Simone Grössing

„Auch die FIFA ist ein politischer  Akteur“

  • 09.07.2014, 19:43

Sport bewegt die Massen. Das zeigen nicht nur feiernde Fußballfans, sondern auch die Proteste auf den brasilianischen Straßen. Aber nicht nur in Zeiten der WM prallen Sport und Politik aufeinander, meint der Politologe Georg Spitaler.

progress: Sie forschen als Politikwissenschaftler zum Thema Sport und Politik. Mit welchen Fragen setzen Sie sich auseinander?
Georg Spitaler: Das hängt davon ab, mit welchem Politikbegriff man arbeitet. Es gibt PolitikwissenschaftlerInnen, die mit einem sogenannten „engen Politikbegriff“ arbeiten, die befassen sich eher mit dem Verhältnis von Institutionen, Staatlichkeit und Sport – also mit der Art und Weise, wie Sport politisch reguliert und gesteuert wird. Ich arbeite eher mit einem weiteren Politikbegriff und beschäftige mich zum Beispiel mit kollektiven Identitäten und Identitätspolitik im Sport. Da geht es dann etwa um die Frage, wie Geschlecht im Sport konstruiert wird, oder wie Exklusionen, wie etwa Antisemitismus und Rassismus, im Sport funktionieren. Auch der Körper im Allgemeinen ist ein interessantes Thema im Sport, denn in ihn schreiben sich verschiedene Identitäten und Macht als solche ein.

Vor ein paar Wochen ging ein Video viral, in dem Obama in einem Fitnessraum eines Hotels beim Trainieren zu sehen war. Die Medien haben daraufhin Obamas sportliche Leistung mit der Putins, von dem ähnliche Aufnahmen im Netz kursieren, verglichen. Was macht den Körper der PolitikerInnen so interessant?

In der Mediendemokratie ist die Darstellung politischer Körper ein wichtiger Teil von Politikvermittlung. Es geht hier um die Demonstration von Macht und von verschiedenen Regierungsstilen. Inszenierungen von Fitness lassen sich in der Politik besonders im Wahlkampf auf Plakaten und in Werbespots wiederfinden – da wird oft auf Metaphern aus dem Sport zurückgegriffen, um politische Inhalte mit der positiven Sphäre der Freizeitkultur in Verbindung zu bringen. Bei Putin geht es dabei meist um machtvolle Inszenierungen und die Darstellung von Stärke. Ich denke bei Obamas Inszenierung steht hingegen stärker die Inszenierung von Normalität und Alltäglichkeit im Vordergrund. Sie soll uns sagen: Auch Obama geht ins Fitnesscenter. Das macht ihn für uns authentischer. Es geht dabei aber auch darum, Selbstdisziplin zu illustrieren und zu zeigen, dass man seinen Körper in Schuss hält. Das passt auch zu politischen Metaphern wie etwa „dem schlanken Staat“. Es passt gut zusammen, wenn PolitikerInnen einerseits ins Fitnesscenter gehen und sich andererseits gleichzeitig für eine neoliberale Wirtschaftspolitik stark machen.

Stehen sich Sport und Politik heute näher als zu anderen Zeiten?

Inszenierungen im Sport haben eine lange Tradition. Es gibt sie spätestens seit der Etablierung des Massensports und der Herausbildung von Nationalsportarten, in Österreich seit der Zwischenkriegszeit. Der Massensport ging mit der Konstruktion des Nationalen einher – das heißt, sportliche Erfolge wurden seither mit nationalen, lokalen oder regionalen Identitäten verknüpft. Es gab in dieser Zeit in vielen Ländern auch viele explizit politisierte Körperkulturen – wie in Österreich etwa der ArbeiterInnensport. Da gab es Massenorganisationen und öffentliche Aufmärsche, das Wiener Praterstadion wurde etwa 1931 für die Arbeiterolympiade gebaut, das war ein klares politisches Ritual. Das gab's natürlich nicht nur auf der Seite der ArbeiterInnen, sondern etwa auch bei den nationalsozialistischen Verbänden mit Verbindung zu militärischen Organisationen, die dann etwa Gymnastik oder Turnen, zum Teil auch öffentlich, praktiziert haben. Gleichzeitig gab und gibt es im Sport aber auch oft die Rhetorik des Unpolitischen. Viele AkteurInnen betonen eine Trennung der Bereiche Sport und Politik. Diese Idee gibt es spätestens seit der modernen Neuerfindung  der Olympischen Spiele durch Pierre de Coubertin, mit dem Olympismus als ziviler Religion. Olympische Spiele gelten aus dieser Sicht als unpolitischer Raum, eine Art Auszeit von der Politik. Sie wurden zur Bühne zentraler Werte der bürgerlichen Ära, die aber natürlich auch wieder politisch sind, siehe etwa Konzepte der Konkurrenz, der Fairness, angeblicher Chancengleichheit oder der Nation.

Auch FIFA-Präsident Joseph Blatter hat unlängst, in Hinsicht auf die laut gewordene Kritik an der Entscheidung, die nächste Fußball-WM (2018) in Russland stattfinden zu lassen, gemeint, man solle den Fußball vor der Politik und politischer Einmischung schützen. Inwiefern ist Sport ein Instrument der Politik?

Die FIFA ist ein globaler Akteur, der sicher auch ein politischer Akteur ist, sonst würde sie nicht darauf bestehen, bei Verhandlungen an einem Tisch mit anderen politischen Akteuren wie der EU zu sitzen. Bei Blatters Aussagen geht es wohl eher darum zu zeigen, dass es allein die FIFA ist, die die Politik des Fußballs macht. Im Hinblick auf Ihre Frage müssen wir aber differenzieren, was wir unter „der Politik“ verstehen. Am Beispiel Brasiliens wird deutlich, dass man nicht einfach sagen kann, dass etwa die brasilianische Regierung alleine von der WM profitiert. Im Kontext der WM zeigt sich, wie kompliziert die Governance- und Regierungsstrukturen bei einer solchen Entscheidungsfindung sind. Da gibt es etwa lokale Interessen wie die der Veranstalterstädte, die eine Rolle spielen, dann die der nationalen Regierungen und auch der Verbände, in dem Fall etwa des brasilianischen Fußballverbands, der übrigens auch eine lange Tradition von Korruption hat. Wenn hier wirklich jemand profitiert, dann ist das neben der FIFA und der Bauwirtschaft wohl der nationale Verband, der an möglichen Gewinnen beteiligt wird. Im Hinblick auf die politischen Proteste innerhalb der Bevölkerung war es für die brasilianische Regierung natürlich auch ein Risiko, dieses Großereignis zu veranstalten.

An der aktuellen WM wird deutlich, wie stark ein Sportevent ein Land in Aufruhr bringen kann. Im Vorfeld gab es bereits laute Demonstrationen und Repression gegen die Protestierenden. Es wird befürchtet, dass bei einer Niederlage Brasiliens die Situation endgültig eskalieren könnte. Welche Rolle spielt Sport im Protest und in sozialen Bewegungen?
Einerseits kann Sport dazu dienen,eine soziale Bewegung zu festigen, siehe etwa die ArbeiterInnenbewegung, in der es viele Sportvereine gab. Andererseits können Megaevents wie die WM auch große Proteste triggern. In den letzten Jahren wird die enorme mediale Öffentlichkeit dieser Megaevents zunehmend dazu genützt, um auf bestimmte Probleme und Anliegen aufmerksam zu machen. Am Beispiel Brasiliens wird sichtbar, welche politischen und sozialen Folgen ein Megaevent wie die WM hat: Der öffentliche Raum wird verändert, etwa wenn es um privatisierte Fanzonen, Sicherheitsmaßnahmen oder Umsiedlungen geht. BürgerInnenrechte werden im Zuge dessen weiter eingeschränkt. Das Missverhältnis von enormem Aufwand der Veranstaltung und nur schleppend verlaufendem Fortschritt bei Infrastruktur und Grundversorgung verursacht Proteste – sowohl gegen die FIFA als auch gegen die lokalen Regierungen.

Georg Spitaler lehrt am Institut für Politikwissenschaft in Wien, forscht zum Thema Sport und Politik und schreibt für das Fußballmagazin Ballesterer.
Das Interview führte Simone Grössing
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Foto: by-nc-sa  Joe Shlabotnik

Bis zum Atlantik und noch viel weiter

  • 23.05.2014, 16:29

Der Musiker Matthias Frey alias Sweet Sweet Moon wurde mit einem Youtube-Hit weltweit bekannt. Am Boden geblieben ist er dennoch – an einem Vormittag hat er uns zum Bocciaspiel eingeladen und uns dabei Geschichten aus seinem abenteuerlichen Leben als Musiker erzählt.

 

Der Musiker Matthias Frey alias Sweet Sweet Moon wurde mit einem Youtube-Hit weltweit bekannt. Am Boden geblieben ist er dennoch – an einem Vormittag hat er uns zum Bocciaspiel eingeladen und dabei Geschichten aus seinem abenteuerlichen Leben als Musiker erzählt.

Ein junger Mann mit blondem Pilzkopf kommt uns auf einem Retro-Rad entgegengefahren. Er trägt ein weißes Champion-T-Shirt, wie man es noch aus den 90ern kennt, eine ausgebeulte Jeans, Wanderschuhe und einen dichten Bart. In seiner rechten Hand hält er einen kleinen Holzkoffer: „Ich hab’ die Bocciakugeln von meiner Mitbewohnerin mitgebracht, dachte wir könnten eine Runde spielen“, sagt er und grinst. Matthias Frey, Jahrgang 1988, ist viel unterwegs, aber heute hat er sich Zeit genommen, um uns Geschichten von seinen Reisen zu erzählen. Davon gibt es einige. Vor ein paar Monaten war Sweet Sweet Moon mit seinem Kollegen, dem Chellisten Lukas, auf Tour in Italien. Dafür haben sich die zwei jungen Männer einen alten VW-Bus ausgeliehen, der alle paar Kilometer eine Panne hatte: „Wir wurden dauernd von der Polizei angehalten, weil wir nicht schneller als 50 fahren konnten“, erzählt Frey amüsiert. Ein anderes Mal mussten sie mitten in Sizilien an einem Hang den Bus stehen lassen, weil er die Steigung nicht mehr schaffte. Die beiden haben dann einfach ihre Instrumente gepackt und sind die restliche Strecke zum Veranstaltungsort zu Fuß gegangen. Frey packt Lebkuchen aus und bietet sie uns an – ein Mitbringsel aus Basel, wo er erst kürzlich war. „Mir gefällt das langsame Reisen, es ist zwar anstrengend, aber man sieht und erlebt einfach viel mehr.“ Eilig hat es der niederösterreichische Sänger und Geiger offenbar nicht. Bekanntlich hat man ja auch die besten Einfälle, wenn man einfach entspannt. Womöglich hat Sweet Sweet Moon deswegen so viele ausgefallene Ideen. Die braucht man heute definitiv, um die Aufmerksamkeit der Medien auf sich zu lenken. Sweet Sweet Moon ist das gelungen.

