Gleichberechtigung

Die guten ins Töpfchen, die schlechten ins Kröpfchen

  • 28.09.2012, 23:20

Dr.in Ingrid Schacherl ist eine der AutorInnen der vom BMWF beauftragten Studie „Gender und Exzellenz“. Gegenstand war die Bedeutung des Exzellenzparadigmas für die Offenheit des österreichischen Wissenschaftsbetriebs. Sie forscht bei Joanneum Research zu „Gender in Wissenschaft und Technik“ und „Gender Mainstreaming“.

Dr.in Ingrid Schacherl ist eine der AutorInnen der vom BMWF beauftragten Studie „Gender und Exzellenz“. Gegenstand war die Bedeutung des Exzellenzparadigmas für die Offenheit des österreichischen Wissenschaftsbetriebs. Sie forscht bei Joanneum Research zu „Gender in Wissenschaft und Technik“ und „Gender Mainstreaming“.

PROGRESS: Sie unterscheiden in der Studie gründlich zwischen „Elite“ und „Exzellenz“. Warum war diese begriffliche Trennung wichtig?
Ingrid Schacherl: Der Exzellenzbegriff war in den letzten Jahren in der Öffentlichkeit sehr präsent. Dabei war immer von Exzellenz die Rede – manchmal steckten dahinter aber Elitekonzepte. Uns war wichtig, herauszufiltern, wie der Begriff definiert wird und wo er herkommt – im Gegensatz zu Elite, denn das sind zwei verschiedene Dinge. Der Elite-Begriff kommt aus Militär, Kirche, Wissenschaft, aus Organisationen die traditionell männlich konnotiert und hierarchisch strukturiert sind. Eliten agieren selektiv und arbeiten mit normativen Konzepten. Die Elite entscheidet, wer gefördert wird. Dieser Kreis ist sehr klein und bleibt unter sich. Der Exzellenzbegriff dagegen ist breiter angelegt. Die Leistungsorientierung steht im Vordergrund. Insofern ist er auch offener, weil niemand per se ausgeschlossen ist.

Sehen Sie im Exzellenzbegriff die Chance, dass er geschlechterneutral wirkt?
Ja. Der Begriff ist leistungsorientiert, und wenn es um Leistung geht, ist Geschlecht kein Ausschlusskriterium. Nachdem aber Leistung in sozialen Prozessen hergestellt wird, ist das nicht automatisch geschlechtsneutral. Im Wissenschaftsbetrieb wird darüber, was als beste Leistung zählt, in männlich dominierten Gruppen entschieden. Deshalb ist es wichtig, Leistungsbeurteilung und Auswahlverfahren möglichst transparent zu gestalten, damit Diskriminierung nicht wirksam werden kann.

Sie erwähnen, dass Österreich im EU-Vergleich bei den Frauenanteilen in der Forschung relativ weit hinten liegt. Warum ist Österreich schlechter als andere Länder?
Es gibt erstens eine historische Begründung. Frauen sind sehr spät an Unis zugelassen worden und hatten zur Zeit des Nationalsozialismus nur begrenzt Zugang. Die zweite Begründung ist, dass hier eine Hochschulkarriere mit einem hohen Statusgewinn verbunden ist. Und da sind wir wieder beim Elitekonzept. Wenn eine männliche Elite ihren Nachwuchs rekrutiert, dann ist es so, dass Männer traditionell Männer wählen. Auch wenn Geschlecht formal kein Kriterium ist – auch wenn alle sagen, es ist objektiv – in den Entscheidungen spielt es immer eine Rolle.

Ist das akademische System im deutschsprachigen Raum elitärer als das in anderen europäischen Ländern?
Ja, das könnte man schon sagen.

Beim Thema Exzellenz drängt sich die Frage des freien Hochschulzugangs förmlich auf. Ist das ein Widerspruch? Ist ein Massenstudium mit Exzellenzförderung vereinbar?
Exzellenz ist ein leistungsorientiertes Konzept. Rein vom Konzept her würde ich sagen, das ist kein Widerspruch. Der Exzellenzbegriff schließt das nicht aus, das sind eher bildungspolitische Entscheidungen.

Das Interview führte Anna Schiller.

Weiterführende Links:
http://www.joanneum.at/uploads/tx_publicationlibrary/rr66_gender_Exzelle...
http://www.advancingwomen.org/files/7/127.pdf

Heimische Exzellenzstrategien

  • 28.09.2012, 23:11

Im internationalen Wettbewerb mitzumischen ist trendy. Das wichtigste Mittel um Österreich als internationalen Wissenschaftsstandort zu etablieren, sind innovative Höchstleistungen. Über das Schmuckstück Spitzenforschung und dessen Schattenseiten.

Im internationalen Wettbewerb mitzumischen ist trendy. Das wichtigste Mittel um Österreich als internationalen Wissenschaftsstandort zu etablieren, sind innovative Höchstleistungen. Über das Schmuckstück Spitzenforschung und dessen Schattenseiten.

Zeit ist der entscheidende Faktor bei wissenschaftlichem Arbeiten. Denn wer forscht muss so schnell wie möglich die Ideen im eigenen, vergänglichen Kopf bündeln und ein Ergebnis erbringen. Sei es im Interesse der Wissenschaft oder der Wirtschaft. Fest steht: Forschung ist wichtig, aber teuer. Deshalb versuchen in der internationalen Wissenschaftslandschaft immer mehr Institutionen WissenschafterInnen zu fördern, indem ihnen Zeit in Form von finanzieller Unterstützung zur Verfügung gestellt wird. Aber nach welchen Maßstäben wird die Forschung vorangetrieben? Und von wem?

Alpbach 07. Im Rahmen der Technologiegespräche des jährlich stattfindenden Europäischen Forums Alpbach hat diesen Sommer der Rat für Forschung und Technologieentwicklung seine neue Exzellenzstrategie präsentiert. Der Rat, der im Jahr 2000 als Beratungsinstrument für Forschung, Technologie und Innovation von der Bundesregierung ins Leben gerufen wurde, definiert als Ziel der Strategie „(…) die Qualität und Attraktivität des Forschungs- und Technologiestandorts Österreich zu heben und seine internationale Wettbewerbsfähigkeit zu verbessern.“ Die Voraussetzungen für dieses Vorhaben sind „(…) die Qualität im gesamten österreichischen Innovationssystem zu steigern und zugleich mehr Forschungsthemen, -projekte und -teams in weltweite Spitzenpositionen zu bringen. Gleichzeitig darf aber keinesfalls die Bedeutung eines breiten Fundaments vernachlässigt werden – eine notwendige Voraussetzung für die Entstehung von Spitzenleistungen.“

Wissenschaftsförderung in Österreich. Der Bund fördert Forschung und Technologieentwicklung hierzulande in drei verschiedenen Sektoren: der Wissenschaft, der Wirtschaft und der Schnittstelle beider Kräfte. Im Bereich der Wissenschaft bilden die Fonds zur Förderung der wissenschaftlichen Forschung (FWF) – kurz Wissenschaftsfonds – das Fundament, im wirtschaftlichen Bereich ist die Österreichische Forschungsförderungsgesellschaft mbH (FFG) die führende Einrichtung. Und als Schnittstelle zwischen grundlagen- und anwendungsorientierter Forschung dienen „Brückenschlagprogramme“ wie das Kompetenzzentrenprogramm COMET, die in Kooperation von Wissenschaft und Wirtschaft getragen werden.

Die Kehrseite der Medaille. Trotz eines breiten Bekenntnisses zu Wissenschaftsförderung von Seiten der Politik, bleibt die Kritik an der Art der Auswahl der SpitzenforscherInnen aufrecht. Bleibt die Kritik am selektiven Bildungssystem im Vorfeld der Wissenschaft und bleibt die Kritik an der chronischen Unterfinanzierung des tertiären Bildungssektors im Bereich der Lehre.

Lisa Fuchs studiert Lehramt Deutsch, Psychologie/Philosophie in Wien.

Ihre Exzellenz

  • 28.09.2012, 23:03

Im Sog der Wettbewerbsfähigkeit nationaler Forschungsräume erhalten Frauen im österreichischen Wissenschaftsbetrieb neue Aufmerksamkeit: Es gilt ihr brachliegendes Humankapital entsprechend zu nutzen. Zumindest in der Theorie, die Praxis ist weitaus veränderungsresistenter.

Im Sog der Wettbewerbsfähigkeit nationaler Forschungsräume erhalten Frauen im österreichischen Wissenschaftsbetrieb neue Aufmerksamkeit: Es gilt ihr brachliegendes Humankapital entsprechend zu nutzen. Zumindest in der Theorie, die Praxis ist weitaus veränderungsresistenter.

Im Auftrag des Bundesministeriums für Wissenschaft und Forschung führte die steirische Forschungsgesellschaft Joanneum Research eine Studie zum Thema „Gender und Exzellenz” durch. Ziel des Forschungsvorhabens war es „[...] institutionalisierte Bewertungs- und Auswahlverfahren, die eine gleichberechtigte Chance auf eine erfolgreiche Teilnahme von Frauen und Männer im Wissenschaftsbetrieb verhindern oder erschweren, nach Möglichkeiten zu identifizieren”. Die Präsentation der Ergebnisse erfolgte Mitte November und ergab ein durchaus ambivalentes Bild: Zwar fänden Verbesserungen im Bezug auf Gleichstellungsfragen im tertiären Bildungssektor statt, diese gingen jedoch nur schleppend und mangelhaft voran. Ebenso bergen die Exzellenz-Strategien auf europäischer wie nationaler Ebene Chancen für ein Mehr an Geschlechtergerechtigkeit, könnten jedoch auch für eine Vertiefung des gender-bias sorgen.

