Gleichberechtigung

Anonym und kostenlos

  • 09.12.2012, 18:53

Zehn Mitarbeiterinnen sitzen schichtweise am anderen Ende dieser Nummer: 0800 222 555. Seit 1998 gibt es die bundesweite Frauenhelpline. Sie bietet Beratung kostenlos, rund um die Uhr und mehrsprachig. progress traf die Telefonberaterin Angelika Eisterer an ihrem Arbeitsplatz.

Zehn Mitarbeiterinnen sitzen schichtweise am anderen Ende dieser Nummer: 0800 222 555. Seit 1998 gibt es die bundesweite Frauenhelpline. Sie bietet Beratung kostenlos, rund um die Uhr und mehrsprachig. progress traf die Telefonberaterin Angelika Eisterer an ihrem Arbeitsplatz.

In dem Büro stehen ein Schreibtisch mit Telefon und Computer, Ordner und zwei Betten. „Für die Nachtschichten, für den Fall dass es vielleicht länger keine Anrufe gibt“, sagt Angelika.

progress: Wie viele Anrufe kommen denn so im Schnitt?

Eisterer: Laut unserer jährlichen Statistik sind es durchschnittlich etwa 30 Anrufe am Tag mit 24 Stunden. Ein Tag besteht aus drei Diensten und das verteilt sich eben auch. Es gibt Zeiten, in denen es ganz dicht ist und dann gibt es wieder Zeiten, in denen es vielleicht einen Anruf in der Schicht gibt und wenn man das nicht statistisch erfasst, dann merkt man das als Beraterin nicht, wie viele Anrufe es sind. Man kriegt eher mit, heute ist ein heftiger Tag oder heute ist ein ruhigerer Tag.

progress: Und wenn in einer heftigen Zeit die Leitung besetzt ist?

Eisterer: Das sollte natürlich nicht passieren, aber wenn, dann gibt es einen Spruch am Tonband, das sagt: „Die Beraterin ist gerade in einem Gespräch. Bitte rufen Sie zu einem späteren Zeitpunkt wieder an“. Wir rufen nicht zurück, obwohl wir eigentlich die meisten Nummern sehen, weil die übertragen werden. Aber wir sind anonym und eine Helpline, darum rufen wir aus Prinzip nicht zurück.
Oft kann es ja so sein, dass das Handy oder Telefon von der Familie benutzt wird und dann geht vielleicht der Mann dran oder wer anderer, was natürlich auch problematisch oder sogar gefährlich für die Anruferin sein kann.

progress: Wer ruft denn alles an?

Eisterer: Es ist ein Teil direkt betroffener Frauen, ein anderer Teil sind Frauen oder auch Männer aus dem sozialen Umfeld. Manchmal sind das Leute, die sagen, sie kennen wen. Das sind dann sowohl Frauen als auch Männer, die einfach für eine bestimmte Frau eine Unterstützung wollen. Es gibt auch einen sehr geringen Teil an Männern oder Tätern, die tatsächlich Hilfe für sich wollen und auch Männer, die Opfer sind.

progress: Gibt es auch feindlich gesinnte Anrufe?

Eisterer: Ja, auch. Es gibt einen gewissen Teil derjenigen, die meiner Meinung nach in ein Täterprofil hineinpassen. Das sind eben sozusagen klassische Täter, die uns beschimpfen wollen, oder sich irgendwie rechtfertigen wollen. Das geht hin bis zu laufenden Belästigungen.

progress: Sind auch Vaterrechtler dabei?

Eisterer: Die gibt es auch, die anrufen, ja. Ich weiß natürlich immer nur das, was am Telefon thematisiert wird, aber natürlich. Wenn sie davon anfangen, merkt man da natürlich schon die Richtung. Ich merke persönlich, dass ich meinen Beratungsstil etwas geändert habe, seitdem sie gesellschaftspolitisch einen starken Aufwind bekommen haben.

progress: Inwiefern?

Eisterer: Bei vielen unserer Gesprächen mit Frauen geht es auch um das Thema Obsorgeregelungen, also auch um juristische Beratung. Oft, bevor eine Frau in der Lage ist, eine Entscheidung zu treffen, muss Rechtliches geklärt werden. Bei Scheidung und Trennung spielt oft  die Sorge um das Kind bzw. um die Kinder eine große Rolle. Frauen haben oft Angst ihre Kinder zu verlieren,  was durch Väter, die stark um ihre Rechte kämpfen, auch passieren kann. Vor der Obsorgedebatte hab ich diesen Frauen noch sagen können, sie hätten da wenig zu befürchten, aber nun und auch zukünftig kann ich ihnen das nicht mehr so bestimmt vermitteln, weil nicht mehr sie, sondern RichterInnen entscheiden können und entscheiden werden. Das bringt Frauen in eine sehr große Unsicherheit  – oder in die Ausweglosigkeit beim Gewalttäter bleiben zu müssen, weil sie denken, dann können sie wenigstens noch mit dem Kind zusammen sein. Ich merke da schon, dass sich da der politische Wind gegen Frauen ordentlich gedreht hat.  Diese Situation ist für Frauen sehr belastend, aber auch für uns.

progress: Wie geht es denn nach einem Anruf weiter?

Eisterer: Wir sind ja für ganz Österreich zuständig und haben hier eine dicke Mappe am Tisch liegen, wo sämtliche Beratungsstellen österreichweit drinnen stehen, nach Thema geordnet, damit wir sie natürlich schnell finden.
Grundsätzlich gilt es erst einmal, das Anliegen zu klären. Am Telefon find ich das noch schwieriger als in der persönlichen face-to-face Beratung, weil Menschen in der Krise natürlich nicht geordnet erzählen. Da muss man natürlich zuerst herausfinden, was ist jetzt der Problemfall. Was ist jetzt und was ist in der Vergangenheit passiert. Dann geht es in erster Linie natürlich immer um die Sicherheit. Das heißt, es geht darum zu klären, liegt eine akute Gefährdung vor und was kann dagegen getan werden. Da kommen de facto eigentlich immer nur zwei Sachen ins Spiel. Das eine ist die Polizei zu rufen und die andere Möglichkeit ist, selber wegzugehen wie etwa in ein Frauenhaus. Wenn es sich um keine akute Situation handelt, dann kann die Beraterin mit der Anruferin einen Sicherheitsplan besprechen für den Fall, dass es wieder gefährlich werden wird, wie kann sie sich und ihre Kinder schon im Vorfeld davor schützen, wen kann sie miteinbeziehen, einweihen.
Manchmal rufen auch Frauen aus ländlichen Gegenden an, wo es rundherum oder in der Nähe keine Hilfseinrichtung gibt, die sie aufsuchen könnte. Für diese Frauen ist die Frauenhelpline besonders wichtig, damit sie sich Hilfe holen können.

progress: Warum bist du Telefonberaterin geworden?

Eisterer: Ja, also ich bin Psychologin und Sozialarbeiterin, wobei wir hier im Team ganz unterschiedliche Fachkompetenzen haben. Wir haben Psychologinnen,  Sozialarbeiterinnen und Frauen, die aus ganz unterschiedlichen beruflichen Kontexten kommen und langjährige Gewaltexpterinnen sind, weil sie bereits in adäquaten Hilfseinrichtungen gearbeitet haben. Wir haben auch Beraterinnen, die auf Arabisch, Englisch, Bosnisch-Kroatisch-Serbisch, Rumänisch und Türkisch beraten können.

Ich persönlich habe die letzten Jahre im Gewaltschutzzentum in Niederösterreich gearbeitet, wo ich viele gewaltbetroffene Frauen und Kinder beraten habe. Ich bin seit zwölf Jahren Sozialarbeiterin und ich kennen viele Formen von Gewalt, ich war beim Jugendamt und in der Flüchtlingsarbeit tätig. Ich kenn das Thema Gewalt von verschiedenen Seiten. Ich verfüge durch meine langjährige Tätigkeit über ein umfassendes Wissen, auch über das Netz an Einrichtungen, die Hilfe anbieten. Dieses Wissen aus der Praxis ist für die telefonische Beratung bei der Frauenhelpline sehr hilfreich und nützlich. Im Vergleich zur Arbeit im Gewaltschutzzentrum, wo ich Frauen zur Polizei, zum Gericht und zu sonstigen Stellen begleitet habe, was oft sehr zeitaufwendig und stressig war, ist die Arbeit bei der Frauenhelpline etwas weniger belastend, aber ebenfalls sehr sinnvoll und erfüllend für mich, weil ich den Frauen mein praktisches Wissen und die Erfahrungen gut und kompetent vermitteln kann.

progress: Wie sieht der der normale Tagesablauf aus?

Eisterer: Es gibt zwei Tagdienste von 8.00 bis 14.00 Uhr  und von 13.30 bis 19.30 Uhr. Die Nachtschicht geht von 19.00 bis 8.30 Uhr. Wie man sieht, gibt es da immer eine halbstündige Übergabezeit, wo man mit den Kolleginnen alle Anrufe bespricht und weitergibt. Ausführliche Besprechungen gibt es bei den wöchentlichen Teamsitzungen, bei denen es zu ausführlichen „Fallbesprechungen" kommt. Vor allem die sogenannten Mehrfachanruferinnen, also Frauen, die öfter anrufen müssen, weil sie sich in einer Krise befinden und laufend Hilfe brauchen. Einige Frauen begleiten wir schon seit mehreren Jahren. Das sind Frauen, die aufgrund von ihren Gewalterfahrungen psychisch oder psychiatrisch erkrankt sind und die die Frauenhelpline als wichtige Stütze sehen, um ihren Alltag  bewältigen zu können.

progress: Wie wird da die Anonymität gewahrt?

Eisterer: Wir dokumentieren jeden Anruf, wo wir bestimmte Daten festhalten, die für uns intern relevant sind bzw. die uns die AnruferIn mitteilt. Wie etwa das Geschlecht, das Alter und die Herkunft der AnruferIn und welche Anliegen am Telefon besprochen werden, welche Hilfe wir angeboten haben und wie oft sie schon angerufen hat. In den meisten Fällen haben wir keine Namen, was auch nicht notwendig ist. Frauen die öfters bei uns anrufen bekommen von uns Bezeichnungen wie „Frau aus Wels“, dann können wir uns untereinander darüber verständigen und orientieren, ob es sich um eine langjährige Anruferin handelt. Wir bieten auch eine E-Mail-Beratung an.

progress: Treffen Sie die Langzeitanruferinnen auch persönlich?

Eisterer: Nein, nie.

progress: Prinzipiell?

Eisterer: Ja, wir sind eine reine telefonische Beratungsstelle für ganz Österreich und unsere Adresse wird nicht öffentlich genannt, aus Sicherheitsgründen.  Wir bekommen genug belästigende Anrufe und wir wollen nicht, dass plötzlich jemand vor der Tür steht.

 

„Die Nummer 0800/222 555  soll in jedem Haushalt bekannt sein“, sagt Maria Rösslhumer, Leiterin der Frauenhelpline.

Die Webseite der Frauenhelpline.