Fuck the Atlantic Ocean. 2011 landete er einen Youtube-Hit mit über 650.000 Klicks. In dem Video sieht man ihn und Lukas mit Violine und Chello auf der Rahlstiege im 6. Wiener Gemeindebezirk ein Konzert spielen. Gefilmt wurde das ganze vom Wiener Filmteam They shoot Music. Dass das Video plötzlich viral ging, war für sie überraschend. Noch viel erstaunlicher war, dass die meisten Klicks, laut Youtube-Statistik, unerklärlicherweise von Mittzwanzigern aus Chile und Argentinien kamen. Gemeinsam beschlossen sie, der Sache auf den Grund zu gehen und den Atlantik zu überqueren, um herauszufinden, warum es dort zum großen Erfolg kam. They shoot Music hatten außerdem die Idee, einen Dokumentarfilm über die Reise zu machen, also sammelten sie über eine Kickstarter-Aktion Geld und beantragten Kulturförderungen, um das Projekt zu finanzieren. 2013 flogen die Musiker nach Lateinamerika und kamen mit dem Film „Fuck the Atlantic Ocean“, in dem die ausgefallenen Konzerte auf der Reise dokumentiert wurden, zurück. Die Doku feierte Anfang März auf der Poolinale, dem Festival für Musikfilm, Premiere und ist nach wie vor auf einigen österreichischen Filmfesten und in Kinos zu sehen. Auf die Frage, ob sie letztendlich herausfinden konnten, wieso das Video gerade in Südamerika so beliebt war, zuckt Frey nur mit den Schultern: „Die Leute sind ja letztendlich doch überall gleich.“ Also bloßer Zufall? Frey nickt.

Geräuschkulissen. Matthias Frey gibt nicht unbedingt die Antworten, die man sich von einem Künstler erwartet. Anzugeben, das scheint ihn nicht sonderlich zu interessieren. Anstatt über vermeintlich große Dinge zu reden, erzählt er lieber von den Kleinigkeiten des Alltags, zum Beispiel von seiner Arbeit in der Oper, wo er als Orchesterwart tätig ist. Frey setzt sich manchmal in die Orchesterproben und hört den MusikerInnen dabei zu, wie sie die Stücke des Impressionisten Claude Debussy spielen. Manchmal nimmt er das chaotische Einspielen der MusikerInnen oder die Geräusche der BalletttänzerInnen, wenn ihre Füße graziös auf dem Boden landen, auch auf. Die Aufnahmen arrangiert Frey dann im Studio und macht daraus spannende Geräuschkulissen. Die Liebe und Faszination für die klassische Musik scheint immer schon Teil seines Lebens gewesen zu sein: Bei der Arbeit in der Oper, in seiner Kindheit in der Musikschule, im Studium der Musikwissenschaft, aber auch während der Zeit beim Bundesheer, wo er seinen Chellisten „am Schießstand“ kennengelernt hat, wie Frey mit verzogener Mine erzählt. „Begegnet sind wir uns bei der Heereskapelle. Da haben wir gemeinsam Strauß-Walzer für Heinz Fischer am Nationalfeiertag und Märsche für die Offiziere gespielt.“ Militärisch klingt der Sound, den Sweet Sweet Moon macht, zwar nicht, aber der klassische Einschlag ist dafür sofort erkennbar: Er macht Musik, die man sich zusammen mit seinen Eltern auf der Couch anhören kann, ohne ihnen erklären zu müssen, wieso dieser Krach gut sein soll. In einer Zeit, die von epileptisch-hysterischen Klangwelten à la Skrillex geprägt ist, ist das die Ausnahme.

Es ist vor allem die manchmal fast schreiende, emotionsgeladene Stimme von Frey, die einen Kontrast zu den sonst glatten, schön arrangierten Streichakkorden bietet. Sein Gesang zeigt sich oft in Form von unbestimmbaren Lauten, die ganz natürlich aus Freys Mund herauszupurzeln scheinen. Alle Texte von Sweet Sweet Moon werden improvisiert und variieren von Konzert zu Konzert: „Bei dem einen Youtube-Video fragten mich die Leute oft nach den Lyrics, aber es gibt keine, zumindest keine sinnvollen, vielleicht sollt’ ich ihnen das mal sagen“, sagt Frey lachend. Der Gesang und die spontanen Texte sind vielleicht auch der einzige Hinweis darauf, dass er nicht nur Klassik hört, sondern eigentlich aus einem noisigen, punkigen Umfeld kommt, was sich auch mit Blick auf sein Label Siluh Records erahnen lässt. „Ich hab’ schon in der Schulzeit in einer Fun-Punk-Band gespielt. Wir waren einmal in Malaysien und Singapur auf Tour unterwegs. In Singapur wollte mich die Polizei mitnehmen. Die sind extra gekommen, um alle Leute, die zu jung für das Konzert waren, abzuführen. Irgendwie hab’ ich mich dann aber doch reingeschlichen“, erzählt er grinsend.

Boccia und Elektrobeats. Inzwischen sind wir aufgestanden, um Boccia zu spielen. Matthias sucht eine Stelle aus, wo sich der Kies „besonders gut“ zum Spielen eignet. Er kramt einen uralten tragbaren Kassettenrecorder mit eingebauten Lautsprechern aus seiner Tasche, stellt ihn auf den Boden und drückt auf Play. Experimentelle Elektrobeats dringen dumpf aus den Boxen. Er schmeißt die rote Kugel, auch „Schweinchen“ genannt, nach vorne und erklärt die Spielregeln. Konzentriert wirft er eine Metallkugel nach der anderen, vom Fotografen lässt er sich dabei nicht im Geringsten stören.

Man kann sich nur schwer vorstellen, dass den – aus einem kleinen Ort in der Nähe von Hollabrunn stammenden – Singer-Songwriter etwas aus der Ruhe bringen kann. Aber der Schein trügt: Frey ist zwar ein ruhiger Typ, aber er liebt die Ekstase. Zumindest in der Musik und bei Konzerten. Ihn stört es etwa, wenn das Publikum bei Auftritten zu verklemmt ist. Das sei vor allem hier in Österreich oft so, sagt er. Deswegen hat er zur Zeit ein Faible für arabische Musik und schaut sich Videos von Konzerten, etwa von der kultigen ägyptischen Sängerin Umm Kulthum auf Youtube, an: „Die spielte vor tausenden Leuten mit einem riesigen Orchester, die Leute applaudierten und schrien. Die grölten dann auf einmal alle los, weil sie die Bedeutung der Töne einfach verstanden haben. Das ist eigentlich richtig punkig, so wie früher im Jazz eben.“ Die Begeisterung in Matthias Freys Stimme ist deutlich hörbar. Das Publikum aus sich herauszulocken, das sei die Aufgabe der MusikerInnen, meint er. Überhaupt scheint ihm die klare Rollenaufteilung bei Auftritten wichtig zu sein: „Ich spiele eigentlich gar nicht so gerne auf der Straße, das ist oft so aufdringlich, die Leute wissen nicht, wie sie darauf reagieren sollen. Ich spiele lieber in großen Theatern oder Kirchen. Da sind die Rollen klarer.“

 

Matthias Frey hat mit 5:1 das kurze Bocciaspiel klar gewonnen. Es ist der erste Moment heute, in dem er ein bisschen stolz wirkt: „Ich hab das zwar erst einmal gespielt, aber ich kann das richtig gut“, stellt er zufrieden fest. Wir verabschieden uns und er macht sich auf den Weg in die Oper. In den nächsten Tagen wird er nicht erreichbar sein, fügt er noch schnell hinzu, bevor er sich auf sein Rad schwingt und davonfährt. Er sei irgendwo in den Bergen. Wahrscheinlich kommt er mit einer Menge ausgefallener Ideen und Lebkuchenherzen wieder zurück.

Mehr zu Sweet Sweet Moon: http://sweetsweetmoon.bandcamp.com/

(das "eine" Video findet ihr hier: https://www.youtube.com/watch?v=lFpFUhQfBfo)

 

Fotos:  Christopher Glanzl

 

Reichhaltigkeit ist etwas Schönes

  • 13.03.2014, 19:08

 

Das Wiener Elektropop-Duo Konea Ra weiß, wie man das Publikum überzeugt: mit verspieltem Sound und opulenter Ästhetik.

Wer Konea Ra das erste Mal hört, mag vielleicht überrascht sein, dass es sich hier um ein Popduo aus Österreich handelt. Das liegt wohl an dem Vorurteil, dass österreichischer Pop immer etwas verspätet und verstaubt sei. Oder daran, dass man ihren Sound eher mit düster-glamourösen skandinavischen Klängen à la Fever Ray in Verbindung bringt. Eines steht jedenfalls fest: Konea Ra machen Musik am Puls der Zeit. Das merkt man nicht nur an ihren vielfältigen musikalischen Einflüssen, die von Neo Soul bis Hip Hop reichen, sondern auch an der starken visuellen Komponente, die sie pflegen.

progress: 2012 habt ihr euer Debütalbum „Pray for Sun“ herausgebracht. Ihr habt aber beide schon vor Konea Ra Musik gemacht. Wie kam es zu eurer Kollaboration?

Stephanie Zamanga: Wir haben uns bei einer ReleaseParty von Karl Möstls Label Defusion Records kennen gelernt, da sind wir beide aufgetreten. Ich als Sängerin bei Señor Torpedo und Matthias als Mangara. Matthias hat sich eineinhalb Jahre danach bei mir gemeldet und gefragt, ob wir einmal gemeinsam Musik machen wollen.

Matthias Cermak: Genau. Nach meinem Soloalbum wollte ich etwas ganz Neues machen und war auf der Suche nach Leuten, mit denen ich gemeinsam Musik machen kann. Ich habe viele verschiedene MusikerInnen ins Studio eingeladen und Stephi ist gleich mit super Ideen gekommen. Daraus entstand dann Konea Ra.

Ihr wart dann 2012 gleich als Duo auf Tour in Mexiko. Wie kam es dazu, dass ihr so schnell nach der Bandgründung gleich so weit weg aufgetreten seid?

Stephanie: Wir hatten soeben unser Album released und damit die Aufmerksamkeit von Flo Launisch geweckt, er ist einer der Visual Artists von Luma.Launisch. Matthias: Flo ist auch Teil des sound:frameFestivals und die haben Vienna Visuals kreiert, ein Projekt, in dem es darum geht, in verschiedene Länder zu reisen und Wien zu präsentieren – da war normalerweise immer ein DJ dabei. Für Mexiko (Festival In- ternacional Cervantino) war jedoch eine Band gefragt. Flo hat uns dann mitgenommen. Aus einem einzelnen Gig ist eine ganze Tour geworden, das war sehr cool.