Unterrepräsentierte Gruppe. Inhaltlich bearbeitet die Studie drei Themenfelder: eine diskursanalytische Annäherung an den Begriff „Exzellenz” an sich und dessen ideologiegeschichtliche Einbettung, die Analyse des Status Quo der Universitäten im Bezug auf Umsetzung sowie Zukunftspläne von Exzellenz- bzw. Gleichstellungsstrategien und letztlich eine kritische Darstellung der österreichischen Forschungslandschaft. Hauptmotivation hinter der bereitwilligen Auseinandersetzung des Ministeriums mit der Thematik „Gender und Exzellenz“ ist dabei die Sicherung der Wettbewerbsfähigkeit des österreichischen Forschungsstandorts, für die das Potenzial „der bislang unterrepräsentierten Gruppe der Frauen“ innerhalb der Scientific Community vermehrt genutzt werden soll.

Enormer Aufholbedarf. Der Aufholbedarf ist jedenfalls enorm: Mit einer Forscherinnenquote von 21 Prozent liegt Österreich im letzten Drittel der EU-25, der Durchschnitt beträgt 29 Prozent. Die Professorinnenquote beträgt 14,2 Prozent, jene der Assistentinnen 33,4 Prozent, wobei der Absolventinnenanteil fast 54 Prozent ausmacht. Nicole Schaffer, Co-Autorin der Studie und wissenschaftliche Mitarbeiterin bei Joanneum Research zieht ihre Ableitungen aus den statistischen Daten: „Die bisherige Annahme, dass sich das Geschlechtergefälle von alleine auswachsen werde, stimmt nicht. Zum Beispiel hat sich die hohe Absolventinnenzahl in den Geisteswissenschaften nicht in der Beschäftigungsstruktur niedergeschlagen.“ Zentral ist demnach, dass etwaige Exzellenzstrategien die Geschlechterdichotomie nicht weiter verstärken, sondern dieser im besten Falle entgegenwirken.

Keine objektiven Kriterien. Dies beginnt bereits bei der Definition von Exzellenz. Die Studien-AutorInnen stellen nämlich fest, „dass zwar keine einheitlichen Definitionen oder Vorgaben für wissenschaftliche Exzellenz existieren, aber ein Konsens darüber zu bestehen scheint, sich in der Entscheidungsfindung darauf berufen zu können”. Kommt es tatsächlich zu einer intensiveren Auseinandersetzung mit der oftmaligen Worthülse „Exzellenz”, kann eine Orientierung an naturwissenschaftlich-geprägten Bewertungssystemen festgestellt werden. Im Vordergrund steht die Leistung, die letztlich geschlechtsneutral erbracht und auch bewertet werden kann. Hier setzt Gabriele Michalitsch, Lehrbeauftragte für Volkswirtschaft an der Wirtschaftsuniversität Wien, mit ihrer Kritik an: „Die Bezugnahme auf Leistung suggeriert, dass es hier um objektive Kriterien geht. Aber viel mehr geht es um die Anerkennung als Leistung. Und hier muss die Frage nach den Bedingungen der Leistungserbringung gestellt werden. Hier muss auch das gesamte der Universität vorläufige Bildungssystem sowie die Sozialisation betrachtet werden.“ Ein anschauliches Beispiel für einen gendersensiblen Umgang mit Leistungserbringung wäre eine Abkehr vom herkömmlichen Forscher(Innen)ideal: 100prozentiger Zeiteinsatz, schneller Aufstieg, linearer Karriereverlauf etc. Auch sollen nicht nur Forschung an sich, sondern Tätigkeiten wie Lehre und Organisation in die Beurteilung von wissenschaftlicher Kompetenz einbezogen werden. Denn es sind gerade Frauen, deren Lebensläufe Diskontinuitäten aufweisen oder die jene unterbewertete und unsichtbare Arbeit in den Lehrveranstaltungen und Instituten leisten.

Fehlendes Know-How. Auch die Joanneum-Studie verabschiedet sich von monokausalen Erklärungsmodellen für die Hartnäckigkeit der Geschlechtersegregation im tertiären Bildungssektor. Konkrete Ansatzpunkte etwa beim wissenschaftlichen Personal sind ein Maximum an Transparenz bei den Auswahlverfahren: Explizite Bewertungsstandards, erhöhte Rechenschaftspflicht von GutachterInnen und eine permanente Reflexion der Bewertungsindikatoren. Großen Veränderungsbedarf gibt es außerdem beim vorhandenen Know-How: Aus ExpertInnen-Interviews und Inhaltsanalysen geht beispielsweise hervor, dass ein Verwechseln der völlig unterschiedlichen Steuerungsinstrumente wie Frauenförderung und Gender Mainstreaming gang und gäbe ist. Außerdem werden Chancengleichheit und Gender Mainstreaming in den Entwicklungsplänen meist getrennt voneinander behandelt. Keine Universität versteht Gender Mainstreaming als Querschnittsmaterie, die in sämtlichen universitären Bereichen zum Tragen kommen soll. Über die Beschaffenheit und den sinnvollen Einsatz von geschlechtsbezogenen Steuerungsmechanismen herrscht Unklarheit.

Fundamentale Redefinition. Des Weiteren stellt Julia Neissl, feministische Wissenschafterin aus Salzburg, im Zuge der Studie große Diskrepanzen zwischen Theorie und Praxis fest: „[...] eine Verankerung von Gendersensibilität oder Bewusstsein um Chancengleichheit auf der Ebene der Basisannahmen wäre kulturstiftend notwendig, kann aber derzeit nicht beobachtet werden.” Die Folge sind Unterschiede in der Akzeptanz von und der Sensibilisierung für geschlechtsbezogene Maßnahmen und auch das Fehlen von gemeinsamen Zielvorstellungen. Begriffe wie Gender Mainstreaming oder Chancengleichheit bleiben Schlagworte, weil ihnen einerseits die inhaltliche Substanz und andererseits das ehrliche Commitment der EntscheidungsträgerInnen fehlt. Um in der Universitätslandschaft das hehre Ziel der Gleichstellung zu erreichen, wird es kaum reichen unsystematisch an einzelnen Rädchen des schwerfälligen Getriebes zu drehen. Es geht um eine fundamentale Redefinition von Begriffen wie Leistung, Wissenschaftlickeit und Exzellenz sowie ihres tatsächlichen strukturellen Niederschlags.

Laura Dobusch studiert Gender Studies an der Uni Wien.

No Milk today

  • 21.09.2012, 12:17

Die Arbeit hoch? Über den Wandel der Lohnarbeit und den Kampf gegen sie. Ein Kommentar von Simon Sailer.

Die Arbeit hoch? Über den Wandel der Lohnarbeit und den Kampf gegen sie. Ein Kommentar von Simon Sailer.

Am 1. Mai wird traditionell der „Kampftag der Arbeiterbewegung“ abgehalten oder der „Tag der Arbeit“ gefeiert. Von den beiden Bezeichnungen scheint sich die letztere durchgesetzt zu haben. Das liegt nicht nur an dem kämpferischen Ton der Alternative, welche in wenig kämpferischen Zeiten schwer über die Lippen kommt, es handelt sich dabei auch um eine inhaltliche Verschiebung. In gewisser Weise sind die beiden Ausdrücke sogar entgegengesetzt: In ihnen spiegelt sich die Ambivalenz der Geschichte dieses gerade in Österreich bedeutsamen Tages.

KÄMPFEN. Anfang des 20. Jahrhunderts versuchte die organisierte Arbeiter*innenbewegung Arbeitsrechte zu erkämpfen, wie etwa die Verringerung der Arbeitszeit, das Recht auf geregelte Feiertage und bessere Arbeitsbedingungen. Das stärkste Mittel dieses Kampfes war der Streik, das kollektive Niederlegen der Arbeit. Im Vordergrund stand also zunächst die Weigerung, sich weiter schinden zu lassen, also die Ablehnung der menschenfeindlichen Auswirkungen von Lohnarbeit. Motiviert waren die Kämpfe von dem Wunsch nach erträglichen Lebensbedingungen. Selbstverständlich spielten aber auch Utopien umfassender gesellschaftlicher Veränderung, in Österreich vor allem in der Sozialdemokratie, eine entscheidende Rolle. Im Austrofaschismus wurden die sozialdemokratischen Maiaufmärsche verboten, während der 1. Mai aber weiterhin als Feiertag bestehen blieb. Die Nationalsozialist*innen erklärten den Tag zum „Tag der deutschen Arbeit“ beziehungsweise zum „Tag der Nationalen Arbeit“. Die Arbeitnehmer*innen fassten sie mit den Arbeitgeber*innen in einer Organisation zusammen: der „Deutschen Arbeitsfront“. Gewerkschaften wurden aufgelöst und das Streikrecht wurde abgeschafft. Die Sozialdemokratie versuchte in Österreich kurz nach der Befreiung wieder an die Tradition aus den 1920er-Jahren anzuknüpfen; in den unterschiedlichen Bezeichnungen für den 1. Mai drückt sich aber weiterhin die geschichtliche Mehrdeutigkeit des Tages aus.