Eine von fünf

  • 05.12.2012, 14:56

Im Rahmen der 16 Tage gegen Gewalt an Frauen wird heuer zum dritten Mal die Lehrveranstaltung „Eine von fünf“, vom 26.11 - 07.12, veranstaltet. Lisa Zeller besuchte die Vorlesung und sprach mit den Initiatorinnen.

Im Rahmen der 16 Tage gegen Gewalt an Frauen wird heuer zum dritten Mal die Lehrveranstaltung „Eine von fünf“, vom 26.11 - 07.12, veranstaltet. Lisa Zeller besuchte die Vorlesung und sprach mit den Initiatorinnen.

Gleich vier erschütternde Ereignisse unterstreichen die Aktualität des Themas: Zeitnah zum und am 25. November, dem Internationalen Tag gegen Gewalt an Frauen, wurden zwei Tötungsdelikte in Wien und zwei Mordversuche an Frauen in Niederösterreich verübt. „Eine derartige Häufung von dramatischen Vorfällen gab es  noch nie“, sagt Mag.a Maria Rösslhumer, Geschäftsführerin vom Verein Autonome Österreichische Frauenhäuser und Initiatorin der Vorlesung.

Gerade als Andrea Berzlanovich die Frage stellt, ob diese massiven Übergriffe verhindert werden hätten können, stürmt ein Mann in den Hörsaal und brüllt eine abseits des Podiums sitzende Frau an: „Wo warst du? Vier Anrufe in Abwesenheit und du hebst nicht ab!“. Verwirrung und Betroffenheit macht sich im Hörsaal breit. Verängstigt versucht die Frau sich zu rechtfertigen. Doch er schreit weiter, bis sie schließlich aus dem Raum flüchtet. Seine drohenden Rufe: „Wo bist du!?“, lassen keinen positiven Ausgang erwarten. Die Gerichtsmedizinerin deutet an: „So oder ähnlich kann es sich auch in den vier Familien zugetragen haben, bevor es zu den Bluttaten gekommen ist“. Die unter die Haut gehende Szene wurde von den beiden SchauspielpatientInnen Doris Buchner und Hagnot Elischka nachgestellt. Die Thematik „Häusliche Gewalt“ wird während der Ringvorlesung also nicht nur theoretisch, sondern ebenso praktisch behandelt.

Mehr als nur Frauenhaus. Natürlich könne sie nicht beantworten, ob diese Gewalttaten hätten verhindert werden können, meint Mag.a Maria Rösslhumer. Die Polizei ermittle, ob es schon im Vorfeld Anzeichen für Gewalt gegeben habe. Einer der Täter sei bereits einmal nach dem Sicherheitspolizeigesetz verwiesen worden.

Die 30 Frauenhäuser in Österreich haben 759 Plätze für gewaltbetroffene Frauen und Kinder. Gemessen an der EinwohnerInnenzahl fehlen für die Erreichung der EU-Empfehlung allerdings 71 Plätze. Insgesamt fanden im vergangenen Jahr in den österreichischen Frauenhäusern 3371 Frauen und Kinder Schutz und Unterstützung. Davon waren knapp mehr als die Hälfte Migrantinnen. „Dies liegt aber nicht daran, dass Frauen mit Migrationshintergrund öfters von Gewalt betroffen seien, sondern daran, dass sie sich eher seltener an die Polizei wenden.", erklärt Rösslhumer. „Die Gründe dafür sind vielfältig, sei es aus Angst, nicht ernst genommen zu werden oder weil sie schlechte Erfahrungen gemacht haben oder aus Angst abgeschoben zu werden", fügt sie hinzu.

Frauenhäuser bieten auf Wunsch kostenlose Prozessbegleitung zu Polizei und Gerichten an. Der Verein selbst betreibt auch eine kostenlose Telefonberatung. Außerdem arbeitet der Verein umfassend im Bereich der Prävention und versucht, die jungen (potentiellen) Opfer von Gewalt zu erreichen, etwa mit Empowerment-Workshops für Kinder und Jugendliche an Schulen, in denen diese gegen Gewalt in der Familie gestärkt werden sollen. Vor allem sollen die TeilnehmerInnen den Unterschied zwischen Konflikt und Gewalt  klar erkennen. Hierbei ist die Grenze nicht so leicht zu ziehen, zumal es verschiedene Formen von Gewalt gibt: psychische, physische, sexuelle und soziale Gewalt.

Außerdem werden auch Workshops für die LehrerInnenschaft angeboten. Hier zeigte sich, dass viele der teilnehmenden LehrerInnen beruflich bereits mit dem Thema konfrontiert und daher nahezu alle der Ansicht waren, dass die Gewaltproblematik fix in deren LehrerInnen-Ausbildung integriert werden sollte.

Gewalt an Frauen trifft auch Kinder. Die Wichtigkeit der Arbeit mit und für Kinder verdeutlicht Mag.a Dr.in Barbara Schleicher von der Gesundheit Österreich GmbH. Sie geht auf die gesundheitlichen Auswirkungen von Gewalt auf Frauen und Kinder ein. Gewalt gegen schwangere Frauen wirkt sich auf die ungeborenen Kinder aus. Nach einer deutschen Prävalenzstudie haben gewaltbetroffene Schwangere ein höheres Früh- und Fehlgeburtenrisiko sowie Ess- und Schlafstörungen. Die Kinder werden häufig mit einem niedrigeren Gewicht geboren.

„Da häufig Ärztinnen und Ärzte die ersten und die einzigen Ansprechpersonen für Opfer sind, ist das Erkennen von Gewalt nicht nur ausschlaggebend für die konkrete Unterstützung in der Notsituation, sondern auch für die Aufklärung der Gewalttat“, meint Berzlanovich.

Dies war auch die Motivation, die Vorlesungsreihe an die Medizinische Universität zu bringen. „Österreich ist ein Vorbild, wenn es um Opferschutzgesetze, Unterstützung- und Beratungseinrichtungen geht, aber leider zählt die gesundheitliche Versorgung der Gewaltopfer noch nicht dazu“, sagt Schleicher. „Es ist eine Tatsache, dass MitarbeiterInnen aus Praxen und Krankenhäusern die Probleme gewaltbetroffener Patientinnen nicht lösen und die Gewaltsituation nicht beenden können, aber sie können, sollen und müssen als Nahtstelle zwischen den Opfern und spezialisierten Unterstützungseinrichtungen fungieren.“ Die Wahrnehmung einer gewaltbedingten Verletzung seitens der Ärztinnen und Ärzte, eine gerichtstaugliche  Dokumentation sowie die Vermittlung an frauenspezifische Einrichtungen helfen den Frauen enorm. Aber die Patientin muss damit einverstanden sein.

Über Generationen hinweg. Über 90% der Kinder sind bei Misshandlungen  der Mutter anwesend. Viele Kinder und Jugendliche, die sich schützend vor die Mutter stellen, erfahren  dabei selbst Gewalt. Gewalt ist über Generationen hinweg beobachtbar. „Während Söhne aus gewalttätigen Herkunftsfamilien später dazu neigen, selbst Gewalt als Durchsetzungsmittel anzuwenden, sind Mädchen stärker gefährdet, Partnergewalt zu tolerieren“, sagt Schleicher. Jede Gewalterfahrung hat Auswirkungen auf die kognitive und emotionale Entwicklung der Kinder und kann sich in Verhaltensauffälligkeiten wie pathologischem Lügen, Schutzbehauptungen, autodestruktive Tendenzen sowie in Bindungsstörungen bemerkbar machen. „Gewalt gegen Frauen zieht sich quer durch alle sozialen Schichten und  ist im Sozialbau ebenso wie in der Prominentenvilla anzutreffen“, erklärt die Gastvortragende. 

365 Tage gegen Gewalt. Die interdisziplinäre Vorlesung „Eine von fünf. Gewalt und Gesundheit im sozialen Nahraum“ trägt ihren Namen aufgrund der Tatsache, dass jede fünfte Frau in Österreich in ihrem Leben von Gewalt in einer Beziehung betroffen ist. Zuerst fand die Lehrveranstaltung an der Politikwissenschaft, dann an der Rechtswissenschaft ihren Platz, erst im WS 2010/2011 erreichte das Thema durch Gerichtsmedizinerin Berzlanovich die Studierenden der Medizin. „Ziel ist es, angehende MedizinerInnen für das Thema zu sensibilisieren. Ich wünsche mir aber, dass sich auch Kolleginnen und Kollegen im niedergelassenen Bereich und in den Krankenhäusern eingehender informieren“.

Sie schätzt es sehr, dass sich über 100 TeilnehmerInnen aus unterschiedlichsten Studienrichtungen und Berufen angemeldet haben. Das korreliere ausgezeichnet mit der interdisziplinär ausgerichteten Vorlesungsreihe und sei eine gute Basis, um das gemeinsam Erarbeitete für die berufliche Tätigkeit entweder unmittelbar oder in der Zukunft zu nützen.

Die Lehrveranstaltung dieser Art ist österreichweit bislang die einzige. „Eigentlich wollen wir sie in ganz Österreich anbieten“, sagt Rösslhumer. Bei ihren Anfragen sei sie allerdings nicht auf große Begeisterung gestoßen, da viele Universitäten der Ansicht seien, dass ohnehin genug in diesem Bereich passiere. „Vielleicht probieren wir es nächstes Jahr wieder einmal“, fügt sie hinzu.

Die 16 Tage gegen Gewalt an Frauen reichen vom 25. November bis zum 10. Dezember. „In diesem Zeitraum soll besonders auf Gewalt gegen Frauen aufmerksam gemacht werden“, sagt Rösslhumer, „obwohl wir natürlich wissen: Gewalt passiert 365 Tage im Jahr“.

Links:

Bundesweite Frauenhelpline: http://www.frauenhelpline.at/

Gewalt ist nie ok: http://www.gewalt-ist-nie-ok.at/

Gesundheit Österreich GmbH: http://www.goeg.at/

Verein Österreichische Autonome Frauenhäuser: http://www.aoef.at/cms/index.php

Inhalte der Vorlesung: http://www.meduniwien.ac.at/hp/gerichtsmedizin/lehre/medizin/auswirkungen-haeuslicher-gewalt/

 

 

 

Zwischen Homosexualität und Migration

  • 19.11.2012, 13:52

Ewa Dziedzic ist Mitgründerin des Vereins zur Integration und Förderung von homosexuellen Migrant_innen (MiGaY). PROGRESS erzählt sie von der Arbeit des Vereins und über die Unsichtbarkeit migrantischer Homosexualität.
Die Fragen stellte Oona Kroisleitner.

Ewa Dziedzic ist Mitgründerin des Vereins zur Integration und Förderung von homosexuellen Migrant_innen (MiGaY). progress erzählt sie von der Arbeit des Vereins und über die Unsichtbarkeit migrantischer Homosexualität. Die Fragen stellte Oona Kroisleitner.

progress: MiGaY wurde 2009 gegründet. Was waren damals eure Motive?