Euer Sound hat eine düstere, melancholische und gleichzeitig eine sehr kraftvolle, glamouröse Seite. Musikalisch seid ihr schwer einzuordnen. Ihr wurdet mal mit The Knife verglichen. Passt der Vergleich für euch?

Stephanie: Ich sehe das als Kompliment.

Matthias: Die sind unglaublich cool, aber ich finde sie klingen gar nicht wie wir. Inzwischen ist das ja Kunstmusik, so nervöser Elektrosound. Vielleicht klingen wir eher wie Fever Ray (Anm. der Red.: Soloprojekt der Sängerin von The Knife).

Ihr legt sehr viel Wert auf eine visuelle Ästhetik – kann man nicht auch eure Musik als Kunstmusik bezeichnen?

Matthias: Nein, wir haben ja noch immer einen starken Song-Bezug, es ist noch immer irgendwie Popmusik.

Wieso ist die visuelle Komponente eurer Musik wichtig?

Matthias: Ich denke, wenn man so viel Liebe in die Musik steckt und dann mit den gleichen Kleidern, die man während der Arbeit anhatte, auf die Bühne geht, passt das nicht zusammen. In der Musik steckt viel Arbeit –  die Leute sollen das auch bei den Auftritten spüren und sehen können.

Im Jänner habt ihr die 2-Track 7'' „Switching Lanes“ released. Die Platte habt ihr bei Duzzdownsan veröffentlicht, einem Independant-Label, das man eher mit Hip Hop als mit Elektropop in Verbindung bringt. Und dann gibt’s da noch die Zusammenarbeit mit DJ Phekt. Wie kam es dazu? Und was verbindet euch mit Rap?

Stephanie: Die Einflüsse von Hip Hop waren für uns immer gegeben. Ich denke, sie fließen auch sehr stark in unsere Musik ein. Wir versuchen nicht uns von Rap fernzuhalten. Phekt wurde damals auch auf die MexikoTour eingeladen, da haben wir dann gemeinsam den Song „Oh Vienna“ produziert (ein Remake des UltravoxKlassikers) und danach die Single „Boy“. Bei beiden Songs hat er mitgewirkt und die Cuts gemacht. So haben wir ihn kennengelernt und mittlerweile sind wir ein Dreamteam, es harmoniert einfach zwischen uns.

Matthias: Die Frage ist hier auch, was Rap überhaupt sein soll. Wenn du damit die Musik meinst, dann sind wir sehr nahe dran. Ich habe früher viel Trip Hop und Hip Hop gehört und Stephi hat einen starken Soul-Bezug. Bei uns ist es auch so, dass uns unterschiedliche Genres aus unterschiedlichen Zeiten beeinflussen. Heute ist es ja nicht mehr so, dass man nur einen Sound hört. Früher hat einer nur West Coast oder Public Enemy gehört, heute hören die Leute gleichzeitig Indie und Electronic. Stephi weiß immer Bescheid, was gerade neu und cool ist und daran orientieren wir uns auch. Sie legt ja nebenbei auch auf. Lustigerweise ist es bei uns nicht so, dass der Produzent auflegt – ich habe da keine Ahnung (lacht).

An welchem Sound orientiert ihr euch denn?

Stephanie: Meine ursprünglichen Einflüsse sind Soul und Neo Soul zum Beispiel Erykah Badu, Mary J. Blige aber auch Sade. Jetzt sind es eben die, die Soul und elektronische Musik vereinen, so wie etwa James Blake, Jessy Lanza oder auch Little Dragon.

Und wer inspiriert dich beim Produzieren?

Matthias: Zum Beispiel Shlohmo, Flying Lotus oder Emika – die ist auch ganz wichtig für uns. Bei ihr ist es einfach toll, dass sie den Mut hat schöne, glatte Songs zu schreiben, dabei aber auch total deep ist. Reichhaltigkeit in der Musik ist etwas Schönes. Es ist gut, wenn man nicht nur in eine Richtung geht, sondern auch nach rechts und links schaut.

Was sind eure weiteren Pläne?

Stephanie: Zur Zeit arbeiten wir im Studio an der Fertigstellung unseres zweiten Albums – im Mai ist die Veröffentlichung geplant. Das nächste Konzert werden wir am 26. März beim sound:frame-Festival spielen. Gemeinsam mit Luma.Launisch und DJ Phekt. Da freuen wir uns schon riesig darauf!

 

Das Interview führte Simone Grössing.

Wien ist alles

  • 09.12.2013, 20:50

Thees Uhlmann schreibt gerne Songs über Städte. Diesmal war Wien dran. Im Interview verriet er uns, wie es dazu kam und welchen österreichischen Act er gerne mit Lady Gaga zusammen auf Tour schicken würde.

Thees Uhlmann schreibt gerne Songs über Städte. Diesmal war Wien dran. Im Interview verriet er uns, wie es dazu kam und welchen österreichischen Act er gerne mit Lady Gaga zusammen auf Tour schicken würde.

An einem verregneten Abend haben wir den sympathischen Thees Uhlmann im Rahmen seines Konzerts in Wien getroffen. Wie das mit (Indie-) Rockern oft so ist, begann das Gespräch mit dem ehemaligen Tomte- Sänger beim Thema Bier: „Wieso gibt’s kein Ottakringer im Kühlschrank?“, fragt der leicht überdrehte Thees, der sich gut gelaunt dann aber gleich mit der Alternative in Dosenform anzufreunden weiß. Im von Plakaten vollgekleisterten, lauschigen Backstageraum der Arena, erzählt Thees dann mehr über seine Wienaufenthalte und seinen Bezug zu Österreich.

progress: Hi Thees, dir wurden heute sicher schon ganz viele Fragen über dein Verhältnis zu Wien gestellt. Oder?

Thees Uhlmann: Eigentlich werde ich zu Wien gar nicht so viel gefragt. Ich würde gern öfter über Wien reden, das ist interessanter, als über meine Musik zu reden.

Du bist oft in Wien. Warum eigentlich?

Thees: Zum Beispiel weil ich hier noch als Tourist durch die Gegend gehen kann. Es gibt zwei legendäre Stunden, die ich mit meiner Tochter im Museumsquartier lachend und rutschend auf den Plastikteilen verbracht habe. Ich bin hier auch gerne mit meinen Homies unterwegs, zum Beispiel mit David Schalko. Und natürlich ist es auch die Psyche der Stadt, die schön ist.

Wie ist die denn so?

Thees: Hedonistisch und depressiv.

Auf deinem aktuellen Album gibt es auch einen Song über Wien: „Zerschmettert in Stücke, im Frieden der Nacht“. Er handelt vom Flakturm, wo heute das Haus des Meeres zu finden ist. Wie kam es dazu?

Thees: Ich habe schon über Detroit, New York, Hamburg und Paris geschrieben. Es kommt mir einfach immer wieder in den Sinn, über Städte zu singen. Das hat für mich eine gewisse Tradition. Diesmal war Wien fällig, weil ich oft hier bin und ich in Wien wahnsinnig gute Freunde habe. Es ist eine gute Landschaft, über die man schreibenkann, vor allem weil sich Deutschland und Österreich in vielen Dingen ein bisschen ähnlich sind – und dann doch überhaupt nicht. Das mit den Flaktürmen ist mir eingefallen, weil auf dem Turm beim Haus des Meeres ja „Smashed into pieces in the still of the night“ geschrieben steht und das für mich einfach riesige Kunst ist. Es beschreibt die Macht des Krieges in wenigen Worten. Mir haben mittlerweile sogar einige Wiener geschrieben, dass sie schon tausendmal daran vorbeigegangen sind und ihnen der Spruch nie aufgefallen ist. Das ist eine Form von „Heimatblindheit“, die auch ich von mir und Hamburg kenne. Fremden fallen Dinge auf, an denen man selbst tagtäglich blind vorbeigeht. Das finde ich spannend.

Willst du mit dem Lied auch die österreichische Gesellschaft und ihre Mentalität kritisieren? Eine Zeile darin lautet nämlich: „Ich wäre so gerne ein Schaf, ein Schaf in deiner Herde, doch es gibt keinen Schäfer, der über uns wacht.“

Thees: Ich hab da schon ein bisschen in Geschichtsbüchern herumgekramt, als ich den Song geschrieben habe. Ich bin dabei über einen Satz gestolpert, der lautet: „Wien ist nichts und der Kaiser ist alles.“ Das ist für mich ein total verrückter Satz. Er sagt ja, dass das kollektive Schicksal einer Stadt weniger wert ist als irgendein Mann mit weißer Perücke. Ich dachte mir, dass man das umdrehen muss, denn eine Gesellschaft ist immer mehr wert als ein Einzelschicksal. Aber grundsätzlich wollte ich damit nichts kritisieren. Ich möchte als Künstler gar nicht bewerten. Mir steht das auch nicht zu, finde ich. Wien ist eine geile Stadt, das ist eigentlich die einzige Message des Songs. Als Künstler habe ich kein Interesse an großen politischen Aussagen.

In deinen Songs finden sich immer wieder historische Referenzen und Jahreszahlen, so etwa auch in deiner aktuellen Single „Am 7. März“. Du interessierst dich sehr für Geschichte, oder?

Thees: Ja, schon. Aber es geht mir um etwas anderes. Mich interessiert, wie man auf Ideen und Erfindungen kommt, die die ganze Welt verändern. Das passiert einfach oft beiläufig mitten in der Nacht, wie zum Beispiel bei der Erfindung der Cornflakes.

Also ist das eher ein Stilmittel?

Thees: Kann man so sagen.

Dein aktuelles Album klingt mit dem orchestralen Singer-Songwriter-Soundsehr zeitgemäß. Die Produktion erinnert ein bisschen an Caspers „Hinterland“. Welche Platten haben dich während des Aufnehmens inspiriert?

Thees: Kann ich nicht sagen, denn es spielt für meine Musik keine große Rolle, was ich höre. Wenn ich ein Album aufnehme, lese ich eher und suche nach guten Zitaten. Ich hab nur bei einem Song gesagt, dass ich ein ähnliches Keyboard wie bei einem Marteria-Song haben möchte (lacht und macht das Geräusch nach). Tobias (Anm. d. Red.: Thees' Gitarrist) und ich haben in unserem Leben einfach schon so wahnsinnig viel Musik gehört. Wenn ich Musik schreibe, ist mein Hirn deswegen schon zu voll. Ich muss dafür nicht auch noch die neue Daft Punk hören. Klar, man saugt immer auch auf und klaut Elemente von anderen. Auf meiner Platte wird es etwa immer drei Sachen geben, die ich von Kanye West geklaut habe – ich bin einfach Kanye-Fan. Man hört manchmal etwas und fühlt sich inspiriert, etwas Ähnliches zu schreiben. Ich schätze Kanyes Offenheit und Melancholie sehr.

Auf deinem letzten Album gab es noch zwei Nummern mit Casper. Wieso gab’s diesmal keine Features und bist du derzeit noch in andere Projekte involviert?