ABFINDEN. Die Ambivalenz ergibt sich aber nicht nur aus der widersprüchlichen Geschichte des Tages, vielmehr ist diese Ausdruck der zwiespältigen Lage der Arbeiter*innen selbst. Zunächst kämpften sie für die Verbesserung ihrer Arbeitsbedingungen, also um die Befreiung von der Gewalt der Arbeit, um schließlich die Arbeit selbst zu feiern und „Die Arbeit hoch!“ zu rufen. Diese Entwicklung kann als Abfinden mit dem Elend, das die Arbeit bedeutet, interpretiert werden. Nach dem Scheitern der Versuche, die Notwendigkeit menschenunwürdiger Arbeit durch gesellschaftliche Veränderung zu beseitigen, gibt man sich damit zufrieden, die eigene Situation schön zu feiern. Es handelt sich dabei allerdings nicht um eine Entscheidung, die von der arbeitenden Bevölkerung immer wieder aufs Neue getroffen wird. Vielmehr ist der Gegensatz, welcher zwischen Arbeit und Wirtschaft besteht, seit dem Nationalsozialismus seltsam zugedeckt. Die Institution, die die Schlichtung des unauflösbaren Konfliktes verkörpert, ist die österreichische Sozialpartner*innenschaft. Sie lässt es so aussehen, als säßen Arbeitnehmer*innen und Arbeitgeber*innen in einem Boot, als hätten die Lohnarbeiter*innen zwar im Kleinen, nicht aber insgesamt andere Interessen.

BESCHÄFTIGEN. Diese Befriedung erstreckt sich aber weit über die Domäne der Arbeit und Ökonomie hinaus. Das Reglement, welches die Lohnarbeit den Menschen vorgibt, macht sich auch in deren Freizeit bemerkbar. Diese näherte sich in den 1950er- und 60er-Jahren immer mehr der Struktur der Lohnarbeit an. Dass es ein eigenes Wort für eine emsig betriebene Freizeitbeschäftigung gibt („Hobby“), zeugt von dieser Annäherung. Es handelt sich dabei um eine arbeitsförmige Beschäftigung, die sich, nur weil sie unbezahlt und freiwillig ausgeführt wird, dazu eignet, wieder fit für die Arbeit zu werden. Heute erstreckt sich die Lohnarbeit mehr und mehr tatsächlich und unmittelbar in die von ihr auf den ersten Blick verschonte freie Zeit. Die Handy-Nutzer*innen müssen immer erreichbar sein, sie müssen sich im Internet angemessen repräsentieren und müssen, um im Beruf nicht auf der Strecke zu bleiben, wo sie auch hinkommen, fleißig „networken“. Das führt aber dazu, dass die sozialen Beziehungen verkümmern und instrumenteller werden. Und weil das menschliche Gefühlsleben von sozialen Beziehungen abhängt, muss jemand sich um die verstümmelten Seelen bemühen. Ein Teil dieser emotionalen Arbeit kann als Psychotherapie oder Sozialarbeit professionalisiert werden, aber nicht alle psychische Instandhaltung eignet sich zu solcher Auslagerung auf Unbeteiligte.

ARBEITEN. Diese übrige Arbeit (wie übrigens auch die klassische reproduktive Arbeit), die so wenig messbar, und doch für den Fortbestand des Kapitalismus so entscheidend ist, bildet eine Art Schatten und eine unbemerkte, stillschweigende Voraussetzung der bezahlten Arbeit, die mit Respekt und Anerkennung belohnt wird. Gerade die Ausführung dieser abgespaltenen Arbeit wird aber vielfach von Frauen erwartet. Aufgrund der Strukturen des Arbeitsmarktes und bestimmter Geschlechterbilder werden ihnen diejenigen Tätigkeiten aufgedrängt, die den größten Einsatz der ganzen Person verlangen und gleichzeitig – vielleicht eben deshalb – gesellschaftlich am geringsten geschätzt werden. Übrigens betrifft dieses Phänomen nicht nur Frauen, sondern es tendiert dazu, sich auf andere gesellschaftlich marginalisierte Gruppen zu verschieben. Diese Flexibilität rührt aus dem angesprochenen Zusammenhang mit dem Kapitalismus: Irgendwer muss diese Arbeit erledigen, und es werden immer die schlechter gestellten einer Gesellschaft sein.

SOLIDARISIEREN. Einen Ausweg aus diesen Verhängnissen würde nur eine Abschaffung der kapitalistischen Produktionsweise und der beschriebenen Arbeitsverhältnisse versprechen. Eine derartige Entwicklung ist allerdings nicht in Aussicht und es scheint also vorerst nichts übrigzubleiben, als sich für jene einzusetzen, die gerade am stärksten von diesen Tendenzen betroffen sind. Außerdem gilt es zu versuchen, sich von Verhältnissen nicht dumm machen zu lassen, die zwar vorläufig kaum zu ändern, aber doch zumindest besser zu begreifen sind.

Der Autor studiert Philosophie in Wien.

Potential zum Skandal

  • 20.09.2012, 18:09

In radikalen Mitmachperformances konfrontiert das Wiener Performancekollektiv God’s Entertainment das Publikum mit Rassismus, Gewaltverherrlichung oder Integrationszwang. Ein Porträt.

Sie machen kein Theater. Nicht mit SchauspielerInnen und so. Was God’s Entertainment macht? Laut Eigendefinition irgendetwas zwischen Happening, Aktion und Performance. Wer sie sind? „Wir sind ein Kollektiv. Wir sind eine der wenigen Gruppen ohne Hierarchie. Jeder macht alles“, sagt Maja, die die Gruppe God’s Entertainment (GE) mitgegründet hat. Ihre eigenen Namen heben die Mitglieder der Gruppe nur ungern hervor - in Programmheften dürfen sie deswegen gar nicht erst abgedruckt werden. 2005 trat God’s Entertainment erstmals mit der Performance „Mossad“ im Rahmen des Wiener Mozart-Jahres auf. Zu den Dreien, die den fixen Kern des Kollektivs GE bilden, kommen noch einige lose Mitglieder hinzu.

GE ist die aktuell wahrscheinlich provokanteste, politischste und pointierteste Performancegruppe in Österreich. progress traf sie zum Frühstück in ihrem Gassenlokal-Büro im 9. Bezirk in Wien. Der Raum ist vollgestellt mit Requisiten alter Produktionen und ständig klingeln die Handys - God’s Entertainment ist im Stress: Ein Förderantrag muss dringend abgegeben werden. Die Themen für ihre Aktionen finden sie in der Realität: „Wenn etwas total bescheuert ist und blöd, versucht man es in die Performance reinzubringen“, sagt Boris. Das Spektrum reicht von Sex, Radovan Karadžić und Busreisen bis zu Bollywood, Integration und Gewalt.

ECHTE PRÜGEL. Manchmal enden ihre Aktionen auch mit blauen Augen oder gebrochenen Rippen. So bei der Brutalo-Aktion „Fight Club - realtekken“, mit der sie erstmals Aufmerksamkeit erregten. Mit Joypads steuert das Publikum nicht Figuren im Videospiel, sondern lässt die PerformerInnen aufeinander einprügeln. Im Gegensatz zum herkömmlichen Theater wird bei Performances nicht „so getan, als ob“. Die Schläge sind echt, Verletzungen einkalkuliert. Beim Setting der Performance orientiert sich die Gruppe an den illegalen Boxkämpfen im populären Hollywoodfilm „Fight Club“: Der Raum ist dunkel, laute Musik dröhnt, Wetten werden angenommen. Berauscht von der Gewalt, lassen die ZuschauerInnen die PerformerInnen enthemmt aufeinander einprügeln. GE macht Mitmachperformances: Sich zurücklehnen und einfach nur zusehen, ist de facto nicht möglich. PerformerInnen und Publikum prallen ungeschützt aufeinander. „Indem man ins Theater geht, ist man schon involviert. Es ist nur die Frage, ob man auch beteiligt wird“, ergänzt Maja.

SETTINGS ERZEUGEN. GE beantwortet diese Frage immer mit „Ja“. Bei ihrer letzten Produktion „Messer-Mord: Klinge steckte noch in der Brust (Nach Büchners „Woyzeck“)“ im Wiener brut erzeugen sie zu Beginn ein Setting, in dem sich die ZuschauerInnen im Klassenzimmer wiederfinden. Die Lehrerin ruft einzelne SchülerInnen im Publikum auf und fragt ihr Wissen zu Georg Büchners Drama „Woyzeck“ ab. GE arbeitet mit bekannten Situationen aus Alltag und Medien. Diese werden zugespitzt und für ihre Themen nutzbar gemacht. So konfrontiert die Gruppe die ZuschauerInnen mit ihren eigenen Positionen und zwingt sie, sich damit auseinanderzusetzen. God’s Entertainment macht politische Kunst. Aber nicht nur, indem sie politisch relevante Themen - wie Integration, Rassismus, Gewalt und Strafvollzug - aufgreifen, sondern indem sie ihr Publikum zu Menschen machen, die über diese Themen nachdenken. Ziel ist, etwas bei den ZuseherInnen auszulösen. Wieso sich das Publikum ihren Produktionen aussetzt, weiß die Gruppe auch nicht so ganz genau. Vielleicht, weil man sich bei GE selbst spüren könne und die Leute das mögen, meint Simon. Erfolgreich sind ihre Performances dann, wenn sie „funktionieren“ - das heißt, wenn sie beim Publikum eine Reaktion auslösen, wenn die Menschen nicht einfach unberührt davon bleiben, wenn in der Fußgängerzone ein Weißer für Spenden in den eigenen Hut den Schwarzen neben sich verprügelt - wie in ihrer Performance „Stadt ist anders“. „Theater ist nicht ein reiner Unterhaltungstempel, wo man sich reinsetzt, um mal kurz zu entspannen“, sagt Simon. Obwohl sich die ZuschauerInnen oft nicht wohlfühlen, verlässt nur ganz selten jemand die Performances. Wohl auch, weil es bei GE nie langweilig sei, schmunzelt Simon.