Ewa Dziedzic: Ich habe bereits 2004 mit einem Freund aus Istanbul einen Verein für lesbische, schwule und Transgender-Migrant_innen mit dem Namen Vienna Mix gegründet. Bis dahin gab es zwar LGBT- und Migrant_innenvereine, aber keine Anlaufstelle für Menschen, die in diese Schnittstelle zwischen Sexualität und Migrationshintergrund fallen. Wir wollten sichtbar machen, dass Migrant_innen, wenn sie homosexuell oder Transgender sind, oft mit anderen Diskriminierungserfahrungen zu kämpfen haben.

progress: Mit welchen Problemen wurdet ihr konfrontiert?

Dziedzic: Bei einigen Migrant_innenvereinen wurde uns gesagt: „Das gibt es bei uns nicht, wir haben keine Homos“. Bei den LGBT-Vereinen fand man, dass der Migrationshintergrund egal sei, sie wären für alle Lesben, Schwule und Trans-Personen da. Insofern war die Situation schwierig. Und aus Vienna Mix wurde schnell eine Art Beratungsstelle. Aber eine Beratungsstelle auf ehrenamtlicher Basis ohne Subventionen zu führen war nicht einfach und wir haben Vienna Mix dann 2006 aufgelöst. Es haben sich aber weiterhin Menschen gemeldet, die Hilfe oder nur Austausch suchten. Wir wussten also, dass es in Österreich einen Verein zu dieser Thematik braucht. 2008 rief mich dann Yavuz an und präsentierte mir die Idee, eine Zeitschrift herauszubringen.

progress: Was sind die Probleme, mit denen Leute zu euch kommen?

Dziedzic: Allgemein ist die Unsichtbarkeit dieser Schnittstelle ein großes Problem. Wir betreuen auch immer wieder Asylfälle, denn Homosexualität gilt nicht explizit als Asylgrund. In vielen Ländern ist die Situation für homosexuelle Frauen und Männer sowie Transgender Personen unerträglich, aber sie haben oft keinerlei Basis, einen Asylantrag zu stellen. Dann kommt dazu, dass viele Angst davor haben, ihre Orientierung anzugeben, weil sie wissen, dass die Gefahr, dass es im „Heimatland“ jemand erfährt sehr groß ist. Aber auch innerhalb der Communities in Österreich ist die Situation oft nicht einfach.

prgress: Macht die Kategorie Geschlecht auch einen Unterschied aus?

Dziedzic: Fakt ist, dass wir auch in Europa nach wie vor patriarchale Strukturen haben, Lesben leben irgendwo am Rande. Sehr viele Frauen die zu Vienna Mix oder MiGaY kamen, sahen aufgrund ihrer ökonomischen Lage oder der Migrationsgeschichte kaum eine Möglichkeit als Frau alleine oder mit einer anderen Frau gemeinsam zu leben. Denn sie kommen schnell in eine Argumentationsnot gegenüber ihren Familien. Außerdem haben viele einen starken Bezug zu ihren Herkunfts-Communities hier in Österreich, wo sie das auch permanent argumentieren müssen. Nach dem Motto: eine Frau über 30, die nicht verheiratet ist und keine Kinder hat, ist keine richtige Frau.

progress: Und männliche Homosexualität ist sichtbarer?

Dziedzic: Ja, aber schwule Männer werden dafür oft als die größere „Bedrohung“ angesehen. Wenn man ein „aktiver“ schwuler Mann ist,  bleibt er vielleicht immer noch der Mann und behauptet seine Maskulinität. Wenn er hingegen „passiv“ ist, gilt er schnell als verweiblicht; allein daran sieht man, wie stark verankert die Vorstellung von Geschlechtergrenzen ist. Bei Transgender-Personen kommt durch die Geschlechtsüberschreitung eine Grenzüberschreitung dazu, die dann nochmal andere Probleme aufwirft. Allein das Aufbrechen einer angeblichen Dichotomie zwischen Mann und Frau, wird als Bedrohung wahrgenommen. Und Tatsache ist, dass Menschen nach wie vor aufgrund ihrer Geschlechteridentität eingesperrt werden.

progress: Hat sich seit ihr Vienna Mix gegründet habt die Wahrnehmung der Probleme geändert?

Dziedzic: In den „migrantischen“ Vereinen war es von Anfang an schwieriger. Wir haben hier z.B. die Erfahrung gemacht, dass wir unsere Zeitung bei ihnen vorbeigebracht haben und kaum haben wir uns umgedreht, wurde sie schon in den Mistkübel entsorgt. Die Verneinung von Sexualität ist immer aktuell und ich habe viele verheiratete Migrant_innen kennen gelernt, die meinten, dass sie sich nie trauen würden, zu einem etablierten „migrantischen“ Verein zu gehen und dort über ihre Sexualität zu reden. Und was die  LGBT-Vereine anbelangt:  so groß die Skepsis Vienna Mix und MiGaY gegenüber anfangs war, sind sie heute froh, dass es uns gibt. Also einen Verein, der genau diese Schnittstelle anspricht. Es gibt also viel Unterstützung, aber es existieren auch noch immer Lokale, die schwule Männer, die „migrantisch“ aussehen, nicht reinlassen. Junge Männer zwischen 17 und 30 stehen oft unter Generalverdacht, dass sie Stricher seien.

progress: Wie lässt sich die Situation homosexueller Migrant_innen in Stadt und Land vergleichen?

Dziedzic: Ich glaube, es ist schon als Migrant_in in Wien leichter, als in einem kleinen Kaff in Niederösterreich. Als meine Familie 1992 in so ein „Kaff“ gezogen ist – zuvor wohnten wir nach Umzug aus Polen zwei Jahre in Wien – waren wir die erste migrantische Familie dort. Als ich mich mit 16 geoutet habe, habe ich das vor meiner Familie und ein paar guten Freund_innen getan. Aber es war für mich damals noch unvorstellbar, sich öffentlich zu outen. Vielleicht war es die Angst zu hören: „Jetzt ist sie eh schon eine Ausländerin und dann auch noch eine Lesbe“.  Sehr viele Leute kommen nach Wien, weil sie hier mehr Freiräume wittern, weil es urbaner ist und eine Großstadt mehr Anonymität bietet. Und die Wahrscheinlichkeit bei zwei Millionen Menschen mehr Gleichgesinnte zu finden, ist größer als in einem Steiermärkischen Dorf.

progress: Ist es in migrantischen Communities und Familien schwerer, sich zu outen?                 

Dziedzic: Man muss aufpassen, dass man nicht alles auf den Migrationshintergrund schiebt. Es herrscht leider ein sehr homogenes Bild von Migrant_innen vor. Oft macht es einen Unterschied, ob es sich um die zweite oder dritte Generation der so genannten Gastarbeiter_innenfamilien, die aus sehr traditionellen Strukturen kommen, handelt, oder um Migrant_innen, die in Istanbul gelebt haben oder am Sankt Georg Kolleg waren. Und dann gibt es  noch das Phänomen, dass das durch die Migration hervorgerufene Gefühl der „Entwurzelung“ für einige ein Grund mehr ist, umso verstärkter auf bestimmte Traditionen und Werte des Herkunftslandes zu beharren.

                                                                                                                                                                                                                                                       

progress: Wie zeigt sich das?    

Dziedzic: Ein Beispiel: Als ich meiner Mutter gesagt habe, dass ich mich in eine Frau verliebt habe, war sie vor allem froh, dass ich nicht schwanger bin. Sie meinte dann, dass es nicht so schlimm ist, aber in Polen durfte das niemand erfahren. Jahre später war meine Mutter völlig überrascht, weil das Thema Homosexualität auch im polnischen Fernsehen besprochen wurde. Sie hat bis `89 nichts davon gehört. Die Frage „Ist es einfacher, sich in Kärnten zu outen oder doch in Wien leichter als in Krakau“ ist nicht pauschal zu beantworten. Das hängt manchmal davon ab, ob deine Familie seit Jahren den katholischen Familienverband unterstützt und du in Wien lebst oder du in Kärnten aus einer Familie kommst die sagt: „Naja, kann man nix machen“.

progress: Was muss sich in Zukunft ändern? Welche Forderungen habt ihr?

Dziedzic: In unterschiedlichen Bereichen so einiges. Zum Beispiel muss garantiert sein, dass es ein selbstständiges Aufenthaltsrecht für Migrantinnen gibt. Es kann nicht sein, dass Frauen wegen des Aufenthaltsrechts ihres Mannes an ihn gebunden sind.
Klar wirkt sich auch jede Verschärfung im Fremdenrecht auf Migrant_innen, egal welcher sexuellen Orientierung, aus. Auf der anderen Seite sind es die LGBT-Rechte. Seit 2010 gibt es die eingetragene Partner_innenschaft in Österreich, es existieren aber noch immer über 50 Ungleichbehandlungen gegenüber der Ehe. Angefangen davon, dass man den Nachnamen verliert, wenn man sich eintragen lässt, bis dahin, dass gleichgeschlechtliche Paare keine Kinder adoptieren dürfen.
Grundsätzlich geht es darum, dass jeder Mensch die Möglichkeit haben sollte, gleichberechtigt an der Gesellschaft partizipieren zu können, sichtbar zu sein, ohne mit physischer oder psychischer Gewalt konfrontiert zu werden.

 

Selbstverwirklichung statt Pensionsschock

  • 15.10.2012, 16:35

Rund fünf Prozent aller Studierenden in Österreich sind SeniorInnen. Claudia Aurednik hat mit Gerti Zupanich (73), Herta Spitaler (74) und Walter Waber (67) über ihre Erfahrungen an der Universität gesprochen. Drei Kurzportraits.

Rund fünf Prozent aller Studierenden in Österreich sind SeniorInnen. Claudia Aurednik hat mit Gerti Zupanich (73), Herta Spitaler (74) und Walter Waber (67) über ihre Erfahrungen an der Universität gesprochen. Drei Kurzportraits.

„Beim ersten Sehr Gut habe ich damals einen Luftsprung gemacht!“, erinnert sich Gerti Zupanich (73): „Denn bei der Prüfung war nicht stures Auswendig lernen, sondern das Reflektieren von Zusammenhängen gefragt.“ Die lebenslustige rothaarige Powerfrau hatte 1996 mit dem Studium der Politikwissenschaft begonnen und sich damit einen Lebenstraum erfüllt. Noch heute schwärmt sie von ihrem Hauptstudium und der selbst gewählten Fächerkombination aus Geschichte, Soziologie, Publizistik und Gender-Forschung: „Das hat alles so gut zusammengepasst und richtig Spaß gemacht.“ Schmunzelnd erinnert sie sich an den Studienalltag und die jungen StudienkollegInnen, die sie damals wegen ihrer exakten Mitschriften schätzten. „Gerti, du hast doch das letzte Mal mitgeschrieben? Darf ich mir eine Kopie davon machen?“ – diese Fragen waren der Beginn von Freundschaften, die bis heute andauern. Eigentlich wollte Gerti immer studieren. Doch als sie jung war, konnte sie sich ein Studium aus finanziellen Gründen nicht leisten. Und auch ihre Mutter war mit einem Studium nicht einverstanden. Ein Schicksal, das sie mit vielen Frauen ihrer Generation teilt: „Eine Frau heiratet eh, die braucht nicht studieren. Das entsprach dem damaligen Gesellschaftsbild.“ Während ihrer Tätigkeit in der ÖH Uni Wien als Studierendenberaterin für ältere Studierende hat sie festgestellt: „Seniorenstudierende lassen sich in zwei Gruppen teilen: Die Einen sind Menschen, die bereits ein Studium gemacht haben und jetzt ein Fach studieren, das sie interessiert. Und dann gibt es die zweite Gruppe, zu der ich auch gehöre. Das sind meist Frauen, die sich einen Lebenstraum erfüllen, weil sie in ihrer Jugend nicht studieren konnten. Viele machen dafür sogar die Studienberechtigungsprüfung.“ Gerti hat ebenfalls die Studienberechtigungsprüfung für Politikwissenschaft abgelegt. Die Politologie war ihre erste Wahl, weil sie während ihres Arbeitslebensin der Gewerkschaft engagiert und als technische Sachbearbeiterin tätig war.. Ihr Studium hat sie 2003 mit der Diplomarbeit „Alltagsrassismus und institutioneller Rassismus: am Beispiel Marcus Omofuma und Operation Spring“ abgeschlossen. Heute engagiert sie sich als Projektleiterin bei European Women in Older Age (EWA) und als Koordinatorin bei dem Bildungsnetzwerk Danube Networkers.