Thees: Ich wüsste jetzt gar nicht mit wem und wie und nein – manchmal träume ich davon Sänger einer Punkband zu sein (lacht). Aber dafür bleibt neben meiner Tochter und meinem Solo-Projekt einfach keine Zeit.

Verfolgst du eigentlich die österreichische Musikszene?

Thees: Mein Homie Max Perner bringt jetzt bald eine Garish-Platte raus – da bin ich schon neugierig, was das wird, und zur Zeit finde ich auch Koenig Leopold ziemlich spannend. Wenn Lady Gaga das sehen würde, was die machen, die würde die einfach mitnehmen und sagen: „Guys you’re coming with me on tour.“ Das ist wahnsinnig cool, diese Einstellung, die die haben. So auf „Alter, wir wollen nicht nach Tokyo. Wir wollen auch nicht nach New York. Wir stehen im Wald und singen so, dass es keiner verstehen kann“. Das gefällt mir.

Das Interview führte Simone Grössing.

Foto: Alexander Gotter.

 

„Der Arbeitsmarkt allein kann kein Kriterium sein‘‘

  • 03.05.2013, 14:19

Woher kommt der Trend zur fachlichen Spezialisierung? Warum braucht es bei der Einrichtung neuer Studiengänge eine kritische Diskussion? Worauf sollte man bei der Studienwahl nach dem Bachelor achten? Wissenschaftsphilosoph und -historiker Friedrich Stadler beantwortete unsere Fragen im Interview.

Woher kommt der Trend zur fachlichen Spezialisierung? Warum braucht es bei der Einrichtung neuer Studiengänge eine kritische Diskussion? Worauf sollte man bei der Studienwahl nach dem Bachelor achten? Wissenschaftsphilosoph und -historiker Friedrich Stadler beantwortete unsere Fragen im Interview.

progress: Es gibt immer mehr spezialisierte Master und neue Studiengänge. Woher kommt diese Entwicklung? Wie ist sie historisch zu verstehen?

Friedrich Stadler: Generell ist die Moderne gekennzeichnet durch Spezialisierung, Differenzierung und Rationalisierung. Das spiegelt sich auch in der universitären Ausbildung. Zusätzlich sehen wir seit Ende des 19. Jahrhunderts eine allgemeine Spezialisierung und eine Arbeitsteilung in den Ausbildungsstätten, die von der Gesellschaft und auch vom Arbeitsmarkt eingefordert wird. Wir haben es mit dem ewigen Spannungsfeld von Bildung und Ausbildung zu tun. Dieses Spannungsfeld wird an den Hochschulen unterschiedlich gehandhabt. Das Humboldtsche Ideal, das nie wirklich realisiert wurde, ist der Hintergrund dieser Diskussion. Dazu gibt es eine Dauerdebatte zum Verhältnis von reiner und angewandter Wissenschaft und der Trennung dieser Sphären, die ja im Grunde eine künstliche ist.

progress: Wie unterscheidet sich die reine von der angewandten Wissenschaft?

Stadler: Die reine Wissenschaft ist Grundlagenforschung ohne Zwecke und Ziele. Die angewandte Forschung ist Ausbildung in Hinblick auf Berufsprofile. Wie das Verhältnis zwischen ihnen auszusehen hat, wurde – und wird auch heute noch – immer wieder neu verhandelt.

progress: Wie sinnhaft ist das Entstehen von Subdisziplinen und spezifischen Mastern wie etwa „Medizinrecht“ oder „Peace and Conflict Studies“?

Stadler: Mit einer Bewertung muss man da vorsichtig sein. In den 30ern und 40ern waren auch Psychologie und Soziologie Spezialisierungen. Heute sind sie selbstverständliche Fächer. Die kulturelle Evolution zeigt erst nach einiger Zeit die Sinnhaftigkeit solcher Spezialisierungsprozesse. Der Arbeitsmarkt allein kann dafür aber kein Kriterium sein. Auf der anderen Seite ist es sicherlich problematisch, wenn sogenannte „Orchideenfächer“ blühen und gedeihen, nur weil sie den Vorlieben des akademischen Personals entsprechen. Ich denke, mit einer ernst gemeinten Interdisziplinarität könnte man theoretisch sowie praktisch viele Subdisziplinen einbinden, anstatt für jedes kleine Fach sofort einen eigenen Studiengang zu fordern.

progress: Das klingt nach einer widersprüchlichen Entwicklung: Einerseits gibt es immer mehr Fragmentierung zwischen den Disziplinen, andererseits wird interdisziplinäre Arbeit ja immer wichtiger.

Stadler: Es wird allgemein anerkannt, dass eine übergreifende Perspektive Sinn macht, weil sie einfach den Horizont erweitert. Wobei es dann oft schwer ist, Studienabschlüsse fachlich zuzuordnen. Wir haben 2010 an der Universität Wien einen fächerübergreifenden Master namens „History and Philosophy of Science“ gestartet. Studierende aus allen Disziplinen können zu uns kommen, wenn sie ihr Fach von einer wissenschaftshistorischen Perspektive aus untersuchen wollen. Es gibt auch ein laufendes Doktoratsprogramm. Das Studium macht so gesehen Sinn, weil es nach dem Master weiterführt. Wenn es einen eigenen fachlichen „Track“ gibt und eine „Scientific Community“, dann spricht nichts gegen interdisziplinäre oder spezialisierte Fächer. Man sollte sich all diese Gesichtspunkte vor der Etablierung von Studienrichtungen anschauen.

progress: Wer sollte über neue Studiengänge entscheiden?

Stadler: Das liegt im Aufgabenbereich der Universitäten, des Senats und ist sicherlich auch abhängig vom Bedarf der Studierenden. Wir können im Lauf der Wissenschaftsgeschichte sehen, dass Fächer größer und kleiner werden, auftauchen und verschwinden. Das hat mit einer Eigendynamik zu tun, aber auch mit einer gesellschaftlichen Wertigkeit.

progress: Wie entsteht eine „Scientific Community”?

Stadler: Dazu braucht es Personen, Publikationen, aber auch eine akademische und außerakademische Öffentlichkeit. In den Geistes- und Kulturwissenschaften stellt sich auch die Frage nach den Grundlagen der Wissenschaften und den Methoden, weil Spezialisierungen ja immer die Frage provozieren, was das Spezielle an ihnen ist und was sie von anderen Disziplinen trennt oder mit ihnen verbindet. Das ist nicht nur eine Frage der Organisation und Administration eines Studiums, sondern auch eine theoretische und kognitive Fragestellung, die beantwortet werden muss. Wenn man sich damit auseinandersetzt, sehe ich kein Problem an einer Spezialisierung. Wenn aber keine kritische Diskussion in der Gesellschaft stattfindet, dann ist das problematisch.

progress: Immer mehr private Bildungseinrichtungen bieten teure Master und Postgraduate-Programme an. Besteht hier die Gefahr der Geschäftemacherei?

Stadler: Die Öffnung des freien Marktes ergibt natürlich das Problem, dass zwischen verschiedenen Ausbildungsstätten konkurriert wird. Die Privatuniversitäten sind eine Antwort auf gewisse Defizite im Hochschulbereich, aber auch Symptome für eine neue Organisation der Wissenschaften. An sich ist das keine schlechte Entwicklung, weil dadurch eine gewisse Pluralität einzieht. Dazu braucht es aber auch gleiche Bedingungen für alle Studierenden. Es sollten keine Privilegien aufgebaut werden. Der Studienzugang sollte mit gleichen Chancen verbunden sein. Es ist klar, dass private Institutionen schneller reagieren können und Marktlücken füllen, weil sie zum Beispiel kleiner sind oder sie ein Sponsoring hinter sich stehen haben. Die Qualitätskontrolle ist hier sicher entscheidend.

progress: Wann würden Sie Studierenden zu einem spezialisierten Master raten?

Stadler: Ich würde raten, diese neuen Master bei der Studienwahl durchaus kritisch zu analysieren. Auch im internationalen Vergleich. Wenn es in einem Bereich etwa nur einen Master an nur einer Hochschule gibt, wäre ich schon skeptisch. Wenn aber die Begeisterung für ein Fach da ist, dann ist das eigentlich das einzige Kriterium für die Studienwahl. Mir hat man früher als Student auch gesagt, dass Philosophie überlaufen ist und dass es damit keine Jobmöglichkeiten gibt. Aber es war das, was mich eben interessierte und mich so im Studium vorantrieb. Das wäre bei anderen Fächern nicht der Fall gewesen. Ich denke, dass die individuelle Begeisterung hier das Entscheidende ist.

Friedrich Stadler ist Universitätsprofessor für Wissenschaftsgeschichte, -theorie und -philosophie an der Universität Wien und wissenschaftlicher Leiter und Gründer des Instituts Wiener Kreis.

Ist das alles?

  • 03.05.2013, 14:09

Wer sich nach dem Bachelor entschließt, weiter zu studieren, begegnet heute einem Massenangebot an weiterführenden Studiengängen. Doch nicht immer halten die spezifischen Master, was sie versprechen.

Wer sich nach dem Bachelor entschließt, weiter zu studieren, begegnet heute einem Massenangebot an weiterführenden Studiengängen. Doch nicht immer halten die spezifischen Master, was sie versprechen.

Arbeiten oder weiterstudieren? Die Entscheidung darüber, wie es nach dem Bachelor weiter gehen soll, ist nicht immer leicht. Nicht zuletzt in Folge der holprigen Umsetzung des Bologna-Prozesses sind BachelorabsolventInnen am Arbeitsmarkt nach wie vor schlecht gestellt und werden selten als vollwertige AkademikerInnen wahrgenommen. Laut Statistik Austria hängen rund 80 Prozent der AbsolventInnen nach dem Bachelorstudium einen Master an. Die meisten Studierenden bleiben dabei jener Universität treu, an der sie ihren Bachelor absolviert haben. Einige entscheiden sich trotzdem für einen Wechsel an ein anderes Institut, eine andere Hochschule oder überhaupt für ein weiterführendes Studium im Ausland. In den letzten Jahren wurde der Markt an Studiengängen stark ausgeweitet. Es entstanden neue Subdisziplinen, interdisziplinäre Studienprogramme und oft auch komplett neue Studienfächer. Das Geschäft mit den Mastern boomt. Die Konkurrenz steigt dabei nicht nur zwischen privaten und öffentlichen Bildungseinrichtungen, sondern auch unter den Studierenden. Um die wenigen Master-Plätze wird gekämpft. Gleichzeitig scheint bei Vielen aber angesichts des Massenangebots auch Verunsicherung zu herrschen. Es stellt sich nicht selten die Frage nach der Sinnhaftigkeit der so vage wie auch vielversprechend klingenden Studiengänge. Geht man etwa ein Risiko ein, wenn man sich auf ein Master-Programm einlässt, das nur an einer einzigen Hochschule existiert? Kann man sich mit dem spezifischen Masterabschluss am Arbeitsmarkt etablieren? Wird das Fach wieder aussterben? Ist man als StudienabsolventIn eines exotischen Fachs ein gefragter Underdog, oder wird man eher als Versuchskaninchen mit namenlosem Studienabschluss wahrgenommen? All das sind Fragen, die mit der Studienwahl verknüpft sind. „Mit einer Bewertung muss man da vorsichtig sein, die kulturelle Evolution zeigt erst nach einiger Zeit die Sinnhaftigkeit solcher Spezialisierungsprozesse“, meint dazu Wissenschaftsphilosoph und -historiker Friedrich Stadler im Interview (Anm. d. Red.: Weiterlesen auf S. 6). Simone Grössing hat sich mit drei Studierenden über ihre unterschiedlichen Erfahrungen mit spezialisierten Master-Programmen unterhalten und ist dabei auf so manche Kritik gestoßen.

