Gleichberechtigung

Nur für Frauen*?

  • 27.10.2014, 15:25

Labels, die regeln sollen, wer in feministische Schutzräume darf, gibt es viele, gerade in Uni-Kontexten. Doch wer ist eigentlich wirklich gemeint? Eine Kritik.

Labels, die regeln sollen, wer in feministische Schutzräume darf, gibt es viele, gerade in Uni-Kontexten. Doch wer ist eigentlich wirklich gemeint? Eine Kritik.

Im Rahmen der Frauenbewegungen wurden bestehende Räume wie Universitäten für Frauen geöffnet – und neue Räume geschaffen. Dazu gehören feministische Bibliotheken oder frauengeführte Kneipen. Manche Räume sollen Schutzräume sein, also die Möglichkeit bieten, ohne Anfeindungen, Häme und Konkurrenzgefühl neue Fähigkeiten zu lernen, sich fortzubilden und auszutauschen. Deshalb haben Männer dort keinen Zutritt. Die Räume selbst können fixe Lokalitäten sein, wie etwa der „Uni Frauen Ort“, das „UFO“ in der Wiener Berggasse, das seit mehr als 30 Jahren besteht. Andere Räume existieren als temporäre Aneignung bestehender Orte, etwa im Rahmen von Workshops und Seminaren wie der wissenschaftlichen Schreibwerkstätte für Frauen*, die jedes Semester an der Uni Wien angeboten wird. Auch bei anderen Veranstaltungen wie Konferenzen, Diskussionen und Vorträgen kann gelten: „nur für Frauen“ oder „FLIT* only“. Doch was bedeutet das?

Orte für wen? „Frauen“, „Frauen*“ und „FrauenLesben“ haben als Labels eine lange Tradition. Die Schreibweise mit Sternchen und die Bezeichnung „FrauenLesben“ entwickelten sich aus der Kritik am eindimensionalen Frauenbegriff. Beide Labels zeugen von der Ablehnung der Idee, dass es „die Frau an sich“ gäbe. Es wird außerdem damit betont, dass die so eingeordneten Personen kein verbindendes Element, keine „wirkliche Weiblichkeit“ teilen, es also keine Frauen jenseits gesellschaftlicher Einteilung gibt. Der Begriff FrauenLesben fungiert als Sichtbarmachung von Lesben und ihren spezifischen Belangen. Auch die Idee vom Lesbischsein als mögliche Geschlechtsidentität schwingt in der Bezeichnung mit.

Foto: Sarah Langoth

Wer sich in Hochschulräumen oder dem aktivistischen Milieu bewegt, der_die mag auch schon über den Begriff FLIT (manchmal auch FLIT* geschrieben) gestolpert sein. Eine schnelle Google-Suche nach den vier Buchstaben führt zu einem Insektizid, das in den 20ern gegen Moskitos entwickelt wurde sowie zur „flow control digit“, einem Begriff aus der Routerund Netzwerktechnik. Allerdings soll das Label FLIT* nicht die Paketvermittlung in einem Netzwerk beschreiben oder gar die Umwelt mit DDT vollpumpen, sondern die Diversität der in einem Raum willkommenen Menschen sichtbar machen. Der Begriff FLIT steht für Frauen_Lesben_Inter*_Trans*. „Trans*“ meint alle, die sich nicht oder nicht ausschließlich dem bei der Geburt zugewiesenen Geschlecht zugehörig fühlen. Trans*Personen und Wissenschaftler_innen benutzen verschiedene Begriffe wie z.B. Transgender, Transsexuelle, Transidenten, die je nach Person verschieden definiert und abgegrenzt werden. Der Überbegriff Trans* wird dabei nicht von allen Trans*Personen gutgeheißen. Manche nutzen Trans*Frau/Trans*Mann als Selbstbezeichnung, andere verwenden trans* als Adjektiv und manche möchten nur als Frauen oder Männer bezeichnet werden. Der Überbegriff Inter* steht für Menschen, deren Körper nicht in gesellschaftlich aufgestellten Normen von dem, was Männer- bzw. Frauenkörper beinhalten dürfen/müssen, passen. Dies kann aufgrund ihrer Chromosomen, Genitalien, Gonaden, Hormonlevel oder Kombinationen von diesen Faktoren sein. Neben "inter*" werden häuftig auch Begriffe wie intersexuell oder intergeschlechtlich verwendet.

Willkommen? Darüber, wer (nicht) in Schutzräumen willkommen ist, wird diskutiert und gestritten, seit es diese Räume gibt, obgleich es naheliegend scheint, dass Frauen(*)-Räume allen Frauen(*) offenstehen. Immerhin herrscht in feministischen Kreisen weitestgehend Einigkeit darüber, dass Geschlecht ein soziales Konstrukt ist und Frausein nicht über Genitalien oder bestimmte Hormonspiegel definiert wird. Bei der Frage nach Trans*Frauen in Frauen(*)-Räumen berufen sich jedoch einzelne Raumverwalter_innen auf die Anatomie oder bemühen andere – meist ebenso trans*und inter*feindliche – Argumentationen. Die Anwesenheit von Trans*Männern wird und wurde seltener oder weniger intensiv diskutiert, weil sie wegen dem bei der Geburt zugewiesenen weiblichen Geschlecht geduldet werden. Inter*Personen und nichtbinäre Personen, also jene, die sich nicht eindeutig als Mann oder Frau identifizieren hingegen werden meist – wie auch in den LGBT-Szenen – schlicht übersehen. Angesichts der Frage, wer in „ihren“ Räumen und Gruppen willkommen ist, haben sich bereits viele feministische Gruppen und Szenen zerstritten und gespalten.

Alle ausser Männer? Vor dem Hintergrund dieser Debatten und unterschiedlichen Positionen ist es fahrlässig, wenn Gruppen nicht klar dazu Stellung beziehen, wen sie in ihren Frauen(*)und FLIT-Räumen willkommen heißen und wen nicht. Viele Räume sind offen für alle Personen, die keine Cis-Männer sind. Die Vorsilbe „cis“ ist das Gegenstück zu trans* und inter*. Damit sind jene Menschen bezeichnet, bei denen Geschlechtsidentität und bei der Geburt zugewiesenes Geschlecht übereinstimmen. Manche Räume wie beispielsweise das Wiener Frauenzentrum richten sich ausschließlich an Cis-Frauen und Cis-Lesben.

Zudem gibt es Orte, die manche Personengruppen aus dem Trans*und Inter*-Spektrum akzeptieren, andere jedoch nicht. So sind in einigen Räumen neben Cis-FrauenLesben nur als Frauen oder weiblich identifizierte Trans*und Inter*Personen willkommen, Trans*Männer aber nicht. Andere Räume richten ihr Angebot hingegen nur an Trans*und Inter*Personen, die bei der Geburt dem weiblichen Geschlecht zugeordnet wurden. Fragt mensch verschiedene Mitglieder der Organisation, was etwa mit dem Stern hinter Frauen* auf dem Einladungsplakat gemeint ist oder wen FLIT genau einschließt, folgt erfahrungsgemäß in vielen Fällen Schweigen. Das Team hat offenkundig selbst nicht darüber gesprochen, was und wer mit dem schicken Label Frauen(*)/FLIT gemeint ist.

Mitgemeint? Wenn bei einer Veranstaltung nicht angegeben wird, wer genau willkommen ist, ergibt sich für einige Besucher_innen oft eine unsichere Situation. Nämlich für jene, die vom hegemonialen Bild der Cis-FrauenLesben abweichen. Wer nicht als FrauLesbe gelesen wird, sucht Frauen(*)bzw. FLITRäume mit einem Kloß im Hals auf. Eine Trans*Frau kann sich etwa bei einem Event, das zur Einladungspolitik keine Informationen bereitstellt, nicht sicher sein, ob sie „mitgemeint“ ist und wie die Veranstalter_innen zu Trans*Personen stehen. Sie kann nicht abschätzen, ob sie an der Tür aufgehalten und abgewiesen wird. Oder ob ihr während der Veranstaltung vielleicht abschätzige Blicke oder körperliche Übergriffe drohen, wenn sie von Teilnehmer_innen für einen Cis-Mann gehalten wird, der sich unrechtmäßig Zutritt zu einem Frauen-Raum verschafft hat. Aus diesem Grund ist es wichtig, dass Räume, Gruppen und Events eindeutig offenlegen, wen sie wirklich ansprechen wollen.

Egal ob die Einladungspolitik Menschen jenseits von Cis-Lesben und Cis-Frauen ansprechen soll oder nicht: Wenn nicht gleich offengelegt wird, wer gemeint ist, geschieht das auf dem Rücken der oft mehrfach diskriminierten Nicht-Cis-Personen, die sich in eine ungewisse Position begeben müssen – oder gleich zu Hause bleiben. Selbst wenn sie „mitgemeint“ sind: Die anderen Besucher_innen haben die Einladungspolitik oft nicht gelesen und ihre eigenen Ideen davon im Kopf, wer (nicht) im Raum willkommen ist. Passive Aggressivität und übergriffiges Verhalten („Was machst du denn hier, das ist‘n Frauenraum!“) können auch in inklusiven Räumen die Folge sein, wenn nicht kommuniziert wird, wer dort sein darf.

Foto: Sarah Langoth

Eigene Formulierungen. Eine Möglichkeit, das Problem zu lösen, wäre es, Einladungen zu spezifizieren, statt sich eines vorgefertigten Labels wie FLIT zu bedienen. „Alle außer Cis-Männer“ ist viel eindeutiger als FLIT, weil nicht offen bleibt, ob auch männlich identifizierte Trans*und Inter*Personen gemeint sind, und es transportiert gleichzeitig, dass reflektiert wurde. Dadurch wird für weitere potentielle Teilnehmer_innen transparent, dass nicht nur Cis-Frauen gemeint sind. Auch „offen für alle, die sich weiblich identifizieren“ oder „alle negativ von Sexismus betroffenen Personen“ sind Möglichkeiten, eine spezifische Einschränkung der Teilnehmer_innen vorzunehmen.

Die Einladungspolitik selbstständig zu formulieren ist eine Möglichkeit für die Organisator_innen, sich darüber klar zu werden, wie die Ansprüche an Raum und Veranstaltung zusammenpassen. Ein Workshop zu sexistischer Diskriminierung etwa könnte sich nicht nur auf die Perspektive von cis-heterosexuellen Frauen beziehen, sondern die Erfahrungen von Menschen anderer Identitäten einschließen. Außerhalb des Geschlechts- und Begehrensaspekts gibt es noch andere Ausschlüsse, wenn es etwa immer weiße Personen ohne Behinderungen sind, die den Standard setzen und so die Perspektiven von People of Color und Menschen mit Behinderungen, die in den meisten Räumen in der Unterzahl sind, übergangen werden.

Die Türpolitik. Auch wenn ein Raum für verschiedene Menschengruppen geöffnet ist, fehlt häufig ein reflektierter Umgang mit der Diversität der Teilnehmenden. Vielen Veranstalter_innen ist nicht bewusst, dass es unmöglich ist, vom Aussehen einer Person auf deren Geschlechtsidentität zu schließen. Auf diese Weise erfahren betroffene Nicht-Cis-Personen, dass sie in diesem vermeintlichen Schutzraum nicht mitgedacht, sondern bestenfalls geduldet sind. Diese Art der Diskriminierung führt den Wunsch nach einem Raum für Austausch auf Augenhöhe ad absurdum. Zur Frage, wie das Problem des Doppelstandards umgangen werden kann, hat zum Beispiel Laura* auf ihrem Blog „HeteroSexismus hacken“ Anregungen gesammelt. Der vermutlich praktikabelste Ansatz wäre es, die Einladungspolitik am Eingang gut sichtbar zu machen und beim Einlass alle Menschen unabhängig von deren Äußerlichkeiten auf die Einladungspolitik hinzuweisen. Es gilt auch auszuprobieren, was funktioniert und was nicht – Hauptsache das eigene Verhalten wird reflektiert und Verantwortung dafür übernommen, statt sich hinter Labels zu verstecken.

Non Chérie studiert in Wien Japanologie und Gender Studies und macht so Queerkram.

*Sternchen in diesem Text weisen nicht auf Anmerkungen am Ende hin! Sie sind, wie öfter im progress, ein Zeichen für gendergerechte Sprache, die Menschen jenseits der Mann-Frau-Binarität einschließen möchte.

„Theater“ um Regenbogenfahnen beendet?