Auch Herta Spitaler (74) ist in der ÖH Uni Wien tätig. Gemeinsam mit Gerti organisiert sie den monatlichen Stammtisch für SeniorInnenstudierende am Campus der Universität Wien. Vor allem Kunstgeschichte, Geschichte, Philosophie, Europäische Ethnologie und Sprachen sind unter den älteren Studierenden sehr beliebt. Herta hat Romanistik studiert und danach noch ein weiteres Studium begonnen: „Ich habe gleich nach dem Abschluss meines Italienisch- und Französischstudiums im Jahr 1998 Geschichte und Spanisch inskribiert. Aber als dann die Studiengebühren eingeführt wurden, habe ich aus Protest im Jahr 2000 nicht mehr inskribiert.“ Herta besucht aber weiterhin je nach Interesse Vorlesungen auf der Judaistik, Byzantinistik, Romanistik und Anglistik. Die Leidenschaft der ruhigen nachdenklichen Frau sind Fremdsprachen – vor allem die fremdsprachige Literatur: „Ich habe in meiner Schulzeit eine Handelsakademie besucht und war beruflich bis zu meiner Pension bei einer Bank im Auslandsgeschäft tätig. Dabei hatte ich immer mit Fremdsprachen im wirtschaftlichen Kontext zu tun. In meiner Pension wollte ich mich dann mit der fremdsprachigen Literatur auseinandersetzen.“ Während ihres Studiums sind auch Freundschaften mit Lehrenden entstanden. Mit einer Professorin trifft sie sich immer wieder, wenn diese nach Wien kommt. Den Bolognaprozess und die darauffolgende Dreigliederung des Studiensystems betrachtet Herta sehr kritisch: „Ich habe immer gedacht, dass einem die Universität eine umfassende Bildung vermittelt. Aber in den letzten Jahren habe ich bemerkt, dass die Menschen immer mehr einseitig und nur noch in ihrem Fachgebiet gebildet sind. Die Studiengänge sind immer verschulter geworden.“

Walter Waber (67) übt auch Kritik an der Studiensituation der letzten Jahre: „Für die Studierenden ist es nicht einfacher geworden. Die Industrie bekommt von der Uni Schmalspurakademiker, die schnell ausgebildet werden. Wissensaneignung mit Zeit zum Forschen bleibt so nicht. Was steckt denn da für ein Menschenbild dahinter, wenn man nur möglichst rasch Menschen für den Arbeitsprozess ausbildet?“ Walter war über dreißig Jahre in der EDV tätig. Seit drei Jahren studiert er Philosophie an der Universität Wien. Das Studium betrachtet er als Kontrast zu seinem früheren Beruf: „Es ist sehr spannend für mich. Ich kann die Fragen nach dem Menschen und der Bewusstseinserweiterung verfolgen.“ Dabei zählt nicht der Abschluss, wichtig sind Walter das Lesen und die Auseinandersetzung mit der Philosophie. Er studiert gerne und fühlt sich auch seinen jüngeren StudienkollegInnen gegenüber sehr wohl: „Ich kann nur allen Seniorinnen und Senioren ein Studium empfehlen, wenn sie Interesse an einer Studienrichtung haben.“ Walter hält jedoch nichts von älteren Studierenden, die meinen alles besser zu wissen: „Denn das, was man selbst als Erfahrungen mitnimmt, ist nicht das einzig wahre. Es gibt viele Wahrheiten.“ Auch die EDV sollte die älteren Studierenden seiner Meinung nach nicht abschrecken, „Als älterer Student muss ich interessiert sein, etwas zu lernen. An der Uni gibt es eine eigene Anlaufstelle für EDV, die einem weiterhilft.“ Wie er sich heute als junger Studierender verhalten würde? „Ich würde mir bei den heutigen Studienbedingungen als junger Mensch schwer tun zu studieren. Man kann sich nur wünschen, dass kompetente Leute aufstehen und diesen Prozess zugunsten der jungen Studenten verändern.“

2000 Feministinnen in Wien

  • 10.10.2012, 15:51

Das Frauenfußballteam ballerinas hat die erste internationale queer-feministische Fußballade für Frauen, Lesben, Inter und Trans in Wien organisiert. Vanessa Gaigg traf zwei ballerinas, Lisi und Cécile, zum Interview.

Das Frauenfußballteam ballerinas hat die erste internationale queer-feministische Fußballade für Frauen, Lesben, Inter und Trans in Wien organisiert. Vanessa Gaigg traf zwei ballerinas, Lisi und Cécile, zum Interview.

progress: Wie seid ihr zum Fußball gekommen?

Lisi: Ich bin vor ungefähr drei bis vier Jahren dazugekommen. Als Kind bin ich nie auf die Idee gekommen, Fußball zu spielen, weil ich nie eine Frau gesehen habe, die das macht – ich bin da ‚klassisch weiblich’ sozialisiert worden. Ich hab dann erst auf der USI (Universitätssportinstitut, Anm. d. Red.) einen Kurs gemacht und es hat mir so Spaß gemacht, dass ich weiter spielen wollte. Dann bin ich auf die ballerinas gestoßen, die sich da gerade neu formiert haben.

Cécile: Ich bin 2007 dazugestoßen. Fußball ist ein Bestandteil meines Lebens seit ich klein bin – immer, immer, immer. Ich hab semi-professionell gespielt, aber aufgehört, weil ich mit dem Kontext Fußball nix mehr anfangen konnte. Die Gewalt am Feld, die Gewalt in der Kantine, die Gewalt in der Vereinsstruktur. Da hatte ich Fußball für mich abgeschrieben. Dann hab ich die ballerinas getroffen und mir gedacht: na gut, ich probier's noch einmal. Fußball ist für mich das schönste und intelligenteste Spiel, das ich je gesehen und erlebt habe. Und hier funktioniert's: Es geht ums Spielen, dass ein Pass ankommt, dass man mitläuft, dass man überlegt und dass man als Team funktioniert.

progress: Euch ist vor allem wichtig, dass ihr schön zusammenspielt, es geht nicht nur ums Gewinnen. Ist das ein wesentlicher Abgrenzungspunkt zu anderen Teams?

Lisi: Es ist sehr wichtig für uns, dass es wirklich ums Fußballspiel geht. Wir sind ein Team und wir wollen gemeinsam spielen. Es gibt bei uns Leute wie Cécile, die seit ihrer Kindheit spielen und Leute wie mich, die erst später dazugestoßen sind. Uns ist total wichtig, dass alle mitspielen können und nicht einige wenige die Tore reinbrettern, weil das geht schnell einmal. Natürlich wollen wir  Bälle ins Tor bringen, aber es geht schon sehr stark drum dass wir gemeinsam spielen und schön spielen. Und wir sind schon oft auf Turnieren angesprochen worden, dass wir am schönsten gespielt haben, auch wenn wir letzte geworden sind. 

progress: Wie hat sich die Gewalt geäußert?

Cécile: Damit meine ich zum Beispiel eine Schlägerei am Feld, nicht nur ein Foul, sondern die Gegnerinnen treten und in der Kabine noch erklären, dass Fussball Krieg ist. Weil es geht ums Siegen, nur ums Siegen. Dann – klar – gibt es noch die strukturelle Gewalt zwischen Männern und Frauen. Die Frauen kriegen den Platz zum Trainieren, wo es kein Flutlicht gibt, das heißt du trainierst im Dunklen oder nur mit Straßenlaternenlicht. Der Verein hat im Winter keine Kohle, damit du in der Halle trainieren kannst, also heißt's auch im Jänner oder Februar draußen zu trainieren... das ist auch nicht so lustig. Und dann natürlich noch die Homophobie, alle Fußballerinnen sind lesbisch, und so weiter. Das ist eine Struktur, die sich durchzieht.

progress: In eurem Manifest steht, dass ihr bewusst außerhalb jeglicher Vereinsstrukturen spielt. Warum ist euch das wichtig?

Cécile: Ein Verein hat eine Struktur, eine Hierarchie, eine Hackordnung... und das wollen wir nicht. Wir haben keine TrainerIn, keine Kapitänin, keine Sprecherin, wir sind ein Kollektiv.

Lisi: Wir gehören schon dem schwul-lesbischen Sportverein Aufschlag an, aber das eher aus praktischen Gründen. Das ist kein Fussballverein, das heißt wir sind relativ autonom.

progress: Gibt es Vereine, mit denen ihr befreundet seid?

Cécile: Ja, mit den Gaynialen schaffen wir es, ein bis zwei Mal im Winter zu trainieren. Seit kurzem haben wir auch Kontakt zu acht weiteren Teams, wir versuchen das auf jeden Fall zu intensivieren.

progress: Wie schätzt ihr die Situation von Frauenfußball in Wien ein?

Lisi: Es wird besser, aber es wird noch lange nicht ernst genommen. Ich weiß nicht, wie das ist mit professionellen Vereinen, aber ich merke in meinem privaten Umfeld, dass es immer noch schwierig ist. Es gibt extrem viel Sportförderung für alles, was mit Männerfußball zu tun hat, aber wenn Frauenfußballinitiativen mal um Förderungen ansuchen, dann ist plötzlich kein Geld da.

Cécile: Ich habe mein Leben lang beim Vater/Sohn Turnier zusehen müssen, weil ich eben nicht der Sohn meines Vaters bin. Ich will endlich mal ein Mutter/Tochter Turnier sehen, ich hätte gerne, das andere das erleben dürfen.Wir wollen im Schweizergarten (in Wien, Anm. d. Red.) einen gesperrten Platz haben für Mädchen zum Fußball spielen beziehungsweise Sport treiben. Wir versuchen seit zwei Jahren, das durchzukämpfen. Nach dem Turnier wollen wir das wieder in Angriff nehmen. Wir wollen einen Platz mit Kabine und Platzwart, wir würden sogar zwei Arbeitsplätze in Wien schaffen. (lacht)

Lisi: Die Mädchen werden immer von Burschen vertrieben und können nicht spielen. Deswegen ist auch die Notwendigkeit da, einen eigenen Bereich zu schaffen, wo sie spielen können. Das sichtbar zu machen ist ganz wichtig - deswegen war es uns auch ganz wichtig, das Turnier draußen zu veranstalten, dass man uns sieht und wenn man vorbeikommt sieht: Die haben Spaß!