Enttäuschender Hürdenlauf. Theresa wirkt enttäuscht, als sie von ihrem kurzzeitigen Studienaufenthalt an der Kunstuni Linz erzählt. Die 24-Jährige hat nach ihrem Bachelor in Kunstwissenschaft und Philosophie, an der Katholisch- Theologischen Privatuniversität Linz, einen Master in Medienkultur- und Kunsttheorien an der Kunstuni angehängt. Ihre Absicht war es, dem bisher sehr breiten Philosophiestudium ein wenig Form zu verpassen. „Ich dachte, es wäre interessant, einmal spezifischer und etwas werkorientierter zu arbeiten.” Doch schon beim Inskribieren auf der Kunstuniversität stieß Theresa auf die ersten Hürden: Das Bachelor-Zeugnis wurde nicht sofort anerkannt. Nach Diskussionen und mehreren Versuchen gelang es Theresa schließlich, sich für den Master zu inskribieren. Die anfängliche Motivation und Vorfreude war dann aber schnell verschwunden. Der Aufenthalt an der Kunstuni fiel für sie eher ernüchternd aus. Anstatt intensiver Auseinandersetzung mit dem Fach, erfuhr sie oberflächliche Wissensvermittlung seitens der Lehrenden und war mit fachlichen Bildungslücken unter den Studierenden konfrontiert. „Ich glaube, ein großes Problem ist, dass da Menschen aus ganz unterschiedlichen künstlerischen und kulturtheoretischen Studienrichtungen zusammenkommen. Da sitzt man dann in einem Seminar und die Voraussetzungen und Kenntnisse sind völlig verschieden“, meint sie zur Situation in den Lehrveranstaltungen. Theresa brach den Master in Linz schon während des ersten Semesters ab und zog nach Wien, um dort das Master-Studium in Philosophie und ein Kunststudium an der Akademie zu beginnen. Den Sinn von Teildisziplinen versteht sie bis heute nicht ganz und stellt ihn in Frage: „Für mich persönlich ist die Verteilung in neue Geisteswissenschaften irgendwie überflüssig. Es besteht hier einfach die Gefahr, sich in irgendwelchen Details zu verlieren, anstatt den Blick für Zusammenhänge zu bewahren.“

Selektiv und exklusiv. Ähnlich erging es auch dem 24-jährigen Moritz. Nach seinem Bachelorabschluss in Politikwissenschaften an der Universität Wien entschied er sich für den aufbauenden Master „Peace and Conflict Studies“ an der Universität Marburg. Nicht nur wegen der „guten Studienbedingungen“ und der „intensiven persönlichen Betreuung“ bewarb er sich für den Studiengang, sondern auch wegen des Stellenwerts, den er der Spezialisierung im Studium selbst zumisst: „Ich finde es schön, wenn ich mich richtig in ein Thema hineinarbeiten kann. Wenn mich ein Themenbereich an der Uni richtig interessiert und mir Spaß macht, wird das wohl auch ein Bereich sein, in dem ich nachher arbeiten möchte.“ Oft sind die weiterführenden Studiengänge aber stark limitiert. In Deutschland ist ein Studienplatz im Master inzwischen keine Selbstverständlichkeit mehr. Die Masterstudiengänge werden immer selektiver und exklusiver, gerade bei den kleinen, spezialisierten Studiengängen. Im Fall des Masters in Marburg bewerben sich durchschnittlich 450 Studierende für 30 Studienplätze. Deswegen rechnete Moritz zuerst auch gar nicht mit einer Aufnahme. Umso größer war die Freude, als er dann eine Zusage von der Uni bekam. Die geringe Anzahl an Studierenden stellte sich dann schnell als Vorteil heraus: „Die Betreuung war schon einmalig, alle ProfessorInnen kennen dich vom ersten Tag an – sie wissen, wie du heißt und was dich interessiert.“ Das war aber nur einer der wenigen positiven Aspekte. Wie auch Theresa fiel Moritz schnell auf, dass der Master ihm zu wenig in die Tiefe ging: „Die Lehrveranstaltungen waren leider alle ziemlich einführend und nichts Neues für mich. Der Master galt als interdisziplinär, eine Beschreibung, mit der sich viele spezialisierte Master schmücken. Ich finde, das ist heute oft einfach ein Euphemismus für Oberflächlichkeit“, kommentiert Moritz die Situation an der Uni. Zudem fiel das Vorlesungsverzeichnis weit dünner aus als erhofft und war stark von den Forschungsinteressen der ProfessorInnen abhängig. Das Studium stellte sich im Großen und Ganzen als zu wenig weiterbildend für ihn heraus. „Ich denke, man kann sich an einer großen Uni und in einem ‚großen’ Master-Programm mit viel Kursangebot teilweise besser spezialisieren als in kleinen Masterprogrammen mit wenig Auswahl.“ Aus diesem Grund entschied sich Moritz, zu seinem Grundstudium zurückzukehren. Seit diesem Sommersemester studiert er Politikwissenschaften im Master an der Universität Wien.

Interdisziplinäre Perspektive. Peter (25) begann den Master in „Socio-Ecological Economics and Policy“ im Herbst 2012. Nachdem er das aufwendige Aufnahmeverfahren bestanden hatte, gehörte er zusammen mit 29 anderen Studierenden der ersten Generation des neuen Studiengangs an. Peter hatte zuvor einen VWL-Bachelor an der WU absolviert. Dort hatte er von einer Professorin vom neuen Studienangebot gehört. Anstatt der Möglichkeit einer Spezialisierung, war es aber eher die interdisziplinäre Perspektive des Studiums, die Peter anzog. „Dieser Master ist eigentlich breiter als etwa der VWL-Master, alleine schon in Hinblick auf die thematische Aufteilung. Diese reicht von der Ökonomie bis in die Soziologie und Regional Studies.“ Peter wollte sich verstärkt mit einer verknüpfenden Sichtweise, die sich auch mit umweltpolitischen und sozioökonomischen Fragen befasst, auseinandersetzen, anstatt sich auf nur rein ökonomische Themen zu fokussieren. Die Studienprogrammleitung hat sich außerdem zum Ziel gemacht, den allseits vorherrschenden „Departementalism“ zu überwinden. Deswegen wird der Master auch auf Englisch angeboten. Unter Peters KollegInnen finden sich so Studierende aus aller Welt und aus verschiedensten Disziplinen. „Die Stimmung unter den Studierenden ist angenehm. Das Nebeneinander funktioniert gut. Aber die verschiedensten Sichten miteinander zu verknüpfen, das ist oft schwierig.“ Mit seinem aus dem VWLBachelor mitgebrachten Vorwissen sei er zudem klar im Vorteil: „Ein Ingenieurwissenschaftler tut sich natürlich schwerer mit Makroökonomie als ein Wirtschaftsstudent.“

Das Argument, dass man mit einer Spezialisierung am Arbeitsmarkt besser gestellt ist, hat für Peters Studienwahl aber keine vorrangige Rolle gespielt. Viel wichtiger ist für ihn, sich intensiv auf die Materie einzulassen – eine Sichtweise, die seit der Umstellung auf das Bachelor- und Mastersystem immer stärker in den Hintergrund rückt. „Ein spezifischer Master kann gerade deswegen nützlich sein, weil Bachelor-Studiengänge oft gar keine Spezialisierung mehr zulassen. Das war im Diplomstudium noch anders“, meint Peter dazu.

„Das ist dann keine Kunst mehr“

  • 01.04.2013, 14:29

DJ und Produzentin Joyce Muniz, Sängerin Katie Trenk (Sex Jams) und Labelgründer Martin Unterlechner (DuzzDownSan) haben einen Nachmittag zusammen verbracht und über Kreativität, Schaffensdruck und die österreichische Musiklandschaft diskutiert. progress war mit dabei.

DJ und Produzentin Joyce Muniz, Sängerin Katie Trenk (Sex Jams) und Labelgründer Martin Unterlechner (DuzzDownSan) haben einen Nachmittag zusammen verbracht und über Kreativität, Schaffensdruck und die österreichische Musiklandschaft diskutiert. progress war mit dabei.

progress: In den 70er Jahren meinte Joseph Beuys, dass jeder Künstler sein kann, der will. Der Kreativitätsbegriff erfuhr damit eine starke Aufwertung. In den 80ern galt Kreativität als Ausbruch aus der Arbeitsroutine und dem Stumpfsinn des Alltags. Inzwischen werden wir beim Arbeiten ständig aufgefordert, möglichst kreativ zu sein. Kann sich Kreativität unter Druck überhaupt entfalten? Wie geht ihr als MusikerInnen damit um?

Joyce: Druck kann sehr produktiv sein. Manchmal brauche ich monatelang für einen Remix und eine Woche vor der Deadline kommt  dann plötzlich etwas Cooles raus. Der Druck Geld zu verdienen, ist aber trotzdem schlimm. Ich hab immer neben meiner Musik gearbeitet, irgendwann hat sich dann mein Hobby zum Beruf entwickelt. Als das passiert ist, hat sich aber schon etwas verändert in meinem Leben.

Inwiefern hat sich dein Leben verändert?

Joyce: Ich habe bemerkt, dass ich mich selbst unter Druck setzen und sehr organisiert sein muss, wenn ich kontinuierlich Geld verdienen will. Der Druck, Geld zu verdienen, war aber, denke ich, schon immer da. Für mich ist es wichtig, die goldene Mitte zu finden: Wenn gerade nichts da ist, auch ohne miese Jobs überleben zu können.

Martin: Es wäre wohl kontraproduktiv, wenn das Geldverdienen eine große Rolle bei DuzzDownSan spielen würde. Dann müsste man natürlich auch Kompromisse eingehen und hätte mehr Druck. In unserer Situation können  wir kreativ sein, ohne Konsequenzen. Da ist die Freiheit, keine Erwartungen berücksichtigen zu müssen. In der Arbeitswelt hat man oft mit einer anderen Form von Kreativität  zu tun. Denn dort schleichen sich oft Dinge ein, die mit Kreativität nicht mehr wirklich viel zu tun haben. In vielen Situationen, in denen man unter Druck an was arbeitet, überschlagen sich zu Beginn die Ideen, wenn dann Geld und Zeit als zwei  kritische Faktoren hinzukommen, werden diese aber ausgehöhlt. Das ist dann eben eine Zweckkreativität, bei der auch meist nichts  tolles entsteht.

