, wo die Leute von den Hausprojekten und vom Wagenplatz ihre Kinder hinschicken. Uns werden gerade die Räume gekündigt, darum haben wir uns an diese Kotti (Kottbuser Toor, Anm.) und Co. Initiative angeschlossen.  Es gab von der Initiative eine Demo, an der wir als Schule mit unseren kleinen Leuten teilgenommen haben. Im Vorfeld hab ich mit den Kindern das Positionspapier durchgenommen und eine grammatische Übung mit Lückentexten gemacht. Darin kam der Begriff „Solidarität bekunden“ vor. Ein Mädchen fragte mich: „Du sagst doch auch immer ‚Ich zeig mich solidarisch mit dem Regenbogen‘, ist das damit gemeint?“ Und da merkt man, dass es eben auch um diese Umwege geht, zu lernen. Das finde ich spannend. Ich google ja auch Sachen, die ich nicht verstehe. Letzten Endes schreibe ich meine Texte aber so wie ich will; und so kann ich das am besten. Die Uni hat mich verpflichtet, mich mit Sachen zu beschäftigen und das ist auch gut so.

progress: Du hast Gender Studies und Linguistik studiert …

Sookee: Die Studienwahl hat mich enorm politisiert, die Entscheidung für diese Fächer war total wichtig für mich. Sie hat mich verändert und noch ein Stück vorne geschubst. Das schlägt sich dann natürlich thematisch in meinen Texten nieder. Und wiederum komme ich mit den Inhalten, die ich an der Uni gelernt habe, zurück zu ihr mit meinen Vorträgen, die ich zu Gender und Pop-Kultur halte. Das ist also eine ziemlich große Wechselwirkung.

progress: Auf deinem zweiten Album findet sich der Track Qunig. Wie kam es zu diesem Konstrukt und was hat Quing für eine Bedeutung für dich?

Sookee: Quing habe ich aus der Notwendigkeit heraus entwickelt, dass ich nicht wusste, wie ich mich einordnen soll. Es gibt im Rap bestimmte Image-Angebote und Identifikationsfelder für Frauen, mit denen ich allen nicht glücklich war. Es gibt diese Schubladen, die schon vorgefertigt sind, in die Frauen reingeworfen werden: die Sisters, Bitches, Gangstagirls. Das war alles nicht meins. Da war für mich die Frage „was machst du jetzt?“ Du brauchst schon irgendwas, um dich mit einer Identität in diesem ganzen Feld auszustatten. Du brauchst irgendwas, auch für dich selbst zur Orientierung.

progress: Und wieso gerade Quing?

Sookee: Im Rap gibt es ganz royal diese Angewohnheit, sich mit King oder Queen auszustatten – auch im Namen. Es bot sich für mich an, das zu verschmelzen und die sprachliche Mitte zu wählen. Das ist eine schöne positive Irritation in Bezug auf Geschlechter und stellt meiner Meinung nach eine Öffnung her. Da war ich glücklich, dass das plötzlich durch Quing so einfach da war.

Es ist aber auch der Versuch, eine Möglichkeit für Hip-Hop-affine Leute, aber auch Leute in anderen Subkulturen, zu eröffnen einen Bezug haben, in dem sie sich wohl fühlen und ein Feld haben, in dem sie sich aufhalten können. Eine Referenz. Es geht darum, sich gegen Hierarchien und Normen zu wenden und in Frage zu stellen, wie denn alles zu sein hat. Es geht nicht nur um Antisexismus und gegen Homophobie, es geht auch um Körpernormen, Nationalität … es geht darum, sich ein bisschen im Dekonstruieren auszuprobieren. Neue Sachen für sich zu eröffnen und die Dinge nicht so hinzunehmen, wie sie halt erscheinen, sondern Gegenrealitäten zu schaffen.

progress: Und davon erzählt der Song?

Sookee: Der Track erzählt von verschiedenen Aspekten dessen. Aber auch zu sich selbst gut zu sein, sich selbst zu lieben. Du rennst halt ein ganzes Leben lang mit dir herum. Wenn dich irgendwer anderer nervt, kannst du sagen „Tschüss, ich bin raus. Alles Gute noch im Leben.“ Aber du bist ja immer da. Wenn man es schafft, sich gegen bestimmte Normen zu wehren und sich nicht mehr so sehr davon einnehmen zu lassen, ist das jedenfalls ein guter Schritt in Richtung Selbstanerkennung und bietet viel Entwicklungsfreiheit.

progress: Quing ist eine Sprachkreation von dir, auf deiner Homepage verwendest du geschlechtergerechte Sprache usw. Wie wichtig ist Sprache für dich, wie machtvoll ist sie? 