Cécile: Und es sind viele!

Lisi: Ja, es sind sehr viele! Es spielen 16 Teams und 145 Spielerinnen.

progress: Wie habt ihr das Turnier organisiert? Von den 145 Spielerinnen sind ja viele auch extra angereist.

Cécile: Ja, es sind auch Teams aus Polen, Deutschland und England angereist. Wir haben uns anfangs jedes Monat, später jede Woche getroffen. Jede von uns hat sich verpflichtet, ein Jahr dabei zu sein und nicht abzuspringen.

Lisi: Wir wollten eben nicht nur das Turnier organisieren, sondern haben auch eine Ausstellung zu Lesben und Schwulen im Sport aufgestellt und wir haben einen Infotisch mit Infomaterial. Wir wollen nicht nur spielen, sondern auch einen politischen Anspruch haben.

Cécile: Wir haben Glück gehabt, dass gleichzeitig die FrauenSommerUni (FSU) und rampenfiber stattgefunden hat. Es sind an die 2000 Feministinnen in Wien! Nicht nur Frauen, sondern: Feministinnen! Es gibt Sport, Kultur und Bildung: Feminismus lebt und wird gelebt.

progress: Besitzt Fußball mehr emanzipatorisches Potential als andere Sportarten? Gerade was feministische Belange angeht?

Lisi: Theoretisch nein, praktisch ja. Es ist so, dass Fußball nach wie vor in der Welt, in der wir leben sehr stark mit diesen seltsamen Männlichkeitsbildern aufgeladen ist und ich deswegen schon glaub', dass es einfach eine gewisse emanzipatorische Wirkung haben kann, wenn man als Frau Fußball spielt.
Wenn wir im Prater oder auf der Donauninsel trainieren passiert es uns oft, dass Männer stehen bleiben und wenn wir den Ball grad rausschießen, müssen sie vorher unbedingt noch Tricks machen, bevor sie ihn zurückschießen. Bei einem Männerteam macht das niemand. Je mehr Frauen in der Öffentlichkeit Fußball spielen, umso mehr kann es auch verändern. Auch das Selbstbild von Frauen ändert sich dadurch. Zumindest meines hat sich dadurch verändert.

Cécile: Klar, weil du exponiert bist. Du bietest eine Angriffsfläche.

Lisi: Und Fußball ist auch ein Kontaktsport.

Cécile: Ja, du bist verschwitzt, rutscht am Boden, bist dreckig, fällst und stehst wieder auf.

 

„Geregelter Zugang in stark nachgefragten Fächern“

  • 05.10.2012, 16:42

Wissenschaftsminister Karlheinz Töchterle versucht sich in Schweigen zu hüllen und sagt trotzdem, dass an Zugangsbeschränkungen für ihn grundsätzlich „in stark nachgefragten Fächern“ kein Weg vorbeiführe. Diese „Fremdselektion der Interessen von Studierenden“ sei ungerecht, kontert Martin Schott vom Vorsitzteam der ÖH im progress Streitgespräch. Oona Kroisleitner und Flora Eder moderierten.

Wissenschaftsminister Karlheinz Töchterle versucht sich in Schweigen zu hüllen und sagt trotzdem, dass an Zugangsbeschränkungen für ihn grundsätzlich „in stark nachgefragten Fächern“ kein Weg vorbeiführe. Diese „Fremdselektion der Interessen von Studierenden“ sei ungerecht, kontert Martin Schott vom Vorsitzteam der ÖH im progress Streitgespräch. Oona Kroisleitner und Flora Eder moderierten.

progress: Durch das aktuelle ÖH-Gesetz ist eine Stimme bei den ÖH-Wahlen aus Leoben noch immer mehr Wert als eine Stimme von der KFU Graz. Minister Töchterle, die ÖVP strebt nach einem Mehr an Demokratie. Warum gilt das nicht für die ÖH?

Karlheinz Töchterle: Aus meiner Sicht ist die direkte Wahl der bundesweiten Vertretung der Studierenden sehr wohl möglich, wenn diese Position von allen Fraktionen getragen wird. Das wird sie aber offenbar nicht – und ich werde sie auch nicht gegen die stärkste Fraktion in der ÖH, die Aktionsgemeinschaft, durchsetzen. Vielleicht sehe ich das aber zu simpel oder einseitig.

progress: Martin Schott, warum ist für  die ÖH die Reform so wichtig?

Martin Schott: Der derzeitigen ÖH Koalition geht es hier um eine Grundfrage: Wird die ÖH demokratisch gewählt oder nicht? Jede Stimme, egal ob von Studierenden der Kunst Uni Linz oder der Uni Wien muss gleich viel wert sein.

Töchterle: Aber man muss schon sehen: Ich kann das nicht gegen die größte Fraktion machen. Deswegen lade ich alle Fraktionen zu einem Gespräch ein. Da werden wir weitersehen.

progress: Die Presse bezeichnete Sie, Minister Töchterle, in den letzten Tagen aus diesem Grund als „Handlanger“ der Aktionsgemeinschaft. Wie gehen Sie mit der Kritik um?

Töchterle: Das habe ich auch gelesen. Ich weise das zurück.

progress: Eben sagten Sie aber noch, es gibt keine Wahlrechtsreform, wenn die AG nicht zustimmt.

Töchterle: Ich entscheide das nicht gegen die größte Fraktion. Diese könnte genauso VSStÖ oder GRAS heißen: Wenn sie sagen, „Mit uns nicht“, dann wäre das genauso ein Grund, mir zu überlegen, ob ich das mache. Jetzt ist es zufällig die AG, deshalb bin ich aber nicht ihr Handlanger.

progress: In der „Presse“ von Donnerstag werden zusätzliche Zugangsbeschränkungen in den Fächern Architektur, Wirtschaftswissenschaften, Biologie und Pharmazie angekündigt. Ist das Ihr neuer Vorschlag, Herr Minister?

Töchterle: Ich habe das gegenüber der „Presse“ nicht angekündigt und halte mich auch weiterhin an die Vereinbarung mit dem Koalitionspartner, dass wir erst nach einer Einigung an die Öffentlichkeit treten. Nur so viel: Aufs Ganze gesehen soll es am Schluss nicht weniger Studienplätze geben. Das war der Wunsch von Andrea Kuntzl (Wissenschaftssprecherin der SPÖ, Anm.) und entspricht auch meinem Anliegen. Für Details ist es noch zu früh, die Gespräche laufen.

progress: Zugangsbeschränkungen sind also eine Option?

Töchterle: Ich hab immer gesagt, Universitäten müssen – so wie viele andere Einrichtungen – ihre Kapazitäten leben. Dazu stehe ich. Das ist für mich sowas von plausibel, dass ich überhaupt nicht weiß, wie man etwas anderes verlangen kann. Aber gut.

progress: Martin Schott, die ÖH ist da ja anderer Meinung...

Schott: Es ist schade, dass Verhandlungen zur Verbesserung der Studienbedingungen ohne die ÖH ablaufen. Denn wir hätten da einige Ideen. Und man würde definitiv ohne Zugangsbeschränkungen auskommen.

Töchterle: Das schaue ich mir an. Mit welchen Maßnahmen? Ich kenne Ihr Papier [An. der Red.: Forum Hochschule] – Eine Milliarde mehr. Wir brauchen aber gerade in stark nachgefragten Fächern einen geregelten Zugang.

Schott: Zugangsbeschränkungen sind eine Fremdselektion von Interessen. Dabei gibt es bereits jetzt eine gewisse Planungssicherheit durch die eigenen Interessen der Studierenden. Wir halten es für wichtig, dass Studierende ihr Studium frei wählen, die Berufswahl frei treffen und sich für jene Zukunft entscheiden können, die sie haben wollen.

Töchterle: Und ihre Vorstellungen wollen Sie in der ganzen EU durchsetzen?

Schott: Ja, warum nicht? Wir haben uns auf einen europäischen Bildungsraum geeinigt.

Töchterle: Gehen Sie dann nach Rumänien Studienberatung machen?

Schott: Das ist wohl nicht Aufgabe der ÖH. Aber dieser Weg der Fremdselektion von Interessen kann meiner Meinung nach nicht das Ziel eines Ministeriums oder einer Gesellschaft in Europa sein.

Töchterle: Was tun sie, wenn statt 25.000 jetzt 40.000 Studierende an die WU wollen?

Schott: Immer diese Horrorszenarien aufzubauen, find ich nicht in Ordnung.

Töchterle: Ihre Vorstellungen können Sie vielleicht in Österreich umsetzen. Vielleicht. Aber nicht in der EU.

Schott: Die Perspektive der EU so kurz zu setzen, finde ich nicht in Ordnung. Ich kann mir zwar vorstellen, dass es relativ schwierig sein wird, europaweit 27 Staaten auf ein einheitliches System zu bringen. Aber dennoch glaube ich, dass wir diese Perspektive haben.

progress: Ebenso am Donnerstag haben Sie, Minister Töchterle, in der Kleinen Zeitung gesagt, Sie fänden die geschlechtergetrennte Auswertung des EMS-Tests diskriminierend. Wieso musste die Med Uni Wien überhaupt zu diesem Verfahren greifen? Müsste nicht eher etwas am Test geändert werden?

Töchterle: Es liegt wohl nicht an dem Test – in der Schweiz gibt es den gleichen und er wirkt dort nicht geschlechterselektiv – sondern an der Ausbildung der Schülerinnen und Schüler. Sie kommen mit verschiedenen Voraussetzungen zu diesem Test.

Schott: Das sehe ich anders, auch der Test ist zu kritisieren. Aber ja, das Schulsystem ist in Österreich möglicherweise schon so aufgebaut, dass es von Anfang an diskriminiert und damit auch der EMS-Test geschlechterselektiv wirkt.

Töchterle: Ich würde eher sagen, es könnte sein, dass das österreichische Bildungssystem auf diesen Test hin nicht neutral ausbildet. Dass das Schulsystem insgesamt die Mädchen diskriminiert, würde ich nicht sagen. Es gibt auch einige Felder, wo Burschen diskriminiert werden. Beim EMS-Test wirkt es so, als ob Mädchen eine Benachteiligung gegenüber Burschen hätten.

progress: Und so lange die Ursachen im Schulsystem nicht behoben sind, halten Sie, Minister Töchterle, es für diskriminierend dem via Quoten entgegenzuwirken?

Töchterle: Ich sehe diese Auswertung problematisch. Ich versetze mich hier in die Situation der jungen Burschen, die diesen Test bewältigt haben, aber dann keinen Platz bekommen, weil sie durch eine Quotenregelungen gegenüber Mädchen, die schlechter abgeschnitten haben, zurückgestellt werden.

Schott: Ich frage mich, wie es den Frauen der letzten Jahre geht, die durch die Diskriminierung seitens des Schulsystems nicht das Studium ihrer Wahl aufnehmen konnten.