  • 05.07.2014, 08:32

So viele Grazer Bezirksrät_innen wie noch nie stimmten für ein Zeichen gegen Homophobie. Christoph Schattleitner blickt zurück auf die Hintergründe.

So viele Grazer Bezirksrät_innen wie noch nie stimmten für ein Zeichen gegen Homophobie. Christoph Schattleitner blickt zurück auf die Hintergründe.

Am 28. Juni ist Christopher Street Day (CSD), an dem sich weltweit Menschen für die Gleichbehandlung von Schwulen, Lesben, Transgender und Bisexuellen solidarisieren. Das ist oft eine Mischung aus Party und Protest, wie etwa in Wien bei der Regenbogenparade. Ziel ist es, auf Missstände und Diskriminierung von Homosexuellen hinzuweisen. Zwischen Ehe und Eingetragener Partnerschaft gibt es nach wie vor 40 Ungleichbehandlungen, wie Betroffene beim Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte feststellen ließen. Die Benachteiligungen reichen vom Adoptionsrecht über Pensionsanspruch bis hin zur Frage, wo getraut werden darf.

„Theater“ in Graz

Letzteres wurde in Graz heftig diskutiert. Bürgermeister Siegfried Nagl (ÖVP) wehrte sich lange gegen eine Verpartnerung von Homosexuellen im Trauungssaal des Rathauses bis der Verfassungsgerichtshof zu einer anderen Erkenntnis kam: Seit September 2013 darf nun auch im Prunksaal verpartnert werden. Mit Regenbogenfahnen soll am Christopher Street Day auf solche Ungleichbehandlungen aufmerksam gemacht werden. Anderenorts ist das bereits Routine. In Wien etwa werden wochenlang die Straßenbahnen mit kleinen Regenbogenfähnchen geschmückt, in Berlin hissen jedes Jahr alle Bezirksrathäuser die bunte Fahne. Gleiches versucht seit 2008 Gerald Kuhn, Grüner Bezirksrat des Stadtbezirks Jakomini, auch in Graz durchzusetzen. Bisher gab es um die Fahnen aber immer ein „Theater“, ärgert er sich. Die Grazer Grünen stellen Jahr für Jahr in den Bezirken, in denen sie vertreten sind, einen Antrag zum Kauf (eine Fahne kostet 14, 50 Euro) und zur Hängung der Flaggen. Das blieb nicht immer ohne Widerstand. Vergangenes Jahr stimmten etwa die Bezirksräte St. Leonhard, Mariatrost und Lend gegen den Antrag. Während die Grünen ein „massives Problem mit Homosexuellen“ (Zitat Kuhn) bei der ÖVP orteten, sorgte der bunte Stoff auch bei der SPÖ für Aufregung: Zwei der drei SPÖ-Räte im Lend wollten keine Homo-Flaggen und kassierten dafür Kritik von der Sozialistischen Jugend: „Wir sollten uns als Sozialdemokraten schämen. Das ist ein peinlicher Ausrutscher“, meinte Sebastian Pay von der SJ Graz. Heuer stimmte der Bezirk Lend einer Beflaggung zu – so wie sieben andere Bezirke. In zehn der 17 Bezirke wurden Anträge gestellt, acht gingen durch – so viele wie noch nie. „Das ist ein voller Erfolg – vor allem, weil einige Bezirke die Fahnen nicht ein, zwei Wochen, sondern den ganzen Juni lang aufhängen“, freut sich Kuhn über die Entwicklung in Richtung mehr Toleranz in der „Menschenrechtsstadt“ Graz.

Übrigens: Die Stadt Graz selbst hat bis dato noch keine Regenbogenfahne gehisst. Vor dem Rathaus hing zwar die letzten Jahre eine Fahne, dies geschah aber immer auf Initiative und Rechnung der Grünen, erklärt Nicole Kuss, Pressesprecherin von Stadträtin Lisa Rücker (Grüne). Heuer verpasste man es die Fahnenmasten zu reservieren.

Leerer Fahnenmast im Volksgarten Graz im Jahr 2013. Foto: Christoph Schattleitner

Christoph Schattleitner studiert „Journalismus und PR“ an der FH Joanneum in Graz und twittert unter dem Namen @schattleitner.

Free Angela and all political prisoners

  • 05.03.2014, 16:15

Free Angela and all political prisoners von Shola Lynch erzählt, wie Angela Davis, politische Aktivistin, Kommunistin, Feministin, Wissenschaftlerin und Ikone der Schwarzen Widerstandsbewegung, im Jahr 1970 eine der zehn meist gesuchten Personen der USA werden konnte. Manu Banu rezensierte den Film für progress online im Rahmen des This Human World-Festivals.

Free Angela and all political prisoners von Shola Lynch erzählt, wie Angela Davis, politische Aktivistin, Kommunistin, Feministin, Wissenschaftlerin und Ikone der Schwarzen Widerstandsbewegung, im Jahr 1970 eine der zehn meist gesuchten Personen der USA werden konnte. Manu Banu rezensierte den Film für progress online im Rahmen des This Human World-Festivals.

Am 7. August 1970 versuchte der 17-jährige Jonathan Jackson durch eine Geiselnahme im Gerichtsgebäude von Marin County, die Freilassung seines inhaftierten Bruders George Jackson zu erpressen. Bei der Flucht kam es zu einer Schießerei mit der Polizei, bei der ein Richter, Jonathan Jackson und zwei weitere Personen getötet wurden. Die Waffen, die bei Jackson gefunden wurden, waren auf den Namen von Angela Davis registriert. Nur wenige Tage später wurde die Fahndung nach Davis ausgeschrieben, woraufhin sie die Flucht ergriff. Angela Davis kam als dritte Frau in der amerikanischen Geschichte auf die Top 10-Liste der FBI der meist gesuchten Verbrecher_innen.

Mit den Originalaufnahmen vom 7. August 1970 beginnt die Regisseurin Shola Lynch ihren Dokumentarfilm Free Angela and all political prisoners. Der Film gibt nicht nur Einblick in das Leben einer sehr mutigen und intelligenten Frau und ihren Kampf für Gerechtigkeit und Freiheit, sondern auch in aufwühlende Zeiten der amerikanischen Geschichte. Es ist eine Zeitreise in die späten 1960er und frühen 1970er Jahre, in Zeiten des Vietnamkrieges, der Bürgerrechts- und Friedensbewegungen und des Schwarzen Widerstands gegen die amerikanische Regierung und den herrschenden Rassismus.

Acht Jahre hat Shola Lynch am Dokumentarfilm Free Angela gearbeitet, vier bis fünf Jahre wären es geworden, wenn sie keine Finanzierungsschwierigkeiten gehabt hätte. Lynch wollte so detailliert wie möglich die Wahrheit ans Licht bringen, weshalb sie besonders viele Fakten gesammelt und im Film integriert hat – unter anderem in Form von Archivfilmmaterial, Fotos und Zeitungsausschnitten. Free Angela ist nicht ihr erster Film über eine politische Person, genauer gesagt über eine politisch aktive schwarze Frau. 2004 wurde ihr preisgekrönter Film Chisholm '72: Unbought & Unbossed über die erste schwarze Kongressabgeordnete Shirley Chisholm im Rahmen des Sundance Film Festivals gezeigt. Lynch ist es wichtig, mit ihren Filmen die hegemoniale Geschichtsschreibung zu durchbrechen und die Geschichten von schwarzen Frauen, die in den USA unsichtbar gemacht werden, zu erzählen. Mit Free Angela and all political prisoners ist ihr ein Dokumentarfilm gelungen, der durchaus dieselbe Spannung wie ein Politkrimi aufbringt. Gerade das Archivfilmmaterial, das Lynch im Film verwendet, gibt diesem eine gewisse Lebendigkeit und Authenzität. Wir erleben eine kämpferische junge Frau, die mit einem Lächeln und erhobener Faust den Gerichtssaal betritt. Die Regisseurin lässt Angela Davis, aber auch andere Personen, die in den Prozess involviert waren, selber zu Wort kommen und die Geschichte erzählen. Zwischendurch kommen ein paar wenige Nachstellungen vor, die die Einsamkeit der Haft besonders betonen. Musikalisch untermalt Jazz, insbesondere die Musik von Max Roach, den Geist der Zeit.

Die Politisierung von Angela Davis. Angela Davis ist in Birmingham, Alabama in einer Mittelschichtsfamilie aufgewachsen, in einem Viertel, das in den 1960er Jahren auf Grund der zahlreichen rassistischen Sprengstoffanschläge auch als „Dynamite Hill“ bekannt war. Bereits in ihrer Jugend kam sie in Kontakt mit kommunistischen Gruppen. Auf Grund ihrer guten Leistungen erhielt sie ein Stipendium für die Brandeis University in Massachusetts, wo sie ihren ersten Mentor Herbert Marcuse kennen lernte. Sie studierte in Paris an der Sorbonne und in Frankfurt an der Goethe-Universität bei Adorno und Horkheimer. Während ihres Aufenthalts in Deutschland wurden die Bürgerrechts- und Freiheitsbewegungen in den USA immer bedeutender, was Davis letztendlich 1967 zu einer Rückkehr bewegte. Sie hatte intensiven Kontakt zur Black Panther Bewegung, trat 1968 der KP der USA bei und wurde Mitglied des Che-Lumumba Clubs, der von schwarzen Kommunist_innen gegründet wurde, um stärker auf rassistischen Strukturen hinzuweisen. Angela Davis entwickelte sich zu einer wichtigen Kapitalismus- und Rassismuskritikerin und wurde insbesondere für ihren Einsatz für politische Gefangene bekannt.

1969 bekam Angela Davis eine Stelle als Philosophiedozentin an der University of California – Los Angeles (UCLA), ihr Vertrag wurde jedoch kurz nach ihrer Einstellung auf Drängen von Ronald Reagan, damals noch Gouverneur von Kalifornien, gekündigt. Der Grund war ihre Mitgliedschaft in der Kommunistischen Partei der USA. Die Entlassung löste eine riesige Protestwelle aus. Vom Dekan der Philosophie erhielt Angela Davis die Möglichkeit, eine außerplanmäßige Vorlesungsreihe zu halten – in der ersten Vorlesung kamen statt der 167 angemeldeten Student_innen über 2000.

Von Top 10 Most Wanted zur Ikone. Angela Davis wurde am 13. Oktober 1970 in New York festgenommen und kam für eineinhalb Jahre in Untersuchungshaft. Man warf ihr als angebliche Komplizin von Jonathan Jackson Mord, Menschenraub und Verschwörung vor. Sie sah sich jedoch als politische Gefangene – genauso wie ihre zahlreichen Unterstützer_innen. Sie wurde angeklagt, weil sie als Kommunistin, Aktivistin, Schwarze und Frau den imaginären Feind verkörperte. Begleitet wurde der Prozess von einer massiven internationalen Protestbewegung. Menschen aus der ganzen Welt solidarisierten sich mit Angela Davis und forderten ihre Freilassung. Tausende Menschen aus der DDR schickten ihr unter dem Motto „Eine Million Rosen für Angela Davis“ Postkarten mit Rosen ins Gefängnis. Am 4. Juni 1972 wurde sie mangels Beweise von allen Anklagepunkten freigesprochen.

Im Film erfahren wir jedoch wenig von Angela Davis Leben nach dem Prozess.

Die emeritierte Professorin der University of California, Santa Cruz, setzt sich vehement für die Abschaffung von Gefängnissen und gegen den „gefängnisindustriellen Komplex“ ein. Gefängnisse sind für Angela Davis nicht nur eine unangemessene Antwort auf soziale Probleme, sondern auch ein nicht unbeachtlicher Wirtschaftsfaktor. "Für Privatunternehmen ist Gefängnisarbeit wie ein Hauptgewinn. Keine Streiks. Keine Gewerkschaften. Keine Arbeitslosenversicherung (…) Alles zu einem Preis, der einen Bruchteil dessen beträgt, was Arbeit auf dem freien Arbeitsmarkt kostet", so ein Zitat von Davis. Weiters ist Angela Davis insbesondere für die Race-Class-Gender-Debatte von großer Bedeutung – eine Thematik die auch heute noch sehr aktuell ist (siehe #SolidarityIsForWhiteWomen).

