„Der Arbeitsmarkt allein kann kein Kriterium sein‘‘

  • 03.05.2013, 14:19

Woher kommt der Trend zur fachlichen Spezialisierung? Warum braucht es bei der Einrichtung neuer Studiengänge eine kritische Diskussion? Worauf sollte man bei der Studienwahl nach dem Bachelor achten? Wissenschaftsphilosoph und -historiker Friedrich Stadler beantwortete unsere Fragen im Interview.

Woher kommt der Trend zur fachlichen Spezialisierung? Warum braucht es bei der Einrichtung neuer Studiengänge eine kritische Diskussion? Worauf sollte man bei der Studienwahl nach dem Bachelor achten? Wissenschaftsphilosoph und -historiker Friedrich Stadler beantwortete unsere Fragen im Interview.

progress: Es gibt immer mehr spezialisierte Master und neue Studiengänge. Woher kommt diese Entwicklung? Wie ist sie historisch zu verstehen?

Friedrich Stadler: Generell ist die Moderne gekennzeichnet durch Spezialisierung, Differenzierung und Rationalisierung. Das spiegelt sich auch in der universitären Ausbildung. Zusätzlich sehen wir seit Ende des 19. Jahrhunderts eine allgemeine Spezialisierung und eine Arbeitsteilung in den Ausbildungsstätten, die von der Gesellschaft und auch vom Arbeitsmarkt eingefordert wird. Wir haben es mit dem ewigen Spannungsfeld von Bildung und Ausbildung zu tun. Dieses Spannungsfeld wird an den Hochschulen unterschiedlich gehandhabt. Das Humboldtsche Ideal, das nie wirklich realisiert wurde, ist der Hintergrund dieser Diskussion. Dazu gibt es eine Dauerdebatte zum Verhältnis von reiner und angewandter Wissenschaft und der Trennung dieser Sphären, die ja im Grunde eine künstliche ist.

progress: Wie unterscheidet sich die reine von der angewandten Wissenschaft?

Stadler: Die reine Wissenschaft ist Grundlagenforschung ohne Zwecke und Ziele. Die angewandte Forschung ist Ausbildung in Hinblick auf Berufsprofile. Wie das Verhältnis zwischen ihnen auszusehen hat, wurde – und wird auch heute noch – immer wieder neu verhandelt.

progress: Wie sinnhaft ist das Entstehen von Subdisziplinen und spezifischen Mastern wie etwa „Medizinrecht“ oder „Peace and Conflict Studies“?

Stadler: Mit einer Bewertung muss man da vorsichtig sein. In den 30ern und 40ern waren auch Psychologie und Soziologie Spezialisierungen. Heute sind sie selbstverständliche Fächer. Die kulturelle Evolution zeigt erst nach einiger Zeit die Sinnhaftigkeit solcher Spezialisierungsprozesse. Der Arbeitsmarkt allein kann dafür aber kein Kriterium sein. Auf der anderen Seite ist es sicherlich problematisch, wenn sogenannte „Orchideenfächer“ blühen und gedeihen, nur weil sie den Vorlieben des akademischen Personals entsprechen. Ich denke, mit einer ernst gemeinten Interdisziplinarität könnte man theoretisch sowie praktisch viele Subdisziplinen einbinden, anstatt für jedes kleine Fach sofort einen eigenen Studiengang zu fordern.

progress: Das klingt nach einer widersprüchlichen Entwicklung: Einerseits gibt es immer mehr Fragmentierung zwischen den Disziplinen, andererseits wird interdisziplinäre Arbeit ja immer wichtiger.