Töchterle: Wer die Prüfung besteht, hat doch das Recht auf einen Studienplatz. Und wer die Leistung nicht erbringt, nicht. Wo wir für Gerechtigkeit sorgen können, da sollten wir es tun. Und hier bin ich dafür, dass der, der die Leistung erbracht hat, auch dafür honoriert wird.

progress: Ist das auch aus der Sicht der ÖH ein fairer Ansatz?

Schott: Nein, ich bin dafür, dass man Diskriminierung überhaupt nicht zulässt. Warum sollte man Diskriminierung einfach bewusst fortsetzen?

Töchterle: Natürlich wäre das das Ideal. Sie sind für die ideale Welt, das wissen wir. Aber: Dass man die Burschen diskriminiert, nur weil sie Burschen sind, das ist keine Diskriminierung?

Schott: Gleichzeitig wirft man Frauen hinaus, nur weil sie Frauen sind.

Töchterle: Nein, die Mädchen haben die im Test geforderte Leistung anscheinend nicht erbracht.

progress: Martin Schott, es stehen die Klagen wegen der autonom eingehobenen Studiengebühren vor der Tür. Wenn der VFGH den Klagen stattgibt, würdesn Sie dann dem Minister empfehlen, den Berater zu wechseln?

Schott: Meiner Ansicht nach hätte man Nein zu Studiengebühren sagen und damit dem politischen Willen des Nationalrates folgen sollen, der ganz klar gesagt hat, dass er keine Studiengebühren will. Insofern wäre man anders besser beraten gewesen.

Töchterle: Professor Mayer ist Dekan der juridischen Fakultät in Wien und ein hoch angesehener Verfassungsrechtler. Da gibt’s nichts zu wechseln. Er ist der Ansicht, dass autonom eingehobene Studienbeiträge rechtskonform sind. Dieser Ansicht schließe ich mich an. Aber das Gesetz ist immer auch eine Interpretationsfrage.

progress: Der Dr.-Karl-Lueger-Ring in Wien wurde soeben in Universitätsring umbenannt. Herr Töchterle, Sie sind Mitglied des Cartellverbands, in dessen Zeitung Academia nachzulesen ist, dass dieser Umstand dem CV nicht passt, weil Lueger ein angesehener Cartellbruder war. Wie stehen Sie persönlich zur Umbenennung des Luegerrings?

Töchterle: Universitätsring ist ein sehr treffender Name. Was man auch sehen muss: Dass man hier jemanden aus dem Gedächtnis streicht, weil er zur Persona non grata geworden ist. Das hat man in der Antike „damnatio memoriae“ genannt. Dort ist das Kennzeichen von sehr harter Macht gewesen. Das ist also eine durchaus ambivalente Sache. Lueger war auch antisemitisch. Ich weise daher auf die Ambivalenz hin.

Mehr als eine

  • 30.09.2012, 21:49

Das Transgender Equality Network Ireland (TENI) tritt für eine rechtliche und gesellschaftliche Gleichstellung von Transgender-Personen in Irland ein. progress sprach mit dem TENI-Aktivisten Broden Giambrone über die Herausforderungen einer Bewegung.

Das Transgender Equality Network Ireland (TENI) tritt für eine rechtliche und gesellschaftliche Gleichstellung von Transgender-Personen in Irland ein. progress sprach mit dem TENI-Aktivisten Broden Giambrone über die Herausforderungen einer Bewegung.

progress: Der Begriff Transgender wird sehr unterschiedlich verwendet. Was bedeutet Transgender für TENI?

Broden Giambrone: Alle Menschen, deren Geschlechtsidentität von jener abweicht, die ihnen bei ihrer Geburt zugewiesen wurde fallen für uns unter den Begriff Transgender. Konkret: Crossdressing, Transsexualität, Travestie, Gender-Queer oderGender-Fluid  und viele mehr, aber auch Menschen, die sagen, dass sie gar keine Geschlechtsidentität haben.

Wie würdest du die Wahrnehmung von Transgender-Personen in Irland beschreiben?

Diskriminierung von Trans-Personen ist ein großes Problem. Viele Menschen realisieren überhaupt nicht, dass es Trans-Menschen gibt. Ein gutes Beispiel dafür war ein Interview, zu dem ich letztes Jahr von einem der großen Radiosender eingeladen wurde. Nachdem das Interview vorbei war, kam der Moderator zu mir und sagte: „Ich habe ja gar nicht realisiert, dass es mehr als eine Trans-Person in Irland gibt.“ (lacht) Wir kämpfen also in erster Linie mit dieser Unsichtbarkeit. Von dieser Unwissenheit leiten sich viele der Probleme, mit denen wir konfrontiert sind, wie etwa Transphobie, ab. Das Sereotyp ist eine Trans-Frau in ihren Fünfzigern.

Welche Unterstützung können sich Transgender-Personen erwarten, wenn sie zu TENI kommen?

Viele sind arbeitslos oder haben Probleme, das Haus zu verlassen, manche wollen sich einer Geschlechtsumwandlung unterziehen oder sie haben ganz einfach Probleme mit ihren Gefühlen in Bezug auf ihre Geschlechtsidentität. Die Anfragen reichen vom Wunsch nach einem Kontakt zu Gleichgesinnten, etwa in einer Peer-Support-Group, über das Bedürfnis, anonym mit einem/einer TherapeutIn sprechen zu können, bis hin zu Fragen rund um intraspezifische Gesundheitsversorgung.

Ihr haltet Workshops an Schulen, für Gewerkschaften oder andere Interessierte. Was vermittelt ihr hier?

Wenn wir mit Gruppen aus dem Gewerkschaftsbereich arbeiten, reden wir vor allem über Diskriminierungen am Arbeitsplatz. Da die Gleichbehandlungsgesetze in Irland Trans-Menschen nicht explizit erwähnen, kommt es für sie am Arbeitsplatz immer wieder zu Problemen, wenn es etwa um Mobbing oder Kündigungen geht. Wir bekommen selten die Möglichkeit, in den Schulen Workshops zu  halten, weil das Schulsystem sehr katholisch geprägt ist.

Welche Reaktionen bekommt ihr auf die Workshops?

Die Reaktionen sind meist positiv, aber auch sehr unterschiedlich. Ich würde nicht sagen, dass die irische Gesellschaft inhärent  transphob ist. Oft ist es einfach Unwissenheit. Wenn wir mit Jüngeren sprechen, sind sie zwar meist recht schüchtern, dafür fehlen ihnen viele der Vorurteile die ältere Generationen haben.

Wie funktioniert eure Zusammenarbeit mit der Politik beziehungsweise der Gesetzgeberin als Interessensvertretung?

Wir versuchen in erster Linie Bewusstsein zu schaffen. Wir reden mit den PolitikerInnen über negative Erfahrungen, die Trans-Menschen in den verschiedenen Lebensbereichen machen müssen, wie etwa den schwierigen Zugang zur Gesundheitsversorgung, Diskriminierung am Arbeitsmarkt oder die hohe Selbstmordrate. Wir bemühen uns auch das Thema positiv zu besetzen. Aber die Politik agiert in diesem Bereich nicht proaktiv. Zum Beispiel ist Irland eines der letzten Länder, in dem man die eigene  Geburtsurkunde immer noch nicht ändern kann. Und das, obwohl ein Gericht bereits 2007 entschieden hat dass eine entsprechende  Änderung möglich sein muss. Wir arbeiten an einem entsprechenden Gesetz, aber der Prozess schreitet sehr langsam voran.

Wie sieht die Situation in Irland in Bezug auf den Zugang zum Gesundheitssystem für Transpersonen aus?

Um in Irland etwa eine Geschlechtsumwandlung oder einfach nur einzelne geschlechtsspezifische Operationen machen zu können, muss man zuerst mit einer sogenannten „Geschlechtsidentitätsstörung“ identifiziert werden. Im staatlichen Gesundheitssystem gibt  es aber nur sehr wenige PsychologInnen oder PsychiaterInnen, die sich damit auskennen oder Erfahrungen mit Trans-Menschen haben. Das führt dazu, dass Menschen in das teure private System wechseln, sofern sie sich das überhaupt leisten können. Es hängt also davon ab, ob man das Geld hat, um sich die entsprechende Gesundheitsversorgung leisten zu können.

Wie  gehen die Menschen damit um, dass sie mit einer Geschlechtsidentitätsstörung identifiziert werden müssen, um Anspruch auf gewisse Leistungen bekommen zu können?

Das ist sehr unterschiedlich. Es gibt einige, die sich sehr stark damit identifizieren. Für sie bietet ein „Geschlechtsidentitätsstörung“ eine Erklärung für ihre Gefühle sowie eine Möglichkeit, zu ihren KollegInnen, FreundInnen oder ihrer Familie gehen und sagen zu  können: Schaut ich habe diese Störung, ich kann nichts dafür. Ich denke aber, dass wir uns langsam in eine Richtung entwickeln die diese Diagnose überflüssig macht.

Arbeitet ihr auch mit anderen europäischen oder internationalen Transgender-Organisationen zusammen?

Ja. Derzeit mit verschiedenen europäischen Organisationen gemeinsam an dem Projekt Page One, das sich mit der Sichtbarkeit und Repräsentation von Trans-Menschen in den Medien beschäftigt. Europaweit erleben wir einen sehr ähnlichen Umgang der Medien mit Trans-Themen, entweder sie finden gar keine Beachtung, oder es werden Sensations-Stories gebracht. Ziel des Projekts ist es, mehr Sichtbarkeit und eine positivere Berichterstattung in den Medien zu erreichen. Oft wird in Interviews danach gefragt, ob man  eine Operation hatte oder wie man früher geheißen hat. Unvorbereitet kann es in solchen Situationen passieren, dass man plötzlich  über Sachen spricht, die man gar nicht erzählen wollte. Wir wollen, dass sich Trans-Menschen dabei wohl fühlen, ihre eigene Geschichte so zu erzählen, wie sie es wollen und nicht, wie sie die JournalistInnen oftmals hören wollen.

Wie würdest du die Repräsentation von Trans-Menschen in den Medien generell beschreiben?

Wenn darüber überhaupt berichtet wird, dann fast ausschließlich in Form von Klatsch- und Tratsch- Geschichten. Themen, über die eigentlich berichtet werden sollte, wie Transphobie, Diskriminierungen, Gewaltverbrechen oder die rechtliche Situation, kommen praktisch nicht vor. Die Medien sind mehr daran interessiert, ob du operiert wurdest, oder an Vorher-nachher-Bildern. Unsere Vorsitzende bei TENI, die auch als Lektorin für die Trinity Universität in Dublin arbeitet, musste vor einiger Zeit eine besondersschlimme Erfahrung im Umgang mit den Medien machen. Die irische Sun, eine der größten Boulevard- Zeitungen, die von Millionen Menschen gelesen wird, hat ein Foto von ihr auf dem Cover abgedruckt und getitelt: „Trinity's sex swap proof. Greek Lecturer was a man“. Sie haben sie einfach so geoutet. Auf der Titelseite! Sie hat weder ihr Einverständnis zu einem Interview gegeben, noch dazu, dass ein Foto von ihr gemacht wird und schon gar nicht, dass es abgedruckt wird. Wir waren erschüttert.