BEZIRKSVORSTEHERIN HAT ANGST. Obwohl die Produktion „Österreicher integriert euch“ bei den Wiener Festwochen erst im Mai ansteht, funktioniert die Performance für die Gruppe schon jetzt. GE dreht den Spieß in der Integrationsdebatte um und will ÖsterreicherInnen in die problematischsten Migrationsgruppen integrieren. Den ersten Teil bildet eine Research-Phase, in der über Infostände in allen Wiener Bezirken ermittelt wird, welche MigrantInnengruppen von den ÖsterreicherInnen als die problematischsten empfunden werden. Danach können sich „waschechte“ ÖsterreicherInnen in drei Integrationslagern am Urban-Loritz-Platz, in Meidling und neben dem Museumsquartier in diese Hauptproblemgruppen integrieren lassen. „Leider“, sagt B. bezüglich der Veranstaltungsorte: „Eigentlich wollten wir lieber in rechtere Bezirke. Aber im zehnten, elften, 13. und 21. Bezirk haben wir keine Genehmigung bekommen.“ Schon bevor es überhaupt losgeht, haben die BezirksvorsteherInnen Angst vor den Reaktionen. Je nach AusländerInnenfeindlichkeitsstufe müssen sich die ÖsterreicherInnen in den Integrationslagern unterschiedlichen Maßnahmepaketen unterziehen. Helfen werden ihnen dabei sogenannte IntegratorInnen aus den verschiedenen Hauptproblemgruppen. Spätestens nach drei Tagen soll die perfekte Integration geglückt sein. Nicht nur der Name „Österreicher integriert euch“ erinnert an Christoph Schlingensiefs Containershow und Abschiebeperformance „Ausländer raus“ neben der Wiener Staatsoper aus dem Jahr 2000. Genauso wie die damalige Festwochenproduktion haben GE heuer Potential zum Skandal. Und da sie kein Theater machen, meint es God’s Entertainment auch ernst mit „Österreicher integriert euch“: „Wir wünschen uns, Strache im Lager zu haben. Zusammen mit Sebastian Kurz.“

gods-entertainment.org

Der Autor Dominik Wurnig hat Theater-, Film- und Medienwissenschaft an der Uni Wien studiert.

Nachhilfe in: Geschlechtergerechte Erziehung

  • 20.09.2012, 01:32

Im September 2011 bekannte sich die Bundesregierung zu einer nachhaltigen umsetzung von Gender Mainstreaming. Wie wird dieses Bekenntnis umgesetzt und welchen Spielraum gibt es wirklich für geschlechtergerechte Erziehung?

Im September 2011 bekannte sich die Bundesregierung zu einer nachhaltigen umsetzung von Gender Mainstreaming. Wie wird dieses Bekenntnis umgesetzt und welchen Spielraum gibt es wirklich für geschlechtergerechte Erziehung?

Gleichberechtigung in Kinderschuhen. Wer im Kindergarten die kleinen Geschwister oder eigenen Kinder abholt, denjenigen oder diejenige mag die ausgeprägte Präsenz von Fantasiespielen überraschen. Das Mädchen ist Prinzessin, wird von ihrem Spielkameraden, einem Ritter, errettet. Gleich daneben üben sich Mädchen in klassischen Haushaltsaufgaben im „Vater-Mutter-Kind“-Versuch. Kindern beim Spielen zuzusehen, hat eine eigene Faszination, vielleicht weil sie sich ungetrübt mit der Welt beschäftigen, wie es kein Erwachsener kann. Wer jedoch aufmerksam ist, wird feststellen, dass Kinder dabei als unbarmherzige Spiegel gesellschaftliche Strukturen unverzerrt wiedergeben. Kinder nehmen schon im jüngsten Alter gesellschaftspolitische Zustände in ihrer Umwelt, sei durch Familie, FreundInnen oder Medien, auf. Gerade deshalb ist die Auseinandersetzung mit dem Thema Gleichberechtigung eine wichtige.

Karl-Martin Wolffhardt-Cermak ist Kindergärtner in der WUK-Kindergruppe ‚Kinderinsel’. Er ist überzeugt davon, Kinder von Anfang an in ihrer Geschlechtsentwicklung zu begleiten und sich gemeinsam mit den Kindern damit auseinanderzusetzen. „Geschlechtsspezifische Sozialisation ist in unserer Arbeit sehr wesentlich. Geschlechteridentität wird, wie häufig belegt, nicht biologisch, sondern kulturell erworben. Dabei kommt uns als Institution eine besondere Aufgabe zu.“ In der „Kinderinsel“ wird auf einen reflektierten Umgang mit Koedukation geachtet. „Wir beobachten genau, wie welche Räume von den Kindern genutzt werden und setzen da auch immer wieder bewusst Buben-, Mädchenzeiten ein, um Raum für unterschiedliches Nutzungsverhalten zu geben. Möglichst vielfältige Gelegenheiten zu Körper und Sinneswahrnehmungen sind wichtige Voraussetzung für einen entspannten Umgang mit „mir und anderen“, erklärt Wolffhardt-Cermak im Gespräch. Neben einem bewussten Sprachgebrauch im Alltag und pädagogischem Material ist die Vorbildwirkung eine wichtige. Ein gemischtgeschlechtliches PädagogInnenteam, welches in der Erziehung nicht den „klassischen“ Rollenmustern nacheifert, sieht auch der Kindergärtner als erhebliche Förderung geschlechtergerechter Erziehung.

Einmal Genderbrille, bitte. Das Ziel war, sich in Schulen fächerübergreifend verstärkt mit der Frage der Gleichstellung der Geschlechter zu befassen. Das wurde 1994 mit dem Unterrichtsprinzip „Erziehung zur Gleichstellung von Frauen und Männern“ in den Lehrplänen verankert. Trotz klischeehafter Geschlechterdarstellungen und insbesondere der Unterrepräsentation von Frauen in vielen Schulbüchern existiert durchaus eine breite Auswahl an geschlechtersensibler Literatur und Medienmaterialien. Die Vermittlung von geschlechtergerechten Inhalten wird dennoch im Schulalltag weitgehend links liegen gelassen. Die Ergebnisse einer 2007 durchgeführten Studie des BMUKK zu „Gender und Schule“, an der 34 Prozent aller Schulen teilnahmen, erhärtet den Verdacht weitgehend fehlender Umsetzung im Unterricht. So gaben 54 Prozent der LehrerInnen an, „kaum“ oder „nie“ Geschlechterthemen im Unterricht zu behandeln. Vereinzelt werden von Schulen und Kindergärten, oft auch aufgrund von Elterninitiativen, Fortbildungen und Projekte mit ExpertInnen durchgeführt. Doch das fehlende didaktische und pädagogische Wissen der Lehrpersonen ist bezeichnend. Renate Tanzberger, Teammitglied des Vereins EfEU zur Erarbeitung feministischer Erziehungs- und Unterrichtsmodelle, sieht ein großes Problem in der Freiwilligkeit, sich als PädagogIn mit dem Thema auseinanderzusetzen. „Es ist nötig, dass Lehramtsstudierende in ihrer Ausbildung und LehrerInnen im Rahmen von Fortbildungen verpflichtet werden, sich mit der Gender- und Diversitätsthematik auseinanderzusetzen und erfahren, wie Pädagogik im Unterricht umgesetzt werden kann.“

Wir brauchen mehr. Angebote wie der GirlsDay und der BoysDay sowie Frauen in die Technik (FiT) werden von Schulen häufig genutzt und können als erfolgreiche Konzepte betrachtet werden. Im Schulalltag fehlt es aber oft an den nötigen Rahmenbedingungen. Oft fehlen die Ressourcen für langjährige Gendermainstreamingprozesse, sei es in Form eines/einer Genderbeauftragten oder von Gruppenprojekten. Das Konzept einer Ganztagsschule würde durch die Möglichkeit einer flexibleren Gestaltung des Unterrichts einer geschlechtergerechten Erziehung entgegenkommen. Nicht nur fächerübergreifendes Lernen, auch geschlechtersensible Freizeitgestaltung wären leichter möglich. Die jetzige Schulsituation, die hohe Anzahl der SchülerInnen pro Klasse, zu kleine und/oder zu wenig Räumlichkeiten und der starre Umgang mit Zeit machen es den PädagogInnen unmöglich, den Anforderungen einer praxisorientierten gender- wie auch diversitysensiblen Bildung nachzukommen.