Angela Davis ist eine bemerkenswerte und inspirierende Person, die ihr Leben der Revolution gewidmet hat und obgleich sie sich selber nicht gerne so sieht, ist sie zu einer Ikone des Widerstands geworden, die mit ihrem Konterfei viele T-Shirts und Poster schmückt. Aber solange sie dadurch anderen Mut machen kann, kann sie damit leben. Trailer zum Film auf Seite 2:

Manu Banu (geb. 1979) studiert Kultur- und Sozialanthropologie an der Universität Wien und engagiert sich bei der Screaming Birds Aktionsgruppe und der NGO EXIT.

Wem gehört die Stadt?

  • 04.02.2014, 18:58

Ein Interview mit dem Soziologen Christoph Reinprecht über die politischen Hintergründe der Vertreibung von obdachlosen Menschen aus dem Stadtpark, die zunehmende Kommerzialisierung und Kontrolle des öffentlichen Raumes sowie über mögliche Lösungen, Armut und Obdachlosigkeit wirksam zu bekämpfen.

Ein Interview mit dem Soziologen Christoph Reinprecht über die politischen Hintergründe der Vertreibung von obdachlosen Menschen aus dem Stadtpark, die zunehmende Kommerzialisierung und Kontrolle des öffentlichen Raumes sowie über mögliche Lösungen, Armut und Obdachlosigkeit wirksam zu bekämpfen.

Christoph Reinprecht. Foto: Dieter Diskovic

progress online: Im Oktober 2013 wurden Obdachlose von der Polizei aus dem Stadtpark vertrieben. Haben Sie eine Vermutung, was die Hintergründe für diese Aktion sein könnten?

Reinprecht: Die Hintergründe der Vertreibung der Obdachlosen aus dem Stadtpark sind sicherlich stadtpolitischer Art. Die Stadt Wien legt relativ viel Wert auf ein breit aufgefächertes sozialpolitisches Programm, insbesondere auch im Bereich der Betreuung und Versorgung von Gruppen, die Schwierigkeiten in unterschiedlichsten Lebensbereichen haben. Die Stadt Wien ist sehr daran interessiert, diese Dinge auch geordnet zu regeln. Aus dieser Perspektive wird wahrscheinlich alles, was öffentlich sichtbar ist, als problematisch angesehen. Das war auch sichtbar an der Reaktion der Stadträtin: „Wir haben unsere Programme, wir haben unsere Einrichtungen und die Leute sollen in diesen Einrichtungen unterkommen. Der Stadtpark hat nicht die Funktion eines Ersatzwohnraumes.“ Das war wahrscheinlich der Hauptgrund für dieses überraschende, starke Eingreifen. Es ist auch im Zusammenhang zu sehen mit einer ganz bestimmten Art und Weise, solche Probleme in Wien zu regeln: zum einen sehr stark integrativ mit Programmen, zum anderen doch mit sanktionierenden Maßnahmen, mit Polizei und Räumung. Diese Doppelstrategie ist sehr charakteristisch und wurde auch hier wieder angewandt. Erstaunlich war sicher die Heftigkeit, mit der das passiert ist.

Es gab früher das Klischee des Obdachlosen, der bärtig und betrunken ist. Die Leute, die wir getroffen haben, entsprechen diesem Klischee teilweise gar nicht. Ist das ein Anzeichen dafür, dass die Obdachlosigkeit jetzt vermehrt auch breitere Gruppen betrifft?

Reinprecht: Es gibt Klischeevorstellungen der Obdachlosigkeit, insbesondere was den Clochard oder den Bettler betrifft. Das sind Vorstellungen, die gesellschaftlich sehr verankert sind, weil sie mit der Vorstellung von Armut verbunden sind. Was ist ein Armer? Was ist ein Outsider? Heute gibt es eine Diversifizierung der Obdachlosigkeit, teilweise ist auch der Begriff Obdachlosigkeit nicht ganz zutreffend. Wir haben bei Neubeschäftigten zunehmend prekäre oder atypische Erwerbstätigkeit, die nicht dazu reicht, ein Einkommen zu generieren, das zum Leben reicht. Gleichzeitig haben wir zunehmend Veränderungen am Wohnungsmarkt, wo die zugänglichen Segmente weniger werden - die billigen, die vielleicht auch schlechter ausgestatteten, aber zugänglichen Wohnungen. Das Risiko, in eine Situation zu geraten, in der man mit Wohnungslosigkeit oder ungesicherten Wohnverhältnissen konfrontiert ist, nimmt zu. Interessanterweise steigt es nicht nur bei bestimmten klassischen Klischeegruppen, die vielleicht auch in Konsequenz von Veränderungen in der psychiatrischen Versorgung und in anderen Bereichen klassisch den Obdachlosen zugerechnet werden, sondern die Personen kommen aus ganz unterschiedlichen Schichten, Berufsgruppen, Regionen und Milieus. Diese Diversifizierung der Wohnungslosen oder von Obdachlosigkeit bedrohten Menschen ist eine Folge der Differenzierungen und Veränderungen am Arbeits- und Wohnungsmarkt. Und daher finden wir auch Personengruppen, die wir klassisch überhaupt nicht diesem Stereotyp zuordnen und unterordnen können.

Es gibt ja in Wien recht viele Einrichtungen für Obdachlose, aber es gibt nun einmal auch Obdachlose, die in diesen Einrichtungen nicht leben wollen oder können. Was wären denn Lösungsmöglichkeiten, dass diese Leute trotzdem selbstbestimmt leben können?

Reinprecht: Die Schwierigkeit liegt sicher darin, dass die sozialpolitischen Maßnahmen sehr stark von normierten Vorstellungen ausgehen. Was ist Versorgung? Was bedeutet Wohnen? Welche Grundbedürfnisse müssen erfüllt sein? Was sind überhaupt diese Grundbedürfnisse? Das kommt auch daher, dass wir hier in einem Land leben, in dem der geförderte Wohnbau und der soziale Gemeindewohnbau eine starke Stellung haben - und in diesen Bereichen hat man sehr definierte Vorstellungen eines guten Wohnraumes. Diese Dinge werden in Prozessen definiert, in die die Betroffenen nicht einbezogen sind. Heute können wir aber auch beobachten, dass Wohnkonzepte ins Spiel kommen, die mit diesen sehr stark definierten, fixierten Wohnvorstellungen wenig gemein haben. Es gibt ja recht interessante Bewegungen, die zwar klein sind, aber sozialpolitisch meines Erachtens sehr interessant: Das können die Wagenleute sein, das können Leute sein, die Häuser besetzen. Dahinter sind Vorstellungen eines nicht kommodifizierten, vermarkteten Wohnraums, dass Wohnen vielleicht mehr ein kollektives Gut ist, das auch kollektiv genutzt wird und nicht nur privat angeeignet ist. Das ist deshalb so wichtig, weil ja die letzten zwanzig, dreißig Jahre doch durch eine starke Ökonomisierung des Wohnens gekennzeichnet sind. Wohnen wird heute zunehmend auch bei jungen Leuten als ein Gut gesehen, das auch eine Anlage ist, eine Altersversicherung darstellt, das eine Investition repräsentiert und nicht als etwas, das mit der Lebenswelt verbunden ist. Das ist eine wichtige Frage, weil sie das Thema der Wohnungslosigkeit oder Obdachlosigkeit berührt, weil hier ja auch unterschiedliche Wohnvorstellungen aufeinanderprallen. Es ist ganz klar, dass die Notunterkünfte für spezielle Gruppen sinnvoll und angemessen sind. Aber es gibt unter jenen Personen, die im öffentlichen Raum übernachten, sehr unterschiedliche Bedürfnislagen und Lebenssituationen. Daher ist diese standardisierte Form und diese Normierung wahrscheinlich der falsche Weg. Man müsste zum Teil einfach die Zugänge zum Wohnungsmarkt verbessern und die Möglichkeiten auch für vorübergehendes Wohnen öffnen. Man müsste Segmente des Wohnungsmarktes so gestalten, dass Personen, die wenig Einkommen haben oder die vielleicht auch nur vorübergehend in der Stadt sind, auch eintreten können. Man kann beobachten, dass diese Segmente des Wohnungsmarktes, etwa Kategorie D-Wohnungen, immer weniger zur Verfügung stehen. Daher sind viele Leute, die früher in diesen Bereichen des Wohnungsmarktes untergekommen sind, zunehmend angewiesen, alternative Lösungen zu finden, ein Teil davon findet sich auf der Straße. Man bräuchte also mit Sicherheit eine wohnpolitische Lösung. In Bezug auf Versorgungsmaßnahmen und Notschlafstellen sollte man mehr versuchen, die realen und heterogenen Lebenssituationen der Menschen mit einzubeziehen, denn auch hier gibt es extrem normierte Vorstellungen: Wer ist überhaupt unser Klient? Viele, die von Wohnungslosigkeit oder dem Risiko der Wohnungslosigkeit betroffen sind, passen überhaupt nicht in dieses Schema.

Spielen bei diesen Änderungen wirtschaftliche Mechanismen oder Ziele eine Rolle? Ist was dran am „Wettbewerb der Städte“?

Reinprecht: Bei der Gestaltung der Wohlfahrtspolitik spielt die Frage der Positionierung der Stadt eine wichtige Rolle. Das ist allerdings nichts Neues. Nehmen wir das viel besungene Rote Wien zu Beginn des 20. Jahrhunderts: Auch der kommunale Wohlfahrtsstaat des Roten Wien war eine gewisse Positionierung im Konzert der europäischen Städte, die von der Arbeiterbewegung und den damit verbundenen Kämpfen und Konflikten erfasst wurden. Heute ist die Positionierung der Städte weniger auf der Konfliktlinie zwischen Arbeit und Kapital, rechts und links - also politisch - angesiedelt. Vielmehr stellt sich jetzt die Frage: Bin ich eine Global City oder bin ich eher peripher? Es geht hier um Wettbewerbsüberlegungen, um die Attraktivität der Städte in Hinblick auf qualifizierte Arbeitskräfte, auf Standorte von Unternehmen, auf Tourismus. Und selbstverständlich ist die sozialpolitische Gestaltung ein wesentlicher Bestandteil davon. Wien wirbt ja damit, die höchste Lebensqualität der Städte zu haben - und die Sozialpolitik ist ein ganz wesentlicher Pfeiler davon: geförderter Wohnbau, gepflegte Parks, Ausstattung mit Kindergärten etc. Das Thema Obdachlosigkeit ist aber ein Thema, das diese Vorstellung einer perfekt gestalteten Stadt mit hoher Lebensqualität aufbricht, weil sich da plötzlich im öffentlichen Raum Elemente des Nicht-Zugehörigen einnisten, die sich wie eine Störung in diesem wunderschönen perfekten Modell darstellen. Das ist ein Grund, warum Städte sehr viel investieren, um diese Erscheinungen zumindest an der Oberfläche des Stadtraums zu neutralisieren. Ich sage das bewusst sehr hart. Das kann sein, dass man versucht, die Zahl der Obdachlosen zu reduzieren oder dass man sie zumindest in unsichtbare Zonen bringt, damit man sie nicht im Zentrum hat, wo der Tourismus ist, wo vielleicht die Wohlbetuchten oder die qualifizierten Arbeitskräfte angezogen werden sollen. Das kann aber auch sein, dass man das Betteln reguliert oder verbietet, dass man bestimmte Formen des Sichtbaren unsichtbar macht. Diese ganz neue Form der Regulation von Armut ist eine Art der Unsichtbarmachung. Das geschieht teilweise mit sehr diffizilen und subtilen Methoden und nicht immer mit polizeilichen Maßnahmen. Insofern war die Räumung des Stadtparks eher eine Ausnahmeerscheinung. Meistens geschieht das viel subtiler, mit Hilfe von Sozialarbeit und ähnlichen Mitteln. Aber so sehe ich diesen Konnex von Ökonomie, Stadtpolitik, Wettbewerb und einer Sozialpolitik, die dieses Lebensqualitätsmodell auf Hochglanzpapier transportieren möchte.

Öffentlicher Raum? Foto: Dieter Diskovic

Sie haben einiges über den öffentlichen Raum geforscht. Glauben sie, dass die Wiener und Wienerinnen ein Bewusstsein für den öffentlichen Raum haben? Würde sich Protest regen, wenn er zu sehr privatisiert und reguliert wird?