Habt ihr geklagt?

Nein, aufgrund einer Reihe von persönlichen Gründen hat sie sich entschieden, keine rechtlichen Schritte einzuleiten.

„Ein unglaublich reicher Kontinent“

  • 29.09.2012, 02:57

In afrikanischen Ländern hat Zivilgesellschaft nichts mit Gutmenschen zu tun, sondern mit (Über-)Lebensstrategien. „Da liegt eine unglaubliche Kraft dahinter“ meint die Soziologin Veronika Wittmann vom Zentrum für soziale und interkulturelle Kompetenz an der Johannes-Kepler-Universität Linz.

In afrikanischen Ländern hat Zivilgesellschaft nichts mit Gutmenschen zu tun, sondern mit (Über-)Lebensstrategien. „Da liegt eine unglaubliche Kraft dahinter“ meint die Soziologin Veronika Wittmann vom Zentrum für soziale und interkulturelle Kompetenz an der Johannes-Kepler-Universität Linz.

progress: Es ist vermutlich sehr verallgemeinernd, von „der afrikanischen Zivilgesellschaft“ zu sprechen. Was kann Zivilgesellschaft übertragen auf afrikanische Länder bedeuten?

Veronika Wittmann: Grundsätzlich einmal halte ich es für unmöglich Konzepte von Zivilgesellschaft, die in Europa und Nordamerika entstanden sind, auf einen Kontinent wie Afrika zu übertragen. Die Rahmenbedingungen unter denen zivilgesellschaftliche Bewegungen dort handeln, sind ganz andere. Die Mehrheit der so genannten fragilen Staaten, wo der Staat nicht mehr das Gewaltmonopol hat, liegt in Afrika. Und ohne jetzt wieder ein klassisches Bild reproduzieren zu wollen, es ist ein Faktum, dass von den 48 ärmsten Ländern der Welt 35 in Sub-Sahara-Afrika liegen. Das bedeutet beispielsweise Analphabetismus oder dass 80 % des Kontinents nicht elektrifiziert sind. Dann muss man natürlich die immens hohen Raten an HIV-positiven Menschen berücksichtigen. Es sind andere Kämpfe, die geführt, und andere Mittel die eingesetzt werden. Außerdem ist es tatsächlich absolut verallgemeinernd von „der afrikanischen Zivilgesellschaft“ zu sprechen. Afrika, das sind 54 Länder mit unterschiedlichen historischen Entstehungsprozessen und gegenwärtigen politischen Rahmenbedingungen dessen was man unter einer Zivilgesellschaft verstehen kann.

progress: Welche Funktion erfüllen zivilgesellschaftliche Organisationen und Bewegungen in einzelnen afrikanischen Ländern?

Wittmann: Da muss man unterscheiden nach der Form der Organisation. Es gibt die ganze Bandbreite der Non Governmental Organisations. Die erfüllen durchaus eine Rolle des Watch Dog, drängen Regierungen auf die Einhaltung und Implementierung von Gesetzen, machen auf Missstände in einer Gesellschaft aufmerksam und so weiter. Diese NGOs sind darin zu unterscheiden, ob sie Regierungsgelder annehmen oder ob es NGOs sind, die vom Norden Donor-Funding erhalten. Hier kann dann natürlich die kritische Frage gestellt werden: wer bestimmt die Themen? Ein anderer wichtiger Teil von Zivilgesellschaft in Afrika sind Community-Based-Organisations, die so genannten CBOs. Das sind beispielsweise kleine lokale Radiostationen, die es vielerorts gibt, die unglaublich wichtig sind als Informationsquelle, um Menschen, die nicht lesen und schreiben können, zu erreichen. Das passiert in lokalen Sprachen. Man darf nicht vergessen, Afrika ist der sprachenreichste Kontinent der Welt. Hier erfüllen CBOs eine sehr wichtige Funktion zwischen NGOs und der dritten Gruppe der Zivilgesellschaft in afrikanischen Ländern, den Graswurzel-Bewegungen. Bei uns würde man sie als Basisbewegungen bezeichnen. Das sind beispielsweise oft Frauengruppen, die sich zusammenschließen, um mit bescheidenen Mitteln Aktivitäten zu setzen. Da liegt eine unglaubliche Kraft dahinter, diese Gruppen sind eigentlich die driving force. Aus Müll werden Kunstgegenstände hergestellt und verkauft. Frauen besetzen Gerichtsgebäude, wenn Fehlurteile gefällt werden. Wenn in Simbabwe Lebensmittelpreise erhöht werden, sind es Frauen, die sich auf die Straße stellen und demonstrieren. Es sind immer wieder Frauengruppen, die halte ich auch für die stärkste politische Bewegung am ganzen Kontinent.

progress: Füllen NGOs, CBOs und Grass-Roots-Organisations auch Versorgungslücken, die der Staat hinterlässt?

Wittmann: Ja. Ganz wenige Länder zum Beispiel haben eine staatliche Altersversorgung. Da kommen andere Netzwerke wie Großfamilien ins Spiel. Familie ist in vielen afrikanischen Ländern das, was wir als Netzwerk bezeichnen würden, weil es 200, 300 Personen umfasst, die zahlreiche Aufgaben übernehmen, die bei uns in eine öffentliche Sphäre gerückt sind. Ein anderes wichtiges Thema im südlichen Afrika ist HIV/Aids. Botswana hat eine Rate von 38 Prozent HIV-positiven Menschen. Viele von Frauen organisierte Grass-Roots-Bewegungen übernehmen die Betreuung der großen Anzahl an Aidswaisenkindern. Das sind klassische Aufgaben, die bei uns staatlicher Natur sind. In Sub-Sahara Afrika, wenn das nicht Frauen machen würden, würde es gar niemand machen.

progress: Zivilgesellschaft in afrikanischen Ländern ist also weniger eine bewusst wahrgenommene dritte, vierte Macht im Staat, sondern schlicht und einfach das alltägliche Leben?

Wittmann: Ja, das ist richtig ausgedrückt. Weil es ja oft auch eine Frage des Überlebens ist. Kämpfen wir dafür, dass wir sauberes Trinkwasser haben oder nicht?

progress: Welchen Stellenwert haben kulturelle Initiativen innerhalb von Zivilgesellschaft?

Wittmann: Ich denke, einen großen. Es gibt in Uganda eine Musiktruppe, die „Ndere-Troup“, die in einem Kulturzentrum in Kampala arbeitet, welches mit finanzieller Unterstützung der österreichischen Entwicklungszusammenarbeit entstanden ist. Die MusikerInnen und TänzerInnen informieren Menschen in ländlichen Gebieten mit ihren Auftritten zum Beispiel über Verhütung. Denn ein Informationsblatt nützt nichts, wenn man nicht lesen und schreiben kann. Gesang und Tanz sind wichtige Informationsquellen, sehr viel Aufklärungsarbeit läuft über diese kulturellen Ausdrucksformen. Kulturelle Aktivitäten spielen aus einem weiteren Grund eine wichtige Rolle. Ich denke, dass gerade Kultur ein Bereich ist, wo sich der globale Süden und der globale Norden auf einer relativ gleichwertigen, partnerschaftlichen Ebene begegnen können. Das ist oft nicht der Fall, zum Beispiel im ökonomischen Bereich. Afrika ist nach wie vor primär ein Agrarproduzent, und am Weltmarkt haben Agrarprodukte einen geringen Stellenwert.

progress: Kann das Berichten über zivilgesellschaftliche Bewegungen vor Ort dem Bild, das viele Menschen von Afrika haben, etwas hinzufügen?

Wittmann: Ja! Menschen zu zeigen, die für sich sprechen und ihre Rechte einfordern, kann dem oft existierenden Bild von unterdrückten Menschen etwas entgegen setzen. Afrika, das ist oft ein stereotypes Bild von einerseits Katastrophen und andererseits Safaris. Und dazwischen viele arme Menschen. Afrika ist auch ein unglaublich reicher Kontinent und hat ein immenses Potential an dem, was man als Zivilgesellschaft bezeichnen kann. In Südafrika habe ich eine Frau kennen gelernt, die wäre ein Paradebeispiel. Sie kann nicht lesen und schreiben, aber sie hat in Zeiten der Apartheid Widerstand geleistet. Ihr größter Traum ist ein Haus aus Backsteinen statt Wellblech und ein Dach über diesem Haus. Und das ist auch eine Frau, die zusammen mit anderen das Bürgermeisteramt in Kapstadt besetzt. Die geht mit anderen Frauen 40 Kilometer zu Fuß dorthin, weil sie sich keinen Transport leisten können. Als sie keine Wasserleitung in ihrem Township bekommen haben, sind sie so lange gemeinsam im Bürgermeisteramt gesessen, bis sie ihr Ziel erreicht haben. Und von diesen Beispielen gibt es sehr viele mehr.

Dr. Veronika Wittmann besuchte im Rahmen zahlreicher Forschungs- und Studienaufenthalte neun Länder des afrikanischen Kontinents.
 

Dreißig Jahre zu spät

  • 29.09.2012, 01:52

Am 10. Dezember wird Doris Lessing als elfter Frau der Literaturnobelpreis verliehen. Geehrt wird eine Erzählerin, die zentrale Themen des 20. Jahrhunderts bearbeitet. Die Kritik an Kolonialismus und Geschlechterungleichheit prägt ihr facettenreiches Werk. Ein Blick auf ihr Leben, ihr Schaffen und das Verhältnis von Schweden zu Literaturnobelpreisträgerinnen.

Am 10. Dezember wird Doris Lessing als elfter Frau der Literaturnobelpreis verliehen. Geehrt wird eine Erzählerin, die zentrale Themen des 20. Jahrhunderts bearbeitet. Die Kritik an Kolonialismus und Geschlechterungleichheit prägt ihr facettenreiches Werk. Ein Blick auf ihr Leben, ihr Schaffen und das Verhältnis von Schweden zu Literaturnobelpreisträgerinnen.

Als die Schwedische Akademie ihre Entscheidung über den Literaturnobelpreis 2007 verkündete, war die 87-jährige Doris Lessing gerade einkaufen und daher selbst für die honorigen SchwedInnen nicht erreichbar. Zwei Stunden später fuhr sie mit dem Taxi vor ihrem Haus in London vor und wurde bereits von einer ReporterInnenschar erwartet. Ihre erste Reaktion fiel in der ihr eigenen nonchalanten Begeisterung aus: „Das geht jetzt schon 30 Jahre lang so. Ich habe alle Auszeichnungen in Europa gewonnen, jeden verdammten Preis! Also bin ich entzückt, sie jetzt alle zu haben. Es ist ein „Royal Flush. […] Sie können den Nobelpreis keinem Toten geben. Deshalb haben sie wahrscheinlich gedacht, ihn mir besser jetzt zu geben, bevor ich abkratze.“ Nun ist Frau Lessing nicht nur um eine Ehrung, sondern auch um 1,1 Millionen Euro reicher.