Emanzipierte Erziehung. Offenere Rahmenbedingungen bieten mehr Raum, um auf einzelne Kinder einzugehen, um pauschalen Geschlechterzuschreibungen von Seiten Erwachsener entgegenzuwirken und Kindern zu ermöglichen, ihr Geschlecht eigenständig auszuprobieren. Für Tanzberger ist es in Bezug auf die zukünftige Entwicklung einer geschlechtergerechten Pädagogik besonders wichtig, „Geschlechtsrollen und sonstige Zuschreibungen aufzulösen. Zum anderen ist es aber nach wie vor wichtig, Machtverhältnisse zu benennen. Für die Schule kann das heißen, Geschlecht zu dramatisieren, wenn es nötig ist und zu entdramatisieren, wenn es möglich ist.“ Dass im Bildungssystem endlich Platz für eine unbedeckte Evaluierung und den für eine emanzipierte Erziehung notwendigen Ausbau des Bildungssystems gemacht wird, ist aufgrund hartnäckiger ÖVP-Bildungsblockaden fraglich. Die Aufwertung des noch immer frauendominierten Bereichs der Sozial- und Pädagogikarbeit wäre nur eine Maßnahme, um den rostzerfressenen Bildungskahn vor dem Sinken zu bewahren.

Die Autorin studiert Philosophie in Wien.

Frischer Wind in die alten Talare

  • 19.09.2012, 16:13

Sie studierten 1968 und stellten die Uni auf den Kopf. Sie schlugen sich durch Männerdomänen und kämpften für #unibrennt. Drei Frauen und drei Unigenerationen im Porträt.

Sie studierten 1968 und stellten die Uni auf den Kopf. Sie schlugen sich durch Männerdomänen und kämpften für #unibrennt. Drei Frauen und drei Unigenerationen im Porträt.

Die Demos, die der Ring Freiheitlicher Studenten auf die Beine gestellt hat, waren gestopft voll. Und es sind alle alten Nazis mitgegangen.“ Die 66jährige Susanne Zanke (siehe Porträt) erinnert sich an ihre Studienzeit in den 1960ern am Institut für Theaterwissenschaften der Uni Wien. Sie selbst war oft auf Demonstrationen und selten zu Hause, auch um im Winter Heizkosten zu sparen. In ihrer Zeit als „68erin“ verbrachte sie viele Stunden auf der Straße und vor Fabriken, wo sie ihre Zeitung „Der Klassenkampf “ verteilte. Heute sitzt die Pensionistin in ihrer wohlgeheizten Wohnung im zweiten Wiener Gemeindebezirk. Umgeben von Büchern und Filmplakaten schwelgt die ehemalige Regisseurin in Erinnerungen an ihre Studienzeit. „Das war eine spannende Zeit. Ich möchte das nicht missen.“ Sie kann gar nicht aufhören zu erzählen. Als Susanne noch Studentin war, klebte der Muff des – von den NationalsozialistInnen ersehnten – Tausendjährigen Reiches unter den Talaren vieler Professoren: Unruhen und antisemitische Vorfälle standen an der Tagesordnung. Im Jahr 1965 erreichten diese ihren entlarvenden Höhepunkt. Auf einer Demonstration gegen den antisemitischen Professor Taras Borodajkewycz ermordete ein Mitglied des RFS den Antifaschisten und KZ-Überlebenden Ernst Kirchweger. Zanke war damals bei den Ausschreitungen vor der Albertina dabei.

Aber nicht nur nationalsozialistische Kontinuitäten gehörten zu ihrem Studienalltag: Als eine von rund 10.000 inskribierten Frauen bei rund 45.000 Studierenden in Österreich gehörte sie zu dem „übersehenen“ Viertel. Erst als in den 70ern die Hochschulen geöffnet, die Studiengebühren für österreichische StaatsbürgerInnen abgeschafft und das seit den 1960ern existierende Beihilfensystem ausgebaut wurde, stieg die Zahl der Studierenden kontinuierlich – von 1945 bis heute hat sie sich gar verhundertfacht: von 3500 auf 350.000. Und je offener die Unis wurden, umso mehr Frauen strömten an die Hochschulen. In den Jahren nach 1945 war Studieren aber vor allem eine Angelegenheit männlicher Kinder aus besserverdienendem Elternhaus. „Uns studierenden Frauen ist gesagt worden, wir würden nie einen Job finden“, erinnert sich Zanke an ihre erste Vorlesung. Der Platz der Frauen war hinterm Herd, im Haus, unter dem Dach der Kleinfamilie oder in Lehrund Erziehungsberufen – den Söhnen wurde eher eine höhere Bildung ermöglicht. Nicht nur Studieren an sich, sondern auch die Hochschulen waren von einer autoritären Struktur geprägt, was sich nicht zuletzt im Umgang miteinander zeigte. Zanke, die selbst den Umbruch mitgestaltete, erinnert sich auch heute noch verschmitzt an Tabubrüche: „Ich weiß noch, wie ein Kollege aufstand und zum Rektor sagte: ,Na, Kollege Kraus.‘ Ich hab gedacht, jetzt fährt der Blitz ein, schließlich war das ‚seine Magnifizenz’.“ Durch das System der sogenannten „Ordinarienuniversität“ geprägt, waren Professoren damals die zentrale Entscheidungsinstanz der Uni. Sie mussten keine anderen Universitätsangehörigen miteinbeziehen und traten wie der Rektor als Herrscher in ihrem Fach auf. Diese Atmosphäre hat sich in vielen Bereichen bis heute nicht geändert.

Faschistische Zustände aufdecken. Es ging aber nicht nur um das Aufbrechen verstaubter Strukturen, sondern auch um Mitbestimmung. StudentInnen wollten die Lehrinhalte mitgestalten. Kritisches Hinterfragen des Lehrkanons und Einbeziehen aktueller gesellschaftlicher Themen waren notwendige Impulse. Und so wurde der Mantel des Schweigens, der die nach wie vor ewiggestrigen Zustände verdeckte, zerrissen: StudentInnen brachten personelle Kontinuitäten und halbherzige Entnazifizierungsverfahren an die Öffentlichkeit. Der Theaterwissenschaftler Heinz Kindermann etwa, der auch Zanke unterrichtete, war schon ab 1933 NSDAP-Mitglied gewesen und während der NS-Zeit Professor am TheWi-Institut. Nach seiner kurzzeitigen Entlassung nach Ende des Zweiten Weltkrieges wurde er ab 1954 erneut Vorstand der Theaterwissenschaft, deren Institut auf Betreiben des „Führers“ der Hitler-Jugend Baldur von Schirach gegründet wurde. Publizistisch tat sich Kindermann vor allem mit Texten über NS-Funktionäre und gegen „undeutsche Literaturprodukte“ hervor. 1966 wurde Kindermann emeritiert und verließ das Institut. An der damaligen Hochschule für Welthandel in Wien (heute WU) konnte sich wiederum der „Historiker“ Taras Borodajkewycz bis zu seiner frühzeitigen Entlassung nach 1965 in seinen Vorlesungen antisemitisch äußern.

Ein Schritt zur Utopie. Die Hochschulreform unter Wissenschaftsministerin Hertha Firnberg (SPÖ) schaffte 1975 Studiengebühren für österreichische StaatsbürgerInnen ab und demokratisierte die universitäre Organisation. Auch angestellte WissenschafterInnen ohne Lehrstuhl sowie StudentInnen konnten nun mitbestimmen. Ein sozialdemokratischer Traum schien auch durch den Ausbau des Stipendiensystems Gestalt anzunehmen: sozialer Aufstieg durch Bildung für alle.
Insbesondere Frauen profitierten von der Universitätsreform und dem gesellschaftlichen Umbruch in den 1970er-Jahren. So waren 2009 schließlich 64,8 Prozent der österreichischen Studierenden weiblich. Doch weiterhin gilt: Je höher die Stufe der wissenschaftlichen Karriereleiter, desto geringer der Frauenanteil. Aufstieg an der Uni bleibt männlich, obwohl die meisten Universitäten Förderprogramme eingeführt haben und „Gender Studies“ in einigen Studienrichtungen durchgesetzt wurde – in Linz sogar universitätsweit. An der Realität der Studentinnen ändert das aber oftmals nur wenig. „Als Frauen waren wir nie Thema, weil wir einfach nie Thema waren“, so Julia Petschinka zu ihrem Studium in den 1990ern. „Es gab nie Geschichten von Physikerinnen, die wir als Vorbilder hätten nehmen können.“ Im Alt Wiener Café Jelinek erinnert sich die 37Jährige, die in ihren Knickerbocker-Hosen und Ringelstulpen eher wie eine Bohèmienne als eine diplomierte Physikerin aussieht, an den mangelnden Frauenanteil in den Naturwissenschaften. Feminismus oder Frauenförderung hätten in ihrem Studium keinen Raum eingenommen.

Diplomstudien in alter Freiheit. In den 1990er- Jahren wurden nicht nur die Hochschulen in ihrer internen Organisation ein weiteres Mal reformiert. Auch Diplomstudiengänge wurden eingeführt, die wesentlich mehr Pflichtveranstaltungen vorsahen als ihre Vorgängerinnen. Sie boten aber weiterhin eine Wahlfreiheit innerhalb des Studiums, die sich Studierende nach dem Bolognaprozess heute nicht einmal in ihren kühnsten Träumen ausmalen können. Auch für Petschinka macht gerade diese Freiheit ein Studium sinnvoll: „Querdenken, vernetzen und mehrere Sachen miteinander verknüpfen, das ist das, was Zukunft hat. Aber genau das wird jetzt verhindert.“ Allerdings waren bereits in den 1990ern die Studienbedingungen durch überfüllte Hörsäle und soziale Kürzungen geprägt. Mit Wintersemes ter 1996/97 wurde beispielsweise die StudentInnenfreifahrt für alle öffentlichen Verkehrsmittel, egal ob mit ÖBB oder Stadtverkehr, abgeschafft. „Ich habe den Eindruck, dass der generelle Blick auf StudentInnen ist, dass das alle nur faule Leute sind, die Zeit vergeuden“, sagt Petschinka. Diese rhetorische Figur begleitete die Medienberichte rund um die umfassenden StudentInnenproteste 1996 und ist auch heute noch gegenwärtig – egal ob Anfang der 2000er-Jahre bei der Einführung der Studiengebühren oder erst vor wenigen Semes tern bei der #unibrennt-Bewegung 2009.