Reinprecht: Der öffentliche Raum entsteht dadurch, dass er gelebt und angeeignet wird und die Menschen ihn für ihre Dinge nutzen. Jetzt ist Wien eine Stadt, in der der öffentliche Raum sehr stark von oben herunter reguliert und gestaltet ist. Die spontane Aneignung des öffentlichen Raumes ist etwas, das hier keine sehr lange Tradition hat oder zumindest nicht sehr verankert ist. Es gibt in den letzten Jahren verstärkte Versuche, den öffentlichen Raum kreativ und spontaner anzueignen, also zu einem wirklichen öffentlichen Raum zu machen. Die Diskussion um die Mariahilfer Straße ist natürlich ein Kristallisationspunkt. Aber an diesem Beispiel zeigt sich auch, dass die Diskussion letztlich sehr stark unter dem Gesichtspunkt ökonomischer Rentabilitätskriterien erfolgt. Es geht nicht so sehr darum, dass hier ein öffentlicher Raum entsteht, sondern primär darum, dass sie eine nette Einkaufsstraße wird. Und das ist charakteristisch für die Wiener Situation: die bekannten Orte, die wir als neue öffentliche Räume zelebrieren oder die zelebriert werden, wie zum Beispiel das Museumsquartier, sind hoch regulierte Orte, die alles andere als öffentlich im Sinne von aneigenbar und zugänglich für jedermann sind. Das ist ein sehr interessanter Aspekt für Wien, daher bin ich nicht so zuversichtlich, dass die ökonomische Aneignung, die Privatisierung, also die Unterordnung des Öffentlichen unter privatökonomische Interessen, auf viel Widerstand stößt. Es ist eher im Gegenteil ganz interessant zu beobachten, wie die sogenannte Belebung des öffentlichen Raums durch Schanigärten, durch das Aufstellen von Weihnachtsmärkten, von Ostermärkten – quasi einer Verhüttelung der Stadt - sehr positiv rezipiert wird. Es gibt hier ein ganz schräges Verständnis des öffentlichen Raums, wo diese folkloristische Art der Nutzung sehr positiv bewertet wird, während etwa die Nutzung, die daraus besteht, dass Menschen diesen Raum etwa als Arbeitsraum aneignen - nehmen wir das Thema Betteln - sehr negativ bewertet wird. Ich sehe eine starke Tendenz einer Folklorisierung des öffentlichen Raums, die ihr Echo im Selbstbild der Stadt und der Menschen findet.

Gibt es die Tendenz, Randgruppen unsichtbar zu machen, auch in anderen Ländern? Könnte man von einer Art Trend sprechen?

Reinprecht: Ja. Die soziale Frage, die ja zu Beginn im 19. Jahrhundert eher eine Frage der Arbeit war, wandelt sich in eine Frage der Armut. Der Konnex Arbeit - Armut verschiebt sich, er verändert seine Gestalt. Ein bestimmter Typus von der Gestaltung der Beziehung Arbeit - Armut, das was man als das Zeitalter der Vollbeschäftigung, der goldenen Jahrzehnte des Wohlfahrtsstaates nach dem Zweiten Weltkrieg bezeichnet, dieser hat sich sehr stark gewandelt - und zwar in Richtung eines Modells, das man in der Forschung die „ausschließende Armut“ nennt. Armut wird nicht mehr als Sonderfall wahrgenommen und definiert. Es gibt eine erhebliche größere Zahl an Menschen, die aufgrund der Transformationen am Erwerbsarbeitsmarkt in Armut, Armutsgefährdung oder Prekarisierung leben und Schwierigkeiten haben, am Wohnungsmarkt unterzukommen. Selbst wenn man beschäftigt ist, heißt das nicht, dass man mit seinem Einkommen überleben kann. Die Art, wie die Gesellschaft mit dieser Frage der Inklusion und Exklusion umgeht, hat sich seit den 1960er Jahren extrem gewandelt. Heute gibt es ein viel stärkeres Prinzip der Ausschließung. Man versucht, Armut zu individualisieren, indem man sagt: Du musst selber schauen, dass du hineinkommst, du bist selbst verantwortlich für dein Leben. Man versucht zu aktivieren: Du musst schauen, dass du dich anstrengst. Das Beispiel der Obdachlosigkeit ist in diesem Zusammenhang interessant, weil die Kluft zwischen der Art des Umgangs der Gesellschaft mit diesem Thema und der Präsenz des Phänomens so stark ist. Sie haben einen gesellschaftlichen Diskurs, der immer auf Leistung und Wohlstand und individuelle Glücksbefriedigung hinausläuft, und sie haben auf der anderen Seite eine zunehmende Präsenz von Prekarität, da ist ein großer Widerspruch. Der große Bereich jener, die sich nicht individualisieren, nicht einbinden, nicht aktivieren lassen, der im Widerspruch zum Selbstmodell der Gesellschaft steht, wird tendenziell unsichtbar gemacht. Und das ist etwas, das wir nicht nur in Österreich haben. Diese Veränderung, wie der Wohlfahrtsstaat heute funktioniert, können wir in allen europäischen Ländern weitgehend beobachten.

Durch diese Änderungen im Sozialstaat hat die Armutsmigration innerhalb der EU stark zugenommen. Wie könnte die EU, wie könnte Österreich reagieren? Momentan werden Obdachlose in Ungarn vertrieben und wenn sie nach Österreich kommen, werden sie wieder vertrieben. Gibt es Lösungsansätze, wie man das verhindern könnte?

Reinprecht: Das ist ein extrem interessanter Fall, weil sich am Beispiel der sogenannten Armutsmigration die ganze Frage aufbaut: Was ist überhaupt das Sozialmodell Europa? Es gibt noch kein Sozialmodell Europa. Es gibt keine institutionalisierte Form des Wohlfahrtsstaates auf europäischer Ebene, alles ist nationalstaatlich geregelt. Es gibt zwar zunehmend Versuche, diese Systeme zu verbinden, zu homogenisieren, aber alle diese Versuche waren in der Vergangenheit gewissermaßen aus der Perspektive des Zentrums definiert, also für Mittelschichten, für Beschäftigte in qualifizierten Berufen, die mobil sind und auf Grund dieser Mobilität auch die Systemharmonisierung benötigen. Nun wird aber dieses Prinzip der Freizügigkeit selbstverständlich nicht nur von jenen genutzt, die am Arbeitsmarkt gut integriert sind oder die auch sonst wohlhabend sind - siehe die Pensionisten, die im Alter nach Mallorca übersiedeln - sondern es wird auch von jenen Menschen realisiert, die wenig haben und diese Freizügigkeit als Möglichkeit wahrnehmen, um aus ihren teilweise sehr schwierigen Kontexten im Herkunftsgebiet zu entkommen oder Chancen wahrzunehmen, die sie vielleicht noch gar nicht genau einschätzen können. Durch ihre Wanderung im europäischen Raum konfrontieren sie Europa mit dem eigenen Prinzip der Freizügigkeit bei gleichzeitigem Fehlen eines Sozialmodells. Ich finde das aktuell eine sehr wichtige Phase, weil es die Gelegenheit gibt, dieses Sozialmodell profund zu diskutieren. Es kann nicht sein, dass das Sozialmodell nur eines für die gut integrierten ist und alle anderen in ihren Herkunftsländern bleiben sollen. Das wäre genau dieses Prinzip des Unsichtbarmachens. Im Grunde genommen kann die Lösung nur ein europäisches Sozialmodell sein, das die Frage der Armut integriert betrachtet, als etwas, das aus der Gesellschaft heraus erzeugt wird, durch ungenügende oder ungleiche Chancen im Zugang zum Arbeitsmarkt, zum Wohnungsmarkt etc.

Es gibt verschiedene Ansätze, was eine Neugestaltung des Sozialsystems betrifft. Könnten Mietobergrenzen, wie sie in letzter Zeit diskutiert wurden, eine Lösung sein?

Reinprecht: Wir haben in Österreich seit den 1980er Jahren eine sukzessive partielle Deregulierung des Wohnungsmarktes. Der Wohnungsmarkt in Österreich war sehr reguliert, auch was die Mieten betrifft. Vor allem in Wien war er durch einen hohen Anteil an Sozialwohnungsbau, Gemeindebau und öffentlich gefördertem Wohnbau geprägt. Insofern hat man die Probleme am Wohnungsmarkt lange nicht sehr ernst genommen. Die Effekte von Reformen sind ja nicht sofort sichtbar. Wenn eine Reform stattfindet, ist der Effekt erst zehn, fünfzehn Jahre später wirklich spürbar. Etwa die langfristigen Effekte der Stadterneuerung: Der Wohnraum wurde besser, aber teurer in der Weitervermietung. Noch in den 1980er Jahren gab es in Wien viel schlecht ausgestatteten Wohnungsbestand. Heute kommen in Zyklen neue und neu renovierte Wohnungen auf hohem Standard auf den schwach regulierten Markt. Die Chancenungleichheit im Zugang zum Wohnungsmarkt nimmt dadurch stark zu. Eine Deckelung der Mieten wäre daher eine ganz logische Konsequenz. Die jetzigen Mechanismen sind einfach zu weich, aus der Mieter und Mieterinnenperspektive ist die Situation sehr schwierig geworden. Wenn man diese längerfristigen Effekte der Wohnungsreformen, der Deregulierung sieht, dann wäre eine Re-Regulierung in diesem Sinn sicher sehr wünschenswert. 

Wäre das Bedingungslose Grundeinkommen einen Versuch wert?

Reinprecht:  Das Bedingungslose Grundeinkommen wäre sicherlich eine interessante Lösung, allerdings müssten meines Erachtens zwei Dinge berücksichtigt werden. Das Erste ist: es müsste darauf geachtet werden, dass es nicht an Bedingungen geknüpft ist - darum heißt es ja bedingungsloses Grundeinkommen. Ich sage das deshalb, weil die Ansätze, die es im europäischen Raum gibt, etwa das RSA (Revenu de Solidarité active) in Frankreich, zu Leistungen wie Aktivierung, Arbeitsplatzsuche und Ähnlichem verpflichtet. Der zweite wichtige Punkt wäre allerdings: das Bedingungslose Grundeinkommen ändert so lange nichts, so lange wir nicht massiv versuchen, den Arbeitsbegriff neu zu definieren. Ein Schlamassel der Gesellschaft besteht ja darin, dass das Erwerbsarbeitskonzept nach wie vor so zentral ist. Nun ist aber die Erwerbsarbeit in den letzten zwanzig, dreißig Jahren durch die Veränderung technologischer und organisatorischer Art in einer Weise strukturiert, dass sie zunehmend jene Elemente niedrig hält, die gesellschaftliche Integration über den reinen Einkommenserwerb gewährleisten. Was ich damit sagen will: Erwerbsarbeit wird zunehmend nur unter Effizienzkriterien gesehen, unter dem Gesichtspunkt der ökonomischen Rationalität und immer weniger unter dem Gesichtspunkt der Kommunikation, der Solidarität, der Gemeinschaft oder der gemeinschaftlichen Interessen. Diese entsolidarisierende Funktion der Erwerbsarbeit ist eigentlich ganz grotesk, weil es ja früher genau das Gegenteil war: da war Erwerbsarbeit das integrative Element. Heute ist Erwerbsarbeit gewissermaßen das spaltende Element und das weist darauf hin, wie wichtig es wäre, den Arbeitsbegriff vom Erwerbsarbeitsbegriff herauszulösen und die Debatte um das Bedingungslose Grundeinkommen an die Redefinition des Arbeitsbegriffes zu knüpfen. Ich halte das für ganz, ganz entscheidend, denn nur dann gelingt es auch, aus all jenen, die ein Grundeinkommen beziehen, aber nicht am Erwerbsarbeitsmarkt integriert sind, nicht wieder stigmatisierte, marginalisierte Out-Groups zu machen. Es geht um eine Redefinition: Was ist überhaupt der Kern der gesellschaftlichen Eingliederung? Und das kann nicht nur und sollte nicht nur die Erwerbsarbeit sein.

 

Christoph Reinprecht ist Soziologe an der Universität Wien. Seine Forschungsschwerpunkte sind Sozialstruktur und soziale Ungleichheit, politische Soziologie, Soziologie der Migration und Stadtsoziologie.

Das Interview führte Dieter Diskovic. Er hat Kultur- und Sozialanthropologie studiert und engagiert sich bei der Screaming Birds Aktionsgruppe.

 

Erasmus für alle?

  • 22.06.2013, 23:59

Mit Erasmus reisen Studierende seit über 25 Jahren ins europäische Ausland. Jetzt gibt es eine neue Generation. Ob „Erasmus für alle“ halten kann, was es verspricht?

Mit Erasmus reisen Studierende seit über 25 Jahren ins europäische Ausland. Jetzt gibt es eine neue Generation. Ob „Erasmus für alle“ halten kann, was es verspricht?