Ihr Leben – eine Geschichte. Doris Lessing wurde 1919 als Tochter eines britischen Kolonialbeamten und einer Krankenschwester im Iran geboren. Als sie sechs Jahre alt war, zog die Familie nach Südrhodesien (Simbabwe) um. Bald wurde sie mit der Trostlosigkeit des kolonialen Alltags konfrontiert. Lessing erlebte sowohl das Platzen des Traumes vom Reichtum Afrikas in der eigenen Familie, als auch das Elend der einheimischen Bevölkerung. Diese Problematik sollte prägend für ihre frühen Texte werden. Lessing brach ihre rigide Schulerziehung mit vierzehn Jahren ab und machte sich intellektuell wie ökonomisch selbstständig. Kurz nachdem sie 1937 nach England zurückgekehrt war, heiratete sie. Doch das Gefühl gefangen zu sein, ließ sie nicht los, sie verließ ihren Mann. Kurz darauf kam sie in Kontakt mit dem „Left Book Club“, einer kommunistischen Buchklub- und Diskussionsbewegung, wo sie ihren zweiten Mann Gottfried Lessing kennen lernte. Nach und nach jedoch wurde sie von der kommunistischen Partei enttäuscht und verließ diese 1954 wieder. Es folgte Anfang der 1970er und 1980er eine sehr produktive Zeit für Lessing, in der sie sich auf die Suche nach anderen Perspektiven zur Überwindung von Ungerechtigkeiten und Dichotomien machte. Dabei bleibt sie der Linken und der Frauenbewegung jedoch ihr Leben lang verbunden. In den 1990-er Jahren fand ihr Werk zunehmend Anerkennung und sie erhielt zahlreiche Preise. Bis heute lebt, schreibt und publiziert Doris Lessing in London.

Das Werk als Spiegel der Zeit. Die frühen Texte wie „The Grass Is Singing“ beschäftigen sich, basierend auf ihren eigenen Erfahrungen, mit Kolonialismus in Afrika. Sie prangern die Enteignung der AfrikanerInnen, die rassistische Ungerechtigkeit und die Sterilität der importierten europäischen Kultur an. Die Texte machten Lessing lange Zeit zur persona non grata in Südrhodesien und Südafrika. Lessings politische Erfahrungen Anfang der 1940er kulminieren in ihrem großen Roman „The Golden Notebook“ von 1962. Das höchst komplex auf fünf Erzählebenen aufgebaute Buch versucht ein Panorama über politische und soziale Entwürfe weiblicher Subjektivität dieser Zeit zu geben. Ihre Ambition dabei ist es, wie die Realisten des 19. Jahrhunderts, das Portrait einer ganzen Gesellschaft und ihres Klimas zu zeichnen. In den 1970er und 80er Jahren wendet sich Lessing einer von islamischer Mystik inspirierten Science Fiction zu. Es entsteht der fünfbändige Zyklus „Canopus in Argos: Archives“. Ihr neuester Roman „The Cleft“ erschien 2007 und sucht eine mythische Gesellschaft am Anfang der Menschheit auf, die nur aus Frauen besteht.

Umstrittene Entscheidung. Nicht alle sind mit der Entscheidung für Doris Lessing zufrieden. Marcel Reich-Ranicki spricht von einer „bedauerlichen Entscheidung“. Er kenne „viele, jedenfalls mehrere bedeutendere, wichtigere Schriftsteller“ aus dem angelsächsischen Sprachraum. Von Lessing habe er „vielleicht drei“ Bücher gelesen und „nichts hat mich wirklich beeindruckt.“ Ganz anders reagierte Elfriede Jellinek, die 2004 selbst den Nobelpreis erhalten hat: „Ich hatte sogar gedacht, sie hätte ihn schon längst. Das ‚Goldene Notizbuch‘ [ist] sicher eines der wichtigsten feministischen Werke der Literatur überhaupt.“ In der Tat schlägt sie damit in eine Kerbe, die auch andere KritikerInnen anführen: Der Preis sei wichtig und verdient, komme aber „um 30 Jahre zu spät“, so Sigfried Löffler.

Die obskure Entscheidungsfindung der Schwedischen Akademie wurde in den letzten Jahren immer wieder kritisiert. Überspitzt gesagt machen honorige ProfessorInnen einer (bis vor einigen Jahren ausschließlich männlichen) Kommission Vorschläge. In geheimen Beratungen wird dann der/die PreisträgerIn bestimmt: die Black Box spuckt einen Namen und eine zweizeilige Begründung aus und schiebt 1,1 Millionen Euro über den Tisch. Die Entscheidungen sind oft eher ein politisches als ein ästhetisches Statement – und dementsprechend auch umstritten. So wurden etwa mit Harold Pinter (2005) oder Dario Fo (1997) keine großen Stilisten ausgezeichnet – jedoch vehemente Kritiker neoliberaler Politik.

Frauen als Nobelpreisträgerinnen waren lange Zeit eine Seltenheit: Seit 1901 wurde der Nobelpreis 104 mal vergeben, davon nur 11 mal an Frauen. In den letzten 20 Jahren scheint sich jedoch ein deutlicheres Bewusstsein für solche Ungleichheiten gebildet zu haben: Zwischen 1901 und 1990 betrug der Frauenanteil ganze 7 %, während er seit 1991 auf 30 % angestiegen ist. Ähnlich sieht es mit dem Anteil von SchriftstellerInnen aus postkolonialen Kontexten aus. In der Begründung für die Verleihung an Doris Lessing heißt es, sie sei eine „Epikerin weiblicher Erfahrung, die sich mit Skepsis, Leidenschaft und visionärer Kraft eine zersplitterte Zivilisation zur Prüfung vorgenommen hat“. Darin zeigt sich der schmale Grat zwischen Essentialismus und Differenzkonzepten. AutorInnen, die an der Dekonstruktion von Dichotomien arbeiten, mit Begriffen wie „weibliches Schreiben“ zu etikettieren, ist gefährlich. Die Herausforderung besteht darin, „daß wir die Dinge nicht auseinanderdividieren dürfen, nicht in Fächer aufteilen dürfen“, wie Doris Lessing im Vorwort zu „The Golden Notebook“ schreibt. Dieses Ringen nach einer totalen Perspektive ist es wohl, was Doris Lessings Werk so wertvoll macht.

Timon Jakli studiert Germanistik und Soziologie in Wien.

www.dorislessing.org
www.nobel.se

Subalternity speaking!

  • 29.09.2012, 01:35

Die gebürtige Iranerin Marjane Satrapi legte die mit „Persepolis“ als erste eine autobiografisch inspirierte Migrationsgeschichte als Comic vor. Dieser geglückte Versuch blieb keineswegs eine singuläre Erscheinung. Mittlerweile haben auch andere Arbeiten von Migrantinnen Einzug in ein vormals männlich und eurozentristisch dominiertes Genre gefunden.

Die gebürtige Iranerin Marjane Satrapi legte die mit „Persepolis“ als erste eine autobiografisch inspirierte Migrationsgeschichte als Comic vor. Dieser geglückte Versuch blieb keineswegs eine singuläre Erscheinung. Mittlerweile haben auch andere Arbeiten von Migrantinnen Einzug in ein vormals männlich und eurozentristisch dominiertes Genre gefunden.

Innerhalb der Migrationsforschung herrscht bis heute kein Konsens darüber, welche Faktoren ausschlaggebend sind für die zahllosen transkulturellen Wanderbewegungen, die dieser Tage global zu verzeichnen sind. Ökonomische Gründe und/oder Flucht aufgrund von politisch, sexistisch und/oder rassistisch motivierter Verfolgung sind in vielen Fällen nicht allein der Grund für das Überschreiten territorialer Grenzen. Oftmals sind es die diffusen Hoffnungen auf ein besseres Leben anderswo, die Menschen dazu bringen Staatsgrenzen hinter sich zu lassen. Als zureichende Gründe für Asyl gelten derartige „Landkarten der Sehnsucht“ bis heute nicht.
Comics von Migrantinnen sind ein Medium, das weitaus mehr über die Hintergründe von Migrationsbewegungen vermittelt, als das elaborierteste Zahlenmaterial. Mit den Werken von Marjane Satrapi, Parsua Bashi und Karlien de Villiers liegen drei unterschiedliche Comics vor, in deren Zentrum die Migrationsgeschichten der Autorinnen stehen.

Comic-Coming-Outs. Rückblickend betrachtet ist die iranisch-französische Zeichnerin Marjane Satrapi möglicherweise die Begründerin eines neuen Comic-Genres. Der erste Teil ihres zweibändigen Werks „Persepolis“ erschien im Jahr 2004 in deutschsprachiger Übersetzung, schnell folgten weitere Comics zum Thema Migration. 2006 bedienten sich die ebenfalls im Iran geborene und in die Schweiz emigrierte Zeichnerin Parsua Bashi sowie die in Frankreich lebende weiße Südafrikanerin Karlien de Villiers dieses Mediums zur Darstellung ihrer Migrationsgeschichten. Ähnlich wie die kleine Marji aus Satrapis „Persepolis“ erzählen auch die Heldinnen der Comics „Nylon Road“ (Parsua Bashi) und „Meine Mutter war eine schöne Frau“ (Karlien de Villiers) ex post von einem „dritten Ort“ jenseits der beiden Herkunftskulturen. Es entsteht dabei ein Bild von Zugehörigkeit, das sich nicht in der Identität mit einer einzigen Kultur erschöpft. Die Protagonistinnen der Comics nehmen unterschiedliche kulturelle Einflüsse in ihre Lebensformen auf und präsentieren sich als selbstbewusste Akteurinnen am Schnittpunkt mehrerer Kulturen.

Jenseits der Kulturen. Das Oszillieren zwischen den Kulturen wird in allen drei Comics als durchaus schwierige Etappe der Selbstfindung, der Bewusstwerdung und des Erinnerns dargestellt. In narrativer Hinsicht sind die Comics zumeist Coming-Of-Age-Stories, deren Protagonistinnen keineswegs frei von Ambivalenzen sowohl gegenüber dem Einwanderungs- als auch dem Herkunftsland sind. Lakonisch stellt Satrapis Heldin Marji bei ihrer Ankunft in Wien im November 1984 fest, dass auch das laizistische Europa von religiösen Repressionen nicht frei ist. Nachdem sie in einer Nonnenpension einquartiert wurde, muss sie die Erfahrung machen, dass sie auch hier aufgrund ihrer Religion unterdrückt ist. Anders ergeht es der Heldin aus „Nylon Road“. Aus Mangel an anderen westlichen Vorbildern entwirft deren iranische Freundin in Zürich eine Modelinie für Frauen, die den Titel „Süße Sklavinnen“ trägt. Wieder einen anderen Eindruck gewinnt Karlien de Villiers Heldin bei ihrer Rückkehr nach Südafrika: Sie wird sich ihrer MittäterInnenschaft als weiße Frau an der Diskriminierung von black people bewusst. Einen Anfang zum Abbau westlich-hegemonialer Vorstellungen leisten die vorliegenden drei Comics allemal: Wenn „wir“ weiße EuropäerInnen erst einmal beginnen „uns“ durch die Augen der Marginalisierten zu sehen, haben wir Grund genug, unsere Vormachtstellung kritisch zu hinterfragen.

Barbara Eder studiert Doktorat Philosophie und Gender Studies in Wien und Berlin.

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