Katie: Ich denke, entweder man ist  Künstler oder eben nicht. Dagegen kann man sich nicht wehren und das kann man auch nicht  lernen. Mit Sex Jams sind wir zu fünft in der Noise- Pop-Szene unterwegs. Wir bekommen viele und gute Reviews, wir spielen Live-Shows und es läuft eigentlich gerade sehr gut für uns. Aber es wird trotzdem nie so sein, dass wir alle davon leben können. Ich  war vor zwei Jahren in einer Phase, in der ich mich gegen Druck, produktiv sein zu müssen, wehrte. Ich fragte mich, woher der  Druck kommt und ob es das wirklich ist, was ich will.

Joyce: Ja, das, was dabei herauskommt, ist oft keine Kunst mehr.

Katie: Genau, sondern ein Scheiß- Job. Ich bin nicht im Proberaum und will einen Hit nach dem anderen hinauswerfen, ich will Triebe  verarbeiten und ausdrücken. Die Band steht bei uns an erster Stelle. Wir haben alle unsere Brotjobs, die flexibel sind, sonst  würde das auch nicht funktionieren. Wenn ich darauf aus wäre,schnell und viel Geld zu verdienen, dann würde ich wohl auch andere Musik machen. Etwas Elektronisches zum Beispiel. Bei Sex Jams kann ich es mir aber dafür leisten, mit Absicht falsch zu singen, das  geht bei anderen Sachen dann nicht.
Foto: Christopher Glanzl
Joyce: Ich habe viel in meinem Leben aufgegeben für meine große Liebe, die Musik. Ich kann jetzt wirklich stolz sagen, dass ich  davon leben kann. Ich weiß das auch zu schätzen, weil viele Musiker das eben nicht können. Ich opfere nach wie vor sehr viel dafür.  Das ist etwas, das man von außen vielleicht nicht sieht.

Wie schwierig hat man es als Frau in dieser Szene?

Joyce: Die Techno- und House-Szene wird nach wie vor von Männern kontrolliert. Es gibt sehr wenige Frauen, dafür dass es so viele  DJs gibt. Das Business ist schon sehr hart. Mir wurde oft die Tür vor der Nase zugeschlagen. Mittlerweile gibt es aber sehr viele Frauen, die präsent und erfolgreich sind. In den letzten zehn Jahren hat sich das stärker ausgeglichen.Katie: Ja, das zieht sich  durch alle Bereiche.

Martin: Mädchen sind schneller abgeschreckt. Da ist einfach eine andere Hemmschwelle in Bezug auf Technik vorhanden. Der Sound  ener Mädels, die produzieren, hat jedoch etwas sehr Intuitives und Organisches. Auch beim Auflegen sieht man das: Die  besten Techno-DJs, die ich bisher erlebt habe, waren Frauen. Man hat also auch Chancen und kann davon profitieren.

Wie steht es  2013 um Österreichs Kreativ- und Musiklandschaft? Da hört man ja oft viel Negatives – zu Recht?

Martin: Ich denke, es braucht hierzulande sehr viel Bestätigung von außen. Sobald jemand von außen sagt, „das ist cool, was du machst“, wird deine Kreativität ganz anders wertgeschätzt. Nehmen wir zum Beispiel Dorian Concept: Als Gilles Peterson gesagt hat, dass er dope ist, sind alle auf den Hype aufgesprungen und er wurde auch hier gefeiert.

Joyce: Österreich hat sehr viele kreative Leute. Das Problem ist, dass es keinen starken Markt mehr gibt. Es ist traurig, dass hier  super Künstler leben, aber kaum ein eigener Support existiert. Als österreichischer Künstler kannst du nur weiterkommen, wenn das Label gute Kontakte zu Deutschland oder England hat. Und die sind total beschäftigt mit ihren eigenenMusikern. Wien ist eine tolle  Stadt, aber wir können uns als Künstler hier schwer entfalten. Wenn du aber in Österreich beim Publikum gut ankommst, dann hast  du international große Chancen, weil die Leute hier sehr kritisch sind: Wenn sie etwas Neues hören, sagen sie selten „Leiwand, super!“, sondern „Ja, schau ma mal“. In den USA oder Großbritannien heißt es hingegen gleich einmal „amazing“ oder „dope shit!“.

Martin: Glaubst du nicht, dass das bei uns noch einmal verschärft ist, weil es hier einfach so einen kulturellen Minderwertigkeitskomplex gibt?

Joyce: Jeder Künstler hat das mit seiner Stadt oder seinem Land. Dieses Verhältnis zu den „Locals“ gibt’s auch in Sao Paulo, New York oder Berlin. Man gibt eben erst etwas einen Wert, wenn man es verloren hat. Etwa wenn sie sehen, dass du international  erfolgreich bist. Man merkt, dass die Leute zuhause dann plötzlich wieder mehr Lust auf dich haben.

Das heißt, für KünstlerInnen ist das Publikum vor der eigenen Haustüre die wirkliche Nagelprobe?

Katie: Es herrscht hier eine Scheuklappenmentalität vor. Das war ja in Österreich schon immer so, vom Theater bis hin zur Musik, beachtet wurde man doch oft erst, wenn man schon tot war. Sex Jams bewegt sichin einem Genre, das nicht so groß ist. Es wäre also sehr stumpfsinnig, nur in Österreich bleiben zu wollen. Du hast schnell alles hier leer gespielt und unser Sound ist auch eher international. Auf unserem Label Siluh Records sammeln sich auch internationale Künstler wie etwa Mozes and The Firstborn.

Martin: Wobei es eigentlich schon wieder gut für die Kreativität ist, dass der Markt hier so klein ist. Man kann das Geschäft mit  Musik hier so stark vernachlässigen, dass jeder eine geringere Hemmschwelle hat, sich in einer Form auszudrücken, die nicht auf Kommerzialisierung abzielt.

Joyce: Es gibt hier eine starke Undergroundszene. Ich bin immer wieder erstaunt, wie viele gute Leute es hier gibt – auf so kleinem Raum. Der Underground kann dich hier aber auch schnell verschlucken. Wien hat zum Beispiel eine eigene Energie, was das betrifft.  Man vergisst schnell, sich mit der Außenwelt zu verbinden. Viele Leute bleiben da hängen. Entweder du bist präsent, oder eben gar  nicht. Ich versuche deswegen die Mitte zu halten, einmal hier, dann wieder weg.

Martin: Es fehlt hier einfach auch an gegenseitigem Support.

Joyce: Ja, und früher gab es mehr Crews und coole Labels, mit eigenem Sound, wie zum Beispiel G-Stone, Klein Records oder Vienna Scientists. Die hatten international auch viel mitzureden. Es gibt auch jetzt ein paar tolle Labels, wie etwa Affine Records, Luv Shak  oder Schönbrunner Perlen. Aber im Großen und Ganzen hat man hier einfach nicht so viele Chancen.

Sind Marketing und Kunst für  euch klar getrennte Bereiche?

Katie: Hm, ich bin immer skeptisch, wenn Künstler anfangen, von Selbstmanagement zu reden. Es wird natürlich nicht passieren,  dass irgendwer in deinen Proberaum kommt und dich entdeckt, aber ich sehe das Management trotzdem nicht als meine Aufgabe. Joyce: Klar, ich denke, es gibt wenige Künstler, die sich selbst verkaufen können. Die, die das können, sind dann schnell keine  Künstler mehr, weil sie dann so damit beschäftigt sind, sich zu vermarkten. Ich kenne viele Musiker, die sehr belastet sind, weil sie  alles selber machen wollen: Marketing, Labelarbeit, Releases und so weiter. Das geht aber oft in die Hose. Da sind so viele  Emotionen und Erwartungen da, die im Business nichts verloren haben. Das frustriert dich dann total, wenn’s nicht gut läuft. Kunst  und Marketing müssen getrennt sein. Das ist ganz wichtig, denke ich.

Katie Trenk ist Sängerin der Band Sex Jams, die mit ihrem ersten Album „Post Teenage Shine“ bekannt wurde. Seitdem gilt die  fünfköpfige Formation als österreichische Noise-Pop- Hoffnung. Sex Jams haben soeben ihr Zweitwerk „Trouble honey“ auf Siluh Records und Noise Appeal Records released. Auf Seite 33 findest du eine Plattenkritik on „Trouble honey“.

Martin Unterlechner, auch bekannt als Mosch, hat 2008 das Label DuzzDownSan ins Leben gerufen. Es zählt mittlerweile zu den wichtigsten Raplabels Österreichs. Nebenher ist er als Rapper und Produzent unterwegs – sein Album „Metamorphosis as a  Metaphor“ erschien jüngst auf DuzzDownSan.

Joyce Muniz ist DJ, Produzentin und Vokalistin mit brasilianischen Wurzeln und hat sich in den letzten Jahren nicht nur in Österreich, sondern auch international in der House- und Techno-Szene einen Namen gemacht. Soeben ist ihr neuer Release „Trust  your Enemies“ am Berliner Label Exploited Records erschienen.

Festung Familie

  • 20.02.2013, 15:54

Die Familie erlebt bei den Jungen ein Revival. Anstelle des romantischen Ideals tritt eine Mischung aus Pragmatismus und Unsicherheit. Die Familie dient immer mehr als Festung, zum Schutz vor der Gesellschaft. Ein Kommentar von Simone Grössing.

Die Familie erlebt bei den Jungen ein Revival. Anstelle des romantischen Ideals tritt eine Mischung aus Pragmatismus und Unsicherheit. Die Familie dient immer mehr als Festung, zum Schutz vor der Gesellschaft. Ein Kommentar von Simone Grössing.

Seit geraumer Zeit fallen sie auf: Vom Laptop grinsen sie auf uns herab und winken uns zu – es sind strahlende Gesichter beim Familienessen, bei der gemeinsamen Weihnachtsfeier oder beim Familienurlaub.

Es sind Fotos, die von jungen Social-Media-UserInnen in Umlauf gebracht werden. Es handelt sich um Bilder von intakten, harmonischen Familien, deren Mitglieder sehr gerne Zeit miteinander verbringen zu scheinen. Was zu anderen Zeiten für viele junge Menschen als peinlich und weniger wichtig galt, scheint wieder verstärkt ein Statussymbol und Teil der eigenen Identität zu sein: die Familie.

Auch Statistiken belegen das Comeback familiärer Werte unter den Jungen. So auch die umfangreiche, vom Institut für Jugendkulturforschung Wien durchgeführte Jugendwerte-Studie aus dem Jahr 2011. Für 81 Prozent der befragten 16- bis 24Jährigen ist die Familie „sehr wichtig“, für 77 Prozent FreundInnen und Bekannte. Damit hat der Lebensbereich „Freunde und Familie“ in den letzten Jahren zunehmend an Bedeutung gewonnen.