Ab 2000 steil bergab. Überhaupt haben die letzten Jahre die hochschulpolitische Landschaft geprägt wie zuvor nur die 1970er. Es geht Schlag auf Schlag – aber diesmal bergab. 2002 wurden die Studiengebühren eingeführt und gleichzeitig ein Universitätsgesetz beschlossen, das studentische Mitbestimmung stark einschränkt. Die Universitäten wurden in die „Autonomie“ entlassen. Das Rektorat bekam etliche Kompetenzen zugesprochen und einen treuen Wegbegleiter an die Seite gestellt: den Unirat, der an Aufsichtsräte in Unternehmen erinnert. Der Senat, jener Teil der Unileitung, in dem auch Studierende vertreten sind, musste indes abspecken und 2005 wurde der Traum vom offenen Hochschulzugang durch die Einführung erster Zugangsbeschränkungen begraben.

Magdalena Zangerl (28) ärgert sich über die steten Verschlechterungen an den Universitäten und den aktuellen Diskurs rund um Studiengebühren und Co: „Das sind alles unausgegorene Vorschläge von PolitikerInnen, die alle selber gratis und zehn Jahre studieren konnten und keine Ahnung davon haben, wie es ist, jetzt zu studieren.“ Mit ein Grund für die Germanistikstudentin, sich bei #unibrennt zu engagieren und für bessere Hochschulen zu kämpfen. Auf ihre Zeit in der Studierendenbewegung blickt sie heute jedoch skeptisch zurück und fragt sich „wie viel #unibrennt wirklich bewegt hat“. Und heute, knapp zwei Jahre, nachdem StudentInnen das Audimax besetzt hatten, sind wir mit einer „Studieneingangs- und Orientierungsphase“ in allen Bachelorstudien konfrontiert. Diese soll der „besseren Kontrolle“ der Zahl der StudentInnen in den jeweiligen Studienfächern dienen. Gleichzeitig wurde die Bolognastruktur nahezu vollständig umgesetzt (siehe Streitgespräch Seite 8–9). Lernen und Lehren wurden dadurch komplett umgekrempelt. Zangerl schüttelt resigniert den Kopf: „Jede gesetzliche Änderung, die ich in den letzten Jahren mitbekommen habe, zielt darauf ab, die Studierenden dazu zu bringen, möglichst in Mindeststudienzeit zu bleiben, nicht nach links und nicht nach rechts zu schauen, um danach wirtschaftlich gut verwertbar zu sein.“

Lernts Deutsch!

  • 18.09.2012, 21:02

Eine aktuelle Studie bringt brisante Ergebnisse über den Zusammenhang von Sprachenvielfalt und sozialer Durchlässigkeit in Schulen. progress traf sich mit Studienkoordinatorin Katharina Brizic.

Eine aktuelle Studie bringt brisante Ergebnisse über den Zusammenhang von Sprachenvielfalt und sozialer Durchlässigkeit in Schulen. progress traf sich mit Studienkoordinatorin Katharina Brizic.

progress: 2008 haben Sie mit der quantitativen Erhebung ihrer Studie zu Sprachenvielfalt und sozialer Durchlässigkeit begonnen. Dabei nahmen 19.453 Kinder aus 234 Wiener Volksschulen teil – das entspricht 85 Prozent aller Volksschulkinder in Wien. Der zweite, qualitative Teil der Erhebung steht noch aus. Was kann man davon erwarten?

Katharina Brizic: Insgesamt haben rund 180 Familien und Kinder an der qualitativen Erhebung teilgenommen, die auch Teil der quantitativen Untersuchung waren. Das Tolle ist, dass die qualitativen Daten dieser Familien mit dem quantitativen Teil in Verbindung gebracht werden können, und wir so überprüfen können, wie weit überhaupt ein quantitatives Instrument, also
der Fragebogen, die sprachliche Situation der Familie widerspiegelt. Denn wir wissen, dass bei einer quantitativen Erhebung stigmatisierte Sprachen wie zum Beispiel Kurdisch oder Romanes fast nicht vorkommen. Deswegen haben wir besonders viel Wert darauf gelegt. Theoretisch wird es für uns auch möglich sein, den Bildungserfolg der Kinder nachzuvollziehen – wer ist mit welcher Sprache in eine AHS, eine Hauptschule oder in eine Sonderschule gekommen.

Wie kann soziale Ungleichheit mit Sprache erfasst werden?

Immerhin gab es keine Indikatoren wie Einkommen oder Jobs der Eltern. Wir finden zum Beispiel eine Konzentrationen von SchülerInnen mit Kurdisch, Romanes und Türkisch in jenen Schulen, in denen wir keine Konzentration von französisch- und englischsprachigen Familien finden. Das trifft eine Aussage über die ethnische Schichtung im Bildungssystem. Die „Ethnie“ wird in Mitteleuropa auch nicht erhoben, und das mit gutem Grund. Wir müssen über die Sprachen gehen, wenn wir erfahren wollen, wie weit das Schulsystem die Kinder tatsächlich ethnisch schichtet. Die Durchmischung müsste schon längst stattfinden, wenn das Schulsystem sie begünstigen würde. Das tut es ja nicht, und das sagt uns die Sprache.

Was halten sie von Quoten für nicht-muttersprachlich deutsche Kinder an Schulen?

Erstens: Ich halte etwas von der Durchmischung, weil ein Kind lernt Sprache im Kontakt mit anderen Kindern am leichtesten. Kinder haben einen leichten Spracherwerb – sie müssten absichtlich daran gehindert werden, nicht zu lernen. Die zweite Frage ist: Wie stellen wir das her? Ich halte nichts davon, Kinder mit Bussen durch ganz Wien zu karren, weil sie ihre FreundInnen dann nicht in der Nähe haben, weil die Wege weit werden für die Kinder, und weil die Kinder eh schon belastet sind. Ein Mittel wäre, die Lebensbedingungen gleicher zu gestalten – zum Beispiel den Wohnungsmarkt und den Arbeitsmarkt –, das sind beides Faktoren, die das elterliche Einkommen und den finanziellen Spielraum bestimmen.

Was haben Sie über das Sprachverhalten der Kinder rausgefunden?

Erstaunlich war, wie wenige türkische Kinder wirklich nur Türkisch zu Hause sprechen. Mir war klar, dass es wenige sein würden, aber das Ausmaß hat mich überrascht. Kinder übernehmen immer das Deutsche, die Mehrheitssprache. Sprachen werden dann teilweise sogar von der Kindergeneration aufgegeben, wenn sie wenig Prestige genießen. Das sieht man vor allem bei Kurdisch und Romanes. Bei Türkisch, Bosnisch – Kroatisch – Serbisch und Russisch ist das nicht so. Viel schwerer zu erfragen sind starke Sprachwechsel über die Generationengrenze hinweg.

Das bedeutet, die gesellschaftlichen Einflüsse bewegen die Kinder zur Aufgabe der Sprache?

Sprachwechsel ist ein ausgesprochen interessanter Indikator für soziale Ungleichheit. Ein Mensch, der gebildet ist und beispielsweise aus einer spanischen Familie kommt, würde nie auf die Idee kommen, dem Kind nicht Spanisch beizubringen. Das würde eher als Nachteil empfunden werden. Bei Romanes sagen die Menschen: „Wozu braucht das Kind das?“

Deutsch hat einen hohen Stellenwert. Muss man dann nicht die Integrationsdebatte neu starten, wenn, wie aus der Studie ersichtlich, 80 Prozent der Kinder gerne Deutsch sprechen?

Ja, man muss die Diskussion sicherlich neu starten – das ist das, was die Wissenschaft eh schon seit geraumer Zeit empfiehlt, und zwar auf mehreren Ebenen. Symptomatisch für unser Schulsystem ist, dass es die Kompetenzen nach Maßstäben einschätzt, die nicht dem gerecht werden, was diese Kinder tatsächlich können. Die können zwar zu Hause Türkisch reden, aber tatsächlich ist nach vier Jahren Schule ihre stärkste Sprache Deutsch. Gerade wenn es um das Schriftliche geht, können diese Kinder Deutsch am besten. Der Punkt ist, sie brauchen natürlich länger, wenn sie mehrere Sprachen erlernen. Würde man das Schulsystem nicht ab den Zehn-Jährigen aufspalten, dann wäre da viel mehr Möglichkeit für die Kinder, aufzuholen. Aber letztendlich sind vier Jahre zu wenig, und ich spreche noch gar nicht von SeiteneinsteigerInnen, die erst mit zehn Jahren kommen. Diese Trennung wird schon österreichischen Kindern aus unterschiedlichen sozialen Schichten zum Verhängnis.

Eine Deutschpflicht in Schulen macht also keinen Sinn?

Nein. Es ist immer die Frage, was ich vermitteln will: „Wir reden jetzt alle Deutsch“ oder „Wir reden jedenfalls nicht das depperte Türkisch“. Es scheint so, als würde die wienweite Spracherhebung zeigen, dass die gesellschaftliche Stimmung bei den Kindern angekommen ist – „Lernts Deutsch!“.