Wie lernen sich ein steirischer Bauernsohn und ein Citygirl aus Birmingham kennen? Im Normalfall gar nicht – sie kommen aus allzu unterschiedlichen Welten. So wäre es auch Reini Moschitz ergangen, hätte er nicht an jenem Tag vor elf Jahren in einem Portugiesisch-Kurs in Coimbra gesessen und seine künftige Frau Diana das erste Mal gesehen. Und Julius, Isi und die kleine Amadea, die heute in einem versteckten Garten hinter den Mauern des Schloss Belvedere herumtollen und einander ein buntes Kauderwelsch aus Deutsch und Englisch zurufen, gäbe es auch nicht.

„Im normalen Leben hätten wir uns nie kennengelernt“, sagt Diana. Erasmus machte es möglich. Das Paar verliebte sich und verbrachte ein aufregendes gemeinsames Jahr in Portugal. Nach vorübergehender Trennung, jahrelanger Fernbeziehung und gemeinsamen Auslandsaufenthalten haben sie 2008 geheiratet. Die Hochzeitsgäste reisten aus 26 verschiedenen Ländern an. Im September erwarten sie ihr viertes Kind.

Geschichten wie die von Reini und Diana machen Erasmus seit gut 25 Jahren zum Vorzeigeprogramm der EU. Hier werden junge Menschen aus den unterschiedlichsten Ländern zu Europäerinnen und Europäern. Kein Wunder also, dass das Programm auch in Österreich immer beliebter wird. Im Studienjahr 2011/12 haben insgesamt 5590 österreichische Studierende einen Erasmus-Aufenthalt absolviert. Die Zahlen steigen seit 1992, als die ersten Studierenden aus Österreich ins europäische Ausland geschickt wurden, stetig an. Dem taten auch Änderungen in den Studienplänen, die mit der Bologna-Umstellung einhergingen, keinen Abbruch.

Bei einer solchen Erfolgsgeschichte war es für viele ein Schock, als vor einigen Monaten die Medien berichteten, dass die Erasmus-Förderungen gekürzt werden sollen. Gerhard Volz, der beim Österreichischen Austauschdienst (OEAD) Bereichsleiter für Erasmus ist, kann beruhigen: „Da ist wohl in der Pressearbeit der Kommission etwas fehlgeschlagen.“ Ein verunglückter Marketing-Gag: Die europäische Kommission wollte wohl durch diese Ankündigungen Aufmerksamkeit erregen, gerade weil Erasmus ein solches Prestigeprojekt darstellt. Geführt hat die Pressearbeit aber vor allem zu Verwirrung. Die tatsächliche Finanzierung des Programms sei laut Volz nie in Gefahr gewesen. „In Österreich wäre notfalls auch das Wissenschaftsministerium eingesprungen, um die versprochenen Stipendien auszahlen zu können“, sagt er.

Über das Erasmus-Budget ab 2014 werde aber sehr wohl noch verhandelt. Denn dann startet das neue Bildungsprogramm der EU mit dem Titel „Erasmus für alle“. Zwar soll es insgesamt zu einer Aufstockung der Mittel in diesem Bereich kommen, wie sich das Budget auf die einzelnen Programme verteilen wird, ist aber noch nicht klar. Auch inhaltliche Änderungen sind angedacht, jedoch noch nicht beschlossen. So sollen etwa weitere Länder in den Erasmus-Raum aufgenommen werden. Es gibt also noch einiges zu klären und die Zeit drängt, denn schon im nächsten Studienjahr soll es losgehen.

Diana und Reini Moschitz lernten sich in Coimbra auf Erasmus kennen. Foto: Luiza Puiu

Der Arbeitstitel des neuen Programms verspricht „Erasmus für alle“. Ob man das wohl halten kann? „Leider nein“, sagt Volz: „Die Erfahrung zeigt, dass ein Auslandssemester für Studierende umso wahrscheinlicher ist, je höher der berufliche Status und der akademische Ausbildungsgrad der Eltern angesiedelt sind.“ Derzeit ist das Erasmus-Stipendium, das den Studierenden zur Verfügung steht, an die Lebenserhaltungskosten des Gastlandes gekoppelt. So bekommt eine Erasmus-Studentin, die nach Schweden geht, einen Zuschuss von 368 Euro im Monat. Ihr Kollege, der in Paris studiert, erhält nur 300 Euro, weil Frankreich in eine niedrigere Kategorie fällt. Dass damit in Städten wie Paris nicht einmal ansatzweise die Miete für ein kleines Zimmer gedeckt ist, wird nicht berücksichtigt. In jedem Fall reicht das Stipendium nicht als einzige Finanzierungsquelle. Die meisten Erasmus-Studierenden werden deshalb von ihren Eltern unterstützt, müssen auf Erspartes zurückgreifen oder sich um zusätzliche Fördermittel bemühen.

Und auch wer die nötigen familiären und finanziellen Voraussetzungen erfüllt, hat immer noch einige Hürden zu überwinden. Am Beispiel der Wienerin Manuela wird das besonders deutlich: Sie macht einen Master an der TU Wien und ist eine prädestinierte Erasmus-Teilnehmerin – sie hat sehr gute Noten und sogar einen studienbezogenen Nebenjob. Schon jetzt hat sie das Auslandssemester 250 Euro gekostet: TOEFEL-Sprachtest mit Vorbereitungsbuch, eingeschriebene Eilbriefe und Telefonate ins europäische Ausland. Und das, ohne Wien überhaupt verlassen zu haben.

Dabei fing alles gut an: Fristgerecht gab Manuela ihre Bewerbung mit den nötigen Unterlagen ab. Ihre erste Wahl war Helsinki. Sie wurde abgelehnt. Eine andere Studentin habe schon mehr ECTS gesammelt als sie, hieß es von der zuständigen Koordinatorin an der TU. „Mehr ECTS als ich kann man fast nicht haben, denn dann ist man mit dem Studium fertig“, sagt Manu. Für ihre zweite Wahl bekam sie erst gar keine Absage. Der zuständige Koordinator nominierte zwar einen Studierenden, lehnte aber die anderen BewerberInnen nicht ab. So blieb Manu im System hängen, ihre Bewerbung wurde nicht weitergeleitet. Nach Ablauf aller Fristen stand sie ohne Erasmus-Platz da. Nach einigen Beschwerden und vielen „wir können da nichts mehr machen“ seitens der KoordinatorInnen und des Erasmus-Büros wurde sie für einen Restplatz in Dänemark nominiert – eine fixe Zusage hat sie bis heute nicht.

Erasmus ist eben nicht nur eine großartige Erfahrung, sondern auch ein unglaublicher Papieraufwand. Die Gelder kommen von der EU-Kommission, werden von den jeweiligen Nationalagenturen verwaltet und an die Studierenden verteilt. Wer aber auf Erasmus gehen darf, entscheidet jeder Studiengang mit seinen FachkoordinatorInnen selbst. Das sind Uni-ProfessorInnen, die sich neben ihrer Forschung und Lehrverpflichtung zusätzlich – und unentgeltlich – um die Vergabe der Erasmus-Plätze kümmern; tun sie das nicht, passiert das zum Schaden der Studierenden, wie der Fall von Manu zeigt.

Erasmus endet auch nicht mit dem Rückflug. Zuhause angekommen, wird mit den FachkoordinatorInnen weiterverhandelt. Es muss geklärt werden, ob die Lehrveranstaltungen, die an der Gastuni besucht wurden, auch für das eigene Studium angerechnet werden. Obwohl jedeR Erasmus Studierende dies bereits in Form eines Learning Agreements vor Abreise mit seiner eigenen Uni und der Gastinstitution vereinbart, kommt es immer wieder zu Problemen. Müssen Prüfungen nachgemacht oder sogar ganze Lehrveranstaltungen wiederholt werden, kann sich das Studium verlängern – im schlimmsten Fall müssen sogar Studiengebühren bezahlt werden. „Das sind aber nur Einzelfälle“, beruhigt Karin Krall vom Büro für internationale Beziehungen der Uni Wien. Das bestätigt auch die PRIME-Studie des Erasmus Student Network (ESN) aus dem Jahr 2010, die sich mit Anrechnungsproblemen auseinandersetzt. Von fast 9000 europäischen Studierenden gaben lediglich 12,9 Prozent an, dass sich ihr Studium durch den Auslandsaufenthalt verlängert hat. Auch Reini, der seine Studienzeit neben Graz und Coimbra noch an drei weiteren internationalen Unis verbrachte, kennt die Probleme bei den Anrechnungen: „Ja, es kostet jede Menge Mühe und Zeit“, sagt er: „Trotzdem wäre es mir den Aufwand immer wieder wert.“

Und er ist nicht der Einzige, der so denkt. Auch Claudia Walouch wurde während ihres Semesters in Göteborg mit dem Erasmus-Virus infiziert. „Als ich zurückkam, hatte ich richtig Panik, dass ich mit keinen internationalen Studierenden mehr in Berührung komme“, erzählt sie. Drei Jahre lang war sie deshalb ehrenamtlich für ESN tätig. Das Netzwerk gibt es mittlerweile in 36 Ländern. Mit Ausflügen, heimischen PartnerstudentInnen (sogenannten „Buddys“) und Partys hilft es den Ankömmlingen, im Gastland Anschluss zu finden. Dass es bei Erasmus nur ums Feiern geht, wie dem Programm öfter vorgeworfen wird, stimmt nicht. Claudia hat durch ihre Zeit in Göteborg und ihre Arbeit bei ESN herausgefunden, was sie machen will: Heute arbeitet sie für die Studienzulassung im Auslandsreferat der WU und hat täglich mit internationalen Studierenden zu tun. Es scheint, als würde die interkulturelle Kompetenz, die ein Auslandsstudium mit sich bringt, immer noch eine spezielle Auszeichnung für das spätere Berufsleben sein.

Interkulturelle Kompetenz – die verlangt nicht nur die Berufswelt, sondern auch der Alltag in einer Union mit 500 Millionen BürgerInnen mit verschiedensten Wurzeln. Es gibt wohl kein zweites Programm, das diese Fähigkeit so gut vermittelt. Erasmus ist aber keineswegs für alle; noch richtet sich das Programm an eine akademische Elite. Aber jeder fängt klein an: Im allerersten Erasmusjahr 1987 nahmen 3244 Studierende aus elf Ländern am Programm teil. Mittlerweile sind es jährlich über 230.000. Wie viele werden es wohl sein, wenn im Jahr 2020 „Erasmus für alle“ ausläuft? Und wie viele erst, wenn Julius, Isi und Amadea auf Erasmus gehen? Aber denen wurde die interkulturelle Kompetenz ja sowieso schon in die Wiege gelegt.

Zwei Erfahrungsberichte:

Daniel Wenda (22) studiert an der Fachschule Kufstein Sport-, Kultur- und Veranstaltungsmanagement

Daniel Wenda (22), Fachschule Kufstein, Sport-, Kultur- und Veranstaltungsmanagement. Foto: Luiza Puiu

Daniel ist anders. Anders als die meisten anderen österreichischen Erasmus-Studierenden: Die sind weiblich, studieren an der Uni Geschichte oder Jus und gehen nach Madrid oder Paris. „Was soll ich dort? Da war doch schon jeder auf Urlaub“, dachte sich Daniel. Er entschied sich für die litauische Hauptstadt Vilnius. Während viele Studis es schwer haben, Einheimische in den Gastländern kennenzulernen, wurde Daniel von seiner Mentorin Akvile Skurkaite vom Flughafen abgeholt. Sie zeigte ihm schon in den ersten Wochen, wie die baltische Hauptstadt tickt, und begleitete ihn während seines ganzen Aufenthalts. Auch hatte er keine Schwierigkeiten, sich sein Leben zu finanzieren: Mit der Erasmus-Förderung konnte er sich ein geräumiges WG-Zimmer direkt im Zentrum von Vilnius leisten und einen Teil seiner Lebenserhaltungskosten abdecken – dafür reicht das Geld in anderen europäischen Hauptstädten nicht mal ansatzweise.
Der Nationalfeiertag und das Oktoberfest wurden in der österreichischen Botschaft begangen und im Einkaufszentrum gab es ein Bistro mit Meinl-Kaffee und Mannerschnitten. Sonst hatte Daniel wenig mit Landsleuten und österreichischer Kultur zu tun. Denn er war nur einer von etwa 20 ÖsterreicherInnen, die ihren Erasmus-Aufenthalt im letzten Studienjahr in Litauen verbrachten. Trotz eher spärlicher Kenntnisse der Landessprache hat sich Daniel gut zurechtgefunden: „Alle jungen Leute in Vilnius sprechen Englisch.“ Bereits in Österreich konnte er sich aus einem dicken Katalog, den ihm die Gastuni zugeschickt hatte, Lehrveranstaltungen aussuchen. Da gab es Kurse auf Litauisch und Russisch, auf Deutsch und Italienisch. Und sogar auf Suaheli – für diejenigen, die besonders lernwillig waren.