Gesellschaft vs. Familie. Dass zwischenmenschliche Beziehungen wieder eine wichtigere Rolle im Leben junger Menschen spielen, sehen viele als positive Entwicklung.  Aber wird die Jugend wirklich wieder sozialer? Angesichts der Vielen, die sich im Online-Chat mehr zu sagen haben als im realen Leben, oder weit verbreiteter politischer Verdrossenheit, erscheint diese Interpretation realitätsfern. Der Zweifel ist gerechtfertigt, zeigt die Jugendwerte-Studie: Zu den Ursachen für das Comeback der Familie zählen eher Faktoren wie ein erhöhtes Bedürfnis nach Sicherheit und zunehmender Individualismus als ein wachsendes soziales Bewusstsein. Ironischerweise scheint der Rückzug in die Familie einen nicht zu unterschätzenden Beitrag zur gesellschaftlichen Individualisierung zu leisten, während sie gleichzeitig eine der Ursachen für diese Entwicklung ist. Indizien dafür finden sich in Statistiken, die belegen, dass bei den Jungen eine starke Individualisierung stattgefunden hat, die mit dem Verlust von Vertrauen in Zusammenhalt und Politik einhergeht. „Von der Gesellschaft erwartet man sich kaum noch etwas“ und „die  Orientierung im sozialen Nahbereich“ sei die Konsequenz – so die Jugendwerte-Studie.

Pragmatisch und individualistisch. Von der Familie erhoffen sich viele Sicherheit und Rückhalt. Man wendet sich aber nicht nur mit emotionalen Bedürfnissen an sie, sondern die Familie soll auch in finanziellen Angelegenheiten unter die Arme greifen. Während in skandinavischen Ländern wie etwa Dänemark der Staat für die Finanzierung von Studierenden aufkommt, muss man sich in Österreich auf die Familie verlassen. Hier kann man etwa, wenn keine Unterstützung von den eigenen Eltern kommt, diese auf Unterhalt klagen, oder muss sich selbst über Wasser halten. Wo der Sozialstaat nicht mehr greift, muss man sich verstärkt auf die Familie verlassen und ist so an sie gebunden. Diese Abhängigkeitsverhältnisse gehen oft über die Studienzeit hinaus. Viele werden lebenslang von ihren Eltern finanziell unterstützt, bekommen Häuser und Autos vererbt – anders könnten sie von ihren Jobs kaum leben. Geredet wird darüber aber nur selten. Trotz der zunehmenden Relevanz der Familie hat sich über die Jahre hinweg der Zugang zu ihr verändert.

Das zeigt sich auch am steigenden Heiratsalter, späteren Schwangerschaften oder dem Rückgang von Geburten. Auch der Umgang mit Konventionen ist anders als vor etwa zehn Jahren. Beispielsweise wird das traditionelle Familienbild heute von vielen als ein „romantisch verklärtes Ideal“ betrachtet, das laut den Jungen als „erstrebenswert, aber nur mehr schwer zu realisieren“ gilt. Es scheint, als wüssten sie, dass sie hart und lange arbeiten werden müssen, und sie haben gesehen, dass dabei kaum Zeit für die Kinder bleibt  und Ehen immer wieder unter diesen Umständen auseinanderbrechen. Sie sind  realistisch und pragmatisch. Am Boden bleiben und sich keine großen Illusionen machen – so lautet die Devise.

Politisches Potenzial? Angesichts der aktuellen Wirtschaftskrise und des damit  einhergehenden Abbaus des Sozialstaates ist es wahrscheinlich, dass sich der Trend zurück zur Familie verstärken wird. Die Gefahr besteht nun, dass sich eine ganze Generation in die Familie flüchtet, um sich dort von der Gesellschaft zu erholen, anstatt sie aktiv mitzugestalten und sich für andere Lebensentwürfe stark zu machen. Vielen Linken ist die bürgerliche Familie deswegen schon lange ein Dorn im Auge – sie gilt für sie als Basis des kapitalistischen Systems.

Dennoch scheint die Verteufelung der Retrowelle von Familien- und Kinderwunsch eine schlechte Antwort auf diese Entwicklung zu sein. Denn diese sind nicht das Problem,  sondern vielmehr Ausdruck einer Zeit, die von Unsicherheiten bestimmt wird. Junge zweifeln an ihrer Zukunft, und fragen sich, was aus ihnen werden soll. Die Angst schreit dabei oft lauter in ihren Köpfen als so manches in ihnen schlummernde Bedürfnis. Natürlich würde es vor allem für junge Frauen einen enormen Rückschritt bedeuten, wenn die Fixierung auf die Familie als Herz der Gesellschaft noch stärker zunehmen würde. Aber  diese Ausdrücke zu verurteilen, wäre der falsche Weg. Vielmehr gilt es gesellschaftliche Rahmenbedingungen zu schaffen, die uns furchtloser leben lassen, uns den Rücken stärken und das „da draußen“ weniger nach Schlachtfeld aussehen lassen. Wir müssen die verstärkten Wünsche nach Sicherheit und Geborgenheit also nicht bekämpfen, wie manche glauben, sondern in eine andere Richtung lenken. In ihnen steckt eine wichtige  Voraussetzung für Gemeinschaft und Zusammenleben und somit auch ein großes politisches Potenzial. Anstatt diese Bedürfnisse aber (nur) auf die Familie zu projizieren, sollten wir sie auch in Richtung Gesellschaft lenken, so könnten sie zu einer Politisierung und Stärkung eines gesellschaftlichen Bewusstseins führen. Denn warum diese Politisierung bis heute nicht eintritt, bleibt eine wichtige Frage, die wir uns unbedingt  stellen sollten.

Die Kinder aus Christiania

  • 23.11.2012, 10:57

Vor vierzig Jahren schufen dänische Hippies eine Freistadt, um den Zwängen der Gesellschaft zu entfliehen. Ihre dort aufgewachsenen Kinder sind mittlerweile erwachsen und stehen keineswegs am Rande der Gesellschaft.

Vor vierzig Jahren schufen dänische Hippies eine Freistadt, um den Zwängen der Gesellschaft zu entfliehen. Ihre dort aufgewachsenen Kinder sind mittlerweile erwachsen und stehen keineswegs am Rande der Gesellschaft.

Auf den ersten Blick ist Kasper ein ganz normaler junger Mann um die zwanzig. In seinem schwarzen Kapuzenpullover mit weißem Totenkopf sieht er wie ein St. Pauli Fan aus. Er macht mit Gästen gerne eine Tour durch die Viertel seines Heimatorts Chrisitiania. Kasper und seine ältere Schwester Ane sind in der Kopenhagener Freistadt aufgewachsen. Seine Eltern sind Mitte der 70er Jahre hierhergezogen, angelockt hat sie die Idee eines alternativen Lebens fernab von gesellschaftlichen Zwängen und Normen. Beim Musizieren bei der lokalen Musikkapelle Christianias haben sie sich kennengelernt, bis heute sind sie ein Paar geblieben. Während er durch die berüchtigte Pusher Street schlendert, fängt Kasper über sich zu erzählen an. Die Straße hier ist für ihren großen Hasch-Markt bekannt, auf sie wird Christiania oft reduziert. Vor allem Männer tummeln sich hier. Nicht über die in Christiania bestehende und gut funktionierende Konsensdemokratie oder die einzigartige Geschichte des autonomen Stadtteils wird in der Öffentlichkeit diskutiert, meist ist der hiesige Drogenmarkt- und konsum Gesprächsthema.

Drogen und Razzien. Lange Zeit war Kasper selbst gegen Drogen und Alkohol.„Erwachsene, die betrunken oder high sind, können Kindern ganz schön Angst machen“, erzählt er. Und, wie es scheint, gibt es von denen hier viele. Zu trinken und rauchen hat er erst begonnen, als er von zu Hause auszog. Der Name der „Pusher Street“ stammt von den EinwohnerInnen Christianias selbst und ist keineswegs neutral gemeint. Der Begriff „Pusher“ kommt von der Straße und wird dort für Drogendealer gebraucht. Wie viele EinwohnerInnen hat auch Kasper ein Problem mit den hier ansässigen Pushern. „Der Drogenhandel zerstört Christiania, weil das Leute gegen uns aufhetzt.“ Die Rocker, auch bekannt als Hells Angel's, kontrollieren seit Jahren das örtliche Haschischgeschäft. „Die sollen verschwinden und Christiania in Ruhe lassen“, sagt Kasper verächtlich. Als er klein war, durfte er hier auf der Pusher Street nicht spielen, seine Eltern hatten zu große Sorge um ihn. Aber die Pusher haben Kasper und Ane nie etwas getan. Angsteinflößend waren nicht die Drogenhändler, sondern viel mehr die Polizei bei Razzien, blickt Kasper zurück. Einmal, als die Polizei in Christiania eindrang, schmiss einer der Pusher einen Stein, ein Polizist geriet daraufhin in Panik und warf willkürlich eine Tränengasgranate, die in jener Sandkiste landete, in welcher der dreijährige Kasper mit seiner Schwester gerade spielte. Ein anderes Mal fand er als kleiner Junge eine Tränengasgranate der Polizei und nahm sie in den Mund.

Blumige Idylle. Nach diesen Vorfällen zog die Familie aus dem an der Pusherstreet grenzenden Viertel „Psyak“ in einen der ruhigeren Teile Christianias namens „The Dandelion“. Im Sommer blüht hier der Löwenzahn prächtig, daher der Name, erzählt Kasper. Inzwischen haben wir diesen Teil Christianias erreicht und wir stehen vor dem Haus, in dem er mit seiner Familie jahrelang gelebt hat. Es ist ein idyllischer Ort. Die bunten Holzhäuser sind aneinander gereiht, vor ihnen liegt ein großer, farbenprächtiger Garten; hinter den Häusern ein Stück Wald. Ein paar Schritte davon entfernt liegt einer der Seen Christianias. Auf dem Weg dorthin passieren wir Kaspers ehemaligen Kindergarten. Er erinnert sich gern an die Zeit dort. Die Volksschule besuchte er aber nicht hier, sondern in einer Schule, die direkt vor dem Eingang Christianias liegt. In seiner Klasse waren die meisten Kinder aus der Freistadt. „In der Schule hier hätten wir die ganze Zeit nur gesungen, das macht ja keinen Sinn“, meint Kasper. Wir sind am See angelangt und finden eine nette Stelle, an der wir uns mit unserem Kaffee niederlassen. Viele kommen hierher, um zu relaxen. „Es ist eigentlich schwer, ein schlechtes Bild von Christiania zu bekommen.“ Angesichts der Natur und des Sees mitten in der Stadt wirken Kaspers Worte nachvollziehbar. Jährlich kommen deshalb auch über eine Millionen BesucherInnen hierher. Ohne sie wäre die Freistadt nicht das, was sie ist – das wissen hier alle. Programm für TouristInnen gibt es deswegen auch zur Genüge. Dem typischen Bild des weltfremden Aussteigers entsprechen die ChristianierInnen somit nicht, denn isoliert sind sie von der Gesellschaft keineswegs. Manche von ihnen arbeiten und leben hier, viele von ihnen arbeiten jedoch außerhalb. „Christiania will nicht der Gesellschaft den Rücken kehren, aber irgendwie müssen wir das natürlich, weil sie einfach den Idealen hier widerspricht.“. Die vier Ideale, auf die sich Kasper bezieht, sind simpel: Keine Gewalt, keine Waffen, kein Diebesgut, keine harten Drogen. Wer gegen die Regeln verstößt, bekommt ein Ultimatum oder wird hinaus geschmissen. Wer zu harten Drogen greift, muss zum Beispiel auf Entzug gehen oder fliegt raus. Darüber wird im Kommunalrat entschieden. Die meisten Leute hier haben aber das Gefühl willkommen zu sein. Es ist keine geschlossene Community, meint Kasper.