Sookee: Es ist der Wahnsinn, dass Menschen die Münder aufmachen und andere beginnen zu lachen, zu weinen oder nachzudenken. Ich finde es faszinierend, dass so etwas wie Kommunikation auf so vielen unterschiedlichen Levels stattfinden kann. Auch Gebärdensprache, ist für mich unglaublich spannend. Was Menschen alles auf die Reihe kriegen, um zu kommunizieren. Ich bin da Feuer und Flamme, ich könnte heulen. Ich stehe wie ein kleines Kind da und will davon ganz viel mitkriegen. Ich habe ein großes Vertrauen in Sprache und es ist Teil unseres sozialen Handelns, sonst würde es sich ja nicht so in unserer Realität auswirken. Ich muss manchmal darauf achten, dass ich auch nicht überreagiere, wenn Leute bestimmte Begriffe verwenden. Ich will auch keine Maulklappen verteilen. Ich fände es eben schön, wenn Menschen verstehen würden, warum mir das so wichtig ist und warum ich diese Begriffe nicht verwende. Weil ich auch nicht Teil dieser Reproduktion sein möchte, die wieder zu der Normalisierung von Konzepten und Ideologien und Menschenbildern wird. Auch was Gedanken sprachlich erfassen.

progress: Woher kommt das?

Sookee: Ich hab das schon als Kind immer gemocht, wenn Leute toll erzählen können. Meine Mutter ist eine großartige Erzählerin und sie hat nie eine Uni von innen gesehen. Der Bildungsweg wurde ihr in der DDR verbaut, weil sie nicht in der FDJ (Freie Deutsche Jugend, Anm.) war. Deswegen ist sie einfach in die Berufspraxis gegangen. Es braucht einfach keinen akademischen Background, damit Leute mit Sprache umgehen können. Ich habe das geliebt. In der Schule waren dann natürlich alle Fächer, die was mit Sprache zu tun hatten, meine liebsten. Ich habe sehr viel gelesen und geschrieben. Ich war auch immer so stolz, wenn ein Text oder ein Brief geglückt war.

progress: Du bist in der DDR geboren. Welchen Einfluss hatte der Realsozialismus auf dich?

Sookee: Meine Eltern waren in der DDR sogenannte Oppositionelle und die Kirche hat damals Leuten, die widerständig waren, einen Schutz geboten. Meine Eltern waren über die Kirche organisiert und mein Vater musste in den Knast, weil er den Dienst an der Waffe verweigert hat. Aus dieser Version des Sozialismus wollten meine Eltern dann auch fliehen vor der ganzen Repression, die dahinter stand; auch wenn es eine unglaublich traurige Geschichte ist, dass der Sozialismus an der Stelle nicht funktioniert hat. Irgendwann wurde unser Ausreiseantrag bestätigt und wir hatten 24 Stunden Zeit, das Land zu verlassen, oder mussten für immer dort bleiben. Ich war damals Zweieinhalb, ich hab nicht viel davon mitbekommen, aber das Thema schlägt sich dann natürlich im Familiengefüge nieder. Nur weil du weg bist, ist es ja noch nicht vorbei. Da hängt biografisch einfach viel zu viel dran. Darum war es auch ein hochpolitischer Teil meiner Familienbiografie, der auch mein politisches Bewusstsein relativ früh angefüttert hat. Dadurch, dass meine Eltern dann plötzlich demonstrieren gehen konnten bei der Volkszählung oder Öl-Krisen. Sie konnten dann viel öffentlicher über Politik reden, weil es machbar war und ich habe das als Kind schon mitbekommen und war auch auf relativ vielen Demos und hatte früh ein Verständnis davon, wie sich Politik anfühlt, selbst wenn man nicht Berufspolitiker_in ist. Dass der Sozialismus in der Form und an der Stelle so sehr gescheitert ist, ist halt Scheiße. Es bleibt eben noch Utopie.

progress: Wie lässt sich Politik mit Musik verbinden?

Sookee: Das klingt vielleicht ein bisschen größenwahnsinnig, aber soziale Bewegungen waren immer mit Musik begleitet. Du musst ja auch beispielsweise auf einer Demo zwischen den Redebeiträgen mal Musik spielen. Wie andere auch kulturelle Produkte wie Film oder Fotografie oder Tanz  hat Musik einen gewissen Raum, um Inhalte rauszureichen. Diese können unbedarft sein und nur von der Feierei berichten oder sich einfach inhaltlich anders ausstatten. Und damit unterstützend in einen realpolitischen Bereich eingreifen. Ich glaube Musik ist eine gute Ergänzung. Ich könnte über diese ganzen Dinge auch Bücher schreiben, aber das ist mir viel zu aufwendig und das kann ich auch nicht so gut. Diese Songs sind Versuche, das was diskursiv gerade durch die Szene oder die Gesellschaft bewegt, einzufangen und in eine Dreieinhalb-Minuten Version zu verpacken. Es sind kleine Zusammenfassungen dessen, woran ich gerade herumgrübel.

progress: Und worüber grübelst du gerade?

Sookee: Auf der nächsten Veröffentlichung wird es einen Track geben, der sich mit Intersektionalität befasst. Das klingt total theoretisch, aber ich glaube, das ist möglich.
Ein Song auf dem aktuellen Album handelt von männlicher Dominanz in vermeidlich emanzipatorischen Szenen. Gerade dieser Song ist ein Beispiel, dass Leute mit ihrer konkreten Politik eine Unterstützung erhalten durch meine Songs. Ich habe ganz viele Rückmeldungen erhalten, dass sie durch meinen Song plötzlich darüber sprechen können, dass Frauen genervt sind, immer nur protokollieren zu müssen. Wo klar ist, Jungs haben in einer linken Politik bestimmte Aufgaben und Mädchen ebenso und es gibt ein Unbehagen darüber – das wurde lange hingenommen. Da gibt es dann schon einen Einfluss.

 

 

 

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