Zum zweiten Erfahrungsbericht:

Louise Tersen (23) kommt aus Paris und studiert BWL an der WU Wien

Während die einen einfach nur aus Österreich rauswollen, vergisst man manchmal, dass andere mit großer Freude hierher kommen. Ja, auch Wien kann etwas Spannendes an sich haben. Etwa für die Französin Louise, die ein Erasmus-Semester an der WU verbringt. Ungewohnt ist für sie beispielsweise die schwere österreichische Küche – Schweinsbraten, Leberknödel und Gröstl –, die sie augenzwinkernd als „Winter-Nahrung“ bezeichnet.
Über Erasmus wollte sie ihr Deutsch verbessern. „Bei einer Auswahl zwischen Mannheim, München und Wien ist mir die Entscheidung nicht schwergefallen“, sagt Louise. Von einer österreichischen Sprach-Tandem-Partnerin hatte sie schon vorab viel über ihre Gaststadt erfahren. „Natürlich hatte ich noch dieses romantische Image vom historischen Wien, aber ich war auch schon auf ein aufregendes Nachtleben und ein vielfältiges Kulturangebot vorbereitet.“ Um auch wirklich mit der österreichischen Kultur in Berührung zu kommen, war für Louise klar, dass sie nicht mit zig anderen Erasmus-Studis in ein Wohnheim wollte. Stattdessen lebt sie jetzt mit drei OberösterreicherInnen in einer WG im 2. Bezirk. Der Anschluss, den sie dort gefunden hat, wäre über die Uni nur schwer zu finden gewesen: „Die meisten Kurse in meinem Masterprogramm finden auf Englisch statt. Dort sitzen fast nur internationale Studierende. Außerdem ist es klar, dass viele österreichische Studis nicht daran interessiert sind, Freundschaften
aufzubauen, wenn der oder die andere nach einem halben Jahr wieder weg ist.“ Louise hat es trotzdem geschafft, aus der Erasmus-Bubble auszubrechen und sich in Wien heimisch zu fühlen. „Mit Juli schließe ich mein Studium ab und befinde mich bereits jetzt auf Jobsuche. Sollte sich in Wien eine Möglichkeit auftun, wäre es großartig, einfach hier zu bleiben.“

Louise Tersen (23), aus Paris, studiert BWL an der WU Wien. Foto: Luiza Puiu

 

Die Autorinnen studieren Globalgeschichte und Rechtswissenschaften an der Uni Wien.

Die Geschichte einer Kämpferin

  • 17.06.2013, 19:46

Aktivist_in Nosphokzai Fihlani wurde Opfer einer homophoben Vergewaltigung*. Für progress Online erzählte sie der Gastautorin Caelyn Woolward ihre Geschichte und warum sie sich von dieser Erfahrung nicht unterkriegen lässt.

Die Aktivist_in Nosphokzai Fihlani wurde Opfer einer homophoben Vergewaltigung*. Für progress online erzählte sie der Gastautorin Caelyn Woolward ihre Geschichte und warum sie sich von dieser Erfahrung nicht unterkriegen lässt.

** Der erste Teil des Artikels erzählt Nosphokzai´s Geschichte, die evtl. ein Trigger sein kann. In dem Fall empfehlen wir, ab dem zweiten Unterpunkt "Gegenwehr" anzufangen. Anm. der Redaktion **

Nosphokzai’s Geschichte. Im Juni 2011 war Nosphokzai Fihlani nach einem Abend mit FreundInnen auf dem Weg nach Hause. Es war dunkel und gefährlich, aber sie ging diesen Weg oft und es war ihre Stadt. Sie hatte nichts zu befürchten. Eine Gruppe Männer lief hinter ihr. Sie fingen an, sie zu verspotten und machten grobe homophobe Kommentare. „Die Beleidigungen waren scheußlich und sie wurden immer schlimmer. Ihr Verhalten wurde heftig und ich bekam Angst. Also versuchte ich zu flüchten.“ Als Fihlani von den Männern wegrannte, liefen sie ihr hinterher. „Ich schaute zurück und sah, wie ein Mann mir hinterherlief. Ich rief um Hilfe, aber niemand hörte mich. Ich rannte in eine öffentliche Toilette und da gab es kein Entkommen mehr. Ich hatte keine andere Wahl, als mich zu wehren“, erzählt sie.

„Er versuchte, meine Hände festzuhalten, sodass ich mich nicht wehren konnte. Als ihm das nicht gelang, schlug er meinen Kopf gegen die Wand. Er hatte ein Messer und begann, zuzustechen“. Die Wörter strömen aus Nosphokazi Fihlanis Mund, als habe sie die Geschichte schon hundert Mal erzählt. Vor mehr als einem Jahr wurde die im Hlalani Township lebende Frau belästigt, angegriffen, gestochen, vergewaltigt und dem Tode überlassen. Der Überfall war nicht zufällig, das Motiv war eindeutig. Fihlani wurde vergewaltigt, weil sie lesbisch ist.

Die Narben an ihren Händen und ihrem Rücken sind noch immer sichtbar. Sie wehrte sich so gut sie konnte, aber letztendlich traf sie einer so hart, dass sie das Bewusstsein verlor: „Ein paar Stunden später wachte ich auf. Ich war nackt, allein und mir war kalt. Meine Kleider waren gestohlen. Ich wurde vergewaltigt, weil ich eine Lesbe bin.“

Gegenwehr: Ihre Geschichte ist nur eine von vielen Vorfällen von homophoben Vergewaltigungen in Südafrika. Diese richten sich gegen Lesben und werden von Männern durchgeführt, die glauben, dass Frauen ihre sexuelle Orientierung ändern, wenn sie Sex mit Männern haben. Manche sind der Ansicht, dass Frauen für ihre Homosexualität bestraft werden müssten.

„Sie glauben, dass das, was sie mir angetan haben mich ändern wird. Aber das wird es nicht. Ich bin noch immer derselbe Mensch. Ich werde mich durch sie nicht unterkriegen lassen. Ich möchte, dass die Leute wissen, was mit mir geschehen ist, denn wenn ich schweige, werden sie weitermachen.“ Da viele Fälle homophober Vergewaltigungen nicht angezeigt werden, kennt man die genaue Statistik nicht. Aber Fihlani bleibt stark: „Ich werde mich nicht verstecken und mich schämen. Alle in meiner Nachbarschaft wissen, dass ich lesbisch bin und dass ich das vor niemandem verbergen werde.“

Eine Gemeinde im Krieg. „Menschen werden vergewaltigt, aber bekommen keine Hilfe. Die Gemeinde wendet sich gegen sie.“ Als die Gemeinde gefragt wurde, was sie von den homophoben Vergewaltigungen halten, waren die Antworten insbesondere von Männern eindeutig. Sie glauben oft, dass niemand außer einem Mann eine Frau befriedigen kann. „Ich hasse Lesben. Ich hasse sie. Es ist eine Abscheulichkeit” und „Vielleicht sollte die Regierung all diese Menschen aufgreifen, sie in ein anderes Land schicken und sie wegsperren“, sind nur zwei der Meinungen, die sich bei Männern in der Gemeinde wiederfinden. Als gefragt wurde, ob sie der Meinung wären, dass dies eine Art von Missbrauch sei, sagte einer: „Missbrauch ist nicht gut, aber es ist ein Weg, queere Frauen zu ändern.“

Inspirierende Personen. Zanele Nqokoqa, Nosiphokazis Freundin hält zu ihr. „Sie ist noch immer derselbe Mensch, den ich vorher kannte. Manche Männer sind eifersüchtig. Sie wollen das, was sie hat. Ich aber auch: Sie ist eine inspirierende Frau und ich bin sehr stolz darauf, wie stark sie ist.“ Eine Freundin von Nosiphokazi, Nolubabalo Matshoba, sagt, dass Fihlani sogar einen Trend unter den Lesben in Grahamstown gesetzt hat: „Sie trägt einen Anzug. Das ist untypisch, weil man sich in Grahamstown sehr informell kleidet. Sie sehen, wie schick sie im Anzug aussieht und sie schließen sich ihr an. Sie sehen, wie mutig sie ist und werden von ihr inspiriert. Sie fangen an zu akzeptieren wer sie sind und haben keine Angst sich zu outen.“

Matshoba hatte auch erst Angst, sich öffentlich zu ihrer Homosexualität zu bekennen. „Die Gegend in der wir leben ist kein sicherer Ort für Lesben. Aber als ich sie sah, und auch sah wie mutig sie ist, dachte ich, ich sollte auch so sein. Sie sagte mir, ich sollte akzeptieren wer ich bin.“

Nicht viele Frauen sind mutig genug, es Fihlani nachzutun. Aber hoffentlich werden sie durch ihre Geschichte und ihre Tapferkeit ermutigt, sich nicht zu verstecken und sich Gehör zu verschaffen.

Nosphokazi Fihlani setzt mit ihrer formellen Kleidung ein Zeichen: sie lässt sich nicht unterkriegen. Foto: Rosanna Scott

* in Anlehnung an die Kritik am geläufigeren Begriff „corrective rape“ („korrigierende Vergewaltigung“) wird der Begriff „homophobe Vergewaltigung“ vorgezogen. Anm. der Übersetzerin.

 

Der Text wurde aus dem Englischen ins Deutsche übersetzt von Lisa Zeller.

Zurückbleiben bitte!

  • 12.06.2013, 10:32

In Österreich erreichen nur fünf Prozent jener Kinder, deren Eltern einen Pflichtschulabschluss aufweisen, einen Hochschulabschluss. Claudia Aurednik hat mit dem Bildungssoziologen Ingolf Erler über die Probleme von Studierenden und AkademikerInnen aus der sogenannten „Workingclass“ sowie über die Fallstricke des österreichischen Bildungssystems gesprochen.

In Österreich erreichen nur fünf Prozent jener Kinder, deren Eltern einen Pflichtschulabschluss aufweisen, einen Hochschulabschluss. Claudia Aurednik hat mit dem Bildungssoziologen Ingolf Erler über die Probleme von Studierenden und AkademikerInnen aus der sogenannten „Workingclass“ sowie über die Fallstricke des österreichischen Bildungssystems gesprochen.

Ausschnitt aus dem Interview:

„Folgende Parameter sind für die Bildungslaufbahn entscheidend: der Geburtsort, der schulische Abschluss der Eltern und des sozialen Umfeldes, das Wohnviertel, die Lage der nächsten Schule, das Geschlecht des Kindes, das Einkommen der Eltern usw. Wenn man die Parameter weiß, so kann man relativ gut einschätzen wo das Kind einmal später landen wird. […]

Natürlich ist es ein Unterschied, ob man seine ganze Kindheit über AkademikerInnen am Sonntagstisch beim Essen gehabt hat, oder ob man AkademikerInnen nur als ÄrztInnen, ApothekerInnen und Lehrer in der Schule kennt. Kinder aus AkademikerInnenfamilien haben da einen ganz anderen Bezug. Sie merken, dass AkademikerInnen keine natürlichen Autoritäten sind, sondern Menschen mit denen man ganz normal reden kann. In Studien zeigt sich, dass gerade bei mündlichen Prüfungen dieser Unterschied ganz stark hervortritt. Denn bei in der Prüfungssituation ist die Inszenierung besonders wichtig. Zudem lassen sich Menschen aus unterprivilegierten Familien viel leichter einschüchtern und suchen die Fehler vor allem bei sich selbst. Auch die Autorität der Lehrenden wird von ihnen kaum hinterfragt. […]

Der universitätere Habitus wirkt auf „Workingclass Students" oft einschüchternd. Foto: Wolfgang Bankowski

Das Bildungssystem wird über Steuern finanziert und das ist auch sinnvoll. […] Aber da das Bildungssystem über Steuern finanziert wird, müssen die Universitäten und die höheren Schulen darauf achten, dass sie die öffentlichen Ausgaben auch wieder an die Gesellschaft zurückgeben. Eine der Grundvoraussetzungen dafür ist, dass sie halbwegs sozial und gleichberechtigt Leute aufnehmen und auch gleichberechtigt ihr Wissen an die Gesellschaft zurückgeben. Und das nicht nur einmal im Jahr bei einer ‚Langen nach der Forschung‘, sondern das ganze Jahr über. Das würde bedeuten, dass sich die Universitäten öffnen müssten, was wiederum dem Bild der Universität als elitäre Einrichtung widerspricht [...] Aber wenn Forschung und Lehre nur an wenige Gruppen in der Gesellschaft weitergegeben werden, dann darf man sich nicht wundern, dass die ÖsterreicherInnen so intellektuellen- und wissenschaftsfeindlich sind."