Vor einiger Zeit wurde über die Matura auf Türkisch diskutiert.

Als würde sich die Zunge sofort verknoten, nur weil man Türkisch redet! Ich bin total dafür, meine Befürchtung ist nur, dass die Kinder, von denen wir hier reden, also die sozial Benachteiligten, niemals zur Matura kommen. Vorher wäre es besser, sich eine gemeinsame Schule für Sechs- bis 14Jährige oder darüber hinaus zu überlegen. Man kann zwar die Matura anbieten, aber wer kommt dort hin?

Bei der Untersuchung wurde unterschieden, welche Sprache das Kind mit der Mutter und welche das Kind mit dem Vater spricht.

In der Realität besteht oft ein Unterschied. Das heißt, das Kind spricht zum Beispiel mit dem Vater beide Sprachen und mit der Mutter nur eine. Die Frauen sind auch jene, die auf Grund der meist kürzeren Bildungsdauer eher dazu neigen, die stigmatisierte Sprache weiterzuverwenden, während die Väter durch den Kontakt mit der Mehrheitssprache im Arbeitsleben die Sprache des Herkunftslandes ablegen. In den 1980er-Jahren gab es eine Untersuchung in Sardinien, weil die Mütter plötzlich nicht mehr Sardisch, sondern Italienisch sprachen. Diesen  gesellschaftlichen Druck muss man sich erstmal vorstellen – wie stark der Wunsch nach sozialem Aufstieg ist.

„Wir landeten im Gefängnis“

  • 18.09.2012, 20:54

Der Barkeeper des legendären Stonewall Inn in New York, Tree, ist stolz auf seinen Job. progress-Redakteurin Flora Eder erzählt der Zeitzeuge über die Riots, die im Jahr 1969 den Startschuss der modernen Schwulen- und Lesbenbewegung abgaben, Polizeirepression und Obamas Vorstoß in puncto gleichgeschlechtlicher Ehe.

Der Barkeeper des legendären Stonewall Inn in New York, Tree, ist stolz auf seinen Job. progress-Redakteurin Flora Eder erzählt der Zeitzeuge über die Riots, die im Jahr 1969 den Startschuss der modernen Schwulen- und Lesbenbewegung abgaben, Polizeirepression und Obamas Vorstoß in puncto gleichgeschlechtlicher Ehe.

Die Sonne ist an diesem Tag besonders stark. Tree besteht aber darauf, sich direkt unter sie und vor das Stonewall Inn zu setzen. „Die nächsten Tage soll es regnen“, sagt er. Für den mittlerweile 73jährigen Zeitzeugen der Stonewall Riots ist es nicht das erste Interview. Seine Biographie wurde auf CNN ausgestrahlt, und wenn der US-Präsident ankündigt, für gleichgeschlechtliche Ehe einzutreten, dann bitten US-Medien auch Tree um seine Einschätzungen und Kommentare. Das Gespräch muss immer wieder unterbrochen werden, weil Tree Leute begrüßt, die vorbeikommen. Auch ein alter Highschool-Freund, der ihn noch mit „Hi, Freddy!“ begrüßt. „Sonst nennen mich aber alle Tree“, sagt er.

progress: Was ist in der Nacht der Stonewall Riots geschehen, in der Nacht des 27. Juni 1969?

Tree: Aus persönlicher Sicht schien es vorerst eine Nacht wie jede andere: Wir sind in dem Lokal Mamas Chicken Rib, nicht weit weg von hier, als Gruppe abgehangen, und haben im Stonewall Inn vorbeigeschaut, um noch etwas zu trinken und zu tanzen. Betrunken waren wir in dieser Nacht übrigens nicht – die Getränke waren nämlich stark mit Wasser verdünnt. Das heutige Stonewall Inn  umfasst nur die damalige Tanzfläche – es war damals ungefähr doppelt so groß, und der Eingang und die Bar waren dort, wo sich heute der Maniküre-Salon befindet. Wir tanzten und als die Polizei das Stonewall Inn betrat, konnten wir also durch die andere Tür schnell flüchten.

Als die Polizei ins Stonewall Inn kam – was geschah da genau?

Die Polizei nahm etliche Menschen fest – darunter Drag Queens und Lesben in Männerkleidung. Geschlechtsuntypische Kleidung zu tragen, war damals sogar ein Grund, ins Gefängnis zu wandern. Wenn du als Mann Frauenkleidung trugst, musstest du mindestens drei „männliche Erkennungsstücke“ mit dir mittragen, sonst wurdest du verhaftet. Und vice versa war es für die Lesben. Die Polizei nahm auch den Kellner und die Inhaber fest. Als wir auf die Straße kamen, hat uns hier bereits eine kleine Menschenmenge von 30 Personen erwartet.

Um zu demonstrieren?

Ja, genau. Schnell wurden es 70, dann 150, dann 200, dann 700 Menschen. Zu guter Letzt haben sich über 1000 Menschen auf diesem Platz eingefunden. Die Türen der Bar wurden von außen verschlossen, Steine wurden geworfen. Einige schüttelten so lange an einem Parkzähler, bis sie ihn aus dem Gehsteig herausreißen konnten und nutzten ihn ebenfalls als Verschluss für die Türe. Aber die Polizei hätte sich ohnehin nicht mehr getraut, herauszukommen. Sie schrien um Hilfe, aber niemand im Grätzl unterstützte sie. Als dann Müll  angezündet wurde, gingen die Riots los – und ich lief davon. So ging es Vielen. Viele hatten Angst, dass ihre Eltern in den Medien davon lesen würden, dass sie schwul oder lesbisch seien, und versteckten sich.

Wie ging es mit den Demonstrationen weiter?

Wir gingen zurück in unser Lokal um die Ecke und schworen einander, nicht zu sagen, dass wir beim Stonewall Inn gewesen waren. Glücklicherweise kam die Polizei nie ins Mamas Chicken Rib. Aber am darauffolgenden Tag war es schon in allen Zeitungen. Und aus dem sehr bekannten Frauengefängnis, das sich gleich hier in der Nähe befand – hier war zum Beispiel Angela Davis gefangen – hörten wir von den Lesben immer wieder laute Rufe, die forderten, zurückzuschlagen und sich das nicht länger von der Polizei gefallen zu lassen. Permanent wurden uns von der Polizei Gesetzesüberschreitungen unterstellt, die wir niemals begangen hatten. Nur weil wir in einer Schwulenbar waren, landeten wir häufig im Gefängnis, so lange, bis jene RichterInnen, die darauf bestanden, ausreichend Schmiergeld erhielten, um uns wieder freizulassen.

Die Stonewall Riots waren der Startschuss für die moderne Schwulen- und Lesbenbewegung. Warum waren diese Proteste so erfolgreich?

Ich weiß nicht, warum ausgerechnet sie so erfolgreich waren. Ich kann mich erinnern, dass es mich verwunderte, wie schnell es ging, dass hier überall Regenbogenfahnen hingen und Proteste organisiert wurden. Bei einem der großen Protestmärsche gingen ich und meine Clique mit, aber nur auf der Seite. Ich bin so groß und hatte immer besondere Angst, sofort im Fernsehen erkannt  zu werden. Wir wurden von den PassantInnen als Queers, Fags, Lesben und so weiter beschimpft, und glaubten auch, dass es mit diesen Demos dann wieder vorbei sein würde. Wir konnten ja nicht ahnen, dass es bis zu unserem Lebensende nicht mehr aufhören würde.

Wer waren die Menschen, die damals auf die Straße gingen?

Hauptsächlich waren es Männer, einige waren auch Heteros. Sie engagierten sich aber meist nur, um für andere Belange zu agitieren. Und wie bei jeder Demo waren auch bei uns welche, die sich nur mit der Polizei anlegen  wollten. Trotzdem waren es meist sehr ruhige Demos, an denen etliche Hippies und nette Menschen teilnahmen. Überwiegend waren die TeilnehmerInnen aber Menschen, die keine Familie in New York hatten oder die bereits geoutet waren. Auch ich habe meiner Mutter lange Zeit nicht gesagt, dass ich schwul bin: Sie wusste zwar, dass ich immer wieder in dieses Viertel kam, jedoch nicht, welche Bars ich hier besuchte. Als sie es eines Tages herausgefunden hatte, sagte sie nur: „Oh.“ Das war das Ende des Gesprächs.

Immerhin besser, als wenn sie sich empört hätte?

Nun ja. Mütter sind Mütter.

Gingen auch viele Lesben bei den Demos mit?

Natürlich. Außerdem haben wir uns immer gegenseitig als TanzpartnerInnen gebraucht, um nicht als homosexuell aufzufallen. Jedoch gab es auch jene Lesbenbars, in denen Männer nicht erlaubt waren. Mir hat besonders jene Lesbenbar gefallen, deren Besitzerin für gemischtes Publikum eintrat und sagte, dass Lesben und Schwule gemeinsam kämpfen sollten.

Was veränderte sich durch die Stonewall Riots unmittelbar?

Davor war alles top secret: Man musste an der Bartür klopfen, bevor man sich hineinschleichen konnte – und wenn du nicht wusstest, wo eine Bar war, hast du auch keine gefunden. Das hatte seinen Zweck, auch meine FreundInnen in Brooklyn hätten mich verprügelt, hätten sie gewusst, dass ich schwul bin.

Sind Sie stolz, damals dabei gewesen zu sein?