Stadler: Es wird allgemein anerkannt, dass eine übergreifende Perspektive Sinn macht, weil sie einfach den Horizont erweitert. Wobei es dann oft schwer ist, Studienabschlüsse fachlich zuzuordnen. Wir haben 2010 an der Universität Wien einen fächerübergreifenden Master namens „History and Philosophy of Science“ gestartet. Studierende aus allen Disziplinen können zu uns kommen, wenn sie ihr Fach von einer wissenschaftshistorischen Perspektive aus untersuchen wollen. Es gibt auch ein laufendes Doktoratsprogramm. Das Studium macht so gesehen Sinn, weil es nach dem Master weiterführt. Wenn es einen eigenen fachlichen „Track“ gibt und eine „Scientific Community“, dann spricht nichts gegen interdisziplinäre oder spezialisierte Fächer. Man sollte sich all diese Gesichtspunkte vor der Etablierung von Studienrichtungen anschauen.

progress: Wer sollte über neue Studiengänge entscheiden?

Stadler: Das liegt im Aufgabenbereich der Universitäten, des Senats und ist sicherlich auch abhängig vom Bedarf der Studierenden. Wir können im Lauf der Wissenschaftsgeschichte sehen, dass Fächer größer und kleiner werden, auftauchen und verschwinden. Das hat mit einer Eigendynamik zu tun, aber auch mit einer gesellschaftlichen Wertigkeit.

progress: Wie entsteht eine „Scientific Community”?

Stadler: Dazu braucht es Personen, Publikationen, aber auch eine akademische und außerakademische Öffentlichkeit. In den Geistes- und Kulturwissenschaften stellt sich auch die Frage nach den Grundlagen der Wissenschaften und den Methoden, weil Spezialisierungen ja immer die Frage provozieren, was das Spezielle an ihnen ist und was sie von anderen Disziplinen trennt oder mit ihnen verbindet. Das ist nicht nur eine Frage der Organisation und Administration eines Studiums, sondern auch eine theoretische und kognitive Fragestellung, die beantwortet werden muss. Wenn man sich damit auseinandersetzt, sehe ich kein Problem an einer Spezialisierung. Wenn aber keine kritische Diskussion in der Gesellschaft stattfindet, dann ist das problematisch.

progress: Immer mehr private Bildungseinrichtungen bieten teure Master und Postgraduate-Programme an. Besteht hier die Gefahr der Geschäftemacherei?

Stadler: Die Öffnung des freien Marktes ergibt natürlich das Problem, dass zwischen verschiedenen Ausbildungsstätten konkurriert wird. Die Privatuniversitäten sind eine Antwort auf gewisse Defizite im Hochschulbereich, aber auch Symptome für eine neue Organisation der Wissenschaften. An sich ist das keine schlechte Entwicklung, weil dadurch eine gewisse Pluralität einzieht. Dazu braucht es aber auch gleiche Bedingungen für alle Studierenden. Es sollten keine Privilegien aufgebaut werden. Der Studienzugang sollte mit gleichen Chancen verbunden sein. Es ist klar, dass private Institutionen schneller reagieren können und Marktlücken füllen, weil sie zum Beispiel kleiner sind oder sie ein Sponsoring hinter sich stehen haben. Die Qualitätskontrolle ist hier sicher entscheidend.

progress: Wann würden Sie Studierenden zu einem spezialisierten Master raten?

Stadler: Ich würde raten, diese neuen Master bei der Studienwahl durchaus kritisch zu analysieren. Auch im internationalen Vergleich. Wenn es in einem Bereich etwa nur einen Master an nur einer Hochschule gibt, wäre ich schon skeptisch. Wenn aber die Begeisterung für ein Fach da ist, dann ist das eigentlich das einzige Kriterium für die Studienwahl. Mir hat man früher als Student auch gesagt, dass Philosophie überlaufen ist und dass es damit keine Jobmöglichkeiten gibt. Aber es war das, was mich eben interessierte und mich so im Studium vorantrieb. Das wäre bei anderen Fächern nicht der Fall gewesen. Ich denke, dass die individuelle Begeisterung hier das Entscheidende ist.

Friedrich Stadler ist Universitätsprofessor für Wissenschaftsgeschichte, -theorie und -philosophie an der Universität Wien und wissenschaftlicher Leiter und Gründer des Instituts Wiener Kreis.

AutorInnen: Simone Grössing