 

Ingolf Erler (Hg.): Keine Chance für Lisa Simpson? Soziale Ungleichheit im Bildungssystem. Wien: Mandelbaum Verlag 2007.

Ingolf Erler: http://www.ingolferler.net/

„One Billion Rising“ vor dem Wiener Parlament

  • 16.02.2013, 18:42

Am 14. Februar - dem „V-Day“ - fanden in 206 Ländern Aktionen gegen die Gewalt an Frauen unter dem Motto „One Billion Rising“ statt. Die Kampagne wurde von der US-amerikanischen Autorin und Feministin Eve Ensler initiiert, die vor fünfzehn Jahren den V-Day als Aktionstag gegen Gewalt an Frauen gegründet hatte.

Am 14. Februar - dem „V-Day“ - fanden in 206 Ländern Aktionen gegen die Gewalt an Frauen unter dem Motto „One Billion Rising“ statt. Die Kampagne wurde von der US-amerikanischen Autorin und Feministin Eve Ensler initiiert, die vor fünfzehn Jahren den V-Day als Aktionstag gegen Gewalt an Frauen gegründet hatte.

„One Billion Rising“ wurde als Aktionsaufruf angesichts der statistischen Ergebnisse der Vereinten Nationen ins Leben gerufen. Denn nach diesen wird eine von drei Frauen auf der Welt im Laufe ihres Lebens geschlagen oder vergewaltigt. Ausgehend von einer Weltbevölkerung von sieben Milliarden Menschen sind das mehr als eine Milliarde Frauen und Mädchen. Claudia Aurednik hat für progress die Aktion vor dem Wiener Parlament besucht und mit Teilnehmerinnen über die Gewalt an Frauen und die Kampagne gesprochen.

Daniela Hönig-Körbler. Fotos: Wolfgang V. Bankowski

Daniela Hönig-Körbler (Sozialarbeiterin, 32): „Zeigen, dass wir mehr sind, als jene, die sich das Recht herausnehmen Menschen wie Dinge zu behandeln.“

Anja Bauer

Anja Bauer (Sozialarbeiterin beim Verein Sprungbrett, 27): „Rassismus fällt auch unter Gewalt. Denn Gewalt hat viele Gesichter.“

Hilde Grammel

Hilde Grammel (Lehrerin, Aktivistin der Plattform 20.000 Frauen, 54): „Das Wichtigste ist, dass Frauen Lebensverhältnisse vorfinden, in denen sie materiell abgesichert und nicht gezwungen sind mit Männern zusammenzubleiben.“

Martha Moser

Martha Moser (Energetikerin, 37): „Ich glaube, das Wichtigste ist es zu erkennen, dass wir nicht alleine dastehen, sondern eine Gemeinschaft sind. Und dass wir damit beginnen uns auszutauschen und miteinander zu kommunizieren.“

Veronika Reininger

Veronika Reininger (freiberufliche EDV-Trainerin, 42): „Es ist einfach wichtig patriarchale Strukturen abzuschaffen. Solange ein patriarchales System vorherrscht und Frauen nicht den Männern gleichgestellt sind, ist Gewalt vorherrschend.“

Das zur Schau gestellte Elend

  • 12.02.2013, 13:45

Gender, Migration und Repräsentation in Kampagnen gegen Menschenhandel

Gender, Migration und Repräsentation in Kampagnen gegen Menschenhandel

Der Artikel erschien in der Zeitschrift der Frauensolidarität Nummer 121 (3/2012) mit dem Schwerpunkt Medien und Demokratie und wurde uns freundlicherweise zur Verfügung gestellt.
Die Autorin präsentiert einen Artikel von Rutvica Andrijasevic zur plakativen Darstellung von Migrantinnen im Zusammenhang mit internationalen Kampagnen im osteuropäischen Raum Ende der 1990er-Jahre. Im Folgenden eine Zusammenfassung mit Auszügen daraus.

Die Migration aus Osteuropa hat seit den 1990er-Jahren kontinuierlich zugenommen. Ursache dafür ist nicht nur die Unterbeschäftigung der Frauen in den Herkunftsländern, sondern auch die verstärkte Nachfrage nach weiblicher Arbeitskraft für den Niedriglohnsektor in der Europäischen Union. Diese Nachfrage besteht besonders im Bereich der undokumentierten Haus- beziehungsweise Sexarbeit der Schattenökonomie, in der oft sklavenähnliche Bedingungen herrschen. Der Begriff „Feminisierung der Migration“ spricht auf diese überwiegend weibliche Migration an. Aufgrund der wachsenden Migrationszahlen wird die Auswanderung nicht gerade leicht gemacht – zu den hohen Kosten und Gefahren kommen starke Beschränkungen durch Visum- und Arbeitsrechtbestimmungen, welche die Flucht aus patriarchalen und wirtschaftlich ungünstigen Verhältnissen zusätzlich erschweren.

Die Europäische Union schaffte zwar Binnengrenzen ab, verstärkte dafür aber die Außengrenzen im Osten. Beitrittskandidaten müssen ihre Regelungen an die EU-Richtlinien anpassen, das schafft differenzierte Mobilität zwischen den EU-15-Staaten, den Ländern Mittel- und Osteuropas (MOE-Länder), welche seit Mai 2004 Mitglieder wurden, und jenen Ländern, die keine Beitrittskandidaten sind. Aufgrund der rechtlichen Schwierigkeiten und Gefahren ergibt sich der Bedarf Dritter, die die MigrantInnen bei der Flucht unterstützen und damit erheblichen Profit machen. Dies bringt die Frauen nicht immer ans Ziel, gerade in der Sexbranche wird Migration, die von Dritten organisiert wird, oft als Frauenhandel bezeichnet.

Damit ist die „Überführung von Personen in ausbeuterische und an Sklaverei erinnernde Verhältnisse durch Zwang, Täuschung oder Gewalt identifiziert, und allgemein verbindet man damit sexuelle Sklaverei und organisierte Kriminalität. Tatsächlich dreht sich die Rhetorik des Menschen-/Frauenhandels um das diskursive Binärzeichen Opfer – Verbrecher, und Mafia-ähnliche Organisationen gelten als Protagonisten der Versklavung von Frauen in der Prostitution mithilfe von Gewalt und Schuldknechtschaft.“

Der Artikel von Rutvica Andrijasevic behandelt die in den 1990er-Jahren in osteuropäischen Ländern durchgeführten Kampagnen, welche potenzielle MigrantInnen vor dem herrschenden Menschenhandel warnen sollten. Durchgeführt wurden diese Kampagnen von der Internationalen Organisation für Migration (IOM), die eng mit der Europäischen Kommission und der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) kooperiert. Die Autorin untersuchte die Kampagnen in der Tschechischen Republik und den baltischen Staaten und studiert die Repräsentation von Menschenhandel in Bezug auf den Dualismus von Opfern und Tätern.

Die Kampagnen hatten in erster Linie zum Ziel, vor den Gefahren der Auswanderung zu warnen, doch die Darstellung der weiblichen Körper – gefangen, verwundet und unbelebt – verbindet Migration mit Zwangsprostitution, und deren Rat lautet, „zu Hause“ zu bleiben. Weiters wird in dem Artikel auf die Viktimisierung der verwendeten Bilder eingegangen, die Frauen zu Objekten mache, sowie auf die Stereotype der Darstellungen.

Das Bild der selbstständigen Migration von Frauen

In Tschechien arbeitete die IOM 1999 mit La Strada, einer Nichtregierungsorganisation für Frauen, zusammen. Die Autorin beschreibt die Plakate: Es sind vier Bild-Text-Poster: mit dem Foto einer Frau auf der linken und einem Erlebnisbericht auf der rechten Seite. Die Berichte beschreiben, wie die Frauen von Agenturen oder Einzelpersonen in die Irre geführt und schließlich zur Prostitution gezwungen wurden. Beispielsweise antwortete Monika auf eine Zeitungsanzeige für Modelaufnahmen im Ausland und landete schließlich bei einer Pornoproduktion. Die Erzählungen kommen bei der Zwangsprostitution zum Stillstand, als ob diese die Endstation der Migration wäre.

Die Schwarz-Weiß-Darstellung der Bilder, verstärkt durch die vertikale Streckung, inszeniert den Zustand des Gefangenseins. Die Bilder wirken zerquetscht und die Frauen eingeschlossen. Die erniedrigenden Tätigkeiten geschehen vor schäbigem Hintergrund. Die Autorin erklärt das Problem, dass die Kampagne es versäumt, die verschärften Einwanderungskontrollen und die restriktiven gesetzlichen Regelungen am Arbeitsmarkt aufzuzeigen, welche den Menschenhandel und die Ausbeutung eigentlich fördern.

Die binäre Ordnung von Verbrechern und Opfern

Die Darstellung des Menschenhandels setzt auf den vereinfachenden Dualismus, der unschuldige Opfer von bösen Menschenhändlern unterscheidet. Im Folgenden wird diese binäre Logik anhand von Plakaten erläutert. In der Ukraine zeigte ein Plakat 1998 eine riesige Männergestalt, die in der einen Hand einen Käfig mit einer Frau darin hält, in der anderen ein Bündel Geld. In Moldawien wird eine Frauengestalt von einer offensichtlich männlichen Hand in die andere gereicht – und erhält im Gegenzug ebenfalls ein Geldbündel. Genderneutrale Bilder gab es 2001 in der Ukraine, wobei die allumfassende Gefahr des Menschenhandels mit einem Spinnennetz dargestellt wurde. Die Bilder vermitteln eine Vorstellung der Kriminalisierung der Gesellschaften Osteuropas nach 1989. Weiters wird das Bild der Puppe verwendet, um Missbrauch, Ausbeutung und Unfreiheit auszudrücken.

Andere Motive sind Frauen, die hockend abgebildet sind, oder einfach nur weibliche Körperteile, beispielsweise hängende Füße. „FeministInnen betonen den Unterschied zwischen ,Frau als Repräsentation‘ und ,Frau als Erfahrung‘. Frauen in ihrem geschichtlichen Sein und als Subjekte sozialer Verhältnisse dürfen demnach nicht mit ,FRAU‘ verwechselt werden, die ,bloß eine Repräsentation, eine Positionalität im phallischen Modell des Begehrens und Bezeichnens‘ ist.“Andrijasevic erklärt, dass die Repräsentation von Frauen als Puppen ein Teil des patriarchalen Repertoires abendländischer Kultur ist: „Nacktheit, Schnüre und Haken, wie die IOM-Kampagnen sie verwenden, vermitteln nicht so sehr die Ähnlichkeit zwischen ,Frauen als Erfahrung‘ und ,Frau als Repräsentation‘, sondern zeigen vielmehr“, so die These der Autorin, „den Abstand zwischen beiden; sie verwandeln jedes Mal aufs Neue Frauen in FRAU“.                                                                      

Weiblichkeit, Voyeurismus und Tod

„Ein stummer, bewegungsloser, misshandelter weiblicher Körper – der Körper eines Opfers – wird zum Inbegriff der Objektivierung: ein Körper, der ausgestellt wird, ein Körper, der angestarrt werden soll.“

Die Haut spielt dabei eine wichtige Rolle, sie ist das „Grenzobjekt“, das vom anderen trennt, aber auch die „Schwelle“, die verbindet. „Die misshandelte und beschädigte Haut der menschlichen Marionette zeigt ein Subjekt an, dessen Selbst durch die Begegnung mit anderen Körpern unwiderruflich verwundet wird.“

Für Feministinnen ist (politisches) Empowerment, als Anspruchspraxis, aufs Engste damit verknüpft, stereotype Darstellungen als herrschende Repräsentationspraxis anzugreifen. Die IOM wird dem Anspruch, Empowerment zu fördern, nicht gerecht. „Die Konstruktion viktimisierender Bilder unterstützt die Produktion von FRAU als häuslich, passiv und sexuell. Diese Opferrolle stärkt eine ,Politik des Heils‘, der die Privatsphäre als der sicherste Ort für Frauen gilt.“ Somit wird das Empowerment von Frauen und deren Mobilität gehemmt.