Natürlich bin ich stolz darauf. Aber immer, wenn sich wer bei mir bedanken möchte, weiß ich nicht, wie ich darauf reagieren soll. Wir konnten ja gar nicht ahnen, welche Dimensionen das annehmen würde. Heute gibt es auf der ganzen Welt Regenbogenfahnen – und sogar Lokale, die nach dem Stonewall Inn benannt werden. Erst kürzlich hat eines in Deutschland aufgemacht. Das Interesse an den Protesten und daran, was damals passiert ist, ist ungebrochen.

Auch von Seiten jüngerer Leute?

Viele von ihnen wissen gar nicht, was damals passiert ist. Deswegen gehe ich auch in die Schulen und unterrichte dort. Ich finde, das ist das Beste, das man gegen Homophobie machen kann. Mir ist auch wichtig, zu vermitteln, dass sie ihr Leben genießen sollen – und verhüten!

In den USA ist ja die Debatte über gleichgeschlechtliche Ehen voll im Gang. Wird Barack Obama damit Erfolg haben?

Ich denke, New York wird geschlossen hinter Obama stehen. Was mich jedoch schockiert, sind erste Umfragen, die zeigen, dass ein großer Teil der AfroamerikanerInnen und der spanischsprachigen Community gegen die gleichgeschlechtliche Ehe ist. Aber ich denke trotzdem, dass Obama auch die nächsten vier Jahre US-Präsident bleiben wird – und ich bin ihm sehr dankbar.

Wird sich das Leben von LGBTQ-Personen dadurch wirklich so sehr ändern?

Nein – aber es wird Schritt für Schritt besser. Ein Kampf nach dem anderen, little by little.

Neues aus der Beziehungskiste

  • 13.07.2012, 18:18

Sibylle Hamann fordert, dass auch Männer über Gleichberechtigung nachdenken sollen.

Sibylle Hamann fordert, dass auch Männer über Gleichberechtigung nachdenken sollen.

Feminismus ist eine großartige Sache, hat Unterhaltungswert und vertreibt die Zeit. Auch Männer finden mittlerweile Gefallen daran – immer vorausgesetzt, er findet bloß im Fernsehen statt. Feminismus heute ist meistens eine Art Zuschauersport: Ein Moderator schickt Frauen mit unterschiedlichen Lebensentwürfen in den Ring, rotzige Girlies gegen angegraute Frauenrechtlerinnen, kühle Karrieristinnen gegen schwurbelige Esoterikerinnen, und dann freuen sich alle, wenn die Fetzen fliegen. Kinder oder keine? Vielfliegerlounge oder Vollwertkochkurs? Ach, was Frauen sich bloß alles an Problemen aufgehalst haben mit ihrer Gleichberechtigung! Wie herzig, ihnen bei der Bewältigung zuzuschauen! Aber wie gut, dass uns Männer das alles nichts angeht!
Die Gleichberechtigung der Geschlechter wird, immer noch und immer wieder, als „Frauenfrage“ definiert, mit einer Hartnäckigkeit, die ihresgleichen sucht. In der Politik ist die Frauenministerin dafür zuständig, im Betrieb die Frauenbeauftragte, im Beziehungsalltag der weibliche Beziehungsteil. Warum eigentlich?
Wahrscheinlich ist genau das der Hauptgrund, warum wir in der Geschlechterdebatte schon recht lange nicht mehr vom Fleck kommen.
Schauen wir uns die Gleichberechtigung einmal aus einer größeren historischen Perspektive an. Nüchtern betrachtet haben Frauen ihren Teil des Deals erfüllt. Ihr Auftrag lautete: Lernt etwas, stellt euch beruflich auf eigene Beine, macht euch ökonomisch unabhängig und erobert die Hälfte der Arbeitswelt. Das haben sie getan. Mädchen haben heute die besseren Noten in der Schule. Frauen machen die Mehrzahl der Universitätsabschlüsse. Sie haben gelernt, Flugzeuge und Anwaltskanzleien zu lenken, Raketen und Frühstücksflocken zu designen. Sie haben gezeigt, dass man Kanzlerin werden kann und Soldatin in Afghanistan. Sie machen ihre Sache eigentlich ganz gut.
Seltsam ist bloß: Die versprochene Gegenleistung will sich nicht recht einstellen. Frauen tun, was Männer immer schon getan haben, nur eben zusätzlich. Denn dabei, ihre traditionellen Aufgaben abzutreten, kommen sie nicht recht vom Fleck. Die Verantwortung fürs Kümmern und Pflegen, Trösten und Organisieren klebt an ihnen, als sei sie angewachsen. Man nennt sie jetzt „Alphamädchen“, doch sie räumen immer noch regelmäßig den Geschirrspüler aus und checken die Termine beim Kinderarzt. Sie wissen natürlich, dass man dabei cool lächeln sollte, um nicht als frustrierte, verhärmte Zicke dazustehen. Aber ein bisschen erschöpft, ein bisschen ausgetrickst fühlen sie sich doch.
Gleichzeitig sind auch die Männer unzufrieden. Sie spüren die weibliche Konkurrenz auf dem Arbeitsmarkt, je jünger, desto heftiger, und haben immer weniger gute Argumente bei der Hand, um ihre letzten kleinen Exklusivreviere zu verteidigen. Ihre Erwerbsbiographien werden unsicherer, immer öfter zweifeln sie daran, ob sie tatsächlich noch genauso verlässlich als „Ernährer“ taugen wie ihre Väter und Großväter. Sie wissen nicht genau, was Frauen von ihnen erwarten, und sind sicherheitshalber misstrauisch. Immer öfter verweigern sie Beziehungen und laufen vor der Verantwortung für Kinder davon.

Das kann doch eigentlich nicht alles gewesen sein? Wahrscheinlich haben Frauen schon genug über Gleichberechtigung geredet. Wahrscheinlich sind jetzt einfach einmal die Männer dran. Es ist höchst an der Zeit, sich den Themen, die Frauen mittlerweile zum Hals heraushängen, einmal von der anderen, der männlichen Seite her zu nähern.
Da tun sich plötzlich gähnende Leerstellen auf. Wie lässt sich, zum Beispiel, eigentlich die Vaterrolle mit einer ernsthaften Karriere vereinbaren? Was tun, wenn die Dienstreise mit der Schulaufführung der Raupe Nimmersatt kollidiert, und was wird die Kollegin denken, wenn schon zum dritten Mal in diesem Jahr ein Pflegeurlaub notwendig wird? Welches Jobangebot lässt sich besser mit den Öffnungszeiten des Kindergartens verbinden? Und hätte ich über all das nicht schon bei der Wahl des Studiums oder des Lehrberufs nachdenken müssen?
Wer solche Fragen ernst nimmt, wird schnell draufkommen: Auch Männer können sich in Geschlechterklischees eingesperrt fühlen. Es ist nicht lustig, sich Wünsche, Bedürfnisse und Fähigkeiten abzuschneiden, bloß weil sie nicht in die Rolle passen. Und man wird auch draufkommen: Männer werden mit diesen Konflikten fast immer sehr allein gelassen. Von Politikern, von Vorgesetzten, von ihren Kollegen und Freunden – und, sehr oft, auch von ihren Kolleginnen, Freundinnen und Frauen.
Zeit wird’s also für eine Männerbewegung, die endlich drauf pocht, dass Männer in ihrer ganzen Vielfalt für voll genommen werden.
In vielen Bereichen der Gesellschaft fehlen sie nämlich bis heute, und ihr Fehlen tut weh. Sie fehlen in den Schulen und in den Sozialberufen, in der Pflege, in der Jugendarbeit. Sie hätten hier immens viel zu tun: Sie könnten Kindern zeigen, dass richtige Männer nicht nur zum Naseputzen, sondern auch zu komplexen Erziehungsaufgaben fähig sind. Sie könnten Buben auf die Idee bringen, sich fürs Trösten und Streitschlichten zuständig zu fühlen, statt automatisch Automechaniker werden zu wollen. Speziell für Buben aus traditionellen MigrantInnenfamilien könnten sie Identifikationsfiguren darstellen, die ein bisschen anders reden und handeln als die Väter daheim.
Es ist einige Jahrzehnte her, dass Frauen sich anschickten, die männlich beherrschte Arbeitswelt zu erobern. Sie waren dort nicht auf Anhieb willkommen. Man hat sich über sie lustig gemacht, sie mit Geringschätzung bestraft, oft stoßen sie bis heute auf eiskalte, berechnende Abwehr. Es war nicht immer einfach, trotzdem blieben sie dran.
Jetzt wären Männer an der Reihe, den zweiten Teil des Deals anzupacken – und den Frauen endlich die Familienkiste aus der Hand zu nehmen. Auch sie können nicht damit rechnen, überall auf Anhieb willkommen zu sein. Manchmal wird man sich über sie lustig machen, sie mit Geringschätzung strafen, mitunter werden sie auch auf eiskalte, berechnende Abwehr stoßen – denn loslassen fällt auch Frauen schwer.
Es wäre schön, wenn sie sich nicht so leicht entmutigen lassen. Wenn sie trotz allem dranbleiben. Sie könnten beweisen, was man ihnen – traditionell und klischeehaft gesprochen – so gerne nachsagt: Verwegenheit, Mut und Pioniergeist. Wir können ihnen versichern: Es ist nicht immer einfach, aber es zahlt sich aus.
Wovor fürchten sie sich eigentlich?

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