Zwischen zwei Welten. Auch Kasper hat nicht sein ganzes Leben hier verbracht. Wie in vielen dänischen Familien üblich wurde er mit 16 Jahren aufs Land in ein Internat geschickt. Mit Vorurteilen hatte er dort kaum zu kämpfen. Seine MitschülerInnen haben ihn stets als „coolen Typen“ aus Christiania wahrgenommen. Viele nannten ihn „Hippie“, damit hatte er aber kein Problem. Auf die Frage was ihn am meisten hier geprägt habe, antwortet Kasper, dass er ein sehr positives Verhältnis zu Freaks habe, denn die gäbe es hier zur Genüge. „Ich rede gern mit schrägen Leuten“, schmunzelt er. Trotz skurriler Gestalten war Kasper und Anes Kindheit hier aber im Großen und Ganzen sehr normal. Es gab neben ihnen viele andere Kinder, mit denen sie spielen konnten. „Es war eine schöne Kindheit“. Doch diese liegt weit zurück. Kasper arbeitet momentan, so wie sein Vater früher, in einem Fahrradgeschäft, in dem die berühmten dreirädrigen Fahrräder hergestellt werden. Er spricht von einer Auszeit, bevor er zu studieren beginnt. Seine Eltern leben mittlerweile außerhalb Christianias. Nicht zu wissen, ob sie das Haus bei einer Räumung verlieren würden, stellte im hohen Alter eine zu große Belastung für sie da. Kasper selbst würde sehr gerne später einmal in Christiania wohnen, doch das ist schwer. Wer ein Haus hier haben will, muss zum lokalen Rat gehen, der darüber entscheidet, wer ein solches bekommt. Wird eines der Häuser frei, gibt es allerdings dutzende InteressentInnen. Junge wie Alte sind hier gleichermaßen stark vertreten. Der Traum vom befreiten Leben lockt auch noch vierzig Jahre nach Gründung der Freistadt zahlreiche Alternative her – ein Traum, der für das Leben der Kinder Christianias prägend war und den manch einer unter ihnen auch in der Gegenwart weiterträumt. Wenn auch nicht unbedingt in Christiania, fügt Kasper hinzu.

„Rap ist größer denn je“

  • 12.11.2012, 12:31

Mit Individualität und Authentizität mischen der Rapper Macklemore und sein Produzent Ryan Lewis das Rapgeschehen auf und geben ihm neue Perspektiven. Simone Grössing hat das Ausnahmetalent bei seinem Konzert in Kopenhagen getroffen.

Mit Individualität und Authentizität mischen der Rapper Macklemore und sein Produzent Ryan Lewis das Rapgeschehen auf und geben ihm neue Perspektiven. Simone Grössing hat das Ausnahmetalent bei seinem Konzert in Kopenhagen getroffen.

progress: Euer neues Album „The Heist“ ist gerade erschienen. Was können wir uns davon erwarten?

Macklemore: Dieses Album ist einfach zweieinhalb Jahre unseres Lebens. Als wir mit den Aufnahmen begonnen haben, haben wir noch bei unseren Eltern gewohnt und jetzt touren wir durch Europa. Es ist sehr divers und beinhaltet einfach, wo wir in der Vergangenheit waren und wo wir heute stehen. In ihm stecken viele verschiedene Texturen, Sounds und Produktionen. Jeder Song hat ein Konzept. Wenn ich so objektiv wie möglich darauf blicke, würde ich sagen, dass es ein sehr gutes Album ist. Ich bin stolz darauf.

progress: Wie unterscheidet es sich von euren letzten Alben?

Macklemore: Es ist im Grunde eine Fortsetzung unseres bisherigen Schaffens. Es ist sehr ehrlich und versucht, wie schon die Alben zuvor, verschiedene Genres miteinander zu verknüpfen. Im Großen und Ganzen ist es das, was ich wirklich bin und immer versucht habe zu sein – ein Künstler, der ehrlich und angreifbar ist und der Musik vom Herzen macht.

progress: Euer millionenfacher Erfolg auf Youtube ist für einen Independent Act unüblich. Wie macht ihr das?

Macklemore: Hinter uns steht ein tolles Team verschiedenster Menschen. Es ist zwar klein, aber wir investieren alle sehr viel Zeit und Energie in unser Schaffen. Wir setzen eine starke visuelle Komponente – unsere Musikvideos sind sehr einprägsam. In erster Linie ist es aber natürlich die Musik, die die Leute berührt. Damit man das erreicht, muss man mit sich selbst verbunden sein. Das sind so die wichtigsten Elemente.

progress: In dem Song „Make the money“ rappst du, dass dich das Game und Geld nicht verändern dürfen und du dir treu bleiben willst. Man sieht aber bei vielen MusikerInnen, dass sie sich verändern, sobald sie auf einem Major-Label sind. Wieso wird euch das nicht passieren?

Macklemore: Ich denke, es war ein langsamer Anstieg, bis wir dorthin gelangt sind, wo wir jetzt sind. Viele andere sind sehr schnell berühmt geworden, bei uns war das anders. Ich habe realisiert, dass bloß weil ich den Höhepunkt meiner Karriere erreicht habe, das nicht heißt, dass ich jetzt glücklicher bin als zuvor. Geld zu haben, ist keine Garantie für Glück, und Erfolg ist keine Garantie für Zufriedenheit. Es sind sehr fundamentale Dinge, die einen erfüllen. Geld ist ein tolles Zeugnis für harte Arbeit, das heißt aber nicht, dass es glücklich macht. Am Ende zählt das nicht.

progress: Du positionierst dich gegen Drogen und schreibst Pro-Homo-Songs (siehe „Same-Love“). Du machst oft das Gegenteil von dem, was die meisten Rapper machen.

Macklemore: Ich denke, im Jahr 2012 gibt es so viel Platz und Möglichkeiten, um du selbst zu sein, wer auch immer das ist. Solange du „real“ bist, kannst du so sein, wie du bist und du wirst akzeptiert. Ich denke, die Normen und Stereotype von Rap ändern sich. Ich versuche nicht, bestimmte Mauern einzureißen, weil ich denke, dass das gemacht werden muss. Ich bin einfach nur ehrlich und zeige meine Sicht auf die Welt. Hip Hop sollte etwas Größeres sein – eine größere Kunstform als, dass sie in Schubladen gesteckt werden könnte. Rap ist größer denn je, es gibt eine größere Anzahl von MusikerInnen als früher, mit sehr verschiedenen Ansätzen. Einerseits, weil das Internet das ermöglicht und andererseits, weil die Major Labels die Kontrolle in der Musikindustrie verlieren – es gibt heute eine Diversität, die wunderbar ist.

progress: Was hältst du von dem Begriff „Hipster Rap“? Stört es dich, wenn jemand deine Musik so bezeichnet?

Macklemore: Es ist lustig, ich höre das seit dem Song „Thrift Shop“ ständig. Aber was ist schon ein Hipster? Es ist eine nicht enden wollende Debatte. Es verletzt weder meine Gefühle, noch streite ich es ab, oder bestätige es, es ist mir eigentlich egal.

progress: In der letzten Zeit haben sich viele MusikerInnen geoutet, darunter etwa Azealia Banks, Syd the Kyd und Frank Ocean. Ändert sich Rap ernsthaft, oder ist das einfach nur ein Hype?

Macklemore: Ja, ich glaube Hip Hop und die Gesellschaft verändern sich. Hip Hop wurde immer schon direkt von der Gesellschaft beeinflusst und umgekehrt. Leute wie Frank Ocean, die sich nun outen, sind sehr mutig. Sie sind sehr verwundbar in einem Genre, das so homophob ist. Die Leute sind aber bereit, sie selbst zu sein, und fühlen sich damit wohler denn je zuvor. Es ist kein Hype. Alles kommt zu seiner Zeit. Ich hab den Song geschrieben, bevor Frank Oceans Outing kam und bevor Obama sich für die Homo-Ehe aussprach und Jay-Z ihm seine Unterstützung erklärte. Aber es geht nicht darum, auf den Zug aufzuspringen, oder darum, dass du der Erste bist. Je mehr Perspektiven desto besser. Es geht einfach darum, „real“ zu sein und das war der Song „Same-Love“ eben für mich.

progress: Welchen fehlenden Farbstrich verpasst ihr dem Rap?

Macklemore: Es sind unsere eigenen Farben. Es ist kein zwanghaftes Hineinpassen- Wollen. Es geht darum, individuell zu sein und Dinge auszusprechen, vor denen man Angst hat. „When I was in third grade, I thought that I was gay“ – das machte mir schon tierisch Angst, so etwas auf meiner Platte zuzugeben. Nicht zu wissen, wie man beurteilt wird und was die Rap-Welt über mich sagen wird. Wenn ich Angst habe, über etwas zu schreiben, dann ist das womöglich der richtige Platz, von dem aus ich schreiben sollte. Ich versuche das einzureißen, wovor ich Angst habe.

progress: Was sind deine Pläne für die Zukunft?

Macklemore: Ich möchte mir ein bisschen Zeit nehmen und mit meiner Freundin herumreisen, das nächste Album außerhalb von Seattle schreiben, eine andere Perspektive auf das Leben bekommen und Energie sammeln, weil wir in den letzten drei Jahren sehr hart gearbeitet haben. Wenn sich einmal die Türen der Musikindustrie öffnen und sich deren Räder zu drehen beginnen, feuert dich jeder an. Ich bin bereit, hart zu arbeiten, denn jetzt stehen uns ja die Türen offen. Aber es ist eben auch Teil dieser Arbeit, darüber zu reflektieren, was du machst. Du kannst keine neue Musik schreiben, wenn du jeden Tag dasselbe siehst. Wir wollen neue Musik machen, aber von anderen Orten aus.

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