Zur Autorin: Beate Rieger studiert Internationale Entwicklung und ist Volontärin der Frauensolidarität in Wien. Sie lebt in Neulengbach (Niederösterreich).

Anmerkung: Andrijasevic, Rutvica: Das zur Schau gestellte Elend. Gender, Migration und Repräsentation in Kampagnen gegen Menschenhandel (S. 123–143). Aus: TRANSIT MIGRATION Forschungsgruppe (Hg.): Turbulente Ränder – Neue Perspektiven auf Migration an den Grenzen Europas. Bielefeld 2007.

Mit Pornobildern zur Ausmusterung

  • 04.01.2013, 11:29

Die Filmemacherin Ulrike Böhnisch setzt sich in ihrem Film „Çürük – The Pink Report“ mit einem in der Türkei verpönten Thema auseinander - der Homosexualität im türkischen Militär. Im progress-Interview spricht sie über ihren neuen Film.

Die Filmemacherin Ulrike Böhnisch (26) setzt sich in ihrem Film „Çürük – The Pink Report“ mit einem in der Türkei verpönten Thema auseinander - der Homosexualität im türkischen Militär. Die Kosmopolitin wurde in Leipzig geboren, hat in Potsdam Medienwissenschaft studiert und in Südamerika gelebt. Von 2008 bis 2009 hat sie ein Austauschjahr in Istanbul verbracht. Momentan lebt sie in Frankreich und studiert Kulturvermittlung. Im progress-Interview spricht Ulrike Böhnisch über ihren neuen Film.

progress: Was war für Dich der Auslöser einen Film über die Situation von Homosexuellen beim türkischen Militär zu drehen?

Ulrike Böhnisch: Da kamen mehrere Sachen zusammen. Ich musste an der Filmschule in Istanbul Projekte entwickeln und habe nach einem Thema gesucht. Über einen Freund habe ich von der Ausmusterung Homosexueller im türkischen Militär erfahren. Der meinte: „Ja weißt du, wenn die sich ausmustern lassen, dann müssen die Pornofotos von sich zeigen.“ Zunächst dachte ich mir, dass das doch total absurd wäre. Doch dann habe ich mich dazu entschlossen in meinem Umfeld nachzufragen. Aber immer wenn ich Fragen stellte, reagierten alle sehr betreten und meinten nur „Pst“ – ganz nach dem Motto: Was fällt dir ein in der Öffentlichkeit das zu thematisieren. Das hat mich dann neugierig gemacht.

Hinzu kam, dass ich in einer gefährlichen Ecke von Istanbul gelebt habe. Dort befindet sich ein Strich mit Transsexuellen, der natürlich auch Freier anlockt. Eines Tages wurden dann zwei Freundinnen von mir fast vergewaltigt. Sie haben zwar versucht zur Polizei zu gehen, doch die Polizisten meinten nur: „Wurdet ihr denn nicht richtig vergewaltigt? Na dann kommt doch mal wieder, wenn ihr richtig vergewaltigt worden seid.“ Und auch von meinem Freundeskreis kam dann die Reaktion, dass die beiden ja selber schuld wären, da sie ohne Mann in der Nacht auf die Straße gegangen wären. Das hat mich natürlich sehr wütend gemacht. Insofern hatte ich mit der schwulen und lesbischen Community sowie mit den KurdInnen ein gemeinsames Feindbild: den türkischen Macho. Das war dann der Auslöser für den Film, der das Männerbild in der Türkei in Frage stellt.

progress: Wie würdest Du klischeehaft den türkischen Mann beschreiben?

Böhnisch: Ich kann zumindest sagen, was er nach den Aussagen meiner Protagonisten nicht ist. Der türkische Mann ist derjenige, der aktiv ist. Darin besteht der Unterschied zwischen Mann oder nicht Mann. Das ist für mich natürlich absurd, da ein Mann, der mit einem anderen Mann Sex hat, natürlich schwul ist. In der Türkei wird dies aber nicht so verstanden. Und das führt dann dazu, dass Vergewaltigungen an Schwulen damit gerechtfertigt werden. Das ergibt letztendlich einen Teufelskreis mit enormen Auswirkungen. Denn durch diese Definition von Mann und nicht Mann wird festgelegt, wer schwul ist, wer vergewaltigt werden kann - bzw. von wem dieser vergewaltigt werden kann - und letztendlich, wie stolz der andere dann auch noch darauf ist. Und da steckt natürlich meine Kritik drin, dass da etwas falsch läuft.

progress: Stimmt es, dass Homosexuelle keinen Militärdienst leisten müssen?

Böhnisch: Der Militärdienst ist für alle Türken obligatorisch und dauert zwischen sechs Monaten und drei Jahren. Um den Militärdienst zu vermeiden, gibt es drei Möglichkeiten: die Ausmusterung - die man auch im Film sieht-, die Totalverweigerung, auf die Gefängnisstrafe steht und es gibt auch die Möglichkeit, dass man sich nach einem zwei- oder dreijährigem Auslandsaufenthalt mit einem Betrag von 10.000 Euro vom Militärdienst freikaufen kann. Die Ausmusterung kann man als schwuler Mann machen, da Homosexualität beim türkischen Militär als Krankheit angesehen wird.

Jene, die sich offiziell als Homosexuelle vom Militärdienst befreien lassen wollen, müssen einen Antrag auf eine psychologische Untersuchung stellen. Dann bekommen sie einen Termin bei einem Psychologen zu einer Gesprächsrunde. Meine Protagonisten erzählten mir, dass sie dort ein Haus zeichnen mussten. Anhand des Hauses hat dann der Psychiater abgewogen, ob die Personen homosexuell sind. In einigen Fällen ist es dann so, dass zusätzliche Untersuchungen durchgeführt werden. Bei diesen Untersuchungen fordert der Psychologe, dass die Männer Fotos bringen müssen. Den Beteiligten ist dann natürlich sofort klar, um was es geht: nämlich um pornografische Bilder. In diesen Bildern muss derjenige zeigen, dass er penetriert wird und quasi der Passive ist. Und außerdem muss auf den Bildern seine Erregung sowie Freude im Gesicht zu sehen sein. Das ist das, was mir von den Betroffenen erzählt wurde. Ich habe auch gehört, dass diese Untersuchungen in der letzten Zeit seltener gemacht wurden. Aber es gibt keine offiziellen Zahlen darüber. Es gibt auch noch eine andere Untersuchung. Bei dieser wird der Anus auf Analverkehr untersucht. Das ist aber absurd, da der Anus ja ein Schließmuskel ist.

progress: Warum wurden drei Protagonisten anonym gefilmt? Hatten sie Angst vor gesellschaftlichen Repressionen?

Böhnisch: An einer Stelle im Film wird ganz klar gesagt, dass die Protagonisten nicht wegen ihrer Homosexualität anonym gefilmt wurden. Denn die Türkei ist das einzige laizistische muslimische Land und nach dem türkischem Gesetz ist Homosexualität keine Straftat. Das Problem besteht jedoch darin, dass es Artikel gibt, die Kritik am Staat und Militär unter Strafe stellen. Das sind die Artikel 301 und 318 (Anm: siehe Links von Amnesty). Mit diesen Artikeln schafft es der türkische Staat jede Kritik im Keim zu ersticken. Und die Artikel sorgen dafür, dass sehr viele KurdInnen, JournalistInnen, KünstlerInnen, FreidenkerInnen usw. im Gefängnis sitzen. Die Artikel sind auch der Grund, weshalb die Protagonisten im Film darauf bestanden hatten anonym gefilmt zu werden. Aber sicher ist es in der Türkei nicht einfach als Homosexueller zu leben. In Istanbul gibt es zwar ein paar Stadtviertel, wo Homosexuelle einfacher leben können. Aber es ist sicher um einiges schwieriger beispielsweise in Ostanatolien schwul, lesbisch, transsexuell oder bisexuell zu sein.

progress: Hattest Du während der Dreharbeiten auch persönliche Probleme mit den türkischen Geschlechterrollen?

Böhnisch: Natürlich habe ich auf der Straße Blicke bekommen und mich in manchen Situationen unwohl gefühlt. Was die Türken aber unglaublich gut hinkriegen, ist damit gewissermaßen auch zu spielen. Was die Dreharbeiten betrifft, so kann ich folgende Episode erzählen: Ein Mann mit einer Kamera ist automatisch in der Türkei ein Kameramann. Dann kommen alle Kinder angerannt und fragen, von welchem Fernsehkanal er denn sei. Eine Frau, die mit einer Kamera auf der Straße steht, ist „nur“ eine Frau mit einer Kamera. Das heißt, wenn man beim Drehen kein Aufsehen erregen will, so ist es eine sehr gute Strategie einfach nur ein Mädchen hinter eine Kamera zu stellen.

Und es gab eine Situation, wo ich am Busbahnhof von Istanbul eine Drehgenehmigung gebraucht hätte. Und ich bin dann zum Chef von diesem Busbahnhof gegangen und hab dann mit meinem Türkisch gesagt: „Ich bin Studentin aus Deutschland. Und in Deutschland ist das so, dass die Soldaten einfach nur in den Zug steigen. Aber in der Türkei da wird gefeiert und gesungen. Die Soldaten bekommen so viel Respekt. Das ist eine so schöne Tradition, die bei uns verloren gegangen ist. Und deshalb würde ich hier gerne filmen.“ Und das haben sie mir abgekauft und mir deshalb erlaubt dort zu drehen.

progress: Der Film darf aber in der Türkei nicht gezeigt werden?

Böhnisch: Zum Schutz unserer Protagonisten haben wir ihnen versprochen den Film in der Türkei nicht zu zeigen. Und das war die Prämisse, an die wir uns gehalten haben. Wir fangen demnächst auch mit Video-on-Demand an. Auch da war für uns klar, dass dieser Film für die Türkei gesperrt werden wird. Ich weiß nicht, was die türkische Zensur zu dem Film sagen würde. Aber wir haben den Film sowohl von einem deutschen als auch einem türkischen Anwalt prüfen lassen. Beide haben uns bestätigt, dass die Erfahrungen zu hundert Prozent persönliche Erfahrungen sind und deshalb nicht unter die Artikel 301 und 318 fallen. Wobei das natürlich immer Auslegungssache des jeweiligen türkischen Richters ist.

progress: Wie war die Reaktion der türkisch-migrantischen Community?

Böhnisch: Meistens höre ich glücklicherweise Lob. Das ist natürlich für eine Filmemacherin schön zu hören. Ich muss aber dazu sagen, dass diejenigen, die den Film sehen sollten nicht diejenigen sind, die Geld für eine Karte ausgeben. Kritik gab es jedoch dahin gehend, dass ich mich als deutsche Frau mit dem Thema auseinandergesetzt habe. Auch während der Filmvorführung beim Sercavan wurde ich kritisiert. Da hörte ich, dass der Film doch sehr polarisierend sei. Und dass ein Film doch von Türken bzw. Inländern und nicht von Ausländern gemacht werden sollte. Ich kann diesen Kommentar akzeptieren. Und natürlich habe ich meine eigene Sichtweise. Ich sehe allerdings nicht, wieso meine Sichtweise besser oder schlechter sein sollte als eine andere.

Mir war aber von Anfang an bewusst, dass der Film für ein ausländisches Publikum gedreht wird und dass er eine Plattform für dieses Thema außerhalb der Türkei bieten soll. Deshalb kam es mir zugute, dass die Protagonisten bereit waren Englisch zu reden. Und daher habe ich auch mit Basics begonnen. Diese wären für TürkInnen mit einem Vorwissen nicht notwendig gewesen. Ich denke aber, dass FilmemacherInnen das Recht haben sollten, selbstständig das Thema, den Ort und den Zeitpunkt ihrer Filme zu bestimmen. Diesbezüglich ist es traurig, dass in der Türkei Gesetze herrschen, die das verbieten.

Der Trailer zum Film:

Weiterführende Links:

http://www.curuk-film.de

http://www.ulrikeboehnisch.com

Sercavan Film-Festival 2012

Ab Jänner wird „Çürük – The Pink Report“ auf Independent Movies on demand verfügbar sein.

Informationen zu Artikel 301 („Herabwürdigung des Türkentums“) und 318 („Distanzierung des Volkes vom Militär“).

 

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